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Petra Gabriel | Hanna himmelwärts

Die 14-jährige Hanna fühlt sich zu groß, zu ungeschickt, zu linkisch und zu ungeliebt von den Jungs. Doch dann macht sie während eines Schulausflugs die Entdeckung ihres Lebens: Auf einem Segelflugplatz in der Nähe von Bad Säckingen darf sie einen Probeflug machen. Danach weiß sie: Das will sie auch lernen. Um jeden Preis. Leider sind ihre Eltern strikt dagegen, und Hanna muss sich etwas einfallen lassen. Sie verstrickt sich in ein Netz aus Lügen, Flunkereien und Heimlichkeiten. Und verpasst dabei beinahe ihre erste große Liebe … O Hanna!

Die 14-jährige Hanna fühlt sich zu groß, zu ungeschickt, zu linkisch und zu ungeliebt von den Jungs. Doch dann macht sie während eines Schulausflugs die Entdeckung ihres Lebens: Auf einem Segelflugplatz in der Nähe von Bad Säckingen darf sie einen Probeflug machen. Danach weiß sie: Das will sie auch lernen. Um jeden Preis. Leider sind ihre Eltern strikt dagegen, und Hanna muss sich etwas einfallen lassen. Sie verstrickt sich in ein Netz aus Lügen, Flunkereien und Heimlichkeiten. Und verpasst dabei beinahe ihre erste große Liebe … O Hanna!

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Verlag<br />

Monika Fuchs


www.verlag-monikafuchs.de<br />

www.petra-gabriel.de<br />

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-940078-59-9<br />

© 2013 by Verlag Monika Fuchs | Hildesheim<br />

Layout und Satz: Medienbüro Monika Fuchs | Hildesheim<br />

Coverillustration: Elisa Buberl | Much | www.mitternachtsschreiber.de<br />

Printed in EU 2013


Inhalt<br />

Personen 6<br />

Ganz in Weiß 7<br />

Grün und Blau 24<br />

Gedecktes Blau 41<br />

Pink und Blau 51<br />

Kobaltblau 58<br />

Nachtblau 73<br />

Infrarot 83<br />

Nachtschwarz 94<br />

Novembergrau 109<br />

Königsblau 129<br />

Azzurro 142<br />

Himmelblau 160<br />

Worterklärungen 176


Personen<br />

<strong>Hanna</strong> Gerteis<br />

Felix Gerteis<br />

Helmut Gerteis<br />

Sigrid Gerteis<br />

Miriam Frampton<br />

Peter Frampton<br />

Tim Frampton<br />

Tante Edda<br />

14 Jahre<br />

11, <strong>Hanna</strong>s Bruder<br />

<strong>Hanna</strong>s Vater, Lehrer,<br />

Ortsvorsteher und<br />

Vorsitzender von fünf<br />

Vereinen<br />

genannt Schnuckel, <strong>Hanna</strong>s<br />

Mutter, Expertin für kluge<br />

Sprüche<br />

21, <strong>Hanna</strong>s Schwester,<br />

verheiratet mit Peter.<br />

25, Informatikstudent aus<br />

Kanada, <strong>Hanna</strong>s Schwager<br />

15, Peters Bruder<br />

in Rente; wesentlichstes<br />

Merkmal: eine laute<br />

Trompetenstimme<br />

Annabell Strittmatter 14, <strong>Hanna</strong>s beste Freundin.<br />

Oliver<br />

Gerhard Lüthy<br />

Konrad Mutter<br />

<br />

18, Segelflieger<br />

Flugleiter und Fluglehrer<br />

Lepo-Fahrer


Ganz in Weiß<br />

Mir ist völlig schleierhaft, warum Miriam unbedingt<br />

heiraten will, aber sie besteht darauf. Sie war schon<br />

immer starrköpfig. Während ich eine Seele an Einsicht<br />

bin. Zumindest meistens. Außerdem habe ich da so meine<br />

Vermutungen. Miriam würde mich steinigen, wenn<br />

ich sie ausspräche. Ich sehe jedenfalls genau, wie der Biedermeier-Strauß<br />

in ihrer Hand zittert. Ich stehe nämlich<br />

direkt neben ihr. Ein bisschen nervös ist sie also doch.<br />

Das beruhigt mich. Manchmal fürchte ich schon, es gibt<br />

nichts, was Miriam erschüttern kann. Das ist für die<br />

Außenwelt manchmal ziemlich anstrengend, besonders<br />

für eine sieben Jahre jüngere kleine Schwester. Ich bin<br />

nur die Trauzeugin und bibbere innerlich wie ein Wackelpudding<br />

bei Erdbeben Stärke 12.<br />

Mein Blick fällt von dem bunten Strauß in Miriams<br />

Hand auf meine Schuhe. Sie sehen ganz so aus, wie Mama<br />

sie mag: klassisch. Das heißt: flach, schwarz und furchtbar<br />

langweilig. Immerhin sind sie aus Wildleder und kommen<br />

aus Italien. Ich finde, ich sehe damit aus wie ein Kalb<br />

mit Klumpfüßen. Aber Mama wollte einfach nicht erlauben,<br />

dass ich Turnschuhe anziehe. Außerdem sind die<br />

Schuhe schmutzig. Ausgerechnet jetzt! Ich stehe mit dem<br />

glücklichen Brautpaar ganz oben auf der Kirchentreppe.<br />

Da sieht’s natürlich jeder.<br />

Ich weiß nicht, warum meine Schuhe immer schmutzig<br />

sein müssen. Mama sagt, ein unordentliches Gehirn


zieht den Dreck an. Mama kennt viele solcher Weisheiten.<br />

»An dir ist alles übertrieben« – das sagt mein Bruder.<br />

Dabei stimmt das nicht. Okay, ich habe Schuhgröße<br />

41 und bin bereits einsachtundsiebzig groß. Aber gleich<br />

von Übertreibung zu sprechen, das finde ich nun wieder<br />

ziemlich übertrieben.<br />

Miriams Augen sind meinem Blick gefolgt. Genau auf<br />

meine schmutzigen Schuhe. Das ist wieder typisch für<br />

sie. Natürlich, sie sieht einfach alles. »O <strong>Hanna</strong>«, murmelt<br />

