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Unter dem Jerusalemer Kreuz

Württemberger In Palästina

Württemberger In Palästina

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Vorderseite: Bild von Jerusalem

Mit etwas Fantasie erkennt man links den Felsendom, wohl das

bekannteste Wahrzeichen Jerusalems. Daneben die Al-Aqsa-

Moschee, das drittwichtigste Heiligtum der Moslems.

Rechts erkennt man die Grabeskirche, die als die heiligste Stätte

der Christen gilt. Sie wird von den griechisch-orthodoxen Gläubigen

Auferstehungskirche genannt.

Darunter ist die Klagemauer gezeichnet. Eine heilige Stätte der

Juden. Sie stellt für sie ein Symbol für den ewigen Bund Gottes mit

seinem jüdischen Volk dar.

Sinnbildlich vom Verfasser dargestellt.


Band 1

1931-1942

Vierte Auflage

Nach drei Auflagen mit insgesamt 130 Exemplaren

folgt jetzt die vierte Auflage, die einige wenige

zusätzliche Ergänzungen beinhaltet.

Sie ist auf 20 Bücher beschränkt.

Siegfried Kuebler


Autobiografie

In dieser Reihe sind bisher folgende Bändchen erschienen:

Band 1: Unter dem Jerusalemer Kreuz (1931-1942)

Band 2: In Überlingen (1942-1953)

Band 3: Immer nur ein Fremder (1953-1956)

Band 4: Ein Immigrant in Kanada (1957-1960)

Band 5: Ein Kirschbaum blüht im Garten (1960-1984)

© Copyright

by Siegfried Kuebler

Mai 2013

Zur Grundel 18

D 88662 Überlingen


Württemberger in Palästina ...

Unter dem Jerusalemer Kreuz

(1931-1942)

von

Siegfried Kuebler

Vierte Auflage


Inhaltsverzeichnis

Prolog: Wer ist denn der Neue im Club? 7

Vorwort zur dritten Auflage 9

In Jerusalem geboren 13

Die Templer 22

Die Familie Dyck in der Ukraine 34

Johannes am Kaukasus und auf der Krim 37

Johannes heiratet eine Edelmannstochter 42

Johannes zieht in die Templersiedlung Haifa 44

Johannes verliert seine Familie 47

Johannes in Jerusalem 50

Ein Amerikaner – mein Großvater Friedrich Kuebler 58

Mein Vater musste die Metzgerei übernehmen 63

Jona Kuebler – der Bruder meines Vaters 66

Der Erste Weltkrieg bricht über Palästina herein 68

Mein Vater wird Deutscher 71

Kuebler's Tourist- and Travel Office 73

Mein Vater heiratete Paula Dyck 79

Meine frühe Kindheit 83

Ein Erdbeben 89

Der Täuberich 91

Der grüne, ungenießbare Frosch 94

Mein Vater wird ungarischer Honorarkonsul 96

Eine Gartenparty für die Diplomaten 99

Yachia, der stärkste Träger Jerusalems 101

Ein Einbrecher 103

Ich lernte eine Lektion 105

Die blauen Nonnen 109

Unruhen in Jerusalem 113

Tante Kea 116

Ein neues Büro am Jaffator 122

6


Onkel Egmont 124

The German Colony 127

Alt Jerusalem 138

Der arabisch-israelische Konflikt 144

Lawrence of Arabia 146

Der Zweite Weltkrieg bricht aus 152

Die Templersiedlung Sarona 156

Ein späterer Besuch in Sarona 159

Bei Familie Weller 165

Jugendstreiche 178

Gefährliche Jugendstreiche 184

Die Ungarnbuben 191

Bombenangriffe auf Tel-Aviv 201

Trachom bricht im Lager aus 206

Mein Vater wird nach Australien verlegt 209

Das Internierungslager Athlit 214

Der Gefangenenaustausch nach Deutschland 219

Die überraschende, neue Geschichte des Hauses Kuebler 222

Zeitungsausschnitte, die meinen Vater betreffen 227

Shay Farkash 230

Anmerkungen zu Walter Mittelholzer 232

Literaturverzeichnis 235

Weitere Bücher 237

Die Untertitel in kursiver Schrift sind geläufige arabische Sprichwörter.

7


8

Hochmittelalterlicher „Stadtplan“ von Jerusalem


Prolog: Wer ist denn der Neue im Club?

Zwischen Lachen und Spielen werden die Seelen gesund.

„Heute ist es mir ganz gut gelaufen“, sagte Emmi zu ihrem

Mann. „Am Loch 18 war der Ball allerdings im Wasser

gelegen, und ich musste einen Strafschlag in Kauf nehmen,

aber ich habe immer noch ein Doppelbogey gespielt.“

„Ich habe heute Pech gehabt“, meinte Paul. „Meinen Ball

habe ich immer wieder ins hohe Rough geschlagen und ihn

nicht wiedergefunden. In unserer Runde war übrigens der

Neue dabei, von dem wir neulich gesprochen hatten. Obwohl

er schon 70 Jahre alt ist, stellte er sich gar nicht so ungeschickt

an. Er soll langjähriges Mitglied des Überlinger Tennis

Clubs sein und im letzten Jahr sogar Turniere der Medenrunde

gespielt haben. Tennisspieler haben es einfacher,

wenn sie mit Golf anfangen. Sie bringen das Ballgefühl mit.“

„Anfangs machen sie schnelle Fortschritte“, erwiderte

Emmi. „Wenn sie aber einmal die Eins vor ihrem Handicap

stehen haben, geht es ihnen wie allen anderen. Es geht nur

noch sehr langsam mit dem Handicap abwärts oder gar nicht

mehr. Übrigens hat mir Käthe erzählt, die den Neuen schon

länger kennt, ich glaube er heißt Kuebler, dass er einige Erfindungen

gemacht haben soll und eine große amerikanische

Sportgerätefirma, man sagt es sei Wilson, die Lizenz für den

Nachbau seiner entwickelten Tennisschläger erworben hat.“

„Er soll auch in Deutschland, und zwar in Singen, eigene

Tennisschläger gebaut und mit gutem Erfolg vertrieben haben“,

meinte Paul. „Karl hatte einen Schläger von ihm in den

Achtzigerjahren gespielt und war damit sehr zufrieden. Er

erzählte, dass Kuebler von Beruf Kälte- und Klimafachmann

sei und mechanische Kühltürme entwickelt hatte, die die

Firma Gohl in Singen seit 1960 bis heute bauen würde. Sie

9


sei zum größten Hersteller für solche Geräte in Europa geworden.“

„Er soll in Jerusalem geboren sein“, krähte Emmi mit heiserer

Stimme. „Käthe meinte, dass er aber weder Moslem

noch Israeli sei, sondern einer evangelischen Sekte angehören

würde, deren Mitglieder aus Württemberg gegen Ende

des 19ten Jahrhunderts nach Palästina ausgewandert seien.

Templer hätten sie sich genannt.“

„Wir haben in letzter Zeit schon wirkliche Exoten als neue

Mitglieder in unseren Club aufgenommen. Von jedem erzählt

man sich eine noch wildere Geschichte. Aber das alles

kann uns gleichgültig sein, solange sie sich beim Spiel und

beim Umgang mit anderen korrekt verhalten und nicht ihre

unerzogenen Enkel auf den Platz mitbringen. Vielleicht gelingt

einigen der neuen Mitglieder sogar, dem manchmal

langweiligen Clubleben neue Impulse zu geben. So gesehen

kann auch der Kuebler uns willkommen sein“, entgegnete

Paul und schob auf dem Putting-Green, wo er nach dem Spiel

seinen Schlag wiederfinden wollte, den nur 15 cm vom Loch

entfernten Ball daneben, was ihm einen nicht gesellschaftsfähigen

Fluch entlockte.

Emmi schaute sich um, ob irgendjemand den Ausruf ihres

Mannes gehört haben könnte, und warf ihm dann einen vorwurfsvollen

Blick zu.

„Echt geil, die Grufties müssen noch viel lernen“, murmelte

der Jugendliche, der den Ausspruch gehört hatte. Sein fünf

Meter entfernter Ball auf dem benachbarten Grün rollte während

seines Kommentars direkt ins Loch.

Die beiden schon schlecht hörenden Alten, sie hatten den

Ausspruch des Jungen nicht gehört, trotteten vom Grün zum

Restaurant, wo ein kühles Bier nach der anstrengenden Runde

auf sie wartete.

10


Vorwort zur dritten Auflage

Das Leben besteht aus zwei Teilen: die Vergangenheit – ein

Traum; die Zukunft – ein Wunsch.

Wie schon seit vielen Jahren verbringen Regine und ich

den deutschen Winter im sonnigen Südafrika. Wir haben uns

in der Nähe von Kapstadt ein kleines Häuschen gekauft, das

in einer bewachten Anlage liegt und den hübschen Namen

Zevenwacht Village trägt, genannt nach dem Weingut, das

weiter oben auf einem Hügel liegt, von wo man einen weiten

Blick in die Kapstadtebene hat mit dem Tafelberg im

Hintergrund als Silhouette. Auch wir können von unserem

Garten aus den Tafelberg sehen und sogar den unverwechselbaren

Lions Head, der etwas weiter nach Westen liegt.

Das Häuschen und auch den Garten hat Regine in ein kleines

Kleinod verwandelt. Auf der Terrasse entlang dem Häuschen

unter dem Schatten der dichten orange, violett, dunkelrot

und pink blühenden Bougainvillea-Sträuchern habe

ich mich niedergelassen, um meinem Hobby nachzugehen:

zu schreiben. Regine hat mir ihren Garten erklärt, den sie

zusammen mit ihrer Freundin Sue, einer gebürtigen Südafrikanerin,

angelegt hat. Sie ist von Beruf Landschaftsgärtnerin

und kennt die einheimischen Pflanzen von Südafrika aus

dem Effeff (die werden hier indigenous plants genannt). Der

Garten hat schon die Bewunderung von vielen der etwa 200

Bewohner dieses Villages auf sich gezogen. Im Besonderen

wird der Berea Grasrasen bestaunt, der nicht gelb wird, wie

viele andere trotz Beregnung im Sommer, sondern sein saftig-grünes

Leuchten beibehält. Im Hochsommer beginnt das

Gras sogar zu blühen. Dieser Rasen muss gepflanzt werden,

wie die Setzlinge von Reis. Jede kleine Pflanze bildet Ausleger,

die sich wieder eine Stelle suchen, wo sie Wurzeln schla-

11


gen können. So wird der Rasen immer dichter und man geht

schließlich darauf wie auf einer weichen Matratze. Diese

Grassorte ist in Südafrika heimisch und deshalb an die stark

wechselnden Klimabedingungen angepasst. Der große Garten

ist durch eine drei Meter hohe Bleiwurz-Hecke, deren Doldenblüten

hellblau sind, vor neugierigen Blicken geschützt.

Davor sind Baumfarne gepflanzt, Geranien – auch in Südafrika

heimisch –, und weiße, blaue und violette Agapanthen.

Ein lustiger rot und pink blühender Bottlebrush steht für sich

allein, ich glaube, dass der nicht allzu groß wachsende Baum

auf Deutsch Lampenputzer heißt. Die sichelförmige gemauerte

Einfassung, die sich auch zum Sitzen bei Partys im Freien

anbietet, ist mit Lavendel und Eisbergrosen eingefasst.

Sie werden mit Vorliebe in dieser Weingegend am Rand von

Weinbergen gepflanzt, weil sie irgendwelche Krankheiten

vor den Reben bekommen, sodass der Weinbauer rechtzeitig

darauf reagieren kann. Regine ist besonders stolz auf die

vielen Bäume im Garten, darunter sind zwei haushohe Steinpinien,

einige kleinere Olivenbäume, ein rot blühender Rooiblom

Blue-Gum Eukalyptusbaum, ein Frangipanibaum mit den

rosahellgelben Blüten, die einen äußerst starken, in manchen

Parfüms wiederzufindenden Duft abgeben, ein Zitronenbaum,

ein Feigenbaum und zwei Granatapfelbäume. Die

beiden Damen haben auch einen englischen Rosengarten

angelegt, umgeben von Hortensien, die, man sieht es ihrer

Blütenfülle an, das Klima lieben. Ergänzt werden alle Pflanzen

von Proteas und Fynbos-Arten, die nirgends auf der Welt

in dieser Vielfalt vorkommen wie in der Kap-Region.

Wir spielen dreimal in der Woche Golf. Das nimmt Zeit in

Anspruch. Trotzdem bleibt noch Muße zum Lesen übrig.

Allerdings befriedigt mich das Lesen nicht immer, und dann

suche ich nach einem neuen Projekt, nach einem neuen The-

12


ma, über das ich schreiben könnte. Wie wäre es, die Geschichten

aufzuschreiben, die ich bei meinen vielen Urlauben auf

der Insel Fuerteventura erlebt habe? Ich könnte das Erlebte

etwas abändern, Neues hinzuerfinden, sodass es für den

Leser interessanter wird. Dann fällt mir das Büchlein „Unter

dem Jerusalemer Kreuz“ in die Hand. Ich überlege mir, ob

ich es nochmals überarbeiten sollte, einige Korrekturen anbringen,

einige Ergänzungen einfügen. Shay Farkash, der

Israeli aus Tel Aviv, der mich vor drei Jahren in Überlingen

aufgesucht hatte, nachdem ihm mein Büchlein in die Finger

gekommen war, und der alle Schwarz-Weiß-Fotos meiner

Mutter mit der Beschreibung eines jeden Fotos haben wollte,

um sie digital in sein Archiv über die Templer aufzunehmen,

hatte mir einen an ihn gerichteten Brief von Felix Haar

zugeschickt, der wichtige Anregungen zu dem Büchlein

machte und einige Korrekturen vorschlug. Felix Haar, heute

in Australien lebend, war mit uns zusammen in Sarona interniert.

Er ist drei Jahre älter als ich und kann sich daher an

manche damalige Ereignisse – er war damals 13 und ich erst

10 – besser als ich erinnern.

Außerdem ist der Prozess, den der israelische Generalstaatsanwalt

gegen den ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten

Ehud Olmert angestrengt hatte, mit einem Freispruch

für Olmert zu Ende gegangen. Ihm war vorgeworfen

worden, das Haus in der Cremieuxstraße No. 8 (zur Erinnerung:

es ist mein Vaterhaus in der ehemaligen deutschen

Kolonie) viel zu billig erworben zu haben. Diesen Preisvorteil

habe er sich nur als damaliger Oberbürgermeister von

Jerusalem verschaffen können, und er habe somit sein Amt

missbraucht. Mit dem Freispruch ist nun die Geschichte um

das Haus zu einem Ende gekommen.

13


Shay Farkash war besonders interessiert an einem kleinen

Fotoalbum meiner Tante Kea, der Schwester meiner Mutter.

Es enthielt viele Aufnahmen von ihrem Bauernhof in der kleinen

Templersiedlung „Neuhardthof“, den sie mit ihrem

Mann zusammen, südlich von Haifa direkt am Meer gelegen,

bewirtschaftete. Er meinte, dass dies das bisher einzige

Bildmaterial von „Neuhardthof“ sei. Die Universität von

Haifa würde sich auch für diese Bilddokumente interessieren.

Warum sollte ich nicht die Geschichte meiner Tante in

das Büchlein aufnehmen? Einige Fotos dazu?

Auf der Terrasse mit den Singvögeln in den Büschen rings

um mich herum und den beiden Frankolins – eine südafrikanische

Fasanenart –, die mit ihren Jungen über Regines

Garten hüpfen, werde ich vielleicht die Ruhe finden, um dieses

Projekt durchzuziehen.

Und die vierte Auflage?

Die Ergebnisse der Recherchen über den Verbleib der Luftaufnahmen

von Palästina Anfang der 1930er Jahre von dem

Schweizer Flieger Mittelholzer wurden dargelegt und einige

kleinere Ergänzungen vom Internierungslager in Sarona hinzugefügt.

14


In Jerusalem geboren

Seltener Besuch vermehrt die Freundschaft. Wenn er aber oft kam,

schnitten sie ihm die Flügel.

„Wo sind Sie geboren? Wie bitte? In Jerusalem? Dann sind

Sie wohl ein Araber?“

Diese Frage wird mir heute manchmal gestellt, wenn ich im

Sommer braun gebrannt einem Beamten bei der Einreise in

ein nicht zur EU gehörendes Land gegenüberstehe und meinen

Pass, in dem natürlich mein Geburtsort vermerkt ist,

vorlege. Sofort werde ich insgeheim verdächtigt, ein möglicher

Terrorist zu sein, doch der Beamte fährt dann mit seiner

Hand über sein Kinn und denkt für sich: Dafür ist dieser

Mann eigentlich zu alt. Im Winter aber, wenn meine Gesichtsfarbe

weiß ist, lautet die Frage: „Dann sind Sie wohl ein Jude

oder ein Israeli?“

Keiner dieser Beamten würde auf die Idee kommen, mich

als Deutschen und schon gar nicht als Baden-Württemberger

einzustufen. Wo liegt schon Baden-Württemberg? Nie davon

gehört. Doch bei der Nationalität steht „deutsch“ im Pass,

und er lässt mich passieren.

Mein Aussehen ähnelt allerdings auch nicht unbedingt dem

eines nordischen Germanen. Es würde eher mit dem eines

Römers übereinstimmen. Das ist nichts Außergewöhnliches,

denn die Mehrzahl der Baden-Württemberger besitzen braune

Augen, dunkle Haare und einen etwas dunkleren Teint

als ein typischer Norddeutscher. Die Römer hatten seinerzeit

südlich des Limes ihre Spuren hinterlassen und das germanische

Element mit ihren Genen aufgemischt, manche behaupten

sogar veredelt.

Für Passkontrolleure ist jedoch alles ganz einfach: Wenn ei-

15


Die Grabeskirche gilt als die heiligste Stätte der Christenheit.

Sie wurde auf dem Platz erbaut, wo sich nach christlicher

Überlieferung das Grab Jesu befunden haben soll. Die

ältesten Teile sind Überreste einer Basilika, die unter Kaiser

Konstantin dem Großen im 4ten Jahrhundert errichtet worden

war.

ner in Jerusalem geboren wurde, müsste er eigentlich arabischer

oder jüdischer Herkunft sein.

In Jerusalem geboren zu sein, ist schon ein Privileg. Jerusalem

ist eine ganz besondere Stadt mit einer bewegten Geschichte,

die ihresgleichen sucht.

„Deiner Herkunft und deiner Geburt nach stammst du aus dem

Land der Kanaaniter. Dein Vater war ein Amoriter, deine Mutter

eine Hethiterin“, das sagte Gott zu Jerusalem (Jesaja 16.3).

Jerusalem birgt viele heilige Stätten der drei großen Religionen

wie zum Beispiel die Grabeskirche der Christen, die Klagemauer

der Juden und die al-Aqsa-Moschee der Moslems,

dahinter den Felsendom – die Omar Moschee –, das herausragende

Wahrzeichen Jerusalems.

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Die Klagemauer ist die heiligste Stätte des Judentums. Sie ist

der Überrest einer Stützmauer um den Jerusalemer Tempel,

die 20 v. Chr. von Herodes gebaut worden war. Der Name

entstand, weil die Israeliten hier die Zerstörung ihres Tempels

durch die Römer 70 n. Chr. bis heute beklagen.

Jerusalem ist die Tempelstadt Davids und Salomons, die Stätte

der Auferstehung Jesu. Mohammed war auf dem geflügelten

Pferd Burak von Mekka nach Jerusalem gekommen.

Vom Tempelberg reiste er weiter durch sieben Himmel bis

zum Thron Gottes. An der Stelle seines Aufbruchs über dem

Felsen Moria wurde der Felsendom errichtet.

Die frühesten Siedlungsspuren fand man südlich der heutigen

Altstadt, die aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. von einer

semitischen Bevölkerung stammen sollen. Auf einer in Nordsyrien

gefundenen Tontafel von 2400 bis 2150 v. Chr. las man

zum ersten Mal in sumerischer Keilschrift den Namen

Urusalim. Uru war der Name für Stadt und Salim hieß Heil.

An dem Namen und seiner Bedeutung hat sich im Laufe der

17


Jahrtausende nichts geändert. Selbst die Moslems nennen die

Stadt el Quds, übersetzt Stadt des Heils und die Israelis

Yerushalayim.

