Leseprobe: Bernstein – West Side Story

derthalb Jahrzehnten eine geradezu zeitlose Bedeutung erhielt. Die dargestellten
Konflikte erwiesen sich auf Dauer als gleichsam archetypisch,
sodass sie von den Zuschauern der unterschiedlichsten Länder und Kulturräume
entschlüsselt werden konnten und keiner besonderen Aktualisierung
mehr bedurften. Je nach Zeit und Ort konnte das Werk mit Sinn
und Bezügen aufgeladen werden.
Was im Rückblick auf die Entwicklung seit der Uraufführung im
Herbst 1957 möglicherweise wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war es
nicht. Auch für die West Side Story, inzwischen als Meilenstein der Musicalgeschichte
allgemein akzeptiert, war nicht vorhersehbar, dass aus dem
künstlerischen Wagnis einmal ein »Klassiker« werden würde.
Die Uraufführung
Die Reaktionen auf die Uraufführung fielen alles andere als überschwänglich
aus, trotz der Prominenz der Autoren und des Regieteams. Premiere
war, wie gesagt, am 26. September 1957 im Winter Garden Theatre in New
York. Zuvor hatte es zwei Tryout-Stationen in Washington (ab 19. August)
und drei Wochen später in Philadelphia gegeben. Die Tryouts, die im amerikanischen
Musicalgeschäft üblich sind, dienen dazu, das gesamte Stück
noch einmal anhand der Reaktionen des Publikums zu überprüfen, die
Wirkung bestimmter Szenen und Songs zu beobachten, Umstellungen
vorzunehmen, Dialoge oder Songs eventuell neu zu schreiben oder bestimmte
Teile gar herauszunehmen. Die Dauer der Tryouts und der Umfang
der Veränderungen können sehr unterschiedlich ausfallen. Immer
gilt jedoch die New Yorker Premiere als das eigentliche Uraufführungsdatum.
Der West-Side-Story-Premiere voraus gingen ab dem 11. September
Previews, Voraufführungen, die zur Sicherstellung der reibungslosen
technischen Abläufe in dem angemieteten Theater dienten.
Die Produzenten und Autoren wussten, dass sie ein Stück an den
Broadway brachten, wie es bis dahin kaum vorstellbar schien: ein wortloser
Kampf als Ouvertüre, zur Pause zwei Leichen auf der Bühne, kaum
fröhliche Szenen und zum Schluss einen musiklosen Monolog einer jungen
Frau, die erklärt, jetzt ebenfalls töten zu können. »Wir hatten keine
Ahnung«, äußerte sich Bernstein, »ob die Show auch nur halbwegs okay
sein würde.« Etwas Vergleichbares hatte es zumindest bislang im Musicaltheater
nicht gegeben. Ob der Broadway, für den es auch noch in den
1950er-Jahren als ausgemacht galt, dass Musicalaufführungen fröhlich zu
sein hätten, ein tragisches Musical zu einem ernsten, zeitgenössischen
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