sie vorwurfsvoll. Wie gut ich diese Worte kenne.<br />

Aber es gehört sich wohl nicht, die Braut zu ermorden.<br />

Ein dicker Regentropfen zielt haarscharf am Überdach<br />

unserer Oberhofer Dorfkirche vorbei und treibt ein Blatt<br />

der weißen Rosenblüte in Miriams Strauß nach unten.<br />

Das lenkt sie glücklicherweise ab. Dieses Mal schaut Miriam<br />

nach oben. Denn schließlich sind in unserem Garten<br />

viele Tische aufgebaut, liebevoll dekoriert mit Blumengebinden.<br />

Sehr liebevoll. Ich weiß das genau. Ich<br />

war nämlich die Dekorateurin. An diese Tische sollen<br />

sich gleich die Gäste setzen – wenn das Gratulationsdefilee<br />

beendet ist. Es sind viele Gäste, es wird eine Weile<br />

dauern. Na, das wird ein schöner Schlamassel, wenn es<br />

jetzt noch anfängt, zu regnen. Mir tut es leid um meine<br />

Blumengebinde. Anschließend bekämpfe ich heldenhaft<br />

einen Anflug von Schadenfreude darüber, dass selbst bei<br />

Miriam nicht immer alles läuft wie geschmiert.<br />

Bei der Blaskapelle vor der Kirche schmiert dafür die<br />

Trompete. Daraufhin spielt die Tuba merklich schneller.<br />

Ich weiß nicht, warum sich der Dirigent gerade für das<br />

Stück »Alte Kameraden« entschieden hat. Vielleicht ist<br />

das ja Papa gewidmet. Der ist nämlich nicht nur Ortsvorsteher<br />

des Murger Ortsteils Oberhof, sondern auch


gleichzeitig im Vorstand von fünf Vereinen im Ort. Falls<br />

er nicht gerade arbeitet.<br />

Mama sieht seine vielen Ämter gar nicht gern. »Wer zu<br />

viel auf einmal will, erreicht nichts« – sagt sie immer zu<br />

Papa. Wenn Mama ihren Mann überhaupt einmal sehen<br />

will, dann muss sie mithelfen bei allen Sommerfesten,<br />

Weihnachtsfeiern, Trödelmärkten, die Papa im Jahr für<br />

seine fünf Vereine organisiert.<br />

Organisieren kann Papa gut. Die Arbeit machen dann<br />

die anderen. Einen Vorteil hat die Sache allerdings. Ich<br />

werde immer besser darin, mich zu drücken. Meine<br />

Größe ist dabei eine ziemliche Hilfe. »Wer sich nicht im<br />

Griff hat, eckt an«, sagt Mama. Manchmal kann das auch<br />

gute Seiten haben. Inzwischen muss ich jedenfalls immer<br />

weniger helfen. »Du bist einfach zu ungeschickt« – das<br />

behauptet wiederum mein Lehrer. Man sollte eben aus<br />

allem das Beste machen. Das sage ich.<br />

Wenn ich es richtig bedenke, mag ich Hochzeiten sowieso<br />

nicht. Mir tun immer noch die Beine weh vom<br />

ständigen Knien auf den Balken vor den Kirchenbänken.<br />

Das ist auch so etwas, das Miriam besser kann. Ich fühle<br />

mich schon nach fünf Minuten, als flöge ein Schwarm<br />

wilder Hummeln durch meinen ganzen Körper.<br />

Miriam konnte schon früher stundenlang knien, ohne<br />

auch nur eine Miene zu verziehen. Heuchlerin. Sie hat<br />

mir in einer vertraulichen Stunden einmal verraten, dass<br />

sie dabei immer an Jungs denkt. Das lenke ab. Miriam<br />

hatte da mit Sicherheit viel mehr zu denken als ich.<br />

Große, blaue Augen, zierlich, lange, blonde Haare, rund<br />

an allen Stellen, an denen es so sein soll – das fanden alle<br />

Jungs unwiderstehlich. Mich hat nie jemand beachtet.<br />

Obwohl ich so groß bin. Alles dreht sich immer nur um<br />

meine Schwester Miriam.