Dieser Stadt sind aber viele weitere Namen im Laufe der

Zeit gegeben worden. Über 70 sind bekannt. So wurde sie

auch Adonai Jireh – der Ewige sieht, Betulah – Jungfrau,

Druschah – Gesuchte, nie verlassene Stadt, Ir HaEmet – Stadt

der Wahrheit, Shalem – Friede, Kiriah Aliza – Stadt der Fröhlichkeit,

Klilat Joffi – der Schönheit Krone, Tzur HaMishor –

Fels in der Ebene genannt. Sion ist der biblische Name für

die Stadt: Maria, Tochter Sion. Am besten passt zu ihr

zweifelsohne: die Heilige Stadt, wie sie heute auch allgemein

genannt wird.

Die Geschichte der Stadt Jerusalem war von Kriegen bestimmt.

Sie wurde unzählige Male blutig erobert und zerstört,

dann prächtiger denn je wieder aufgebaut, nur um erneut

zerstört zu werden. Bei jeder Eroberung wurden viele

Einwohner umgebracht, und die mit dem Leben davonkamen,

vertrieben. Sie stand unter ägyptischer, amoritischer

(Kanaaniter aus dem Zweistromland), hethitischer, semitischer,

hellenistischer, römischer, christlicher, persischer und

türkischer Herrschaft. Und es gab eine Periode, in der die

Kreuzritter das Sagen hatten. Sie war zwischendurch immer

wieder die Hauptstadt der Juden. In Jerusalem ließ sich

David, der 998 v. Chr. die Philister überwinden konnte, zum

König salben. König Salomon folgte ihm, der auf dem Berg

Moria seinen Palast und den Tempel errichtete. Die Stadt

wird auch als die Stadt Davids bezeichnet.

Man muss sich allerdings fragen: Ist sie wirklich die Stadt

des Heils? Keine andere Stadt der Welt hat so viele Kriege,

so viele Zerstörungen und wahrscheinlich auch so viel Leid

über sich ergehen lassen müssen. Und das alles, obwohl sie

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Der Felsendom ist nach der Kaaba in Mekka und der

Grabmoschee Mohammeds in Medina das drittwichtigste

Heiligtum des Islam. Er umschließt den Heiligen Fels, auf

dem die Gläubigen den Huf Abdruck von Mohammeds

Pferd Burak erkennen. Mohammed soll von hier auf dem

Pferd in den Himmel geritten sein. Nach jüdischer

Überlieferung handelt es sich um den Felsen, auf dem

Abraham seinen Sohn opfern wollte.

weder über eine besondere strategische Lage, wie z. B. Troja,

verfügte noch über genügend Wasser und fruchtbares Land

in ihrer Umgebung. Wie hieß es schon in der Bibel? Viel Steine

gabs und wenig Brot! – Und das kann man wörtlich nehmen.

Alle Menschen, die Jerusalem aus ihrer Sicht oft in guter

Absicht das Heil bringen wollten, haben in ihrem Fanatismus

das Gegenteil bewirkt. Die christliche Lehre, die sagt:

Du sollst deine Feinde lieben, ist gerade hier in der Geburtsstadt

Jesu am allerwenigsten befolgt worden.

Die englische Krone hatte von 1920 bis 1947 einen Hoch-

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kommissar eingesetzt, der Palästina verwaltete. Er hatte seinen

Sitz in Jerusalem. Die Stadt wurde, nachdem die britische

Herrschaft beendet war, zwischen den Palästina-Arabern

und den Israelis aufgeteilt. Schließlich wurde sie 1980

zur Hauptstadt Israels erklärt. Heute hat Jerusalem etwa

600 000 Einwohner, darunter 130 000 Moslems und 25 000

Christen. Um die Jahrhundertwende waren es nur 58 000

Einwohner, davon 28 000 Juden, 16 000 Christen und 14 000

Moslems, die Juden waren in Jerusalem schon damals in der

Überzahl.

In der Heiligen Stadt wurde ich am 31. Oktober 1931 morgens

früh im Deutschen Krankenhaus in Jerusalem als gesunder sieben

Pfund schwerer Junge geboren. Am Reformationstag.

Kann man sich ein einprägsameres und schöneres Datum

wünschen? Bereits 1851 war von der Kaiserswerther Diakonie

ein Krankenhaus, das sogenannte Deutsche Krankenhaus,

und eine Apotheke in der Altstadt von Jerusalem eröffnet

worden. Meine Mutter hob mich mit ihren Händen hoch und

zeigte mir durch das Fenster die Klagemauer und den Felsendom.

„Jerusalem ist die Stadt, in der du geboren bist“, flüsterte sie

mir ins Ohr, „so wie dein Vater und ich auch in diesem Krankenhaus.“

Natürlich sah und hörte ich nichts von ihrem

Ausruf, doch später, als ich erwachsen war, erzählte sie mir

davon, dass das Erste, was ich von der Außenwelt sah, der

Tempelplatz war.

Meine Mutter hatte etwa ein Jahr zuvor eine Totgeburt gehabt.

Es war ein Junge gewesen. Die Nabelschnur hatte sich

um den Hals des Babys gewickelt und es im Mutterleib erstickt.

Sie war die Zeit danach in tiefe Depressionen gefallen, hatte

dunkle Bilder in Öl gemalt und noch düstere Wandteppiche

20


in den wenigen Zimmern der kleinen Wohnung in dem elterlichen

Haus meines Vaters aufgehängt. Während ihrer

erneuten Schwangerschaft war sie oft melancholisch gestimmt

und glaubte nicht, dass ich gesund zur Welt kommen

würde. Als ich dann den ersten Schrei von mir gab, löste

sich alles in Tränen des Glücks auf und ihre Melancholie

war wie weggeblasen.

Manchmal hege ich den Verdacht, dass die Traurigkeit, die

mich in jungen Jahren nach der Pubertät hin und wieder befiel,

mit der Zeit der Schwangerschaft zu tun hatte. Gehen

nicht manche Forschungen davon aus, dass die Verfassung

der Mutter während dieser Zeit entscheidenden Einfluss auf

die spätere Entwicklung des Menschen hat?

Während ihrer Schwangerschaft war auch ihr geliebter Vater

Johannes Dyck gestorben, der immer ein offenes Ohr für

sie hatte und ihr Trost zusprach. Dagegen war die Mauer,

die zwischen ihr und ihrer durch die vielen Schicksalsschläge

hart und unnahbar gewordenen Schwiegermutter

Katharina Kuebler sowie deren unverheiratete schon 48 Jahre

alte Tochter Sofie bestand, noch höher und undurchdringlicher

geworden. Aber auch Katharina starb noch vor meiner

Geburt.

Wir lebten in der Deutschen Kolonie, einer Siedlung, die 1873

von eingewanderten Württembergern gegründet worden

war, die einer der evangelischen Kirche nahe stehenden Sekte

der Templer angehörten. Meine Eltern gehörten natürlich,

genauso wie meine Großeltern, die alle bei meiner Geburt

schon gestorben waren, dieser Sekte an. Ich war also auch

ein Templer.

Die Kolonie war im Süden der Stadt im Rephaim-Tal entstanden.

In etwa hundert schmucken Häusern, möglichst

erdbebensicher aus großen geschlagenen Kalksteinquadern

21


gebaut, wohnten etwa 400 Deutsche. Anfangs nannten sie

die Siedlung Rephaim in Anlehnung an den Namen des Tals.

Die Templer hatten eigene Schulen eingerichtet, sogar ein

Gymnasium, eine eigene Bank gegründet und eine Kirche

gebaut, die sie wegen ihrer Schlichtheit und ohne Turm auch

nur Saal nannten. Das religiöse Oberhaupt der Templer wohnte

in der Deutschen Kolonie und nicht in einer der anderen

Siedlungen der Templer, die über ganz Palästina verstreut

waren.

Die folgende Geschichte meines Großvaters Johannes Dyck,

die sich sicher als Drehbuch für einen spannenden abendfüllenden

Film anbieten dürfte, wirft etwas Licht auf die Herkunft

meiner Mutter und erklärt, weshalb sie mit ihrem Vater

so verbunden war. Zuvor aber folgt ein Kapitel über die

Templer, die natürlich absolut nichts mit den Templern des

Mittelalters zu tun haben. Zur Erinnerung: Im Jahr 1312 löste

Papst Clemens V. auf dem Konzil von Vienne (Frankreich)

den Orden auf.

22


Deutsche Kolonie in Jerusalem (eingekreist).

Von den etwa 100 Häusern sind nur einige gezeigt.

23


Die Templer

Bist du in jemandes Haus, so komm mit ihm aus.

Die Sekte der Templer wurde 1854 von dem evangelischen

Theologen Christoph Hoffmann zunächst unter dem Namen

Gesellschaft für die Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem gegründet,

deshalb auch Jerusalemfreunde genannt. Er wurde

1815 in Leonberg bei Stuttgart als Sohn des Gründers der

pietistischen freien Bürgergemeinde geboren und wuchs in Korntal

bei Stuttgart auf. Er studierte Theologie an der Universität

in Tübingen und wirkte anschließend als Lehrer in Ludwigsburg.

Er war Mitbegründer der Süddeutschen Warte, einem

religiösen und politischen Wochenblatt für das Deutsche

Volk.

Beispielhafte Frömmigkeit, Bescheidenheit und Demut

sollten seine Anhänger als neues Gottesvolk auszeichnen, als

dessen eigentliche Heimat er Jerusalem sah. In dieser Gemeinschaft

brüderlicher Gesinnung und tätiger Nächstenliebe

soll sich der Einzelne als lebendiger Baustein am geistigen

Tempel Gottes verstehen – daher der Name Templer. Georg

Hardegg, Mitbegründer der Sekte, schlug als Erster vor, diesen

Namen für die Gesellschaft zu verwenden.

Das besondere Anliegen der Templer ist die Besinnung auf

den Kern der Botschaft Jesu, auf seine Verheißung vom Reich

Gottes und auf seinen Auftrag, durch das eigene Trachten

und Handeln zum Werden einer besseren Welt, eben zu diesem

Reich der Liebe und Güte, beizutragen.

Revolutionär für die damalige Zeit war die Aussage der

Templer, dass Jesus ein Mensch war, der uns vorgelebt hat,

wie wir unser Leben ausrichten sollen und dürfen: Vertrauen

zu Gott und Liebe zum Nächsten im Streben nach dem

Reich Gottes.

24


Die Bibel wurde als eine reiche Quelle menschlicher Erfahrungen

mit Gott angesehen. Sie sollte unvoreingenommen

gelesen und dabei ein kritischer Maßstab angelegt werden.

Der Maßstab sollte der Grundgedanke der Lehre Jesu

sein.

Hinweisen biblischer Prophezeiungen folgend, glaubte

Hoffmann damals in Palästina dem Babylon der europäischen

Verhältnisse zu entkommen und durch die Errichtung von

religiös und sozial vorbildlichen Gemeinschaften beispielhaft

wirken zu können.

Er trieb die Auswanderung seiner Anhänger voran, die

zum größten Teil aus Württemberg stammten. Manche wanderten

nach Russland aus, und andere zog es in die Vereinigten

Staaten von Amerika. Doch die meisten fanden eine

neue Heimat in Palästina, so, wie es sich Hoffmann vorgestellt

hatte. Von 1868 bis 1873 wurden dann Siedlungen in

Haifa, Jaffa, Sarona und Rephaim bei Jerusalem gegründet.

Haifa war die größte und die erste der Siedlungen. Kaufleute,

Handwerker, Gastwirte, Lehrer und Beamte standen einer

kleineren Zahl von Landwirten gegenüber.

Später schaffte Hoffmann auch die Sakramente ab und

wandte sich in seinem Alterswerk der von Hegel beeinflussten

Vorstellung eines rein geistigen und ortsunabhängigen

Charakters eines zu errichtenden Gottesreiches zu.

Die Süddeutsche Warte war das Bindeglied zwischen den

Templern, die später in die Warte des Tempels überging.

Eine Zusammenfassung über die Geschichte der Templer

ist in der Wiener Zeitung am 14. Mai 1999 erschienen.

(Sie ist hier auszugsweise für diejenigen der Leser wiedergegeben,

die noch mehr über die Templer und deren Schicksal

erfahren möchten.)

25


Auf den Spuren der Templer im Heiligen Land:

Wuchtige alte Grabsteine

von Dieter Mühl

Den Begriff Templer verbinden die meisten Menschen mit

einem mittelalterlichen Ritterorden. In diesem Fall handelt

es sich jedoch um eine aus der protestantischen Pietistenbewegung

kommende, religiöse Gruppe, die um die Mitte des

19ten Jahrhunderts im Stuttgarter Raum vom Theologen

Christoph Hoffmann (1815 bis 1885) als die Tempelgesellschaft

gegründet wurde. Ihr Ziel war die Rückkehr zum einfachen

Leben der Urchristen sowie die Sammlung und Rückführung

des Volkes Gottes nach Jerusalem. Bis zur Umsetzung

ihres Zieles mussten die Gründerväter der Tempelgesellschaft

aber einige Hürden überwinden. Heftige Auseinandersetzungen

mit der evangelischen Kirche, welche im Jahr

1858 zum Ausschluss der Templer aus derselben führten, und

eine stark schwankende Mitgliederzahl verhinderten eine

dynamische Entwicklung.

Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die Templer

bereits im Jahr 1856 eine Mustersiedlung in der Nähe von

Stuttgart gründeten, um ihre Mitglieder auf das Leben in

Palästina vorzubereiten. Zu Beginn der Sechzigerjahre des

19ten Jahrhunderts hatte die Tempelgesellschaft mit rund 10

000 Mitgliedern den Gipfel ihres Bestandes erreicht. Ein weiterer

Fortbestand schien den führenden Mitgliedern aber

dennoch nicht gesichert, sodass sie sich entschlossen, mit dem

geplanten Siedlungsprojekt im Heiligen Land zu beginnen.

Zunächst wurden vier Mitglieder auf eine Expedition zur

Erkundung der Lebensbedingungen ins Heilige Land geschickt.

Nach ihrer Rückkehr begann die langwierige Auswahl

der Kandidaten. Ende der Sechzigerjahre war es dann

so weit, und die ersten Templerfamilien erreichten Palästi-

26


Wuchtige alte Grabsteine

Grab des Johannes Dyck

„Erkennet, dass der Herr Gott ist.

Denn der Herr ist freundlich

und seine Gnade währet ewig

und seine Wahrheit für und für.

PS - 100“ – (Psalm 100)

na, unter ihnen Christoph Hoffmann und sein Mitarbeiter

Georg Hardegg (1812 bis 1879), ein Kaufmann aus Ludwigsburg.

Die erste Siedlung wurde 1868/69 in Haifa am Fuße des

Karmelgebirges gegründet. Sie sollte später auch die größte

und bedeutendste Siedlung werden. Die Berufsstruktur der

Templer war in Haifa durch die Stadt geprägt: Kaufleute,

Handwerker, Gastwirte, Beamte und Lehrer standen einer

kleinen Zahl von Landwirten gegenüber. Bereits kurze Zeit

nach der Gründung kam es zu internen schweren Meinungsverschiedenheiten

zwischen Christoph Hoffmann und Georg

Hardegg und in deren Folge zur Abspaltung von rund

einem Drittel der Mitglieder, Anhänger von Hardegg, die

zur evangelischen Kirche zurückkehrten. Die Verwaltung der

Siedlung, aber auch die Schule und der Kindergarten, blie-

27


ben jedoch weiterhin als Einheit erhalten. Der Zwist mit

Hardegg veranlasste Hoffmann, noch vor der Spaltung der

Bewegung nach Jaffa zu gehen und dort im Jahr 1869 eine

neue Siedlung zu gründen, wo die Templer auch ein eigenes

Krankenhaus betrieben.

Jerusalem als Zentrum

Entscheidend für die weitere Entwicklung der Tempelgesellschaft

war die Gründung einer Siedlung in Jerusalem, die

das religiöse Zentrum der Templer wurde. Dies konnte im

Jahre 1873 mit der Errichtung einer Siedlung im Rephaim-

Tal, im Süden der Stadt, verwirklicht werden. Jerusalem

wurde der Wohnsitz des Tempelvorstehers, dem religiösen

Oberhaupt der Templer, sowie der Sitz der Zentralleitung.

Die Siedlung in Jerusalem besaß im Gegensatz zu den anderen

Siedlungen mit nur Volks- oder Hauptschulen auch ein

Gymnasium, in welchem nach deutschen Lehrplänen unterrichtet

wurde. Ähnlich wie in Haifa war die Berufsstruktur

der Jerusalemer Siedlung eine städtische. In den folgenden

Jahren gründeten die Templer weitere vier, vorwiegend landwirtschaftlich

orientierte Siedlungen: 1892 Neuhardthof, rund

8 km südlich von Haifa, 1902 Wilhelma (heute: Bnei Atarot)

in der Nähe des heutigen Flughafens Ben Gurion bei Tel Aviv,

1906 Bethlehem (Beit Lehem Hagalilit) und 1908 Waldheim

(Alonei-Abba), die beiden zuletzt Genannten in der Nähe

von Nazareth. Waldheim wurde in erster Linie von ausgetretenen

Templern (Gruppe um Hardegg) gegründet.

Darüber hinaus gab es auch in Nazareth und Tiberias Templerfamilien.

(Anmerk: Sarona, heute im Herzen von Tel Aviv

und Hakirya genannt, war schon im Jahr 1871 gegründet

worden).

In den ersten zehn Jahren kamen rund 750 Templer ins

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Heilige Land. Der Alltag der Siedler machte es erforderlich,

dass sie sich teilweise von ihrem religiösen Ziel entfernten

und stattdessen die Verbesserung der Lebensbedingungen

im Heiligen Land und ihre (angestrebte) Vorbildfunktion für

die Einwohner in den Vordergrund stellten. So waren sie

beispielsweise maßgeblich am Ausbau der Verkehrswege

zwischen Haifa und Nazareth sowie zwischen Jaffa und Jerusalem

beteiligt.

Nach den ersten schweren Jahren begann sich das Siedlungswerk

der Templer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu

konsolidieren. Die Beziehungen zur ansässigen arabischen

und jüdischen Bevölkerung blieben jedoch ambivalent. Zu

Beginn des Ersten Weltkrieges lebten rund 2 000 Templer im

Heiligen Land. Ihre Siedlungen entwickelten sich trotz einiger

Rückschläge während des Krieges gut, und die Templer

wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren wohlhabend.

Die politischen Veränderungen in Deutschland durch den

politischen Aufstieg der Nationalsozialisten und deren

Machtübernahme wirkten sich auch auf die Templer aus.

Rund ein Drittel ihrer Mitglieder waren in der NSDAP oder

anderen nationalsozialistischen Vereinen organisiert. In allen

Siedlungen gab es Lokalorganisationen der NSDAP, welche

darüber hinaus in einem Landesverband zusammengefasst

waren. Bei Kriegsausbruch wurden die Templer von

den Engländern interniert. In den folgenden Jahren wurde

ein Teil nach Deutschland repatriiert, und der andere Teil

nach Australien gebracht. Die letzten Templer verließen das

Land im Jahre 1948, als der Staat Israel gegründet wurde.

Heute leben rund 800 Mitglieder in Deutschland und etwa

1 200 in Australien.

In Israel blieben nur die steinernen Zeugen zurück, Häuser

und Friedhöfe – auf Hebräisch Häuser der Ewigkeit ge-

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nannt. Wer heute durch Jerusalems belebte Einkaufsstraße

Emek Rephaim schlendert, kann unschwer die gut erhaltenen

Templerhäuser ausmachen, die in ihrer stillen Gravität etwas

fremd wirken. Nach einiger Zeit steht er vor einer hohen

Umzäunungsmauer mit einem großen, grünen Eisentor.

Dahinter verbirgt sich der Templerfriedhof. In den ersten

Jahren hatten die Templer in Jerusalem ihre Toten auf

dem deutsch-englischen, evangelischen Friedhof auf dem

Zionsberg beerdigt.

Nach Meinungsverschiedenheiten mit dem evangelischen

Bischof kaufte die Templerin Anna Berner im Jahre 1878 ein

Grundstück in der Nähe der Templersiedlung, um ihren

Mann begraben zu können. Bis heute befindet sich dort der

Templerfriedhof in der Emek-Rephaim-Straße 39. Den Schlüssel

für die Besichtigung des Friedhofes bekommt man im

deutschen Hospiz in der Loyd-George-Straße 12 in Jerusalem.

Wie in Mitteleuropa

Beim Betreten des Friedhofes ist man als Besucher überrascht,

denn man befindet sich auf einem Friedhof, der einen

eher an Mitteleuropa als an die schlichten und schmucklosen

israelischen Friedhöfe erinnert. Man geht an wuchtigen

alten Grabsteinen vorbei, die gruppenweise angeordnet sind.

