31.03.2020 Aufrufe

Alla Breve Nr. 41 - Sommersemester 2020

Magazin der Hochschule für Musik Saar

Magazin der Hochschule für Musik Saar

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Werke der mittleren Schaffensperiode,

repräsentiert durch die letzte Violinsonate

(op. 96) und das große B-dur Trio (op. 97),

erkennt Adorno eine Wende. „Die Geste

dieser Stücke, besonders der ersten Sätze,

ist es ausatmend die Zeit gewissermaßen

frei zu geben... Die Zeit fordert ihr Recht.“

(S. 137) Hier bahnt sich an, was der Autor

als den extensiven Typ der späteren Zeit

bezeichnet. Während sich mit der intensiven

Zeitgestaltung ein dramatischer, vorwärtsdrängender

Charakter verbindet, bewirkt

der extensive Typ den Eindruck eines

epischen Charakters der Musik.

Das Miteinander des

„humanen“ Kraftgenies und des

„unterirdischen Kobolds oder

Gnomen“

Adorno wird später den Begriff des Epischen

benutzen, um die Eigenart der Symphonie

Gustav Mahlers zu kennzeichnen. Er spricht

dort von einer „romanhaften Musikgesinnung“,

die dem epischen Symphonietyp

Mahlers zugrunde liegt. Er sieht die epische

Symphonik Mahlers vorbereitet im extensiven

Zeitgestaltungstyp Beethovens, wie er sich

schon in der Pastoralsymphonie bemerkbar

macht. Die personalstilistische Typisierung

der späteren Werke Beethovens erlaubt

es ihm, einen Bogen der sinfonischen Entwicklungsgeschichte

von Beethoven über

Schubert bis zu Mahler zu schlagen. Die

ästhetische Kategorie der extensiven Zeitgestaltung

fungiert zugleich als Möglichkeit

eines historio graphischen Ansatzes.

Adorno plante in seinem Buch eine musikalische

„Physiognomie“ Beethovens zu entwerfen,

wie er es später für Gustav Mahler getan

hat.

Als einen wesentlichen Zug einer solchen

Physiognomik betrachtet er das Miteinander

des „humanen“ Kraftgenies und des – wie

er sich ausdrückt – „unterirdischen Kobolds

oder Gnomen“. Um diese Verschränkung verständlich

zu machen, zieht er – für viele überraschend,

gleichwohl sehr originell – eine

Essay

Figur aus der Märchenwelt heran. Aus den

„Volksmärchen der Deutschen“, zusammengestellt

von Johann August Musäus, wählt er

die Charakterisierung des Rübezahl, die ihm

wie auf Beethoven gemünzt zu sein scheint.

Er zitiert aus der Quelle folgendes:

„Denn Freund Rübezahl, sollt ihr wissen,

ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm,

sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden;

stolz, eitel, wankelmütig, heute der

wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zu

Zeiten gutmütig, edel und empfindsam; aber

mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern

und weise, oft weich und hart in zwei Augenblicken,

wie ein Ei, das in siedend Wasser

fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und

beugsam nach der Stimmung, wie ihn Humor

und innerer Drang beim ernsten Anblick jedes

Ding ergreifen läßt.“ (a.a.O.S. 174) Von der

Deutung dieser Widersprüchlichkeit hängt

nach Adorno die Erkenntnis Beethovens ab.

Gerade durch den Rückgriff auf eine archetypische

Märchenfigur als Erklärungshilfe

präsentiert sich Adorno als „Ratgeber“, von

dem wir lernen können, wie man Neues aus

Altem verständlich macht. Es empfiehlt sich,

in neueren Entwicklungen die Wirksamkeit

der Spuren des Alten aufzudecken. Auf

diese Weise stellt sich das Neue nicht als

Niederschlag eines vordergründigen Zeitgeistes

dar, sondern als neuartige Interpretation

alter und gleichbleibender Urphänomene.

Adornos Beethovenrezeption ist beispielhaft

für ein Kulturverständnis, das geleitet

ist nicht nur von der Vorstellung einer unbefragten

waltenden Tradition, sondern darüber

hinaus von der Vorstellung einer begriffenen

Tradi tion.

Ein solches Verständnis möge auch unsere

Arbeit leiten.

AllaBreve

Magazin der Hochschule für Musik Saar

67

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!