Na, jetzt ist sie ja aus dem Rennen. Aber ob sie dafür<br />

unbedingt gleich heiraten musste, das wage ich wirklich<br />

zu bezweifeln.<br />

Die Kapelle spielt noch eine Ecke schneller. Denn inzwischen<br />

haben sich zu dem einen Regentropfen noch<br />

einige andere gesellt. Die Leute auf der Wiese vor der<br />

Kirche beginnen, mit den Füßen zu scharren.<br />

Ich schiele zu meinem nagelneuen Schwager hinüber.<br />

Er ist schon nett. Aber sooo attraktiv finde ich ihn eigentlich<br />

nicht. Er hat Pickel. Und außerdem Schweißtropfen<br />

auf der Stirn. Vielleicht, weil es regnet. Na, die Tische<br />

sind inzwischen jedenfalls schon nass. Darüber braucht er<br />

sich keine Sorgen mehr zu machen. Möglicherweise ist es<br />

die Hochzeitsnacht, die ihn ängstigt, denke ich schadenfroh.<br />

Andererseits kann es das auch nicht sein. Die haben<br />

die beiden längst vorgezogen. Ich habe schließlich Augen<br />

im Kopf. Ich bin 14 und kein Kind mehr. Auch wenn das<br />

jeder zu glauben scheint.<br />

Schwager Peter nestelt nervös an seiner Fliege. In Kanada<br />

scheinen sie solche Binder nicht zu haben. Aber<br />

Mama hat darauf bestanden, dass er ihn anzieht. Es ist<br />

unmöglich, Mama zu widersprechen. Das hat Peter schon<br />

gelernt. Auch wenn Mama eine Frau vom Land ist und<br />

Peter ein Informatik-Student aus Kanada, kann er bei uns<br />

noch lange nicht machen, was er will.<br />

Aber Peter ist sowieso uninteressant. Sein kleiner Bruder<br />

Tim ist sehr viel aufregender. Er kam gestern an. Ich<br />

weiß nicht, ob er auch so einen netten Akzent hat wie<br />

Peter, wenn er Deutsch spricht. Er spricht unsere Sprache<br />

offenbar überhaupt nicht, obwohl seine Mutter aus<br />

Deutschland stammt. Ursprünglich aus demselben Dorf<br />

wie meine Mutter übrigens. Dann ist die Familie allerdings<br />

an den Bodensee gezogen. Und irgendwie entfernt<br />

10


verwandt sind meine und Tims Mutter wohl auch noch,<br />

soweit ich informiert bin.<br />

Das mit Tims Deutsch, das kommt hoffentlich noch.<br />

Jedenfalls sieht er entschieden besser aus als sein großer<br />

Bruder. Nicht richtig aufregend, aber ganz attraktiv:<br />

braune Haare, braune Augen und ein ansteckendes Lachen<br />

hat er auch. Blöde finde ich nur seine hochhackigen<br />

Cowboystiefel. Für einen Trauzeugen gehört sich<br />

so etwas nicht, sagt Mama. Aber dieses Mal blieb ihr<br />

Ratschlag unverstanden. Wie gesagt, Tim spricht kein<br />

Deutsch. Und sein Bruder hat es ihm offenbar nicht energisch<br />

genug erklärt. Mit Sicherheit nicht so energisch,<br />

wie Mama es getan hätte. Aber Mamas Tonfall ist eben<br />

unnachahmlich.<br />

Tims Cowboystiefel sind jedenfalls nicht dreckig. Oder<br />

nur ein bisschen. Aber ich glaube, das Leder ist eher abgewetzt.<br />

Es sind auch nicht die Stiefel an sich, die mich<br />

ärgern. Nur – ich kann so nicht feststellen, wie groß Tim<br />

eigentlich ist. Mit Stiefeln scheint er ungefähr genauso<br />

groß zu sein wie ich. Vielleicht sogar ein kleines Stückchen<br />

größer. Aber ohne??? Es ist schon ein Kreuz, wenn<br />

man wegen seiner Größe die Jungs nach Zentimetern<br />

einschätzen muss.<br />

Ich sehe schon, aus dem Gratulationsdefilee wird wohl<br />

nichts mehr. Der Regen ist noch stärker geworden. Genauer<br />

gesagt, es prasselt. Obwohl der Wetterbericht Sonne<br />

versprochen hatte. Die Familie steht zwar unter dem<br />

Kirchendach, aber die Hochzeitsgäste sind schon ziemlich<br />

nass. Wegen der Wettervorhersage hat niemand einen<br />

Schirm mitgebracht. Die Trompete im Blasorchester<br />

schliert noch etwas mehr. Ich verkneife mir gerade noch<br />

ein Kichern. Schließlich weiß ich, was sich in einer solchen<br />

Stunde gehört.<br />

11


Papa tritt nach vorne und zieht sein Organisationsgesicht.<br />

»Meine Damen und Herren«, sagt er würdevoll, »ich<br />

glaube, es ist besser, wir begeben uns jetzt ins Trockene.«<br />

Damit sind die Hochzeitsgäste sofort einverstanden.<br />

Beim Wort »trocken« wird auch die Blaskapelle leiser, die<br />

»Alten Kameraden« verstummen. Nur die Tuba schießt<br />

noch drei mickrige Töne hinterher. Kein Wunder, bei<br />

dem großen Instrument hat der Spieler den Dirigenten<br />

wahrscheinlich nicht gesehen. Gleich darauf beginnen<br />

die Musiker eilig ihre Instrumente wegzupacken. Das<br />

macht Lärm. Papa hat trotz seiner Organisationsstimme<br />

Schwierigkeiten durchzudringen. Er tritt noch ein Stück<br />

weiter vor und drängelt mich nach hinten. Das finde ich<br />

gemein. Jetzt, wo’s interessant wird.<br />

»Ich schlage vor, wir gehen alle erst einmal zu uns<br />

nach Hause. Dann sehen wir weiter.« Auch damit sind<br />