Auf halbem Weg öffnet sich der dicht von Bäumen bewachsene

Platz und gibt zur Linken ein Denkmal für die gefallenen

Templer des Ersten Weltkrieges frei. 24 Inschriften geben

Auskunft über die Schlachtfelder des Krieges, von Flandern

bis Galizien, von Serbien bis Nazareth. In der Mitte steht

ein Denkmal für 450 Tote und Gefallene in beiden Weltkriegen.

Eine Zusatztafel soll an die Gemeinden Sarona (1871 bis

1939), Jaffa (1869 bis 1942) und Wilhelma (1902 bis 1948) er-

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innern. Der Templerfriedhof von Sarona wurde im Jahr 1952

aufgelassen und seine Gräber nach Jerusalem überführt. Im

Jahr 1970 wurden die Friedhöfe in Wilhelma, Bethlehem und

Waldheim aufgelöst und nach Jerusalem bzw. Haifa überführt.

In diesen beiden Städten bestehen die Friedhöfe bis

heute. Auf ihnen liegen rund 1 300 Tote begraben, deren

Gräber weiterhin Kunde von den einstigen Templergemeinden

geben.

Nach diesem Bericht aus der Wiener Zeitung wollen wir

uns vergegenwärtigen, wie es wohl war, als die ersten

Württemberger das Heilige Land betraten. Kontrolliert wurde

Palästina damals von den Türken. Es war ein Teil des osmanischen

Reichs. Die Türken eroberten das Land bereits 1517.

Die Templersiedlung Haifa

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Sie besiegten die Mameluken ein Jahr zuvor. Sie beherrschten

Palästina mit kurzen Unterbrechungen 400 Jahre lang.

Die Verwaltung des Landes war, wenn überhaupt vorhanden,

ineffektiv und ungenügend. Eine Infrastruktur gab es

nicht. Keine Straßen, keine nennenswerte Landwirtschaft. Es

waren arme Menschen, vielleicht 350 000 an der Zahl, davon

vielleicht 30 000 Christen, die vorwiegend der griechisch orthodoxen

Kirche angehörten, vielleicht etwas über 12 000

Juden und alle anderen waren muslimische Araber.

Diese lebten meistens, wenn sie keine Nomaden waren, in

armseligen Lehmziegelhütten in kleinen Ansiedlungen an

Orten, wo es Wasser gab. Die Landschaft war in einem desolaten

Zustand. Die Ziegen hatten das Land kahl gefressen.

Nur Dornenbüsche, einige wenige Palmen und verstreute

Olivenbäume waren übrig geblieben. Bewaldete Gebiete

suchte man vergebens.

Wie konnten die Einwanderer in diesem abgewirtschafteten

Land eine Existenz aufbauen?

Sie schöpften ihre Kraft und ihre Zuversicht aus ihrem festen

Glauben. Sie waren fleißig und verfügten über Erfindungsgabe.

Sie missionierten nicht, dies war gegen ihre religiöse

Überzeugung, sondern suchten menschliche Beziehungen

zu den Einheimischen und übervorteilten sie nicht, wenn

sie mit ihnen Handel trieben. Es gelang ihnen, nördlich der

kleinen Stadt Haifa, damals mit wenigen Tausend Einwohnern,

ihre erste Siedlung zu gründen.

Aus Wikipedia 2009: „1869, im Jahr der Eröffnung des Suezkanals,

gründeten die Templer – christliche Siedler aus

Süddeutschland – ein Dorf, damals ein Stück außerhalb der

Stadt Haifa, unterhalb des heutigen Schreins des Bab. Sie lösten

Modernisierungsimpulse durch modernes Handwerk,

Landwirtschaft, Industrie, Gesundheits- und Transportwe-

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sen aus, und veranlassten den Bau der ersten Mole, damit

Schiffe anlegen konnten. [Haifa besitzt keinen natürlichen

Hafen.]

Durch den gleichzeitigen Ausbau der Landstraßen nach

Akko, nach Nazareth und auf den Karmel und die Eröffnung

des ersten Hotels wurde die wirtschaftliche Entwicklung von

Haifa maßgeblich geprägt. Haifa wurde zu einem wichtigen

Knotenpunkt für Pilgerreisende. Die politische Bedeutung

von Haifa wurde dadurch gesteigert, dass einige Templer

verschiedene europäische Regierungen konsularisch vertraten,

sozusagen den Posten eines Vizekonsuls inne hatten.“

Die Templer gründeten dann im Jahr 1871 die erste landwirtschaftliche

Siedlung Sarona nördlich von Tel Aviv. Doch

dieses Unternehmen kostete vielen dieser Siedler das Leben.

Allein im Jahr 1872 starben 28 der 125, die an diesem Projekt

beteiligt waren. Bis 1874 sollte die Zahl auf 57 ansteigen. Der

Grund war die Malaria, deren Erreger noch nicht erkannt

war. Man wusste nicht, dass die Krankheit durch Moskitos

übertragen wurde. Ebenso wenig war Chinin als Gegenmittel

bekannt. Man glaubte, dass die Krankheit durch schlechte

Luft – mala aria = ital. schlechte Luft – übertragen wurde.

Die Templer hatten gelesen, dass in Gegenden, wo Eukalyptusbäume

standen, die Krankheit weniger stark auftrat. Sie

pflanzten deshalb Eukalyptusbäume. Es sollen um die tausend

gewesen sein. Das Sumpfgebiet um Sarona herum trocknete

aus. Die Malaria ging zurück. Brunnen wurden gebohrt.

In etwa 20 Meter Tiefe fanden sie sauberes Grundwasser,

die Grundlage für die landwirtschaftliche Nutzung des Gebiets

um Sarona herum und auch die Grundlage für die Orangenpflanzungen,

die rings um Sarona entstehen und deren

Früchte als Jaffa Orangen weltweit bekannt werden sollten

(empfohlen wird das Buch hierzu: From Desert Sands to Gol-

33


den Oranges, von Helmut Glenk, Horst Blaich und Manfred

Häring, 2005).

Die Erfolge der Templer in ihren Siedlungen blieben nicht

unbemerkt. Ihre Tätigkeiten in den vielen über das Land

verstreuten Siedlungen wirkten wie eine Initialzündung für

die Wirtschaft des Landes. Araber strömten ins Land. Die

im Ausland lebenden Juden, die in manchen europäischen

Staaten, vor allen Dingen aber in Russland, Repressalien

ausgesetzt waren, blickten nach Palästina. Das war das Land

ihrer Väter. Im religiösen und historischen Bewusstsein der

Juden war Palästina immer das „Heilige Land“ geblieben,

das mit der Bibel und der Geschichte des jüdischen Volkes

verbunden ist.

Der französische Baron Edmond Rothschild begann 1882

Grundstücke in Palästina zu erwerben, förderte die Gründung

von Zichron Jaakow und Rischon leTzion und wurde somit

ein aktiver Unterstützer des Zionismus. 1889 übergab er

25 000 Hektar palästinensischen Agrarlandes samt den sich

darauf befindenden Ansiedlungen an die Jewish Colonization

Association. Weiterhin ermöglichte er russischen Juden in den

1880er-Jahren, sich wegen dort stattfindender Pogrome in

Palästina anzusiedeln. Kein Zweifel besteht, dass die Templersiedlungen

sein Engagement beflügelt, wenn nicht sogar

ausgelöst hatten. Mein Vater hatte mir erzählt, dass damals

das Gerücht umgegangen sei, der Baron habe sogar versucht,

den Templern die Siedlung Haifa abzukaufen, was natürlich

bei der religiösen Einstellung der Templer außer jeder

Möglichkeit stand.

Die Templer waren so gesehen vielleicht ein wesentlicher

Anstoß gewesen, dass jüdische Siedlungen im größeren

Umfang nach 1880 in Palästina gegründet wurden. Damit

setzte auch die erste größere Einwanderungswelle von Ju-

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den nach Palästina ein, die schließlich zur Gründung des Staates

Israel führte. Die Bevölkerung in dem heutigen geteilten

Palästina dürfte vielleicht zwölf Millionen Menschen betragen

(acht Millionen Israelis und vier Millionen Araber). Sie

betrug 350 000, als meine Vorfahren eingewandert waren.

Wie sollte dieses arme Land – kleiner als die Schweiz – so

vielen Menschen eine Existenz bieten und sie auf Dauer ernähren?

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Die Familie Dyck in der Ukraine

Die Morgendämmerung kommt nicht zweimal, um einen Mann

zu wecken.

Johannes Dyck wurde als Jüngster von weiteren fünf Geschwistern

am 20. Februar 1858 in der Mennoniten-Siedlung

Rudnerweide, Molotschna, damals Südrussland, heute südliche

Ukraine, geboren. Seine Eltern Dietrich und Cornelia

Dyck waren beide aus Ostpreußen, damals Deutschland, aus

Heuboden und Rosenhof / Marienwerder, im Jahre 1819 nach

Rudnerweide mit ihren Eltern übergesiedelt. Der Vater war

zehn Jahre und die Mutter ein Jahr alt. Sie heirateten 1836 in

Pordenau, Molotschna. Die Vorfahren waren als Mennoniten

aus Holland gekommen. Sie glaubten, dass sie von der

Familie des van Dyck, des berühmten holländischen Malers,

abstammten.

Johannes Dycks Vater besaß und bewirtschaftete in Rudnerweide

einen Bauernhof mit etwa 200 Morgen Land und

ernährte damit die achtköpfige Familie. Aus gesundheitlichen

Gründen konnte er bald nicht mehr den Hof umtreiben.

Der älteste Sohn Abraham war zu jung, um die Arbeit

zu übernehmen. Da kam für seinen Vater der Ruf der Jerusalemfreunde,

die sich später Templer nannten (sie haben – wie

oben bereits erwähnt – absolut nichts mit dem Templerorden

aus der Zeit der Kreuzzüge zu tun, der schon 1312 aufgelöst

worden war), als Hausvater an die höhere Schule mit

angegliedertem Pensionat nach Gnadenfeld gerade recht, das

nur 20 km von Rudnerweide entfernt lag. Das war im Jahr

1862. Aber schon ein Jahr später starb der Vater, als der kleine

Johannes gerade fünf Jahre alt war.

Die Eltern von Johannes waren Mennoniten, eine protestantische

Sekte, die ihren Ursprung in der Schweiz mit den

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Schweizer Brüdern im 16. Jahrhundert hatte und später von

dem Holländer Menno Simon, einem Priester, ihren Namen

bekamen.

Herausragende Merkmale dieser Mennoniten waren die

Ablehnung der Taufe, was ungeheuerlich für die damalige

Zeit war, die Kriegsdienstverweigerung und die Ablehnung

des Schwurs. Ihre Auffassung war: Ein Mennonit sagt immer

die Wahrheit, deshalb braucht er auch nicht zu schwören.

Die Mennoniten fanden zuerst politischen Freiraum in

Holland. Andere aber fanden ihre Heimat in Westpreußen,

dem heutigen Nordpolen am Vistula Fluss, früher Weichsel

genannt, und dessen Flussdeltas. Die weitere Verfolgung im

18. Jahrhundert in der Schweiz ließ die Mennoniten auch nach

Süddeutschland kommen. Viele aber wanderten in die USA

aus. Vom Vistula Delta zog ein Großteil der Mennoniten in

die Ukraine.

Das Ziel ihrer Religion fassten sie in den folgenden Thesen

zusammen, die für sich sprechen:

„Unsere größte Aufgabe besteht darin, den Hungrigen Nahrung

zu geben und die Durstigen zu stillen. Wir haben uns die Aufgabe

gestellt, das Leben aller Menschen zu erhalten und zu schützen.

Wir werden niemals in irgendeiner Weise dazu beitragen, menschliches

Leben zu zerstören oder zu verletzen.“

Die Sprache der Mehrzahl der Mennoniten in vielen Ländern

der Erde, wo sie siedelten, war das Plautdietsch, eine

besondere Art Plattdeutsch, das heute so gut wie ausgestorben

ist. Neben ihrer Religion war diese Mundart ihr wichtigstes

Zugehörigkeitsmerkmal.

Johannes sprach also Plautdietsch in seiner Jugend.

Die Familie kam mit der Anstellung des Vaters zum ersten

Mal mit den Templern in Berührung, die von Württemberg

nach Russland – viel früher als die Einwanderung nach

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Palästina erfolgte – eingewandert waren, und schloss sich

der neuen Religionsbewegung an, die viel Gemeinsames mit

dem Glauben der Mennoniten hatte.

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Johannes am Kaukasus und auf der Krim

Die Armut ist eine Erziehung und der Reichtum eine Versuchung.

So entstand auch in Gnadenfeld (Molotschna) eine Templergemeinde,

wo der Vater von Johannes wie berichtet eine

Anstellung fand.

Die Mennoniten in Gnadenfeld wollten aber die Templer

nicht als selbstständige Gemeinde in ihrer Mitte dulden. Die

Schule der Templer wurde durch die Regierung geschlossen

und die Lehrer zunächst eingesperrt, weil sie keine Berechtigung

besaßen, eine Privatschule neben einer bestehenden

mennonitischen Schule zu betreiben.

So sahen sich die Templer gezwungen, wenn sie nach ihrer

eigenen Überzeugung leben wollten, die mennonitischen

Siedlungen zu verlassen und an den Kameelsberg am Fluss

Kuma im Nordkaukasus überzusiedeln, zwischen dem

Schwarzen und dem Kaspischen Meer gelegen. Welch eine

Entfernung von Gnadenfeld! Eintausend Kilometer?

Sie konnten fruchtbares Land, 20 km lang und etwa 4 km

breit, von Fürst Orbeljani mit einer Laufzeit von 30 Jahren

pachten. Frisches Wasser stand in ausreichender Menge vom

Kameelsberg kommend zur Verfügung. Der Fluss Kuma

hatte genügend Gefälle, um Getreidemühlen anzutreiben. Die

Voraussetzungen für die Neugründung einer Siedlung waren

gut.

Die Templer zogen dann im Jahre 1866 auf schlechten, holprigen

Wegen mit Pferde- und Ochsenwagen in die Ebene vor

dem Kaukasus Gebirge, wo sie die Siedlungen Tempelhof und

Orbeljanowka gründeten, die sich gegenüberliegend links und

rechts des Kuma-Flusses entlang erstreckten. Später wurde

die ganze Siedlung mit Tempelhof bezeichnet.

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Barbara Hagenlocher, geb. am 22. Mai 1880, schreibt in ihren

Aufzeichnungen Mein Leben (1951), im Folgenden

auszugsweise wiedergegeben:

„Meine Großeltern Rohrer wanderten 1866 mit ihren beiden

Kindern von Neuffen (eine kleine Stadt in Württemberg

nicht weit von Esslingen) nach Russland in den Kaukasus

mit Pferdewagen aus, um dort mit anderen deutschen Auswanderern

die Siedlung Orbeljanowka aufzubauen. – Das

Leben war hart. Meine Mutter fand schließlich eine Anstellung

als Haushilfe in einer deutschen Mennonitenfamilie. Die

Kinder sprachen ihre Eltern damals noch mit Ihr an und

mussten rückwärtsgehend den Raum verlassen. Der Bruder

meiner Mutter Christian Rohrer, ein Nachzögling, wurde –

erst zehn Jahre alt – von meinen Großeltern in die neue höhere

Templerschule nach Jaffa/Palästina geschickt, die vom

Gründer der Tempelgesellschaft Christoph Hoffmann geleitet

wurde, und wo er auch selbst unterrichtete.“

Aus diesen Aufzeichnungen erkennen wir, dass eine Verbindung

unter den Templern in Russland und in Palästina

dauernd bestanden und auch ein Erfahrungsaustausch stattgefunden

hat. Viele der Templer in Russland sind in den folgenden

Jahren in die Siedlungen der Templer nach Palästina

gezogen, besonders aber in die Haifa-Siedlung.

Johannes war zehn Jahre alt, als die Familie schließlich das

Siedlungsgebiet erreichte. Zunächst wurde ein einfaches

Haus gebaut. Im Sommer gab es auf dem Feld und beim

Hüten der Schafe genügend Arbeit. Für die Schule war kaum

Zeit. Wenn Unterricht stattfand, geschah dies durch ein Mitglied

der Sekte in einem Zimmer in einem Wohnhaus, das

durchaus nachts auch als Schlafzimmer dienen konnte.

Dann wurde eine Schule in Tempelhof eingerichtet, die

Johannes bis zum Frühjahr 1874 besuchen konnte. In diesem

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41


Jahr wurde er getauft, als er 16 Jahre alt war, was man bei

den Templern mit Darstellung oder mit einem Gelöbnis bezeichnet,

nach Gottes Wort zu leben, weil es die Taufe bei

den Templern im herkömmlichen Sinne nicht gibt.

Eine seiner Schwestern hatte in der Zwischenzeit einen

gewissen Benjamin Lange geheiratet und war mit ihm zusammen

nach Schönbrunn in die Krim gezogen.

Johannes hatte eines Tages die Gelegenheit, seine Mutter

in die Krim zu begleiten, um die Schwester zu besuchen.

Johannes hatte nämlich ein Angebot erhalten, den Beruf des

Schreiners oder Maurers bei den Gebr. Imberger in Haifa,

Palästina, zu erlernen. Von Schönbrunn hätte er die Reise

nach Palästina über das Schwarze Meer und Konstantinopel

nach Haifa antreten sollen. Doch diese Pläne realisierten sich

nicht. Johannes hatte keinen gültigen Pass. Er blieb in Schönbrunn

hängen. In Schönbrunn konnte Johannes aber eine

Schreinerlehre bei dem Deutschen Dettner beginnen. Eines

Tages packte jedoch Dettner seine Sachen und verließ Schönbrunn

mit dem Ziel Palästina, das für viele Templer Verheißung

in ihrem Glauben bedeutete, und ließ Johannes zurück,

ohne dass dieser seine begonnene Lehre beenden konnte.

Johannes Schwager Benjamin Lange war Lehrer. Da Johannes

ein kluger Junge war, wissbegierig und strebsam, wurde

er von Lange als Unterlehrer angestellt, mit der Maßgabe,

auch dessen Kühe zu versorgen.

Schon ein Jahr später, 1875, wurde Benjamin Lange als

Lehrer nach Haifa an die deutsche Schule berufen. Johannes

durfte ihn begleiten. In Jaffa konnte er dann das Institut besuchen,

eine von den Templern gegründete und verwaltete

höhere deutsche Schule. Zwei Jahre lang. Das erforderliche

Geld dazu hatte er aus einem Erbe von seinem Großvater

Wiebe, der seinerzeit in Rudnerweide verstorben war.

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Nach Beendigung der Schule hieß es für Johannes, mit den

gewonnenen Kenntnissen seinen Lebensunterhalt selbst zu

bestreiten. Er dachte, dass ihm dies in Russland leichter fallen

würde als in Palästina.

Doch die Reise nach Russland gestaltete sich viel komplizierter

als zunächst angenommen, denn der russisch-türkische

Krieg tobte und die Reise über Konstantinopel war nicht

möglich. Er musste einen langen Umweg in Kauf nehmen.

Die Stationen waren: Port Said, Alexandria, Neapel, Rom,

Ancona, Triest, Wien, Krakau, Lemberg, Padwolatschisk und

schließlich Russland.

Johannes kam endlich in Schönbrunn an mit einem zerrissenen

Koffer, abgetragenen Kleidern und mittellos. Er hatte

Glück. Die Gemeinde Schönbrunn stellte ihn für den Deutschunterricht

als zweiten Lehrer an.

In seiner Freizeit büffelte Johannes Russisch, wobei ihm

ein russischer Student Unterricht erteilte. Im selben Jahr bestand

er sein Lehrerexamen in Russisch am Gymnasium in

Simferopol. Sein Bruder Dietrich hatte in der Zwischenzeit

das Abitur bestanden und besuchte die Universität in Charkow.

Er schrieb ihm, ob er sich ihm nicht anschließen wolle.

Mit seiner Hilfe könnte er auch das Abitur in zwei Jahren

schaffen und dann an der Universität studieren. Johannes

war es klar, dass er das Geld dazu nicht hatte. Vielleicht konnte

er es aber beschaffen, wenn er Nachhilfestunden geben

würde? Vielleicht würde ihn auch sein Bruder unterstützen?

Johannes wagte es. Er fuhr nach Charkow. Er büffelte russische

Grammatik, Literatur, Arithmetik, Geschichte, Geografie,

Latein und Griechisch von morgens früh bis abends

spät. Doch es half alles nichts. Das nebenbei verdiente Geld

reichte nicht. Er musste nach anderthalb Jahren das Studium

aufgeben und eine Stelle als Buchhalter annehmen.

