Alla Breve Nr. 41 - Sommersemester 2020
Magazin der Hochschule für Musik Saar
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Werke der mittleren Schaffensperiode,
repräsentiert durch die letzte Violinsonate
(op. 96) und das große B-dur Trio (op. 97),
erkennt Adorno eine Wende. „Die Geste
dieser Stücke, besonders der ersten Sätze,
ist es ausatmend die Zeit gewissermaßen
frei zu geben... Die Zeit fordert ihr Recht.“
(S. 137) Hier bahnt sich an, was der Autor
als den extensiven Typ der späteren Zeit
bezeichnet. Während sich mit der intensiven
Zeitgestaltung ein dramatischer, vorwärtsdrängender
Charakter verbindet, bewirkt
der extensive Typ den Eindruck eines
epischen Charakters der Musik.
Das Miteinander des
„humanen“ Kraftgenies und des
„unterirdischen Kobolds oder
Gnomen“
Adorno wird später den Begriff des Epischen
benutzen, um die Eigenart der Symphonie
Gustav Mahlers zu kennzeichnen. Er spricht
dort von einer „romanhaften Musikgesinnung“,
die dem epischen Symphonietyp
Mahlers zugrunde liegt. Er sieht die epische
Symphonik Mahlers vorbereitet im extensiven
Zeitgestaltungstyp Beethovens, wie er sich
schon in der Pastoralsymphonie bemerkbar
macht. Die personalstilistische Typisierung
der späteren Werke Beethovens erlaubt
es ihm, einen Bogen der sinfonischen Entwicklungsgeschichte
von Beethoven über
Schubert bis zu Mahler zu schlagen. Die
ästhetische Kategorie der extensiven Zeitgestaltung
fungiert zugleich als Möglichkeit
eines historio graphischen Ansatzes.
Adorno plante in seinem Buch eine musikalische
„Physiognomie“ Beethovens zu entwerfen,
wie er es später für Gustav Mahler getan
hat.
Als einen wesentlichen Zug einer solchen
Physiognomik betrachtet er das Miteinander
des „humanen“ Kraftgenies und des – wie
er sich ausdrückt – „unterirdischen Kobolds
oder Gnomen“. Um diese Verschränkung verständlich
zu machen, zieht er – für viele überraschend,
gleichwohl sehr originell – eine
Essay
Figur aus der Märchenwelt heran. Aus den
„Volksmärchen der Deutschen“, zusammengestellt
von Johann August Musäus, wählt er
die Charakterisierung des Rübezahl, die ihm
wie auf Beethoven gemünzt zu sein scheint.
Er zitiert aus der Quelle folgendes:
„Denn Freund Rübezahl, sollt ihr wissen,
ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm,
sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden;
stolz, eitel, wankelmütig, heute der
wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zu
Zeiten gutmütig, edel und empfindsam; aber
mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern
und weise, oft weich und hart in zwei Augenblicken,
wie ein Ei, das in siedend Wasser
fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und
beugsam nach der Stimmung, wie ihn Humor
und innerer Drang beim ernsten Anblick jedes
Ding ergreifen läßt.“ (a.a.O.S. 174) Von der
Deutung dieser Widersprüchlichkeit hängt
nach Adorno die Erkenntnis Beethovens ab.
Gerade durch den Rückgriff auf eine archetypische
Märchenfigur als Erklärungshilfe
präsentiert sich Adorno als „Ratgeber“, von
dem wir lernen können, wie man Neues aus
Altem verständlich macht. Es empfiehlt sich,
in neueren Entwicklungen die Wirksamkeit
der Spuren des Alten aufzudecken. Auf
diese Weise stellt sich das Neue nicht als
Niederschlag eines vordergründigen Zeitgeistes
dar, sondern als neuartige Interpretation
alter und gleichbleibender Urphänomene.
Adornos Beethovenrezeption ist beispielhaft
für ein Kulturverständnis, das geleitet
ist nicht nur von der Vorstellung einer unbefragten
waltenden Tradition, sondern darüber
hinaus von der Vorstellung einer begriffenen
Tradi tion.
Ein solches Verständnis möge auch unsere
Arbeit leiten.
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