die triefenden Gäste vollauf einverstanden. Nur wir, die<br />

engsten Angehörigen wissen, was Papa mit »dann sehen<br />

wir weiter« gemeint hat. Unser Haus ist nämlich nicht<br />

allzu groß. Zumindest der Teil des Hauses, der bewohnt<br />

wird. Deshalb mussten die vielen Tische in den Garten.<br />

Ich hätte ja an Miriams Stelle eine kleinere Hochzeit gemacht.<br />

Aber das geht für die Tochter eines Ortsvorstehers<br />

und Vorstandsmitglieds in fünf Vereinen natürlich<br />

nicht. Schlimm genug, dass sie einen Ausländer heiratet<br />

und keinen der Jungs aus dem Dorf – das sagen die Leute.<br />

Mir passiert das nicht. Ich heirate sowieso nicht.<br />

Aber das wird ein Spaß, wenn sich die 120 Leute in unserer<br />

Küche drängeln. Dort stehen auch noch die Häppchen,<br />

die auf die Tische sollten. Und die Getränke. Und<br />

die Teller. Und das Besteck, die Servietten und die Gläser.<br />

Übrigens besonders leckere Häppchen. Mit Lachs.<br />

Und mit Krabben. Und kaltem Braten. Ich weiß das ge-<br />

12


nau, ich habe sie zusammen mit Mama geschmiert. Das<br />

Wasser läuft mir im Mund zusammen.<br />

Von außen bin ich nicht nass, weil ich zur Familie gehöre<br />

und unter dem Vordach der Kirche stehe. Dabei<br />

hätte das vielleicht einen Vorteil: Wasser wäscht Dreck<br />

von schmutzigen Schuhen. Andererseits: Bis alle bei uns<br />

daheim angekommen sind, hat jeder schmutzige Schuhe.<br />

Schließlich leben wir auf einem Bauernhof. Auch wenn<br />

Papa kein Bauer ist, sondern Lehrer. Unser Hof ist nicht<br />

geteert. Wegen der Oberflächenversiegelung, hat Papa<br />

erklärt. »Dann putz du mal den Dreck im Hausflur weg,<br />

wenn es regnet«, ist Mamas regelmäßige Antwort<br />

Eigentlich sollte unser Haus auch schon ganz anders<br />

aussehen. Papa hat viele Pläne gemacht, wie er den alten<br />

Hof umbauen will. Er hat nur nie Zeit. Aber es ist auch<br />

so hübsch auf dem Rüttehof, finde ich. Darin bin ich mir<br />

mit meinem Bruder Felix einig. Sonst streiten wir uns allerdings<br />

öfter. Kleine Brüder können genauso lästig sein<br />

wie große Schwestern.<br />

Von den meisten Gästen sehe ich jetzt nur noch die nassen<br />

Hinterteile. Sie tappen durch den Matsch. Jetzt kann<br />

ich mir das Grinsen wirklich nicht mehr verkneifen. »O<br />

<strong>Hanna</strong>!«, sagt Miriam wieder vorwurfsvoll. Dieses Mal<br />

lauter. Das ist schon ein Standardspruch. Auch Mama sagt<br />

das immer, wenn ihr ausnahmsweise mal nichts anderes<br />

mehr einfällt, weil sie zu entsetzt ist: »O <strong>Hanna</strong>!« Dabei<br />

geht ihre Stimme bei dem »Han« erst vorwurfsvoll nach<br />

oben und bei dem »na« entrüstet nach unten. »O <strong>Hanna</strong>«<br />

ist schon so etwas wie mein Markenzeichen geworden.<br />

Es gibt Tage, an denen ich denke, ich heiße so.<br />

Mein Bruder Felix feixt zu mir hoch Wenn er so grinst,<br />

sieht er aus wie der Pumuckl. Felix hat meine Farben:<br />

einen dicken, wirren, kurzen, dunkelbraunen, lockigen<br />

13


Haarschopf und braune Augen. Felix wird bestimmt mal<br />

so groß wie ich. Viel fehlt nicht mehr, obwohl er drei Jahre<br />

jünger ist als ich. »Meine beiden Zigeuner«, nennt uns<br />

Papa manchmal liebevoll. Nur Miriam ist aus der Art geschlagen<br />

– ein nordischer Typ, sagt Papa.<br />

Felix deutet mit seinem dreckigen Zeigefinger auf die<br />

Rücken von Mama und Papa, die sich eilig mit den Gästen<br />

entfernen. »Au weia, das gibt Zoff.« Der Gedanke<br />

scheint ihm zu gefallen.<br />

»Warum gibt das Zoff?«, fauche ich missmutig. Ich hätte<br />

mich jetzt lieber mit Tim, meinem neuen Schwippschwager<br />

(so heißt das doch, oder?) beschäftigt. Aber<br />

es ist zu spät. Sein Rücken entschwindet mit denen der<br />

anderen. Miriam und Peter stehen noch immer unentschlossen<br />

unter dem Kirchenvordach. Wahrscheinlich<br />

will sich meine Schwester ihr Hochzeitskleid nicht nass<br />

machen, denke ich boshaft.<br />

Felix lässt sich nicht abschütteln. »Schau sie dir doch<br />

an.« Ich wende meinen Blick weg von Tims Rücken hin<br />

zu meinen Eltern. Mein Bruder hat recht. Papa zieht<br />

auf eine ganz bestimmte Art die Schultern hoch. Mama<br />

macht weit ausholende Gesten.<br />

»Wahrscheinlich hält sie ihm jetzt eine Strafpredigt,<br />

weil er sich geweigert hat, ein Zelt für den Garten zu besorgen,<br />

mit dem Argument, es sei Schönwetter angesagt«,<br />

stellt Felix trocken fest. Ich muss ihm recht geben. Sogar<br />

von hinten kann man sehen, dass Mama energisch das<br />

Kinn vorreckt. Das tut sie immer, wenn sie verärgert ist.<br />

Aber man soll kleinen Brüdern nicht allzu oft recht geben.<br />

Sonst werden sie aufmüpfig.<br />