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Johannes heiratet eine Edelmannstochter.

Die Liebe währt sieben Sekunden, die Fantasie sieben Minuten

und das Unglücklichsein das ganze Leben.

Während seiner Vorbereitung auf das Abitur hatte er bei

seiner Zimmervermieterin eine junge Dame kennengelernt.

Johannes war gut aussehend, mittelgroß, blond und hatte

helle wasserblaue Augen. Die junge Dame mit Namen Maria

Wassiljewna Kirejewskaya war eine russische Edelmannstochter.

Sie hatte in jungen Jahren ihr Elternhaus verlassen,

um als eine der ersten Rotkreuz-Krankenschwestern im russisch-türkischen

Krieg an der Front zu arbeiten. Das wurde

ihr als Adlige von ihrem Vater nie verziehen, und sie wurde

aus der Familie ausgestoßen.

Trotz der für die damalige Zeit fast unüberwindlichen

Schwierigkeiten – sie Adelige und der orthodoxen Kirche

angehörend und er Bürgerlicher und Templer – sie und er

mittellos, beschlossen beide, im Jahr 1881 zu heiraten.

Bis 1884 arbeitete Johannes als Buchhalter bei der Firma

Hamm & Charkov in Halbstadt. Danach war er wieder Lehrer

in Arnanir, Tempelhof und Wohldemfürst, alles Templersiedlungen

im nördlichen Kaukasus.

Johannes und Maria fühlten eine tiefe Zuneigung

zueinander. Es war eben die wirkliche Liebe, von der man in

Romanen liest. Der Ehe entsprossen vier Kinder:

Wolja(russisch: Wille) ein Junge und die drei Mädchen Werra

(russisch: Glaube), Ljuba (russisch: Liebe) und Maria, später

nur Mascha genannt. Bei der Geburt von Mascha, als die

Familie bereits nach Wohldemfürst im nördlichen Kaukasus

gezogen war, starb die Mutter 1888. Sie war durch Schwindsucht

geschwächt, die sie sich im russisch-türkischen Krieg

zugezogen hatte. Ljuba war bereits in Charkow gestorben,

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als sie gerade ein halbes Jahr alt war, Werra starb im Jahre

1890, also zwei Jahre nach dem Tod der Mutter.

Johannes wurde von diesen Schicksalsschlägen hart getroffen.

Er konnte seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr nachgehen.

So versorgte er Tiere für einige Zeit bei bekannten Familien

und hütete Schafe, um sein Leid zu vergessen. Das verdiente

Geld reichte natürlich nicht aus, seine Familie zu ernähren,

und auch nicht für die Bezahlung der Amme für die

kleine Mascha und für die bevorstehende Ausbildung von

Wolja.

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Johannes zieht in die Templersiedlung Haifa.

Lieber tausend Freunde, auch wenn sie anstrengend sind, als

einen Feind.

Sein ältester Bruder Abraham war schon vor einigen Jahren

nach Palästina in die aufblühende Templersiedlung Haifa

gezogen und hatte sich dort eine Existenz aufgebaut. Johannes

bekam einen Brief, er solle doch mit seiner Familie herkommen.

Die Einladung kam zur rechten Zeit. Die klein gewordene

Familie packte ihre Habseligkeiten zusammen und trat die

beschwerliche Reise im Jahr 1889 nach Palästina an.

Angekommen kaufte sich Johannes etwas Land bei Haifa

und fing mit einem Fuhrunternehmen an. Er hatte zwei in

Amerika gebaute Pferdewagen erworben, die ganz überdacht

waren und drei Sitzbänke hintereinander besaßen. Schutzklappen

konnten seitlich gegen Wind, Staub und Regen heruntergelassen

werden. Die Fahrten führten von Haifa nach

Jaffa und Jerusalem. Tel-Aviv existierte damals noch nicht.

Von der Eisenbahn bestand keine Konkurrenz, denn sie wurde

erst Jahre später nämlich 1898 zwischen Jaffa und Jerusalem

in Betrieb genommen. Johannes hatte trotzdem ein unregelmäßiges

und nicht ausreichendes Einkommen.

Er hatte in Haifa eine junge Dame kennengelernt, die mit

ihrer Familie in der Templersiedlung wohnte. Marie Kraiß.

Sie war mit ihren aus Württemberg stammenden Eltern, ebenfalls

Templer, von Tioga, Pennsylvania, USA, wo sie auch

geboren war, nach Palästina eingewandert. Er brauchte eine

Mutter für die Kinder und heiratete Marie. Die kleine Mascha

wurde von seinem Bruder Abraham und dessen Frau,

die selbst keine Kinder besaßen, adoptiert.

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Johannes mit seiner zweiten Frau Marie Kraiß

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Bald wurden Johannes und Marie zwei Mädchen geschenkt.

Minna und Else.

Überraschend erhielt Johannes von der Zentralkasse der

Templer das Angebot, die kaufmännische Leitung der Weinkellerei

der Templersiedlung Sarona bei Jaffa zu übernehmen.

Er zögerte nicht lange, gab sein Haus in der Templersiedlung

im Stadtgebiet von Haifa auf und siedelte mit seiner

Familie nach Jaffa über.

In dem sumpfigen Gebiet um Sarona war die Malaria weit

verbreitet und viele der württembergischen Einwanderer fielen

dem Fieber zum Opfer. Manche behaupten, dass jeder

Dritte daran starb. Auch Marie mit ihren Kindern wurde von

heftigem Fieber erfasst und auch das angestellte Kindermädchen

aus Deutschland. Johannes beschloss, alle zur Erholung

und Genesung zu den Eltern seiner Frau nach Haifa zu schikken.

Bald konnten alle die Krise überstehen, und so beschloss

er, nach Haifa zu fahren, um sie abzuholen. Das war im

Herbst 1892.

Die Reise zurück nach Jaffa sollte sich dramatisch gestalten.

Johannes buchte eine Schiffsreise von Haifa nach Jaffa,

weil er seiner noch geschwächten Familie die anstrengende

Fahrt auf dem Landweg ersparen wollte. Sie gingen an Bord

des Postschiffs Selene, das dann die Anker zur Fahrt nach

Jaffa und weiterem Ziel Alexandrien lichtete.

Nach dem Schirokko der vergangenen Tage war die See

ruhig. Dann aber kam ein Gewitter auf mit heftigem Wetterleuchten

und Blitzen. Das Schiff begann zu schlingern und

zu stampfen. Der Wind sprang von Südost nach Westen über.

Endlich kamen sie in der Bucht vor Jaffa an. Da Jaffa über

keinen Hafen für große Schiffe verfügte, musste das Schiff in

der stürmischen See vor Anker gehen.

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Johannes verliert seine Familie.

Zwei Dinge werden erst geschätzt, wenn man sie nicht mehr

hat, die Gesundheit und die Jugend.

Es war mittags 12:00 Uhr. Ein Boot wurde, an der schwankenden

Schiffswand scheuernd, heruntergelassen. Die Besatzung

folgte und dann die Reisenden, die ausschiffen wollten.

Johannes war mit seiner Familie noch nicht an der Reihe.

Die Ruderer legten sich ins Zeug und steuerten das Boot

so gut es ging durch die hohen Wellen. Als sie die Brandung

erreichten, schlugen einige Wellen über das Boot herein. Aber

es landete trotzdem glücklich an Land. Es kehrte wieder zum

Postschiff zurück.

Marie hatte Angst. Fragend schaute sie Johannes an.

„Sollen wir dieses Boot nehmen? Wir mit den kleinen Mädchen?

Was geschieht, wenn es in der Brandung kentert?“

Johannes wusste, dass sie nach Alexandrien weiterfahren

mussten, wenn sie das Boot jetzt nicht besteigen würden.

Dort würden sie für einige Wochen in Quarantäne gestellt

und könnten frühestens zurück, wenn wieder ein Schiff nach

Jaffa in See stechen würde.

Eine Entscheidung, die gut überlegt sein musste. Als dann

die Bootsführer die Familie aufforderten einzusteigen, willigte

Johannes schließlich ein. Als mitreisende Einheimische

sahen, dass der Europäer das Boot bestieg, entschieden sie

sich in letzter Minute, dasselbe zu tun. Das Boot war, obwohl

Johannes lautstark protestierte, hoffnungslos überladen.

Es stieß ab und in der Brandung geschah das unvermeidliche

Unglück.

Marie hatte das kleine einjährige Mädchen Else fest an die

Brust gedrückt. Johannes hatte die kleine zweijährige Minna

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im Arm. Das 18-jährige Kindermädchen hielt den neunjährigen

Wolja fest umschlungen.

Doch die Wellen waren stärker. Sie brachen über das Boot

herein. Es kenterte. Alle wurden von Bord gespült. Johannes

fand sich tief unter Wasser wieder und versuchte, die Oberfläche

zu erreichen.

Wo ist meine kleine Minna, durchzuckte es ihn, ich hatte

sie doch fest im Arm gehabt!

Jetzt war er über Wasser. Er holte tief Luft und tauchte

sofort wieder in die kochende See, um seine Tochter zu suchen.

Wieder und wieder tauchte er hinab in das aufgewühlte

trübe Wasser. Vergebens. Er konnte unter Wasser nichts erkennen.

Völlig außer Atem und erschöpft sah er das Boot

kieloben nicht weit vor sich treiben. Da war niemand. Wo

sind sie alle, dröhnte es durch seinen Kopf, wo sind sie, Marie,

Minna, Else und Wolja? Das Kindermädchen? Oh mein

Gott, oh mein Gott im Himmel!

Als guter Schwimmer, für die damalige Zeit ungewöhnlich,

hatte er das Boot bald erreicht. Er hielt angestrengt Ausschau

nach allen Seiten, nachdem er das Boot bestiegen hatte.

Er rief sich die Lunge wund. Marie, Minna, Else, Wolja.

Wo seid ihr alle? Antwortet doch!

War da nicht ein Hilferuf? War das nicht die Stimme seines

Sohnes? Er glaubte, die Stimme durch das Tosen der

Wellen deutlich zu hören. Ja, dort klammerte sich Wolja verzweifelt

an eine der losgerissenen Planken.

„Papa, Papa, hilf mir“, rief er. Johannes war schon bei ihm

und zog ihn aufs Boot. Dann begann er, vom Boot aus erneut

zu tauchen, um seine geliebte Frau, seine Kinder und das

Dienstmädchen zu suchen.

In der stürmischen See und in der Brandung war das ein

hoffnungsloses Unterfangen. Erschöpft, kaum mehr fähig zu

50


atmen, brach er zusammen und begann bitterlich zu weinen.

Die Wellen spülten das Boot schließlich an Land. Johannes

und Wolja lagen wie tot, körperlich am Ende, am Strand und

wurden neugierig von den herbeigeeilten Einheimischen betrachtet.

Else und Minna wurden am nächsten Tag tot vom Strand

geborgen, wo sie in der Nacht angeschwemmt worden waren.

Das Dienstmädchen fand man zwei Tage später. Marie

aber wurde von der See nicht wieder hergegeben.

Von Johannes Familie war Wolja übrig geblieben. Wenigstens

sein Sohn war ihm geblieben, und er dankte Gott dafür.

Aber es war anders bestimmt.

Drei Wochen später erkrankte Wolja an Diphtherie. Sein

Körper war von dem Unglück noch geschwächt. Er überstand

die Krankheit nicht und starb nach wenigen Tagen.

Johannes war diesmal unfähig zu weinen. Er war fast schon

apathisch, unfähig noch Gefühle zu haben. Er war zerstört.

In einem Brief an einen Freund aber schrieb er: „Ich beklage

mich nicht, denn ich weiß, sie sind in denselben Vaterhänden,

die ihnen auch das irdische Leben geschenkt haben.“

Johannes war jetzt mit 34 Jahren ganz allein.

51


Johannes in Jerusalem

Die schönste Blume des Sieges ist das Verzeihen.

Die Templer hatten in Jerusalem eine Bank für ihre Mitglieder

gegründet. Sie nannten sie Zentralkasse. Johannes

bekam das Angebot, die Leitung der Kasse zu übernehmen,

was er dann auch tat.

Er lernte in Jerusalem Fräulein Sofie Magdalene Bubeck kennen.

Sie stammte aus Rotenberg bei Stuttgart und war bislang

als Sekretärin in Ägypten für den berühmten Arzt und Forscher

Robert Koch tätig, der dort seine Untersuchungen über

Tuberkulose betrieb.

52

Etwa 1893: Sofie Magdalene Bubeck,

meine Großmutter


Familie Dyck 1906 - von links nach rechts:

Paula (meine Mutter sitzend), Ida, Großvater Johannes,Abram,

Dietrich, Großmutter Sofie, Cornelia (sitzend) und Hans

Johannes fand Gefallen an Fräulein Bubeck und machte

ihr einen Heiratsantrag. Die Ehe wurde 1893 geschlossen.

Sie zogen in der Alten Mühle ein, ein Haus, das der Templergemeinde

gehörte und das ihm für wenig Geld vermietet

worden war.

Es begann eine glückliche Zeit für das Ehepaar. Er verdiente

so viel, dass er seiner Frau ein schönes Zuhause und

einen angemessenen Lebensstandard bieten konnte.

Sofie gebar in den folgenden zehn Jahren sechs gesunde

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Kinder: Hans, Cornelia, Ida, Paula, Abram und Dietrich. Sie

wurden alle in Jerusalem zur Welt gebracht.

Paula, meine Mutter, erblickte zur Jahrhundertwende am

28. Dezember 1899 das Licht der Welt.

Johannes war ein strenger, aber auch gerechter Vater. Die

Kinder sollten etwas lernen und dabei lebenstüchtig werden.

Als die Buben eines Tages einigen Fliegen die Flügel ausrissen

und ohne Flügel laufen ließen, holte er die Peitsche. Die

Jungs hatten nichts zu lachen und machten sich diesen Spaß

nie mehr.

Da es der Familie gut ging, entschloss er sich, vier arabische

Waisen in sein Haus aufzunehmen. Sie konnten ihren

islamischen Glauben beibehalten. Vonseiten der Familie

wurden auch keine Anstalten unternommen, die jungen Araber

zum christlichen Glauben zu bekehren. Drei von den

Familie Dyck ca. 1908 - von links nach rechts:

Cornelia, Dietrich, Großvater Johannes, Hans, Abram,

Ida, Großmutter Sofie und Paula (meine Mutter)

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aufgenommenen Waisen schafften es, zu studieren, als sie

älter waren. Einer wurde Arzt und ein anderer Zahnarzt.

Seine wirtschaftlichen Verhältnisse erlaubten es Johannes,

im Jahre 1912 seine alte Heimat Russland noch einmal zu

besuchen. Die Reise dauerte fast ein halbes Jahr.

Doch das Schicksal schlug wieder zu. Seine Frau Sofie war

gerade 42 Jahre alt, als sie erkrankte. Sie starb 1913 an einer

heimtückischen Grippe. Cornelia, die älteste Tochter, gerade

14 Jahre alt und Kea gerufen, musste die Stelle der Mutter

einnehmen.

Eine Zeit lang ging es gut. Aber der große Haushalt mit elf

Personen brauchte eine feste Hand.

Johannes entschloss sich, schon wegen der Kinder nochmals

eine Ehe einzugehen. Er heiratete 1916 Katharina Hess. Sie

war verwitwet und durch ihre vorherige Heirat entfernt mit

der Familie des Rudolf Hess verwandt, der in Kairo geboren

war und der später Hitlers Stellvertreter wurde. Katharina

war eine von Güte geprägte Frau, selbst kinderlos, die seine

Kinder wie ihre eigenen behandelte.

Der Erste Weltkrieg war auch über Palästina hereingebrochen,

das bis dahin unter türkischer Herrschaft gestanden

hatte. Die Türken wurden von den von Ägypten anrückenden

Engländern unter Führung von General Allenby angegriffen

und aus Palästina vertrieben. Seine Truppen rückten

1917 in Jerusalem ein.

Am Ende des Kriegs wurden alle Deutschen aus den im

Süden Palästinas liegenden Templersiedlungen von den Engländern

interniert und in ein Wellblechlager nach Helouan

gebracht, einem kleinen Städtchen bei Kairo in Ägypten. Die

Internierung dauerte drei Jahre.

In Deutschland wurde schon wieder Charleston getanzt,

als die Templer in unmöglichen Unterkünften im wahrsten

55


Johannes Dyck im Alter

Sinne des Wortes schmoren mussten, denn Helouan lag in

der Wüste, und die Lufttemperatur in den die Hitze durchlassenden

Wellblechbaracken stieg bis auf +48 °C an. Johannes,

in Russland aufgewachsen und solche Temperaturen

nicht gewohnt, brach immer wieder zusammen und litt dann

in der Enge der Gefangenschaft an Verfolgungswahn.

Die Engländer entließen die Deutschen Ende 1920. Sie kehrten

nach Palästina zurück und erhielten ihr Eigentum zurück.

Die Häuser jedoch waren geplündert, die Ländereien

verwahrlost. Sie mussten gepflügt und eingesät und die drei

Jahre lang stillgelegten Geschäfte neu aufgebaut werden.

Meine Mutter Paula hatte zuvor Palästina nach Deutschland

verlassen können und war so der Internierung entgangen.

Sie arbeitete zuerst als Au-pair-Mädchen in Berlin und

machte anschließend eine Ausbildung zur Kindergärtnerin

56


und Lehrerin für die ersten Volksschulklassen am Fröbelinstitut

in Stuttgart.

Sie kam mit ihrem Examen in der Tasche nach Jerusalem

zurück, wo sie wieder in ihrem Elternhaus unterkam. Sie lernte,

als sie eine Weile den Haushalt ihres Vaters führte, einige

russische Gerichte zuzubereiten. Mein Großvater liebte die

russische Küche, aber auch die arabische und natürlich die

schwäbische. Welch eine Mischung!

Danach war sie als Buchhalterin bei verschiedenen Firmen

in Jerusalem tätig und kam schließlich als Kindergärtnerin

in ihrem Beruf unter, bis sie 1929 heiratete.

Aus Ägypten zurückgekommen, sanierte Johannes zuerst

die Zentralkasse, der eine entscheidende Rolle beim schwierigen

Wiederaufbau der Siedlungen zufiel.

Sein ältester Sohn Hans bereitete ihm Sorgen. Als er jung

war, wollte er schon nicht richtig lernen und schwänzte

immer wieder die Schule. Gleich nach der Rückkehr von

Ägypten nach Palästina machte er sich auf den Weg nach

Beirut, wo er im Rotlichtmilieu verkehrte und seinen Lebensunterhalt

suchte.

Das konnte Johannes mit seinem tiefen Glauben nicht gutheißen.

Immer wieder kamen Briefe an, in denen ihn sein

Sohn um Geld bat. Er tat zunächst sein Möglichstes. Als aber

die Briefe und Bitten kein Ende nahmen, schloss er seinen

ältesten Sohn aus seinem Herzen aus und wollte den Namen

seines Sohnes nicht mehr hören.

Johannes wurde nicht müde, an sich zu arbeiten. Er lernte

die Stenografie. Er kaufte sich eines der ersten Radios in Jerusalem

und eine der ersten Schreibmaschinen. Er lernte

Arabisch und Englisch und nahm aktiv am Gemeindeleben

teil.

Als seine anderen Kinder erwachsen waren, einen Beruf

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erlernt hatten und einige schon verheiratet waren, starb er

73 Jahre alt an einem Prostataleiden. Damit war ein reiches,

aber auch dramatisches Leben zu Ende gegangen.

Nie hatte er in seinem Leben die Hoffnung aufgegeben,

auch wenn es ihm schlecht ging. Immer hatte er an Gott und

an das Gute im Menschen geglaubt und keine Anstrengung

war ihm zu groß, wenn es um seine Familie ging oder wenn

er etwas Neues lernen konnte.

Er wurde von vielen Menschen, die ihn kannten, verehrt

und von allen seinen Kindern tief geliebt.

Nach seinem Tod wurde er in der Warte der Templer mit

folgenden Worten gewürdigt:

Weit mehr als der Tempelvorsteher und die anderen Mitglieder

der Zentralleitung sorgte und bemühte Johannes Dyck

sich um das Gedeihen der Gesellschaft und auf die Regelung

ihrer Probleme. Viel mehr als der Tempelvorsteher war

er der rector spiritus, das für die ganze Gesellschaft schlagende

Herz und der für alle denkende Kopf.

Er wurde z. B. nicht müde, junge Leute zum Beitritt in die

Zentralkasse oder den Verein der Tempelgesellschaft aufzufordern.