»Sei nicht so frech«, sage ich deshalb spitz. Felix feixt<br />

wieder. »Tu nicht so scheinheilig«, verkündet er lakonisch.<br />

Der Bursche wird immer dreister. Das gibt mir die<br />

14


willkommene Gelegenheit, einen Zahn zuzulegen. Vielleicht<br />

erreiche ich Tim doch noch. Wenn ich will, kann<br />

ich ganz schön schnell laufen. »Du bist eine Nervensäge«,<br />

erkläre ich Felix und verdopple meine Schrittgeschwindigkeit.<br />

Doch er ist nicht abzuschütteln.<br />

Dass sich mein kleiner Bruder in seinen Renommier-<br />

Hochzeitsklamotten offenbar genauso unwohl fühlt wie<br />

ich in meinen, versöhnt mich wieder etwas. Während er<br />

rennt, zupft er immer wieder genervt an seinem Krawattenknoten.<br />

Doch ihn aufzunesteln traut er sich offenbar<br />

nicht. Er kennt schließlich Mama.<br />

Als wir daheim ankommen, gestikuliert Mama immer<br />

noch, Papa hat noch immer die Schultern hochgezogen.<br />

Plötzlich wird es wieder heller. Papa strahlt. »Siehst du,<br />

ich habe dir ja gleich gesagt, das ist nur ein kleiner Schauer.<br />

Ein Irrtum von Petrus sozusagen. Du wirst sehen,<br />

Schnuckel, wenn wir die Tische und Stühle abgewischt<br />

haben, wird es doch noch ein schöner Tag.« Wenn Papa<br />

sich bei Mama einschmeicheln will, sagt er immer Schnuckel.<br />

Mama mustert ihn zweifelnd.<br />

»Gibt es in diesem Haushalt denn keine Handtücher?<br />

Ich bin völlig durchnässt«, trompetet die Stimme von<br />

Tante Edda. Tante Edda ist nicht eigentlich meine Tante,<br />

sondern die von Papa. Das durchdringende Organ liegt<br />

offenbar in der Familie. Mama besinnt sich sofort pflichtbewusst<br />

auf ihre Aufgaben als Gastgeberin und eilt zum<br />

Wäscheschrank. Papa vergrößert das Chaos in der Küche<br />

noch, indem er anfängt, wild Befehle auszugeben.<br />

»Felix und <strong>Hanna</strong>, ihr holt sofort einen Lappen und<br />

wischt die Tische und Stühle ab. Alice und Timo, ihr<br />

kümmert euch um die Getränke. Am besten nehmt ihr<br />

auch noch die Gläser mit raus. Und die Bestecke. Und<br />

15


die Teller. Aber wartet erst, bis Felix und <strong>Hanna</strong> mit dem<br />

Abwischen fertig sind. Tante Edda, ein bisschen Regen<br />

hat noch keiner schönen Frau geschadet.«<br />

Tante Edda kichert. Die Bemerkung schmeichelt ihr,<br />

das kann ich sehen. Dann sagt sie: »Helmut, hör auf, eine<br />

alte Frau zu vergackeiern.« Aber sie lächelt dabei.<br />

Felix und ich sind heilfroh, aus dem Gedränge in der<br />

Küche herauszukommen. Wir schnappen uns Lappen<br />

und Eimer und ziehen los in den Garten. »So eine Scheiße«,<br />

sagt Felix beim Anblick der Tische. Wo er recht hat,<br />

hat er recht. Die Papiertischtücher hängen traurig und<br />

tropfend über die Tische, meine wunderschönen Blumengebinde<br />

tun es ihnen nach. »Da hilft nur eins«, erkläre<br />

ich energisch. Obwohl ich mir gar nicht so sicher bin,<br />

dass Mama damit einverstanden wäre. Aber es gibt Stunden<br />

im Leben, da muss man Entscheidungen treffen können.<br />

Auch wenn sie unpopulär sind. Entschlossen stelle<br />

ich ein Blumengebinde ins patschnasse Gras und reiße<br />

das Tischtuch herunter. Das Papier geht sofort in Fetzen.<br />

Felix sagt, was ich denke: »Au weia, das gibt Ärger.«<br />

»Hör auf, Opern zu quatschen und hilf mir lieber!«,<br />

gifte ich ihn an. Ausnahmsweise ohne zu widersprechen,<br />

tut Felix, was ich sage. Tisch für Tisch steht nach einer<br />

halben Stunde sauber trockengewischt im Sonnenschein,<br />

nur noch verziert von einem nicht mehr ganz so nassen<br />

Blumengebinde. Immerhin richten sich die Blütenblätter<br />

langsam wieder auf. Das verschönt den Anblick etwas.<br />

Denn Papa hat mangels anderer Möbel einfach eine Reihe<br />

von 15 Tapeziertischen im Garten aufgebaut. Worauf<br />

Mama sofort losgezogen ist, um die Papiertischtücher zu<br />

erwerben, damit man’s nicht so sieht.<br />

Unsere Gäste scheint der Anblick glücklicherweise<br />

nicht zu stören. Sie sind wahrscheinlich froh, endlich<br />

16


aus der Enge der kleinen Küche herauszukommen. Einige<br />

stehen schon auf dem nassen Rasen und versuchen,<br />

ihre nassen Haare und Schuhe in der Sonne zu trocknen.<br />

Nur zwei oder drei haben Kleider zum Wechseln mitgebracht.<br />

Inzwischen sind auch Miriam und Peter eingetroffen.<br />

Miriam schürzt ihr seidenes Hochzeitskleid und<br />

wagt ebenfalls den Schritt nach draußen. Sie schaut auf<br />

die Tische. »O <strong>Hanna</strong>«, sagt sie schon wieder. Ich kenne<br />

das, wie gesagt, und schaue sie möglichst unschuldig an.<br />

»Nun stellt euch nicht so an«, dröhnt die Stimme von<br />

Tante Edda. »Wenn ich als alte Frau mit dieser Situation<br />