Er erteilte seinen geschätzten Rat vielen Siedlern

beim Aufbau ihrer Existenzen, besonders bei den Neugründungen

von Wilhelma und Bethlehem. Auf sein Betreiben

organisierten sich die Jerusalemer Manschettenbauern und

unterstützten mit einer Schweinezucht im Großen die Siedlung

Wilhelma.

Auf sein Drängen beteiligte sich die Tempelgesellschaft bei der

Anlage von Orangengärten. Ihm ist hauptsächlich die Gründung

einer Pensionskasse für die Lehrer und Beamten der Tempelgesellschaft

zu danken. Auch war er es meist, der diesen oder jenen Bürgersohn

aufforderte, den Lehrerberuf zu ergreifen, wobei er auf die

Hilfe durch die Hoffmannstiftung aufmerksam machte.

58


Meine Mutter war also auch schon in Jerusalem geboren

und ihr Leben war eng mit dem ihres Elternhauses verbunden,

bis auf die wenigen in Deutschland verbrachten Jahre.

Sie war durch die starke Persönlichkeit ihres Vaters für ihr

ganzes Leben geprägt worden. Ihre Intelligenz und Güte hatte

sie sicher ihm zu verdanken und von ihm geerbt. Und, wenn

sie später in meiner Kindheit russische Gerichte auf den Tisch

brachte, wie Borschtsch oder Schneeflöckchen mit Vanillesoße,

blieb mir das bis heute in Erinnerung.

Wo aber kam mein Vater her?

59


Ein Amerikaner – mein Großvater Friedrich Kuebler

Ein Trunk Wasser in meiner Heimat ist mir lieber als Honig in

der Fremde.

Mein Vater wurde am 14. Juni 1884 in Jerusalem geboren.

Er war 47 Jahre alt, als ich das Licht der Welt erblickte.

Mein Großvater mit gleichem Vornamen, Fritz gerufen,

stammte aus Murrhardt. Murrhardt ist eine kleine Stadt im

Herzen des Schwäbischen Waldes, ca. 30 km nordöstlich von

Stuttgart am Oberlauf der Murr. Der Limes zieht sich direkt

durch das Stadtgebiet.

In jungen Jahren war mein Großvater von Gaildorf aus,

wahrscheinlich zusammen mit seinen Eltern, nach Amerika

ausgewandert. Wo sie lebten, was sie arbeiteten, ist leider

unbekannt geblieben. Vielleicht war ihre Geschichte genauso

interessant wie die von Johannes Dyck gewesen.

Wahrscheinlich war die Süddeutsche Warte, mittlerweile

religiöses Mitteilungsblatt der Templer, das bindende Glied

zwischen den ausgewanderten Kueblers und ihrer Heimat

und sie konnten darin im fernen Amerika über die entstandenen,

schnell wachsenden Templersiedlungen in Palästina

lesen.

Mein Großvater hatte während seines zehnjährigen Aufenthalts

in den Vereinigten Staaten die amerikanische Staatsbürgerschaft

erworben.

Er entschloss sich, nachdem er mit Verwandten in Palästina

korrespondiert hatte, nach Palästina zu ziehen. Er blieb

aber Amerikaner bis an sein Lebensende im Jahr 1898. In

Palästina, ein halbes Jahrtausend schon unter türkischer

Herrschaft stehend (Osmanisches Reich), konnte man seine

Staatsbürgerschaft nicht verlieren und so lange man wollte

beibehalten. Das war hauptsächlich auf die korrupte, türki-

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Mein Vaterhaus in Jerusalem, Seestraße 8, 1948 umbenannt

in 8 Cremieux Street nach dem Vorsitzenden der

"Alliance Israelite Universelle". Aufgenommen ca. 1980.

sche Verwaltung und den großen Einfluss der akkreditierten

Konsuls der europäischen Länder zurückzuführen.

Als er dann die USA verlassen hatte und in Jerusalem angekommen

war, lernte er nach kurzer Zeit Katharina Adelheid

Wieland kennen, die mit ihren Eltern aus Fornsbach /

Württemberg, nicht weit von seinem eigenen Geburtsort

Murrhardt entfernt, nach Jerusalem ausgewandert war. Sie

heirateten 1873.

Die sieben Kinder, die der Ehe beschieden waren, waren

amerikanische Staatsbürger, so auch mein Vater Friedrich.

Der Älteste unter ihnen, Jonathan, Jona gerufen, wurde 1875

geboren. Die fünf Mädchen hießen Johanna, Frieda, Sofie,

Katharina und Ida. Mein Vater war das sechste Kind in der

Reihe und wurde wie alle anderen in einem Haus in der In-

61


62


nenstadt von Jerusalem nicht weit vom Russenbau am 14. Juni

1884 geboren. Bald danach zog die Familie um in das von

meinem Großvater gebaute Haus in der Deutschen Kolonie,

die südwestlich von Jerusalem gelegen war.

Die etwa 70 cm breiten Kalksteine für die Außenmauern

des dreistöckigen Hauses waren mit wenig Mörtel so

ineinandergefügt, dass geringe Verschiebungen möglich

waren, um Erdbeben besser widerstehen zu können, die in

Jerusalem seit alters her häufig vorkommen und gefürchtet

sind. Das Haus hat alle Erdbeben und Kriegswirren bis zum

heutigen Tag überstanden und ist von israelischen Familien

bewohnt.

Rings um das Haus waren Stallungen angelegt. Mein Großvater

war von Beruf Metzger. Ein Metzger in Jerusalem musste

damals alle Tiere selbst schlachten. Schlachthäuser waren

unbekannt. In den Stallungen waren Kälber, Schweine, Schafe

und Ziegen untergebracht. Jeden Morgen um vier, sonntags

ausgenommen, wurde man durch das einsetzende Brüllen

der Tiere, die zur Schlachtbank geführt wurden, und von

denen in den Ställen, die ihren Tod im Voraus ahnten, aus

dem Schlaf gerissen. Angestellte Araber halfen meinem Großvater

bei dieser schweren, traurigen Arbeit.

Immerhin kauften die Templer das Fleisch und die Wurst

bei Fritz Kuebler, und viele Besitzer der neu entstandenen

Hotels in der Stadt waren ebenfalls Kunden. Das Auskommen

der Familie war gesichert, sodass mein Großvater seinen

ältesten Sohn Jona, der die Schule der Templer in Jerusalem

besucht hatte, mit einem zusätzlichen Jahr im französischen

Institut der Christlichen Brüder in Jerusalem nun in die

Schweiz zur Ausbildung schicken konnte.

Jona absolvierte in Zürich eine kaufmännische Lehre und

bewarb sich in Folge um die schweizerische Staatsbürger-

63


schaft, die ihm von der Gemeinde Kloten gegen eine einmalige

Gebühr von fünfhundert Schweizer Franken – damals

ein Vermögen – gewährt wurde. Er arbeitete ein Jahr als kaufmännischer

Angestellter in London und kehrte 1899, ein Jahr

nach dem Tod seines Vaters, nach Palästina zurück.

Mein Vater besuchte die Templerschule in Jerusalem und

anschließend war er ebenfalls ein Jahr bei den Christlichen

Brüdern zur Ausbildung, wie Jona vor Jahren. Von der Zeit

bei den französischen Patres hat er im Alter immer wieder

gesprochen. Die Brüder waren herzlich, aber auch streng.

Trotzdem hat er durch das im Kloster verbrachte Jahr ein besonderes

enges Verhältnis zu Frankreich entwickelt, vor allen

Dingen aber zur französischen Kultur und Sprache.

64


Mein Vater musste die Metzgerei übernehmen.

Das Kamel trägt Zuckerrohr und bekommt doch nur die Dornen

zu fressen.

Der frühe Tod meines Großvaters hatte die Familie aus der

Bahn geworfen. Mein Vater war noch nicht einmal 15 Jahre

alt. Jona war in London und hatte einen kaufmännischen

Beruf. Alle anderen Geschwister waren Mädchen. Für die

strenge und energische Mutter meines Vaters – wie konnte

man sich auch anders durchsetzen, wenn man sieben Kinder

und drei weitere verwandte, verwaiste, aufgenommene Jugendliche

betreuen und ernähren musste – war es eine Selbstverständlichkeit,

dass mein Vater trotz seines jugendlichen

Alters die Metzgerei weiterführte.

Jeden Morgen um vier ging mein Vater in den Hof hinunter

und musste mit seinen arabischen Gehilfen junge Tiere

aus ihren Stallungen ziehen. Oft stand er da, seine blutverschmierte

Kutte übergestülpt, einen Vorschlaghammer in der

Hand, um ein vor ihm stehendes, zitterndes, ihn anstarrendes

Kälbchen zu töten. Jetzt zuschlagen, hoffentlich ist es

gleich betäubt, und jetzt abstechen. Dies hat den 15-jährigen

Jungen für sein ganzes Leben geprägt. Ganz war er nie über

das Töten der Tiere hinweggekommen. Unter der scheinbar

harten Schale des späteren Mannes war die Feinfühligkeit

nie verloren gegangen und schlummerte im Verborgenen.

Erschwerend für diese Tätigkeit war, dass Wasser nur im

begrenzten Umfang zur Verfügung stand. Es wurde in der

spärlichen Regenzeit vom Dach des Gebäudes in eine im

Haus untergebrachte Zisterne geleitet und war eigentlich nur

zum Trinken bestimmt, natürlich nach vorherigem Abkochen,

Jeweils eine Handpumpe war in den drei Küchen des Hau-

65


ses installiert. Nach heftigem Betätigen eines Hebels kam das

Wasser schließlich aus der Zisterne und floss in den darunter

gestellten Eimer.

Mein Vater erzählte in seinem Alter, dass er solche Pumpen

von der Firma Allweiler, in Radolfzell am Bodensee ansässig,

bezogen und in Jerusalem in seinem späteren Geschäft

verkauft hatte.

Einmal im Jahr musste die Zisterne gereinigt werden. Bei

dieser Gelegenheit wurde nachgesehen, ob die beiden eingesetzten

Aale noch am Leben waren, die das Wasser rein

hielten und die sich immer wieder bildenden roten Würmchen

auffraßen. Als ich einmal als Junge beim Reinigen zusah

und die Aale entdeckte, glaubte ich, Schlangen vor mir

zu haben und war entsetzt. Ich wollte kein Wasser mehr aus

der Zisterne trinken. Meine Mutter aber beruhigte mich: Bevor

wir das Wasser trinken, wird es abgekocht. Aber auch

die auf einer Anhöhe in Richtung Katamon angelegten Wasserreservoirs

der Stadt, in denen das Regenwasser gesammelt

wurde, wimmelten von Schlangen und niemand konnte

mir einreden, dass es keine waren.

Heute wäre es undenkbar, einen Schlachthof, und um einen

solchen handelte es sich bei der sogenannten Metzgerei,

fast ohne Wasser zu betreiben. Erst viel später im Jahre 1939

wurde unser Haus als eines der ersten an die städtische öffentliche

Wasserversorgung angeschlossen, und es schien wie

ein Wunder, als beim Aufdrehen eines Hahns Wasser herausschoss.

Auch gab es, als mein Vater den Schlachthof betreiben

musste, nur spärliches Licht von mit Petroleum gespeisten

Lampen und Kerzen. Die ersten elektrischen Glühbirnen

tauchten in Jerusalem erst etwa 1910 auf. Eisstangen kannte

man ebenso wenig wie Kälteanlagen und Kühlschränke.

66


So mussten die geschlachteten Tiere bei dem vorherrschenden

warmen Klima in Jerusalem am selben Tag verarbeitet

und das Fleisch eingepökelt, geräuchert oder verkauft werden.

Man konnte frisches Fleisch nicht lange lagern.

Mein Vater war in jungen Jahren zwar mager, aber mit 1,79

m für die damalige Zeit groß gewachsen. Die Familie, die er

nach dem Tod seines Vaters zu ernähren hatte, war durch

die Aufnahme von zwei arabischen Waisen, welche die Familie

als strenggläubige und überzeugte Templer aufgenommen

hatte, nochmals angewachsen, jetzt auf zwölf Personen.

Sechs Tage in der Woche, von morgens früh bis spät in die

Nacht, musste er arbeiten. Nur der Sonntag war frei.

Diese Tätigkeit als Metzger dauerte viele Jahre, bis etwa

1917, als der Erste Weltkrieg in Europa tobte. Er war 33 Jahre

alt geworden und längst im heiratsfähigen Alter.

Er erinnerte sich:

„Welches Mädchen in der Kolonie wollte schon einen Mann

heiraten, der blutbeschmiert und wenig gepflegt im Hof steht

und Tiere schlachtet, danach ihnen das Fell abzieht und mit

dem Beil zerlegt?“

So war der freie Sonntag gewöhnlich von Langeweile geprägt.

Zwar besuchte er den Gottesdienst im Saal, der

durchaus auch zum Unterricht der Kinder dienen konnte,

wenn es mal an Räumlichkeiten fehlte. Nachmittags machte

er gewöhnlich einen Spaziergang zum Katamon, einer Bergerhebung

bei Jerusalem und kam abends allein und unzufrieden

zurück.

Aber er fand etwas, was ihn erfüllte. Die Musik!

Er lernte das Waldhorn zu blasen und die Trompete. Er

spielte in der von der Templergemeinde gegründeten Blaskapelle

mit. Dann entdeckte er seine Liebe zum Cello, zum

Klavier und zum Harmonium. Und er hatte eine gute Stimme

– einen Bariton.

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Jona Kuebler – der Bruder meines Vaters

Jeder Ehrgeizige ist ein Gefangener und jeder Geizige ein Armer.

Jona hatte nach seiner Rückkehr aus London eine Stelle als

Bankkaufmann in Jerusalem angetreten. Aber schon nach

zwei Jahren gründete er seine eigene Firma in Jaffa, das am

Mittelmeer etwa 47 km westlich von Jerusalem liegt. Unter

anderen kaufmännischen Tätigkeiten exportierte er Orangen

in alle Welt, welche die Templer in der Ebene um Jaffa herum

anpflanzten (man behauptet, dass sie den Orangenbaum

aus Afrika eingeführt und die ersten Zitrusplantagen in Palästina

angelegt haben), und sein Name war bald in allen

einschlägigen Handelskreisen bis nach Amerika hin bekannt

geworden. Damals entstand der bis heute geläufige Begriff

der Jaffa-Orange, die ihrer Qualität wegen Weltruf erlangte.

Sein Bekanntheitsgrad führte dazu, dass ihn Schweden zum

Honorarkonsul ernannte und Spanien zum Vizekonsul für

Palästina. Diese Länder sahen in ihm den geeigneten Mann,

ihre Interessen in Palästina vertreten zu lassen. Im Ersten

Weltkrieg vertrat er sogar zusätzlich – sprachgewandt, wie

er war – alle alliierten Staaten auf der einen Seite und Deutschland

andererseits. Ihm gelang es – dies sei als Beispiel seines

Einflusses schon im Ersten Weltkrieg angeführt – die Türken

davon abzubringen, die Franziskanerkirche in Jerusalem

zu zerstören. Sie wollten das Baumaterial der Kirche für

Befestigungszwecke verwenden. Seine persönliche Freundschaft

zu Kemal Pascha, nach 1934 Atatürk genannt, dem Begründer

der neueren Türkei, hatte dabei die ausschlaggebende

Rolle gespielt.

Jona hatte in der Schweiz eine Schweizerin geheiratet. Das

Ehepaar konnte selbst keine Kinder bekommen. So beschlos-

68


sen sie, eine schweizerische Waise zu adoptieren, die sie Liselotte

nannten.

Mein Vater war in dieser Zeit ganz im Schatten seines Bruders

gestanden. Er beneidete Jona um seinen Erfolg und auch

um seine Ausbildung, die er durch die familiären Umstände

selbst nicht hatte wahrnehmen können. Er war nur ein einfacher

– wenn auch tüchtiger – Metzger geblieben und fühlte

sich doch zu Besserem berufen.

Jona Kuebler

69


Der Erste Weltkrieg bricht über Palästina herein.

Der ist der beste Redner, der der Menschen Ohren in Augen

verwandeln kann.

Doch der Erste Weltkrieg erreichte auch Palästina. Die

Engländer rückten von Ägypten kommend nach Palästina

vor, um die Türken und die deutsch-österreichischen Militäreinheiten

zu bezwingen. Die hatten sich in Gaza festgesetzt.

Sie standen unter dem Kommando des osmanischen

Generals Tala Bey und des deutschen Generals Kreß von Kressenstein,

der später das Buch schrieb: Mit den Türken zum Suezkanal.

Erst in der dritten Schlacht um Gaza waren die britischen

Truppen unter der Führung von General Allenby mit ihrem

dritten Angriff – die dritte Schlacht um Gaza – erfolgreich

und durchbrachen 1917 die Verteidigungslinie Gaza-Beersheba.

Die Templer selbst waren in die Auseinandersetzungen

nicht aktiv verwickelt, bis auf einige Farmer, die Artillerie-

Munition von Jaffa nach Gaza transportierten, dabei gefangen

genommen und in Sidi-Bischer in Ägypten interniert

wurden (Quelle: Brief von Felix Haar vom 25. Juli 2009). Die

Briten brauchten ein weiteres Jahr, um das Land von Jaffa

bis Haifa zu erobern und zu besetzen.

In der Folge machten die Engländer Palästina zum englischen

Mandatsgebiet. Die Franzosen übernahmen Syrien und

den Libanon.

Viele wehrtüchtige deutsche Templer hatten zuvor vom

Deutschen Reich einen Stellungsbefehl erhalten und waren vor

dem Einmarsch der Engländer, oft auf abenteuerliche Weise,

nach Deutschland gereist, wo sie dann eingezogen wurden.

70


Mein Vater hatte einen solchen Stellungsbefehl als Amerikaner

natürlich nicht erhalten. Doch sein Herz hatte immer

nur für Deutschland geschlagen und als die Engländer dann

im Land waren, entschloss er sich, über Aleppo mit anderen

Kameraden nach Deutschland zu fliehen, um als freiwilliger

Amerikaner auf deutscher Seite mitzukämpfen.

Auf seiner Flucht wäre er beinahe von den Engländern erschossen

worden. Er erzählte, wie er nachts in einem unbewohnten

Haus auf einem Hügel übernachtet hatte, als eine

englische Einheit morgens früh damit begann, das Haus zu

beschießen. Halb angezogen stürzte mein Vater zum rückwärtigen

Ausgang und lief um sein Leben den Hügel hinunter,

bis er in Sicherheit war. Diese Geschichte hat er im Alter

wieder und wieder erzählt. Dieses Erlebnis musste bei ihm

einen regelrechten Schock bewirkt haben.

So, wie es meinem Vater erging, erging es auch anderen

Palästinadeutschen, die versuchten, über die Türkei nach

Deutschland zu kommen, um einer Internierung durch die

Engländer zu entgehen und um dem Vaterland als Soldat zu

dienen. Welche Gefahren eine solche Flucht barg und welche

Entbehrungen zu ertragen waren, kann man in dem Buch

Der Orangenpflanzer von Sarona von Rudolf de Haas nachlesen.

Darin wird auch beschrieben, wie die Flüchtenden, auch

versprengte reguläre deutsche Soldaten, von den Engländern

und Franzosen mit Flugzeugen auf freiem Feld einzeln gejagt

und bombardiert worden waren. Auch die aufständischen

Araber waren den Flüchtenden nicht wohlgesinnt,

denn diese kämpften an der Seite der verhassten Türken.

Als mein Vater schließlich in Deutschland angekommen

war, war der Krieg zu Ende. Er wurde nicht mehr gebraucht,

konnte aber in den Nachkriegswirren auch nicht mehr zurück

nach Palästina. Die Engländer hatten die Templer aus

71


den Kolonien in Jerusalem, Sarona und Wilhelma, etwa 850

an der Zahl, 1918 interniert und dazu in ein altes Hotel,

damals genannt Al Hayat, mit angebauten Wellblechbaracken

nach Helouan nicht weit von Kairo nach Ägypten verfrachtet,

wo, wie bereits berichtet, auch mein Großvater Johannes

Dyck interniert gewesen war. Sie wurden 1920 freigelassen

und durften dann nach Palästina in ihre alten Siedlungen

zurückkehren.

Die deutschen Siedler im nördlichen Palästina blieben von

der Internierung verschont. Sie konnten eine Regelung mit

dem für dieses Gebiet zuständigen englischen Kommandanten

treffen. Nach der Aussage von Felix Haar lebten damals

allein in der Templersiedlung Haifa über ein Duzend Templer

mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft. Die meisten

Deutschen aber mussten ihre Häuser für die Briten und ihre

Verbündeten räumen. Die Angehörigen meines Vaters in

Jerusalem waren nicht interniert worden, da sie

glücklicherweise auch einen amerikanischen Pass besaßen.

72


Mein Vater wird Deutscher.

Das Schwerste für den Menschen ist die Selbsterkenntnis.

Mein Vater hatte in Deutschland wieder die deutsche

Staatsbürgerschaft beantragt und bewilligt bekommen, was

sich später im Zweiten Weltkrieg in einer fast neunjährigen

Kriegsgefangenschaft auswirken sollte.

Leider hat mein Vater von der Zeit in Deutschland wenig

erzählt. Wo war er beschäftigt? Wo hatte er gewohnt? Wovon

hatte er gelebt? Hatte ihn seine älteste Schwester Johanna,

die in Augsburg verheiratet war, aufgenommen oder gar

unterstützt? Hatte er eine kaufmännische Schule in Stuttgart

besucht und absolviert?

Unvergesslich blieb für ihn die Aufführung des Nibelungen-Rings,

der er in Bayreuth beiwohnen konnte. Wenn er

einmal einen Sohn bekommen würde, würde er ihn nach Siegfried

Wagner, den Sohn von Richard Wagner, nennen. So habe

ich meinen Vornamen Siegfried bekommen.

Nachdem die Templer aus Helouan wieder nach Palästina

durften und ihre Existenzen neu aufbauten, war es für ihn

an der Zeit, ebenfalls zurückzukehren. Das war 1922.

Diesmal würde er nicht wieder als Metzger arbeiten. Das

schwor er sich. Seine Schwestern waren in der Zwischenzeit

verheiratet, bis auf Sofie, die bis zu ihrem Tod unverheiratet

geblieben war, und fielen der Mutter nicht mehr zur Last.

Die Waisen waren groß geworden und ausgezogen. Er kam

also zu seiner Mutter und seiner Schwester Sofie in sein Elternhaus

zurück. Dieses Trio lebte zusammen.

Er machte sich mit einem Reisebüro selbstständig. Er kannte

Palästina so gut wie seine Westentasche, und er war auch

schon einige Male in Transjordanien gewesen, dem heutigen

Jordanien, das damals noch ein weißer Fleck auf der

73


Landkarte und dem Tourismus gänzlich verschlossen war.

Die heute berühmte Sehenswürdigkeit und in der Römerzeit

etwa 30 000 Einwohner zählende Stadt Petra (griech.:

Fels), eine der schönsten und rätselhaftesten Stätten der Antike

zum Beispiel, war erst 1812 von dem Schweizer Abenteurer

Burckhardt wiederentdeckt worden. Dieses Kleinod lag

jahrhundertelang verborgen am Ende eines schmalen Hohlweges

in der Wüste von Süd-Jordanien, obwohl durch Petra

die legendäre, gepflasterte, von Aleppo nach Akaba gehende

Römerstraße führt.

Amman, die heutige Millionenstadt und Hauptstadt von

Jordanien, war um die Jahrhundertwende von der einstigen

Blüte in der Antike zu einer Beduinensiedlung verkommen.

Die Wende kam, als Amman von der Hedschasbahn 1903 erreicht

wurde, die von Damaskus nach Medina führt, aber

nach dem Ersten Weltkrieg nur noch in Teilstrecken in Betrieb

war.

74


Kueblers Tourist and Travel Office

Ausdauer ist der Schlüssel zur Freude.

Die Zeichen für sein Unternehmen, das Kueblers Tourist and

Travel Office, standen gut, denn der Touristenstrom aus Europa

ins Heilige Land, vor allen Dingen aber aus Deutschland,

wuchs von Jahr zu Jahr. Mein Vater mietete einige Räume

an, die nicht weit vom Jaffator an der südwestlichen Grenze

der Altstadt Jerusalems lagen.

Aber auch die Nachfrage nach europäischen Gebrauchsgütern

war groß, sodass er sich entschloss, Waren aus

Deutschland und England einzuführen, wie Postkarten mit

Motiven von Palästina – damals kamen die ersten farbigen

Postkarten auf – sowie Schmuck und Andenken, z. B. das

Jerusalemer Kreuz; weiterhin Modeschuhe und Spielzeug bis

hin zum Automobil. Für die Lagerung waren die Räumlichkeiten

der aufgegebenen Metzgerei rund um sein Elternhaus

Jerusalem

75


gut geeignet. Er berichtete, dass er die Vertretungen für etwa

500 ausländische Firmen in Palästina hatte.

Er erzählte, wie er eine neue Mercedes Benz Limousine

nach Jericho lieferte, um sie über den damals etwa 20 m breiten

Jordan mit einem Floß übersetzen zu lassen. Auf der transjordanischen

Seite wurde sie von den Beauftragten des Königs

Saud in Empfang genommen. Sie war von König Saud

von Transjordanien bei ihm bestellt worden.

Die Jerusalemer Kreuze, ein Renner im Verkauf an viele Touristen,

hatte er von dem damals führenden Schmuckwarenhersteller

Rotewinneberger (R&W) aus Pforzheim bezogen. Der

Verkauf der Kreuze brach jedoch ein, als die englische Mandatsregierung

verlangte, dass auf der Rückseite der Kreuze

Made in Germany eingeprägt werden musste. Wer wollte aber

in Jerusalem ein Kreuz als Erinnerungsstück kaufen, das in

Deutschland hergestellt worden war?

Aber mein Vater hatte eine glänzende Idee. Die offiziellen

Sprachen in Palästina waren englisch, hebräisch und arabisch.

Wer konnte schon Arabisch? Made in Germany erschien bei

der nächsten Lieferung in arabischer Schrift auf der Rückseite

des Anhängers. Niemand konnte das verbieten. Die Käufer

aber dachten, wegen der arabischen Schriftzeichen auf

der Rückseite, dass das Kreuz in Jerusalem oder aber

zumindest in Palästina angefertigt worden war. So verkaufte

er mehr Kreuze als je zuvor.

Das Kueblers Tourist and Travel Office hatte er, wie bereits

erwähnt, nicht weit vom Jaffator, an der südwestlichen Seite

der Stadtmauer von Alt-Jerusalem, eröffnet. Er stellte einen

Araber für die arabische Kundschaft und einen Deutschjuden

namens Falscheer, der aus der Schweiz stammte, für die

jüdische und deutsche Kundschaft ein. Nach kurzer Zeit

wurde ihm die äußerst begehrte Alleinvertretung für den

76


Norddeutschen Lloyd übertragen. Die Gesellschaft besaß die

berühmten Ozeanriesen Bremen und Europa. Die Europa war

das Schiff, welches das blaue Band für die schnellste Überquerung

des Atlantiks nach Deutschland zurückholte.

Wenn ein Templer nach Amerika zu seinen Verwandten

reisen wollte – viele hatten noch Verwandte dort –, war dies

eine günstige Verbindung über Haifa, Triest, Bremerhaven

und weiter nach New York. So konnte man die Schiffsreise

mit einem gleichzeitigen Besuch in Deutschland verbinden.

Die Colombo war ein weiteres großes Schiff der Gesellschaft,

das mindestens einmal im Jahr Touristen von Bremerhaven

nach Beirut brachte und sie nach ihrer Studienreise durch

den Libanon, Palästina, Sinai und Ägypten wieder in Alexandrien

abholte. Bis zu 800 Reisende gingen in Beirut an

Land. Meinem Vater oblag es, die Touristen in Beirut abzuholen,

sie zu betreuen und die lange Reise zu organisieren,

damit sie alle zum richtigen Zeitpunkt wieder in Alexandrien

abreisebereit waren.

Eine gigantische Aufgabe, wenn man die Möglichkeiten

der damaligen Zeit berücksichtigt. Das Telefon stand erst am

Anfang seiner Entwicklung, und nicht jeder Ort in Palästina

war zu erreichen. Es gab nur wenige Busse im Land und die

mit wenig Komfort. Man konnte sie den Reisenden nicht

zumuten. So musste er alle Taxis in Palästina und viele vom

Libanon anmieten, die die Touristen nach der Besichtigung

Palästinas und vor allem der Heiligen Stätten bis nach Ägypten

fuhren, also durch das Sinai mit seinen schlechten Straßen,

die meistens noch Schotterpisten waren.

Wenn er von diesen Fahrten redete, leuchteten seine Augen.

Er war in seinem Element und sicherlich war die Ankunft

der Colombo immer ein Höhepunkt in seinem Leben

gewesen.

77


Bei der Betreuung der Reisenden auch in kleineren Gruppen

oder von Einzelnen lernte er bedeutende Persönlichkeiten

dieser Zeit kennen, so z. B. den schwedischen Streichholzkönig

Krüger, mit dem er eine Nacht mit Arrak, einem starken

Anisschnaps, durchgezecht hatte, obwohl er nie viel vertragen

konnte. Auch hatte er die Bekanntschaft von Albert Einstein,

der Jerusalem besuchte, gemacht, und er kannte Ben

Gurion (erster Ministerpräsident von Israel 1948-1953) und

Golda Meir (Ministerpräsidentin von Israel 1969-1974).

Er hatte auch von einem Flug mit einer dreimotorigen, blau

lackierten Fokker von Gaza nach Petra in Transjordanien

berichtet, zu dem er von dem berühmten Schweizer Flieger

und Forscher Walter Mittelholzer eingeladen worden war.

Mittelholzer soll einige Loopings gedreht haben, wobei es

meinem Vater den Angstschweiß auf die Stirn trieb und er

sich fast übergeben musste. Er schwor sich, nie wieder in ein

solches Flugzeug zu steigen. Von diesem Flug wurde damals

in der Palestine Post vom 14. Febr. 1934 (im letzten Kapitel ist

der Original-Wortlaut aus der Palestine Post wiedergegeben) geschrieben:

„Mittelholzer startete mit seiner dreimotorigen Fokker am

13. Febr. 1934 von Gaza nach Petra. Er flog dabei auch einige

Runden über Jaffa, Tel-Aviv und Jerusalem. Dreitausend

Fotoaufnahmen und auch Filme sollen dabei aus der Luft

gemacht worden sein. An Bord waren Dr. Gogler, Professor

Morf und F. Kuebler. Das große blaue Flugzeug war von Kaiser

Haile Selassie [auch Negus Negesti „König der Könige“ genannt

oder auch „Löwe von Juda“] gekauft worden und Mittelholzer

oblag die Aufgabe, das Flugzeug nach Addis Abeba

zu überführen.“ Darüber hat er später ein Buch mit dem

Titel Abessinienflug geschrieben, das im gleichen Jahr in Zürich

veröffentlicht wurde.

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Kueblers Tourist & Travel Office am Jaffator

79


In der Templergemeinde war mein Vater in der Blaskapelle

engagiert. Als Tennis populär wurde, gründete er einen

Tennisverein. Westlich der Templerkolonie auf einem Feld,

wo im Frühjahr Tausende roter Anemonen blühten, ließ er,

zwischenzeitlich zum Präsidenten des Vereins gewählt, zwei

Tennisplätze anlegen. Dazu waren Sprengungen der herausragenden

Kalksteinfelsen notwendig. Es entstand auch ein

Clubhaus, in dem sogar eine Kegelbahn Platz fand. Ich schätze,

dass die Tennisplätze zwischen 1925 und 1928 gebaut

wurden. Meine Mutter, damals Fräulein Paula Dyck, war

gut in diesem Sport, sie war mehrmals Clubmeisterin. Mein

Vater dagegen war im Bälleschlagen weniger begabt. Er soll

sich beim Spurt nach einem Ball so verletzt haben, dass er

kaum noch zu überreden war, den Schläger nochmals in die

Hand zu nehmen. Dafür hat er aber die Meisterschaft im

Kegeln gewonnen.

Die Begeisterung meiner Mutter für diesen Sport hat sich

wahrscheinlich auf mich übertragen. Ich war aber schon 28

Jahre alt, als ich den ersten Schläger – einen Slazenger, natürlich

aus Holz und gebraucht gekauft – in der Hand hatte

und die ersten Bälle über das Netz beförderte.

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Mein Vater heiratete Paula Dyck.

Wer nie jagte, nie liebte, nie den Duft einer Blume suchte und nie

beim Klang der Musik erbebte, der ist kein Mensch, sondern ein

Esel.

Meine Mutter, damals Fräulein Paula Dyck und sechzehn

Jahre jünger als mein Vater, war eine der ersten jungen Damen

in der Kolonie, die dem Weißen Sport huldigte. Als mein

nicht so sportlicher Vater einige Mal beim Spiel mit meiner

Mutter den Kürzeren zog und dabei sogar stürzte, gab er das

Tennisspielen schnell wieder auf. Dafür wurde er Experte im

Kegeln. Immerhin hatte er auf diese Weise Fräulein Dyck näher

kennengelernt. Aber seine große Liebe war eine andere.

Liselotte, die angenommene Tochter von seinem Bruder

Jona, war zu einer bildschönen, blonden jungen Frau herangewachsen.

Wenn sie auf der Straße mit ihren Eltern spazieren

ging, schauten sich alle jungen Männer um, um einen

zweiten Blick zu wagen. Meinem Vater blieb die Schönheit

Liselottes natürlich nicht verborgen. Er machte ihr den Hof.

Sie war gerade 18 und er 38. Er verliebte sich in das Mädchen,

das seine Liebe bald erwiderte. Es entwickelte sich eine Romanze

zwischen den beiden, die Jona und dessen Frau nicht

gerne sahen. Er stellte meinen Vater zur Rede – ohne Erfolg –

und entschloss sich kurzerhand, mit seiner Familie von Jerusalem

nach Jaffa umzuziehen. Die Gelegenheit dazu war günstig,

denn die Schweiz hatte ihn zum schweizerischen Honorarkonsul

für Palästina ernannt. Das Konsulat wurde 1927 in

Jaffa eröffnet. Die konsularischen Vertretungen für Schweden

und Spanien legte er nieder, weil das die Voraussetzung für

seine Ernennung war.

Die Zeit und die Entfernung brachten, wie so oft im Leben,

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die beiden Liebenden auseinander. Meines Vaters erste große

Liebe war vorbei.

Manchmal dachte er an Fräulein Dyck und traf sie zu einem

Drink im Tennisclub. Er hielt sich aber zurück und machte

keine Avancen. Fräulein Dyck, die sich Hoffnungen gemacht

hatte, war eine resolute junge Frau und zog bald die Konsequenzen.

Sie war für klare Fronten. Sie nahm kurzerhand das

Angebot einer reichen Familie in Mexiko City an, deren Kindern

als Hausdame Unterricht zu erteilen und sie zu erziehen.

Sie besorgte sich die erforderlichen Visa und kaufte die

Fahrkarten bei Kueblers Tourist and Travel Office, um mit dem

Schiff zuerst von Haifa nach Triest zu reisen und anschließend

mit einem anderen Schiff den Atlantik von Hamburg

nach Vera Cruz zu überqueren. Sie wollte den Umweg über

Deutschland nehmen, da sie in Deutschland einige Besuche

vorhatte.

Doch lassen wir meine Mutter zu Wort kommen:

„Am letzten Abend war ich mit meinen Eltern zusammen

zu einem Abschiedstrunk in unseren Tennisclub gegangen.

Viele gute Wünsche wurden mir von meinen Freunden und

Bekannten mit auf die Reise gegeben. Beim Verlassen des Clubs

trafen wir Herrn Kuebler. Es war eine Wette offen, die er verloren

hatte.

Ich sagte:

‚Heute haben Sie noch die Gelegenheit, Ihre Wette einzulösen.

Der Zeppelin ist doch nach Jerusalem gekommen. Ich habe

die mit Ihnen abgeschlossene Wette also gewonnen. Sie waren

ja anderer Ansicht. Morgen reise ich ab.‘ Er aber lachte

und erwiderte:

‚Das hat sicher noch Zeit.‘

Ich dachte: welch dummes Junggesellengerede. Mein Ge-

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päck war schon abgeholt worden, und ich musste nur noch

den Handkoffer schließen.

Am nächsten Morgen fuhr ein Taxi vor, aber nicht das von

mir bestellte. Der Taxifahrer überreichte mir einen Brief von

Herrn Kuebler:

‚Liebes Fräulein Dyck!

Ich habe heute geschäftlich in Haifa zu tun. Sie können mich

mit Ihrem Bruder Abram begleiten, wenn Sie wollen.‘

Ich verabschiedete mich von meinen Eltern und meinen

Geschwistern und sagte:

‚Die drei Jahre werden wohl bald vorbei sein‘ und stieg mit

meinem Bruder in das vorgefahrene Taxi ein. Die Blaskapelle

spielte, und einige Tränen liefen mir über die Wangen. Wir

holten Herrn Kuebler in einem Kaffeehaus ab, wo er auf uns

wartete. Er setzte sich neben mich.

Wir fuhren an der Amerikanischen Kolonie vorbei in Richtung

Norden. Auf der Anhöhe angekommen, versuchte ich,

einen letzten Blick von der Stadt Jerusalem mit der Omar

Moschee zu erhaschen.

Kaum hatten wir die Hauptstraße erreicht, wandte sich Herr

Kuebler unvermittelt an mich und fragte:

‚Fräulein Dyck wollen Sie meine Frau werden?‘

Ich war wie vom Blitz getroffen und wusste nicht, was ich

antworten sollte.

‚Wollen Sie nicht?‘

Seine Augen schimmerten, und schon lag ich in seinen Armen.

Das Ja kam wie von selbst über meine Lippen.“

So weit die Schilderung meiner Mutter.

Die Taxifahrt wurde nicht unterbrochen. Es wurde ein Ausflug,

der über Nablus, Haifa und Nazareth zurück nach Jerusalem

führte. In Nazareth löste mein Vater seine verlorene

Wette ein und bestellte die gewetteten zwei Flaschen Bier und

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ein dazugehöriges Masa, auf Arabisch eine Art Vorspeise.

Damit war die Wette eingelöst.

Die Nachricht von der Verlobung der beiden verbreitete sich

in der deutschen Kolonie wie ein Lauffeuer. Wie ist das möglich,

fragten sich die Leute, alle Fahrkarten waren doch schon

gekauft und jetzt bleibt sie doch da? Konnte er sich zu diesem

Schritt nicht früher entschließen? Musste er den letzten Moment

abwarten?

Als die beiden in Jerusalem ankamen, wurden sie von vielen

der neugierig zusammengelaufenen Menschen der Siedlung

empfangen. Sie waren auch gekommen, um den Jungverlobten

zu gratulieren.

Mein Vater hatte bisher bei seiner Mutter und Schwester

Sofie in seinem Vaterhaus gewohnt. Die Mutter war von der

Nachricht der Verlobung völlig überrascht worden und konnte

sich nicht richtig freuen. Ihr Fritz war der einzige Mann im

Haus und schon 45 Jahre alt. Musste er in diesem Alter noch

heiraten? Sollte sie ihn, ihre rechte Hand und Stütze, an eine

junge Frau verlieren? Auch Sofie zeigte sich verschlossen. Ihr

Bruder gehörte ihr jetzt nicht mehr allein.

Paula und Fritz heirateten dessen ungeachtet, und das jungvermählte

Paar zog in die obere Wohnung des Vaterhauses

ein, während die Mutter und Sofie die größere untere Wohnung

behielten.

84


Meine frühe Kindheit

Schütte das schmutzige Wasser nicht weg, bevor du sauberes

gefunden hast.

Im Jahre 1930 brachte meine Mutter, wie schon erwähnt,

einen Sohn zur Welt. Es war eine Totgeburt. Ein Jahr später

wurde ich geboren und zwei Jahre später meine Schwester

Gisela.

Meine ersten Erinnerungen beziehen sich auf ein Wohnzimmer,

wo ich krank auf einem zu einem Bett umfunktionierten

Sofa lag. Ich hatte eine schwere Nierenentzündung. Meine

Mutter pflegte mich aufopfernd. Sie legte mir nasse Kopftücher

gegen das hohe Fieber auf die Stirn und flößte mir heißen

Tee mit Zitrone ein, den ich überhaupt nicht mochte. Ich habe

einen solchen Widerwillen dagegen entwickelt, dass ich Tee

in dieser Kombination bis heute nicht trinken mag.

Meine kleine Schwester lag in einem Bettchen einige Schritte

entfernt. Ich kann mich an einen Wandteppich erinnern,

den meine Mutter aufgehängt hatte und der mir Angst machte.