fertig werde, dann könnt ihr Jungvolk das auch. Das hier<br />

ist eine Hochzeit und keine Beerdigung.«<br />

Plötzlich kommt Musik aus den Lautsprechern, die<br />

Papa im Garten aufgestellt hat. Der Hochzeitsmarsch ertönt.<br />

Das ist Papas Werk. Er ist bei uns der Herr der Technik.<br />

Auch wenn er nicht allzu viel davon versteht. Doch<br />

plötzlich wird der Marsch unterbrochen durch ein Stück<br />

von »Wir sind Helden« » … dieeser Weeeg wiiird keein<br />

leichter seiiin!«<br />

Ich schaue mich um. Felix ist verschwunden. Aha.<br />

Wieder ein Krachen. Dann erneut der Hochzeitsmarsch.<br />

Alles lacht, die schlechte Stimmung ist im Nu verflogen.<br />

Meine Kusine Nicole schleudert ihre nassen Schuhe von<br />

sich. Eine gute Idee, das muss ich ihr lassen. Die meisten<br />

anderen tun es ihr nach. Nur Tante Edda zögert anfangs.<br />

Da kommen auch schon Miriam und Mama mit Platten<br />

voller Häppchen in den Garten. Manche davon sind<br />

etwas zerdrückt, getroffen von einem Ellenbogen oder<br />

sonstigen Gliedmaßen. Doch das stört keinen mehr.<br />

Nur Miriam hat etwas Schwierigkeiten, gleichzeitig ihr<br />

Hochzeitskleid vor der Nässe zu schützen und ein Tablett<br />

17


zu tragen. Das hat sie nun davon, dass sie heiratet. Kinder<br />

kann man schließlich auch ohne Männer großziehen.<br />

In diesem Moment sehe ich Tim. Er balanciert zwei<br />

Tabletts und sieht aus wie der Oberkellner aus dem Ritz.<br />

Da gefällt mir der Gedanke von einem Leben ohne Männer<br />

schon nicht mehr so gut. Außerdem ist da ja auch<br />

noch Papa. Aber ich heirate trotzdem nicht – auch falls<br />

mich mal einer wollen sollte. Glaube ich aber nicht.<br />

Es ist komisch, immer, wenn ich über das männliche<br />

Geschlecht nachdenke, bekomme ich einen Heißhunger<br />

auf Schokolade. Mama sieht das überhaupt nicht gern.<br />

»Schokolade macht Pickel und fett«, behauptet sie. Gut,<br />

Pickel habe ich. Fett bin ich nicht. Nur groß. Aber vielleicht<br />

wirkt Schokolade bei mir ja anders als bei anderen<br />

Mädchen. Für alle Fälle habe ich jedenfalls immer einen<br />

Vorrat in meinem Zimmer. Ich lasse Lachs Lachs und<br />

Krabben Krabben sein und hole eine Tafel weiße Schokolade<br />

mit Crunch. Meine Lieblingssorte, nebenbei bemerkt.<br />

Damit verziehe ich mich in die hinterste Ecke des<br />

Gartens unter meine Kummerweide. Wir mögen uns,<br />

dieser Baum und ich. Wir haben schon viele Gespräche<br />

miteinander geführt. Zugegeben, meistens war ich es,<br />

die redete. Aber wenn der Wind so durch die Blätter der<br />

hängenden Zweige rauscht, dann denke ich oft, die Weide<br />

antwortet mir.<br />

Versonnen betrachte ich die lachenden Menschen an<br />

den Tischen. Nun ist es doch noch eine schöne Hochzeit<br />

geworden. Das hat der Himmel gut gemacht, finde ich.<br />

Nur Sonne, das wäre langweilig geworden. Aber Sonne<br />

nach Regen, das gibt den Menschen ein gutes Gefühl.<br />

Wie schön es ist, gesund zu sein, weiß man schließlich<br />

auch erst, wenn man mal krank war. Wahrscheinlich wird<br />

18


Miriam noch ihren Enkelkindern davon erzählen. Oder<br />

Tante <strong>Hanna</strong> tut es. Wieder muss ich kichern. Tanten<br />

haben für mich immer etwas Würdevolles. So wie Tante<br />

Edda. Naja, vielleicht sehe ich ja auch irgendwann einmal<br />

aus wie Tante Edda. Tante jedenfalls werde ich bald.<br />

Ich kann es immer noch nicht so recht fassen. Komisches<br />

Gefühl, als wäre ich schon eine Respektsperson.<br />

»Du hast schöne lange Beine!« Verdutzt wende ich mich<br />

um. Da steht Tim und grinst. »Do you speak English?”<br />

Ich bekomme kein Wort raus, deshalb schüttle ich den<br />

Kopf. Danach folgt ein zögerndes »a-little-bit«.<br />

»Oh, dann werde ich wohl doch Deutsch sprechen müssen.<br />

Du kannst dein Maul übrigens wieder zumachen.«<br />

Tim grinst noch breiter, und ich werde feuerrot. Warum<br />

muss ich mich immer benehmen wie eine Idiotin, wenn<br />

ich einem Jungen begegne, der mich interessiert. Aber<br />

dieses Rätsel werde ich auch noch lösen. Langsam dämmert<br />

mir, dass Tim ja offensichtlich doch Deutsch kann.<br />

Sein Akzent ist noch lustiger als der seines Bruders. Ein<br />

bisschen knödelig, aber nett. Da hat er Mama sehr wohl<br />

verstanden, als sie ihm die Cowboystiefel ausreden wollte.<br />

Außerdem, was hat er noch gesagt? Ich habe schöne<br />

lange Beine?<br />

»Das heißt nicht Maul, sondern Mund. Lange Beine<br />

habe ich zwar. Aber schön sind sie nicht.«, erkläre ich<br />

muffelig. Verflixt, warum kann ich nicht einmal so charmant<br />

sein wie Miriam.<br />

Tim lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. »Doch,<br />

ich finde du hast schöne lange Beine. Du bist bestimmt<br />