Er zeigte einen Engel mit großen Federflügeln in einer mit

Zypressen bewachsenen Landschaft. Es waren die Bäume des

Todes. Ich glaubte, dass ich sterben müsste und war auch tatsächlich

dem Tode sehr nah, wie mir meine Mutter später bestätigte,

als ich erwachsen war.

Wir zogen nach der überwundenen Krankheit ein Stockwerk

tiefer, denn Sofie brauchte die größere Wohnung nicht mehr,

nachdem die Mutter meines Vaters Anfang 1930 verstorben

war.

Meine Eltern konnten sich jetzt ein Esszimmer leisten, ein

Wohnzimmer und allem voran ein Musikzimmer. Viele Musikinstrumente

standen darin: ein Klavier, ein Harmonium,

viele Blasinstrumente vom Bass bis zum Waldhorn, ein Cello,

85


Geigen und ein Kontrabass. Das hatten sich beide gewünscht:

ein Musikzimmer, in dem sie nach Herzenslust musizieren

konnten.

So spielten sie vierhändig auf dem Klavier, wie z. B. den Freischütz

von Weber. Meine Mutter spielte Die Ungarische Rhapsodie

allein, und mein Vater begleitete sie dazu mit dem Cello.

Als wir etwas älter waren, war es uns Kindern fast nicht möglich,

ohne die bis ins Schlafzimmer dringende Musik einzuschlafen,

wenn unsere Eltern vielleicht einmal zu einem Diner

ausgegangen waren.

Meine Eltern waren mit ihrer Musik wahrscheinlich das

glücklichste Paar der Welt.

Sofie hatte mich und meine Schwester in ihr Herz geschlossen.

Das Verhältnis zu meinem Vater hatte sich in dem Moment

geändert, als wir geboren waren. Immer wieder hatte

sie in ihren Händen ein kleines Geschenk für mich. Oft war es

ein Taschenmesser. Ich glaube, dass ich, bis ich elf Jahre alt

war, mindestens zehn Taschenmesser von ihr bekommen habe.

Über jedes neue freute ich mich, denn ich schnitzte bei jeder

Gelegenheit an Stöcken und Holzstücken herum. Und die Klingen

waren immer von unterschiedlicher Schärfe und wurden

auch schnell stumpf. Je schöner und teurer das Taschenmesser

war, umso schlechter waren seine Schnitzeigenschaften.

Mit dem Schnitzen hatte ich bestimmt schon mit fünf oder

sechs Jahren angefangen und brachte es später zu einer erstaunlichen

Fertigkeit.

Im Erdgeschoss lebte die Familie Hans Hesselschwerdt. Die

Schwester Katharina meines Vaters hatte den Kraftfahrzeugmeister,

der von Deutschland eingewandert war, geheiratet.

Er hatte mit seinem Bruder nicht weit von unserem Haus entfernt

eine Werkstätte eingerichtet, in der er mit einigen Angestellten

PKWs, aber auch Lastwagen wartete und reparierte.

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Vom Fenster aus konnte man die Lastwagen im Hinterhof der

Werkstätte erkennen. Onkel Hans nahm mich hin und wieder

mit, damit ich mich umsehen konnte und bei der Reparatur

dabei sein konnte.

Katharina und Hans hatten zwei Töchter, die ältere Olga –

damals, als ich sechs war, war sie etwa vierzehn – und Nellie

zwölf. Beide waren natürlich besonders begehrte Spielgefährten

für uns. Sie hatten sich, als wir noch klein waren, auch als

Babysitter betätigt.

Nellie schob mich in meinem Spielzeugauto im Garten herum

und Olga hatte mir einen Pullover gestrickt.

Keiner konnte wissen, welch fürchterliches Schicksal dieser

Familie und Sofie bevorstand. Als der Zweite Weltkrieg losbrach,

wurden sie alle wie wir auch in Sarona interniert. Die

Engländer versuchten, ihre Internierungslager in Palästina

nach und nach aufzulösen. Zu ihrer Entscheidung hatte

sicherlich der Vormarsch Rommels mit dem Ziel, den Suezkanal

zu erreichen, beigetragen. Ein Teil der Deutschen wurden

gegen Juden und einige Engländer über die in diesem Krieg

neutrale Türkei nach Deutschland ausgetauscht. Die meisten

aber wurden 1942 nach Australien verschifft. 1941 war der

erste Austausch, der zweite folgte Ende 1942 und der dritte

1944. Die Familie Hesselschwerdt und Sofie kamen im Sommer

1944 im Rückwandererheim in Stuttgart an – das war das

ehemalige alte Hotel Central –, um dort die Nacht zu verbringen,

bevor sie zu ihrem endgültigen Standort irgendwo in einer

kleineren Stadt in Württemberg weiterreisen sollten.

Doch in dieser Nacht bombardierten die Alliierten Stuttgart.

Stuttgart brannte.

Das Rückwandererheim wurde von Splitterbomben getroffen

und sank wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Sie wurden in einem teilweise zusammengestürzten Keller

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des Hauses erst nach Tagen gefunden. Die beiden Mädchen

lagen am Boden vor der Tür, um durch den unteren Schlitz

den letzten Lufthauch einzuatmen, der von draußen hereinsickerte.

Vergeblich. Alle waren sie erbärmlich erstickt. –

Dunkel kann ich mich auch an einen Ausflug erinnern, der

meinen Vater mit meiner Mutter, Gisela und mir zum nördlichen

Teil des Jordans führte, wo der Fluss vielleicht zehn Meter

breit und an den Ufern mit hohen Büschen besäumt war.

Er mietete ein Boot, wir nahmen Platz, und er ruderte zur

Flussmitte. Hier taufte er mich und meine kleine Schwester

mit echtem Jordanwasser. Das war natürlich keine echte Taufe,

aber immerhin blieb mir dieses Ereignis in Erinnerung. Heute

soll der Jordan in diesem Abschnitt nur ein Rinnsal sein, in

dem kaum noch Wasser fließt.

Als ich etwa sieben war, es war in den Ferien, und ich musste

nicht in die Schule, spielte ich an einem Morgen auf dem

Fußboden der überdachten Glasveranda, die vor dem Musikzimmer

lag.

Sie war auch der Durchgang zur Toilette, die separat vom

Haus über einen Steg zu erreichen war. Sie war als Plumpsklo

überhöht angelegt. Die Fäkaliengrube wurde, wenn sie voll

war, abgepumpt und von dem Tankfahrzeug an den Stadtrand

südlich des Jaffators gebracht und dort in ein Tal abgelassen.

Ein von meinem Vater angestellter, arabischer Träger

mit dem Namen Yachia, der mich manchmal abholen musste,

um mich ins Büro meines Vaters zu bringen, drohte mir, wenn

ich nicht mehr gehen wollte, mich in den stinkenden Schlick

zu werfen, der weit ins Tal hineinreichte. Er hatte keine Lust,

mich bis ins Büro zu tragen. Ente wuachet hatcher, du bist so

schwer wie ein Stein, sagte er dann bedeutungsvoll mit tiefer

Stimme. Mir graute vor der Vorstellung, darin zu versinken,

obwohl ich wusste, dass er es nicht ernst meinte. Nichts

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Schrecklicheres könnte mir passieren! Ich sah sofort ein, dass

ich ihn nicht mehr auffordern würde, mich zu tragen, bis wir

die Stelle weit hinter uns gelassen hatten.

Mein Spielen wurde durch den einsetzenden Regen unterbrochen.

Die Regenzeit hatte begonnen. Die großen Tropfen

klatschten gegen die Scheiben der Glasveranda und liefen

unregelmäßig herunter. Die Fenster waren leicht von innen

beschlagen. Ich drückte meine Nase an den Scheiben platt, um

besser nach draußen sehen zu können.

Die Spatzen badeten in den Pfützen im Hof und säuberten

mit den Schnäbeln ihr Gefieder. Ein lustiges Schauspiel. Trübe

Tage sind in Jerusalem selbst in dieser Jahreszeit so selten

wie der Regen. Doch er wird dringend benötigt, um die spärliche

Vegetation zum Leben zu erwecken und die Zisternen und

Stauseen der Menschen zu füllen. Einen Dauer- oder Landregen

wie in Deutschland kennt man nicht. Manchmal gibt es

aber Schneeflocken, die in dem Augenblick schmelzen, wenn

sie den Boden berühren. Die tief hängenden Wolken verschwinden

nach wenigen Stunden und machen der Sonne

wieder Platz. Ich glaubte immer, die weichen Wolken einfangen

zu können. Ich müsste nur auf den gegenüberliegenden

Telegrafenmast steigen und die Wolke mit beiden Händen

greifen und nach unten ziehen. Das würde ein weiches Daunenbett

geben! Man könnte sich darin kuscheln. Und wenn

man es nicht mehr brauchte, würde es sich in Nichts auflösen.

Wenn dann die Halbwüste um Jerusalem erblüht und der

braungelben Landschaft mit den weißen, herumliegenden

Kalksteinen Farbe gibt, wird man erst die sparsame Schönheit

des Landes erkennen können. Die schönsten und auffallendsten

Blumen zugleich sind die roten Anemonen. Wenn ich

für Jerusalem eine Blume aussuchen könnte, wäre es eben diese

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Anemone und nicht die weiße Lilie, die schon auf einer in Jerusalem

gefundenen und wahrscheinlich um 350 v. Chr. nur

8,5 mm großen geprägten Silbermünze abgebildet ist.

Die weiße Lilie

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Ein Erdbeben

Keiner ist von Sorgen frei, nicht einmal der Stein in der Mauer.

Auf dem Verandaboden hatte ich die Teile meines Märklin-

Baukastens ausgebreitet und an dem Kran weitergearbeitet,

dem Bild auf der Schachtel folgend. Heute gibt es diese Art

von Baukästen bedauerlicherweise nicht mehr. Gestanzte,

schmale Stahlblechteile mit vielen Löchern und in verschiedenen

Längen ließen sich mit kleinen Schräubchen zu unglaublichen

Konstruktionen zusammenfügen. Brücken, Krane, Baumaschinen,

Lastwagen, Hochhäuser, alles konnte man bauen,

der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Und die geschaffenen

Bauwerke waren stabil, man konnte sie nicht ohne Weiteres

zerstören oder zerschlagen. Bauen, auseinanderschrauben

und wieder etwas Neues bauen, das war meine Lieblingsbeschäftigung.

Plötzlich hörte ich ein tiefes, lautes, furchterregendes Grollen,

das sich wie das Brüllen eines Riesentiers anhörte. Meine

Mutter kam schreiend angerannt, packte meine gerade mit

Puppen spielende Schwester und rief gleichzeitig mir zu:

„Schnell, schnell, aus dem Haus, ein Erdbeben!“

Und schon fing das Haus zu schwanken an. Vasen fielen

von den Simsen und Fenster klirrten, als wir die Treppe ins

Freie hinabstürzten.

Und dann bebte die Erde fürchterlich. Ich meinte, dass sie

sich vor uns in einem breiten Riss öffnen müsste. Erdbebenspalten

hatte mir mein Vater auf einem Feld bei einem unserer

Spaziergänge gezeigt. Ich schaute das schwankende Haus an

und erwartete, dass es jeden Moment einstürzen würde. Aber

es hielt, und die anderen Häuser in der Nachbarschaft auch.

Nachdem die Erde aufgehört hatte zu beben, trauten wir uns

zunächst nicht, in das Haus zurückzukehren.

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Sofie, die natürlich auch ins Freie geflüchtet war, Katharina,

Olga und Nellie waren die Ersten, die nach einer halben

Stunde bangen Wartens den Mut fanden, ins Haus zurückzugehen.

Wir folgten. An der Rückwand des Hauses hatten sich

einige der gehauenen, dicken Kalksteine um bis zu fünf Zentimeter

verschoben, und ein breiter Riss klaffte in einer Außenwand,

durch den man ins Freie sehen konnte.

Mein Vater kam mit einem Taxi vorgefahren. Er war im Büro

gewesen und legte die drei Kilometer lange Strecke jeden Tag

zu Fuß zurück. Er war erleichtert, uns unversehrt vorzufinden.

Allerdings bereiteten ihm die verschobenen Kalksteine

einiges Kopfzerbrechen, denn an eine Reparatur war nicht zu

denken, ohne dabei die ganze Wand abzutragen, was einem

Teilabriss des Hauses gleichkam.

Aber etwas anderes fiel meiner Mutter sofort auf. Sein kleiner

Finger stand im rechten Winkel nach oben.

„Was ist geschehen?“, fragte sie. „Hast du dich verletzt?“

„Als das Grollen losging“, antwortete er, „saß ich einem

arabischen Kunden gegenüber. Wir tranken Achue [starker

türkischer Kaffee], rauchten Wasserpfeife und sprachen über

belanglose Dinge, bevor wir zum eigentlichen Geschäft kamen.

Der behäbige Araber und ich sprangen gleichzeitig auf

und drängten uns durch die Tür zur Treppe. Jeder von uns

wollte natürlich, alle Höflichkeiten jetzt vergessend, zuerst

hindurch und alle stürzten dabei zusammen die Treppe hinunter.

Er kugelte mit seiner Fülle auf die Straße hinaus, während

ich versuchte, mich abzustützen und mir dabei den kleinen

Finger brach.“ Ich bemerkte, wie meine Mutter – die groteske

Situation vor Augen, wie die beiden sich gegenseitig die

Tür versperrten – kaum ein Lachen unterdrücken konnte. Und

plötzlich mussten wir alle lachen. Mein Vater hingegen fand

das gar nicht so komisch.

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Der Täuberich

Gott segne den, der Besuche macht, und kurze Besuche.

Manchmal, wenn mir langweilig war, turnte ich auf der

hohen Mauer herum, die das Anwesen einzäunte, stieg auf

die angrenzenden Akazienbäume, saugte den Nektar aus deren

weißen Blüten und beobachtete die vielen Tauben, die auf

den Dächern turtelten und in den Schuppen um das Haus nisteten.

Das war eine großartige Sache, denn der größte und

schönste Täuberich Charlie, der sein Gefieder immer aufgeplustert

hatte, um seinem Harem zu gefallen, gehörte mir. Mir

allein. Mein Vater hatte ihn mir vor einer Woche geschenkt.

Er war gerade wieder in den Verschlag im Schuppen gekrochen.

Und dann kam Onkel Abram, der jüngere Bruder meiner

Mutter, die Straße herauf mit einem Käfig in der Hand.

„Ist dein Vater zu Hause?“

Ich rannte ins Haus, um meinem Vater Bescheid zu sagen.

Er kam herunter und begrüßte meinen Onkel. „Achlan u Sachlan.

Wie geht es dir?“ Sie begrüßten sich wie üblich auf Arabisch.

„Ich bin gekommen, den Täuberich zu holen“, sagte er. Sie

gingen zum Verschlag, schlossen die Klappe, mein Vater packte

Charlie mit beiden Händen und holte ihn heraus.

„Den kannst du für deine Zucht mitnehmen“, sagte er und

sie sperrten ihn in den mitgebrachten Käfig. Ich rannte weg

und schrie: „Das ist aber mein Täuberich. Du hast ihn mir geschenkt.

Es ist der Charlie, den kannst du nicht einfach weggeben

und weiterverschenken.“

Mein Vater sah mich verwundert an.

„Wie kann er denn dir gehören, wenn er immer nur auf dem

Dach sitzt. Du kannst doch gar nichts mit ihm anfangen. Doch

93


wenn du unbedingt einen haben willst, kannst du ja den bläulichen

Täuberich nehmen, der dort drüben auf dem Baum

sitzt.“

Ich wollte den bläulichen Täuberich natürlich nicht haben.

Den würde er sicher bei nächster Gelegenheit ebenso verschenken.

Ich war tief enttäuscht und würde die Lehre nie vergessen.

Sagt nicht ein Sprichwort: Lieber den Spatz in der Hand als

die Taube auf dem Dach?

Spurlos ging die Geschichte allerdings auch an meinem

Vater nicht vorbei. Er wollte den Vertrauensbruch mit einem

besonders schönen Geschenk zu meinem Geburtstag, der vor

der Tür stand, wieder wettmachen. Er kam mit einem kleinen

Fahrrad an, das er seiner Schwester Ida abgekauft hatte, die

verheiratet in Jaffa lebte und deren Sohn Hugo-Kunz dem

Fahrrad entwachsen war.

Mein Vater selbst konnte nicht Fahrrad fahren, wollte es mir

aber trotzdem beibringen.

Das Fahrrad war so hoch, dass meine Beine nicht zu den

Pedalen hinunterreichten. Also musste ich quer einsteigen und

das eine Bein unter der oberen Querstange zum Pedal auf der

anderen Seite hindurchschieben. Es gelang, und auf einmal

hatte ich die ersten zehn Meter geschafft.

Nach wenigen Tagen fuhr ich schon die Straße auf und ab.

Ich fuhr meinem Vater entgegen, als er nach Hause kam. Die

Straße war frisch geteert und mit scharfem Schotter übersät,

der bei dem geringen Verkehr über ein Jahr brauchte, um sich

in den Asphalt einzuarbeiten. Ich wollte ihm zeigen, wie

schnell ich fahren konnte, verlor dabei aber die Herrschaft über

das Rad. Ich schlitterte in voller Länge über den Schotter, riss

mir die Knie, Hände und Arme auf und blutete stark. Meine

Mutter war außer sich und nahm mir das Rad vorläufig mit

94


der Maßgabe weg, es erst wieder fahren zu dürfen, wenn meine

Beine zu den Pedalen reichten. Das konnte dauern!

Das war nicht der erste Unfall mit dem Rad gewesen. An

den Tennisplätzen war eine Weitsprunggrube angelegt. Sie

war mit Sand gefüllt. Ich fuhr den Hügel hinunter, um Anlauf

zu nehmen die Grube zu überqueren, lief dabei Gefahr,

die Kontrolle über das Rad zu verlieren und bremste deshalb

mit der stärkeren, rechten Hand, so stark ich konnte, bevor

ich die Grube erreichte. Es kam, wie es kommen musste. Das

Vorderrad blockierte, das Rad überschlug sich mit mir in der

Luft, ich flog in die Grube und schlug mir die Hälfte eines

Vorderzahns an einem Stein aus. Dieser Unfall hatte meine

Mutter aufgebracht, nicht nur dass ich jetzt eine unschöne

Zahnscharte hatte, sondern es stand auch ein Besuch bei Zahnarzt

Dr. Katzenellenbogen an, der in der Innenstadt wohnte und

im unteren Teil seines Hauses seine Praxis hatte. Er war ein

zuvorkommender Mann mit jiddischem Akzent.

„Er wird nachwachsen. An diesem Zahn möchte ich nichts

machen. Eine Füllung würde in deinem Alter ohnehin nicht

halten“, meinte er und strich mir mit der Hand über die Haare,

wie um mich zu trösten.

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Der grüne, ungenießbare Frosch

Freundliche Rede lockt selbst eine Schlange aus ihrem Loch.

Entgegen landläufiger Meinung ist der Zahn im Laufe der

Jahre tatsächlich etwas nachgewachsen. Heute kann man

nichts mehr von einer Scharte erkennen. Trotzdem habe ich

eine unangenehme Erinnerung an den ungewöhnlichen Namen

Katzenellenbogen.

Meine Mutter war mit Frau Katzenellenbogen befreundet.

Sie war zum Kaffe eingeladen und nahm mich mit. In dem

mit viel Plüsch eingerichteten Wohnzimmer war der Tisch

gedeckt. In der Mitte des Tisches türmte sich eine Platte mit

Kuchen- und Tortenstücken. Die jüdische Gemeinde in Jerusalem

hatte einen anderen Geschmack als wir Templer. Die

Tortenstücke waren reichhaltig mit farbigen Cremes gefüllt,

sehr süß und meistens mit einem Zuckerguss überzogen. Sie

hatte aber auch einzelne Tortenexemplare, die Tiere darstellten.

Da war ein weißer Schwan, hier eine Katze, und als Krönung

in der Mitte ein giftig aussehender, grüner Frosch.

„Was willst du denn nehmen, mein Lieber“, fragte sie mich

freundlich. „Der grüne Frosch ist etwas ganz Besonderes. Er

gefällt dir sicher. Darf ich ihn dir geben?“

Ich nickte etwas verlegen, denn lieber hätte ich die braune

Schokoladenkatze genommen, und sie schob mir den grässlich-grünen

Frosch auf einem goldumrandeten Teller zu.