eine gute Sportlerin.«<br />

Betrübt schüttle ich den Kopf. Zu gerne hätte ich das<br />

Kompliment im Raum stehen lassen. Aber meine Wahr-<br />

19


heitsliebe macht mir einen Strich durch die Rechnung.<br />

»Beim Sprint stolpere ich über meine Füße, beim Hürdenlauf<br />

über die Hürden, beim Weitsprung treffe ich nie<br />

den Absprungbalken, und beim Hochsprung bleibe ich<br />

immer mit der Ferse an der Stange hängen«, sprudle ich<br />

heraus. Jetzt wird er bestimmt nicht mehr viel von mir<br />

halten.<br />

Aber Tim wiegt nur ernsthaft seinen Kopf hin und her,<br />

dann schaut er mich gerade heraus an. »Das glaub ich dir<br />

nicht. Mit solch langen Beinen wärst du bei uns in Kanada<br />

längst auf einer Sportschule. Du bist zu – wie sagt man<br />

auf Deutsch?«<br />

»Das heißt bescheiden«, antworte ich lahm. Also gut.<br />

Soll er doch glauben, was er will. Er fährt ohnehin bald<br />

wieder und wird nie sehen, wie ich mich im Sportunterricht<br />

anstelle. Außerdem gefällt es mir schon sehr, dass er<br />

nett von mir denkt. Unwillkürlich strahle ich in an und<br />

halte ihm die Tafel Schokolade unter die Nase. Tim lacht<br />

herzhaft. Verdutzt schaue ich erst ihn an und dann das<br />

Papier. Kein Stück mehr drin. Ich habe alles aufgegessen.<br />

O <strong>Hanna</strong>!, denke ich – und werde natürlich feuerrrot.<br />

Ich könnte mich ohrfeigen. Außerdem weiß ich schon<br />

wieder nicht, was ich sagen soll.<br />

Da schlägt mir jemand von hinten heftig aufs linke Schulterblatt.<br />

Ich fahre herum. Es ist Felix. »Mama schickt<br />

mich, du sollst sofort zu ihr kommen. Sie braucht Hilfe«,<br />

erklärt er – und schaut neugierig von meinem feuerroten<br />

Gesicht zu Tim und wieder zurück. Dann grinst er gemein.<br />

»Na, da wird sich doch nicht noch eine Liebesgeschichte<br />

anbahnen? Findest du nicht, dass eine in diesem<br />

Hause erst mal reicht?«<br />

20


Ich werde noch röter, kann richtig spüren, wie die Hitze<br />

in meinem Gesicht prickelt. Andererseits bin ich froh,<br />

dass Felix mich aus dieser peinlichen Situation erlöst hat.<br />

Deshalb belasse ich es bei einem gefauchten »Blödmann«<br />

und schicke mich an, in Richtung Haus zu gehen. Mehr<br />

fällt mir im Moment sowieso nicht ein. Ich höre gerade<br />

noch, wie Tim in meinen Rücken hinein etwas murmelt.<br />

Hat er tatsächlich gesagt: »Das könnte schon sein?« Nein,<br />

da muss ich mich wohl verhört haben. Ich verdränge den<br />

Gedanken sofort und gehe schneller. Besser, ich schaue,<br />

dass ich zu Mama komme.<br />

»Schöne lange Beine, hm?« Felix hat aufgeschlossen<br />

und trabt neben mir her.<br />

»Es gehört sich nicht, Gespräche von anderen zu belauschen.«<br />

Ich kratze meine ganze Würde als große Schwester<br />

zusammen. »Kümmere dich um deinen eigenen<br />

Kram. Schau, dass du Land gewinnst.«<br />

Felix wirft in gespielter Verzweiflung die Arme nach<br />

oben. Meine Würde beeindruckt ihn kein bisschen. »Ist ja<br />

schon gut, ich geh ja schon«, erklärt er betont zerknirscht<br />

und dreht ab.<br />

Mir ist sofort klar, dass ich einen Fehler gemacht habe.<br />

Jetzt muss ich Mama ganz alleine helfen.<br />

»Schnuckel, findest du nicht, wir sollten Miriam endlich<br />

die Wahrheit sagen?« Ich höre Papas Stimme durch die<br />

geöffnete Küchentüre. Sie klingt etwas verwirrt. Ich bleibe<br />

stehen. Offenbar geht es hier um ein Geheimnis. Du<br />

meine Güte, ich bin gespannt, was an diesem Tag noch<br />

alles passiert. Als ob es nicht schon jetzt reicht.<br />

Es dauert eine Weile, bis Mama antwortet. Ihre Stimme<br />

klingt ebenfalls nicht ganz so selbstsicher wie sonst.<br />

»Nein. Außerdem, was heißt hier Wahrheit?«<br />

21


»Aber Schnuckel. Jetzt hat sie selbst eine Familie. Da<br />

sollte sie es doch wissen.«<br />

Dieses Mal ist Mamas Stimme richtig herausfordernd.<br />

»Was wissen? Hier gibt’s nichts zu wissen. Miriam ist<br />

doch schließlich unsere Tochter, oder nicht?«<br />

»Doch, ist sie, aber ….«<br />

»Nichts aber, Helmut.«<br />

Wenn Mama diese Tonlage anschlägt ist jeder Widerspruch<br />

zwecklos. So sagt Papa nur noch: »Ach, Sigrid.«<br />

Jetzt bin ich vollends durcheinander. Wenn Papa Sigrid<br />

sagt statt Schnuckel, stimmt etwas ganz entschieden<br />

nicht. Ich kann nur nicht herausbekommen, was. Was<br />

soll das blöde Gerede über Miriam? Dass sie ihre Tochter<br />

ist, müssten sie schließlich schon ziemlich lange wissen,<br />

so 21 Jahre mindestens.<br />

Da kommt Papa aus der Küchentüre. Er schaut mich<br />

forschend an. »<strong>Hanna</strong>, da bist du ja endlich. Hilf deiner<br />

Mutter Brote schmieren.« Weiter sagt er nichts.<br />

Neben Mama türmen sich auf dem Küchentisch schon<br />

riesige Stapel von mit Butter beschmierten Broten. »Unsere<br />

Gäste essen wie die Scheunendrescher, schon alle<br />

Häppchen sind weg. Hol den Aufschnitt und den Käse<br />

und belege die Schnitten«, kommandiert sie. Ihr Gesicht<br />

wirkt angespannt.<br />

Ich nicke nur, und mache mich ans Werk. In meinem<br />

Kopf tanzen Kraut und Rüben Polka. Ständig passiert<br />

etwas Neues. Zuerst macht mir mein neuer Schwager<br />

Komplimente, obwohl ich mich absolut dämlich aufführe.<br />

Doch er wird glücklicherweise nie selbst erleben, wie<br />

blöde ich mich im Sport anstelle. Bei jeder Art von Sport.<br />

Ich merke plötzlich, es wäre mir nicht recht, wenn er eine<br />

schlechte Meinung von mir bekäme.<br />

22


Dann ist da noch dieses seltsame Gespräch über Miriam.<br />

Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.<br />

Mama schweigt eine Weile. Dann erklärt sie fast nebenbei:<br />

»Ach <strong>Hanna</strong>, ich wollte dir noch etwas sagen,<br />

was dich bestimmt freut.«<br />

Ich spitze die Ohren. Vielleicht kommt jetzt Licht in<br />

das Dunkel um Miriam.<br />

»Dein neuer Schwager Tim, mir scheint, den magst Du<br />

doch, oder?«<br />

Was soll das nun wieder? Ich nicke verhalten. »Schon.<br />

Scheint nicht übel zu sein, glaub’ ich jedenfalls. Aber<br />

warum willst du das wissen?«<br />

Mama schaut von ihren Broten auf. »Weil er für ein<br />

Jahr als Austauschschüler bei uns bleiben wird, ist das<br />

nicht toll? Meine Freundin Patrizia will, dass ihr Sohn<br />

anständig Deutsch lernt.«<br />

Ich verschlucke mich, und huste heftig. Das enthebt<br />

mich wenigstens einer Antwort. Auch das noch. Das<br />

heißt ja wohl, Tim geht nach den Sommerferien mit mir<br />

in die Schule. Mir bleibt wirklich nichts erspart. Jetzt<br />

wird er seine Schwägerin <strong>Hanna</strong> Gerteis doch noch in<br />

der ganzen Blüte ihrer sportlichen Unfähigkeit erleben.<br />

Mein Gott, ist mir das peinlich. Mir schießt schon wieder<br />

die Röte ins Gesicht.<br />

Mama schiebt es auf den Husten und klopft mir beruhigend<br />

auf den Rücken. »Ihr werdet doch miteinander<br />

zurechtkommen, oder?«<br />

Ich drücke noch ein paar Huster hinterher und nicke<br />

heftig. Plötzlich merke ich zu meinem eigenen Erstaunen,<br />

dass mir der Gedanke, dass Tim bleibt, gar nicht so<br />

schlecht gefällt. O <strong>Hanna</strong>, denke ich zum tausendsten<br />

Mal an diesem Tag.<br />

23


Grün und Blau<br />

Ich sitze auf dem Rand der Badewanne und studiere<br />

meine Schienbeine. Sie sind völlig blau. Von oben bis<br />

unten, von links bis rechts. Genauso meine Knie. Mein<br />

Steiß wahrscheinlich auch. Aber den kann ich nicht sehen,<br />

nur spüren. Wahrscheinlich werden die blauen Flecken<br />

bald grün und dann gelb. Das tun sie immer, bevor<br />

sie weggehen. Ich kenne das schon. Das kommt davon,<br />

wenn man einem neuen Schwager beweisen will, dass<br />

man sportlich doch keine Niete ist. Ich habe bloß bisher<br />

nicht das Gefühl, dass die heimlichen morgendlichen<br />

Trainingsläufe außer den blauen Flecken viel gebracht<br />

haben. Allerdings kenne ich inzwischen jede einzelne<br />

Wurzel auf dem Pfad in dem Wäldchen hinter unserem<br />

Haus persönlich.<br />

Ich stöhne, erhebe mich vorsichtig, humpele zum<br />

Waschbecken und drehe den Wasserhahn auf. Seit Miriam<br />

mit ihrem Peter auf Hochzeitsreise ist, habe ich morgens<br />

wenigstens etwas mehr Zeit im Bad. »Man muss aus<br />

allem das Beste machen.« Sagt Mama.<br />

Ich blicke in den Badezimmerspiegel und studiere<br />

eine große Schramme, die quer unter meinem Auge in<br />

Richtung Schläfe verläuft. Vor mir läuft noch immer das<br />

Wasser ins Waschbecken. Aber ich habe keine Lust, mich<br />

zu waschen. Mir tut alles weh. Die Schramme sieht auch<br />

nicht gerade hübsch aus. Doch wie ich aussehe, interessiert<br />

ja sowieso niemanden. Tims Gesicht geht mir nicht<br />

24


Worterklärungen<br />

Chunst<br />

flächenwärts<br />

Gotte<br />

Kuller<br />

Lepo<br />

schnauzwärts<br />

Spornkuller<br />

schwanzwärts<br />

alemannisches Wort für<br />

Kachelofen<br />

in der Fliegersprache seitwärts<br />

der alemannische Ausdruck<br />

für Patentante<br />

Nach allen Seiten fahrbarer<br />

Untersatz unter dem<br />

Hauptrad, um Segelflugzeuge<br />

zu bewegen.<br />

Rückholwagen für das Seil<br />

von der Winde, mit der<br />

Segelflugzeuge in die Luft<br />

katapultiert werden.<br />

in der Fliegersprache vorwärts<br />

siehe Kuller, am Rumpfende<br />

des Flugzeuges angebracht.<br />

in der Fliegersprache<br />

rückwärts<br />

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