Die beiden Frauen unterhielten sich angeregt, als ich den

ersten Bissen machte. Der Frosch schmeckte fürchterlich. So

giftig, wie er aussah, so schmeckte er auch. Ich hatte gelernt,

das zu essen, was auf den Teller kam. Bis er leer war. Ich schob

den zweiten Bissen hinein. Ich würgte die grüne Masse mit

der grünen Glasur hinunter. Die zähe Masse wollte und woll-

96


te nicht rutschen. Frau Katzenellenbogen sah mein grünlich

werdendes Gesicht und fragte besorgt:

„Schmeckt der Frosch denn nicht?“

So war es, er blieb mir förmlich im Hals stecken. Ich schaute

verzweifelt zu meiner Mutter hinüber, Hilfe suchend, aber sie

lächelte nur.

„Doch, doch“, hörte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung

sagen und machte einen verhängnisvollen Fehler, indem

ich fortfuhr:

„Ich esse nur so langsam, weil der Frosch so gut schmeckt!“

Damit hatte ich mich selbst gefangen. Ich musste das Stück

Torte bis zum letzten Bissen essen. Hatte ich nicht hinausposaunt,

dass er so vorzüglich schmecke? Mir wurde so schlecht,

dass die giftgrüne Farbe des Frosches jetzt mein ganzes Gesicht

überzog. Frau Katzenellenbogen und meine Mutter waren

indes so in ein Gespräch vertieft, dass sie nichts davon

bemerkten.

Ich hatte bei Frau Katzenellenbogen etwas gelernt. Man muss

es immer laut und ehrlich sagen, wenn einem etwas nicht

passt, auch in anderen Lebenssituationen. Man hat es dann

einfacher und muss den Frosch nicht hinunterwürgen.

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Mein Vater wird ungarischer Honorarkonsul.

Hast du ein Geheimnis, so ist es dein Gefangener. Lässt du es

frei, so bist du sein Gefangener.

Einmal nahm mich mein Vater ins King David Hotel mit, dem

vornehmsten Hotel in Jerusalem, wo er sich mit seinem Bruder

Jona treffen wollte. Dieses in der Nähe zur Altstadt massive,

1931 von einer reichen, jüdischen Familie aus Ägypten

im gelblichen Jerusalemstein gebaute Haus beherbergte vom

ersten Tag seiner Eröffnung an prominente Gäste, wie z. B.

den abessinischen Kaiser Haile Selassie und viele andere, die

alle zu erwähnen unmöglich ist. Der griechische König George

hatte hier im Zweiten Weltkrieg seine Exilregierung eingerichtet.

Das Hotel wurde im Juli 1946, kurz vor der Gründung des

Staates Israel, Ziel eines von der jüdischen Befreiungsorganisation

Stern inszenierten Bombenanschlags, der den Engländern

galt, die ihr Hauptquartier auch in dieses Hotel verlegt

hatten. Und bis heute ist das King David Treffpunkt für Politiker

aus aller Herren Länder geblieben, die um die Befriedung

des Nahen Ostens ringen.

Das war der Ort, den Jona für das Treffen mit meinem Vater

ausgewählt hatte. Jona hatte eben seine Eigenheiten. Er

besuchte uns kaum einmal zu Hause. Vielleicht verhielt er sich

immer noch meinem Vater gegenüber reserviert wegen der

vorhergegangenen Liebschaft meines Vaters mit seiner Tochter

Liselotte.

Der Name Kuebler hatte durch Jona in Palästina einen internationalen

Ruf gewonnen. Jona war der dienstälteste Konsul

im Land. Die ungarische Regierung bot meinem Vater vielleicht

aus diesem Grund die konsularische Vertretung für die

nicht allzu vielen in Palästina lebenden Ungarn an. Das war

98


mit dem Titel eines Honorarkonsuls verbunden. Das Angebot

kam völlig überraschend für ihn, da er nicht Ungar, sondern

Deutscher war.

Für die ungarische Regierung waren aber auch seine vielen

Verbindungen, die er in Palästina hatte, und die Kenntnis des

Landes und die Beherrschung der arabischen Sprache entscheidend.

Er hatte das Angebot angenommen und wollte die

Neuigkeit seinen Bruder wissen lassen. Seine Gründe für die

Annahme waren einleuchtend. Der Touristenstrom von

Deutschland ins Heilige Land war durch die Unruhen zwischen

Juden und Arabern fast zum Erliegen gekommen und

die großen Schiffe blieben aus. Das Kueblers Tourist and Travel

Office machte nicht mehr die gewohnten Umsätze. Die Konsulatsführung

war mit einer gewissen zusätzlichen Dotierung

verbunden und würde auch sicher einen neuen Kundenkreis

erschließen.

Gesellschaftlich war der Aufstieg verlockend. Er war jetzt

in gleicher Augenhöhe mit seinem Bruder. Er war so weit gekommen,

ohne den Vorteil eines vorherigen Studiums wie Jona

gehabt zu haben.

Aus der Gestik meines Onkels bei dem Treffen glaubte ich

schließen zu können, dass ihm diese Neuigkeit nicht sonderlich

behagte. Doch er rang sich offenbar dazu durch, mit Blick

auf mich als dem einzigen Kuebler Stammhalter, meinem Vater

zu gratulieren und ihm einige Ratschläge auf den Weg zu

geben.

Mit Fleiß, Eifer und Ausdauer hatte sich mein Vater aus eigenen

Kräften, sozusagen als Selfmademan, an die gesellschaftliche

Spitze Jerusalems geschoben. Mein Vater war jetzt

Königlicher Ungarischer Honorarkonsul und seine Akkreditierungs-Urkunde,

die er in seinem Alter eingerahmt über seinem

Schreibtisch aufgehängt hatte, war vom englischen Kö-

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nig George IV. und dem seinerzeit amtierenden englischen

Außenminister Eden unterschrieben. Ich glaube, dass dies im

Jahr 1937 geschehen war.

Garten Gethsemane mit den alten Olivenbäumen. Mein Vater meinte,

dass einige davon über 2000 Jahre alt sein könnten.

100


Eine Gartenparty für die Diplomaten

Neid zertrümmert die Dachbalken.

Meine Mutter war jetzt ganz in ihrem Element. Mit einem

ihr eigenen Charme überzeugte sie meinen Vater, zur Inauguration

die Diplomaten Jerusalems zu einer Gartenparty einzuladen.

Wie fast in jedem Land in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts

gab der französische Konsul den gesellschaftlichen

Ton unter den akkreditierten Diplomaten an, dicht gefolgt vom

englischen und amerikanischen Konsul. Der englische Konsul

fiel natürlich für Palästina aus, weil Palästina englisches

Mandatsgebiet war und vom High Commissioner im Auftrag

der englischen Krone regiert bzw. verwaltet wurde.

Lampionketten zogen sich in unserem Garten von Pinienbaum

zu Pinienbaum. Eingedeckte Tische mit blütenweißen

Decken standen unter den hohen Bäumen. Ein am Rande aufgebautes

Buffet war mit einheimischen Köstlichkeiten gespickt,

aber auch die deutsche Küche kam nicht zu kurz.

Fast alle geladenen Gäste waren mit ihren Frauen gekommen.

Sogar der High Commissioner. Die Straße vor dem Haus

war von englischen Soldaten bewacht und im Hinterhof hatten

sich ebenfalls einige postiert. Eine Musikkapelle war engagiert,

die zum Tanz aufspielte. Münchner Bier vom Fass

wurde ausgeschenkt und dazu Weißwürste gereicht. Viele der

Diplomaten stürzten sich auf diese deutschen Spezialitäten, die

in Palästina nicht überall zu haben waren.

Ich glaube, mich erinnern zu können, dass mich der amerikanische

Konsul in gebrochenem Deutsch nach den Waschräumen

fragte. Der Weg führte die Treppe hoch durch die

verglaste Veranda über den Steg zur Toilette.

Mein Vater hatte auf dem stillen Örtchen eine große Welt-

101


karte aufgehängt, die zwei Meter breit und so angeordnet war,

dass sie einem beim Sitzen direkt in die Augen stach. So hatte

ich manchen Namen mit meinen noch unvollkommenen Lesefähigkeiten

mühsam entziffert und einige Namen hatte mir

meine Mutter auch vorgesagt.

Der Konsul kam aus dem Örtchen heraus und fragte mich:

„Kannst du mir Amerika auf der Karte zeigen?“ Ich deutete

darauf. „Und Palästina?“ – „Hier ist Jerusalem und das hier

das Tote Meer“, sagte ich nicht ohne einen gewissen Stolz. Er

erwiderte: „Very well, my boy. Du wirst einmal ein großer Diplomat

werden. Schade, dass du kein Amerikaner bist.“ Wenn

er gewusst hätte, dass mein Vater einmal einer war, und ich

beinahe einer geworden wäre!

Diese Angewohnheit meines Vaters habe ich in meinem späteren

Leben fortgeführt. Wenn ich etwas intensiv lernen wollte,

heftete ich den entsprechenden Text, die Grafik, Karte oder

Tabelle an die Wand in der Toilette. So lernte ich spielend das

Periodensystem der chemischen Elemente auswendig, die

Hauptregeln im Bridge, doch den größten Effekt konnte man

doch mit Landes- oder Weltkarten erzielen. Man wurde einfach

nicht müde, in Gedanken dahin zu fahren, wohin man

wollte.

102


Yachia, der stärkste Träger Jerusalems

Meine Familie bleibt meine Familie, auch wenn sie meinen Rücken

bricht.

Yachia war die ganze Zeit über auch mit von der Partie. Er

hatte seine besten Hosen an, natürlich Pumphosen in Schwarz,

und ein weites, weißes Hemd. Er sah richtig gut aus. Überall,

wo man ihn auf der Party brauchte, sprang er ein.

Mein Vater hatte mir erzählt, dass er der stärkste Träger

Jerusalems sei. Was gibt es denn so Schweres zu tragen?, wagte

ich zu fragen. Doch ich sollte bald Gelegenheit bekommen,

selbst zu sehen, was er zu leisten imstande war.

Die Party war vorbei und schon fast vergessen. Ein Lastwagen

fuhr vor. Er hatte ein neues Klavier geladen, das mein Vater

von Deutschland hatte kommen lassen. Drei Träger waren

dabei. Sie sollten das Klavier ins Musikzimmer bringen. Doch

Yachia schob sie weg. „Ich mache das allein.“

Meine Mutter protestierte vergeblich. Sie hatte Angst, dass

er sich das Rückgrat brechen könnte.

Er schlang den breiten Gurt um das Klavier. Die Helfer hievten

das Instrument auf seinen Rücken. Ganz langsam stieg er

die Steintreppe hoch, Schritt für Schritt, zur Veranda. Das

ganze Gewicht des Klaviers musste beim Hochgehen von Stufe

zu Stufe auf einem seiner Beine lasten. Sie kamen mir so dünn

vor und ich fürchtete, dass sie einfach einknicken könnten.

Weiter führte sein Weg ins Musikzimmer. Langsam ließ er es

vom Rücken hinunter in die Hände der Helfer gleiten. Als es

auf seinen Rollen stand, wischte er mit seinem Handrücken

die Schweißperlen von seiner Stirn ab und schaute mich triumphierend

an. „Bin ich nicht der stärkste aller Träger in Jerusalem?“

„Ja, du bist der Stärkste“, rief ich begeistert und stolz zu

103


gleich, weil der stärkste Mann von Jerusalem, ja vielleicht von

ganz Palästina, mein Freund war und für meinen Vater arbeitete.

Dann sagte er etwas, dessen Bedeutung ich damals nicht

ganz verstand: „Das Kamel trägt Zuckerrohr und bekommt

doch nur die Dornen zu fressen.“

Ansicht von Alt-Jerusalem

104


Ein Einbrecher

Es ist besser, ein freilaufender Hund zu sein als ein angebundener

Löwe.

Es war kurz vor dem Mittagessen. Meine Mutter war in der

Küche damit beschäftigt, ein Kusagemüse zu kochen. Das ist

ein arabisches Gericht mit Zucchini, Auberginen und Tomaten.

Dieses Gemüse wird zu gleichen Teilen in Scheiben geschnitten,

zugegeben wird dann angebratenes Hackfleisch,

Zwiebelscheiben, ein Schuss Essig, etwas Olivenöl, Pfeffer,

Salz, eine halbe, fein geschnittene Knoblauchzehe und etwas

Sojasoße. Alles zusammen wird etwa eine Stunde lang gekocht.

Das heiße Kusagemüse wird zu dampfendem, weißem Reis

gereicht. Damals wie heute ist das eines meiner Lieblingsgerichte.

Als Nachspeise sollte es Wassermelonen geben. Meine Mutter

erklärte mir, dass man beim Kauf auf den Stiel der Melone

achten müsse. Ist er abgetrocknet, ist die Melone reif und süß.

Die Melonenschnitze standen am offenen Fenster. So kühlten

sie durch Verdunstung im Luftzug ab, wie auch der mit Wasser

gefüllte Tonkrug, der danebenstand.

Sie ging ins Esszimmer, um den Tisch zu decken. Ich war in

der Küche, als ich hörte, wie Porzellan auf dem Steinboden

zerschellte, und danach gellte ein fürchterlicher Schrei, der

von meiner Mutter kam. Als ich auf den Gang stürzte, überrannte

mich ein junger Araber mit einem blitzenden Messer

in der Hand und stürmte über die Veranda ins Freie.

Er wird doch nicht meiner Mutter etwas angetan haben! Im

Esszimmer stand meine Mutter wie versteinert da, alles Blut

war aus ihrem Gesicht gewichen, unfähig irgendetwas zu sagen.

Aber sie war unverletzt.

Der junge Einbrecher war an der Dachrinne hochgeklettert,

105


hatte einen Fensterladen gepackt und war durch das geöffnete

Fenster eingestiegen. Er stand plötzlich drohend meiner

Mutter gegenüber.

Sie hatte sich nie von diesem Schock erholt, hatte viele Jahre

danach Angstträume, immer die dunkle Gestalt mit dem

scharfen Messer in der Hand vor Augen. Welch psychologische

Langzeitschäden Einbrecher anrichten können!

106


Ich lernte eine Lektion.

Das beste Erbe, das du einem Sohn hinterlässt, ist, wenn du ihm

jeden Tag ein paar Minuten widmest.

In späteren Jahren erinnert man sich zwar daran, dass man

von seinem Vater (oder auch seiner Mutter) eine Strafe erhalten

hatte, aber meistens nicht mehr für deren Anlass.

Jedenfalls meine ich, und so geht es vielen anderen auch,

dass sie zu Unrecht gegeben wurde. Man hatte sie nicht verdient

gehabt! Irgendetwas musste ich wohl angestellt haben.

Mein Vater kam vom Geschäft nach Hause.

„Siegfried“, rief er, „komm sofort her!“

Ich ahnte Böses und rannte ins Esszimmer. Er hinterher. Als

er die Türklinke niederdrückte, drehte ich den Schlüssel um.

Er rüttelte an der Klinke.

„Mach sofort auf. Dir werde ich schon zeigen, was Sache

ist!“, schrie er und seine Wut steigerte sich zusehends. Meine

Angst vor ihm nahm im gleichen Maß zu wie seine Wut. Ich

dachte nicht daran aufzuschließen. Er rannte wie ein verwundetes

Tier vor der Tür hin und her und stieß dabei furchterregende

Drohungen aus.

Plötzlich war es ganz still. Ich hörte, wie er auf leisen Sohlen,

was ihm in seiner Erregung nicht ganz glückte, ins Musikzimmer

schlich, um durch die zweite nicht abgeschlossene

Tür ins Esszimmer zu gelangen. Als er die Klinke drückte,

schloss ich ab.

Plötzlich änderte sich sein Ton. Er versuchte mit verstellter,

ruhiger Stimme auf mich einzureden.

„Wenn Du jetzt die Tür aufschließt, verspreche ich dir, dass

dir nichts geschehen wird. Wir werden die Sache ganz ruhig

besprechen, wie es sich unter Männern gehört.“

107


Mein Vater mit Mandoline ca. 1925

Meine Eltern mit mir 1932

Aufnahme von ca. 1937

Aufnahme von ca. 1937

Teppenaufgang,

heute Cremieux St. No. 8,

damals Seestraße 8

108


Auf einem Ausflug

zum

Katamon mit der

arab. Haushilfe

und Yachia,

ca. 1935

Weihnachten im

Vaterhaus

ca. 1936

Besuch in

Ägypten

ca. 1937

109


Ich war nicht sicher, was ich machen sollte, und sagte einfach:

„Ehrenwort?“

„Ja“, sagte er, „du kannst dich auf mich verlassen“, wobei

er das Ehrenwort tunlichst vermied, was ich damals natürlich

nicht registrierte.

Schließlich, ihm vertrauend, schloss ich auf.

Er packte mich und verabreichte mir eine Tracht Prügel, die

erste und die letzte, die ich jemals von ihm bekommen habe,

so lange, bis meine Mutter einschritt und rief:

„Willst du den Jungen umbringen?“

Ich hatte eine Lektion gelernt, die ich für mein ganzes Leben

brauchen konnte. Sie war aber eine andere als die, die mit

der Strafe bezweckt war. Traue keinem Versprechen. Niemals.

Auch nicht dem deines Vaters.

Wie war es doch mit der Erziehungsmethode eines Armeniers

gewesen?

Er hatte zu seinem Sohn gesagt: „Bist du so mutig, um von

dem Schrank zu springen? Ich fange dich in der Luft auf!“

Der Junge stieg auf den Schrank und sprang, natürlich seinem

Vater vertrauend. Der Vater wich aber zur Seite aus und

ließ den Jungen platt auf den Boden fallen, der sich dabei die

Nase wund schlug. Der Junge sah seinen Vater verwundert

an und rief:

„Warum hast du mich nicht aufgefangen, wie du versprochen

hattest?“

Der Armenier schaute ihn ruhig an und erwiderte:

„Du solltest lernen, niemandem zu trauen, auch deinem eigenen

Vater nicht.“

110


Die blauen Nonnen

Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte, da sah ich einen Mann,

der hatte keine Füße!

Meine Mutter sagte eines Morgens zu uns Kindern:

„Heute werden wir euren Vater im Büro besuchen und anschließend

in die Altstadt gehen. Wir werden für dich, mein

Sohn, ein Hemd und eine Hose kaufen und für dich, Gisela,

ein Kleidchen.“

Der blaue Himmel spannte sich über Jerusalem, die Temperatur

war angenehm, die Luft war kristallklar. Wir nahmen

den Bus. Im Büro hatte mein Vater nur wenig Zeit für uns. Er

hatte Kunden zu betreuen.

Doch er ließ uns, auf unsere drängenden Bitten hin, die Leiter

zum Dachgeschoss über den Büroräumen hinaufsteigen.

Es war vollgestopft mit Warenmustern von den vielen Firmen,

die mein Vater vertrat. Da waren Puppen mit eingestanzten

Löchern, sodass sie nicht als neu weiterverkauft werden konnten.

Unzählige Schuhe mit ausgestanzten Löchern in den Sohlen.

Immer nur rechte oder linke. Ein passendes Paar konnte

man nicht finden. Farbige Postkarten en mass. Spazierstöcke

mit Perlmutt eingelegten Griffen, bei denen die Spitzen abgeschraubt

waren. Auch die unterschiedlichsten Spiele in Kartons,

kurzum so viele schöne Sachen, dass man als Kind auf

diesem Speicher Stunden hätte zubringen können. Manche

Dinge, die uns besonders gefielen, wollten wir nach Hause

nehmen, doch er ließ dies nicht zu.

In meiner Fantasie wuchs dieses geheimnisvolle, nicht erforschte

Warenlager in den kommenden Jahren weiter an. Es

wurde zu einer Art Schatzkammer, in der man alles finden

konnte, was man wollte, wenn man nur lange genug suchte.

So stellte ich mir die Schatzkammer in der Geschichte von Ali

111


Baba und die vierzig Räuber aus Tausend und einer Nacht vor.

Meine Mutter hatte uns das Märchen vor wenigen Tagen vor

dem Einschlafen vorgelesen.

Meine Mutter nahm uns an die Hand und führte uns nach

dem erfolglosen Durchstöbern des Dachbodens durchs Jaffator

in die Innenstadt. Es wimmelte geradezu vor Menschen. Es

war bunt und laut. Fellachen mit rot-weißen Kopftüchern,

Juden mit einer runden Kippa, Araber mit einem

quadratischen, weiß-schwarzen Tuch auf dem Kopf – Kefije

genannt –, griechisch orthodoxe Geistliche, Blinde in Lumpen,

die um Almosen bettelten und Araber in europäischen

Anzügen mit einem roten Fes als Kopfbedeckung.

Wir kamen an einer Mauer vorbei, über die man in ein umzäuntes

Tal blicken konnte. Dort unten sah man Menschen,

die humpelten, denen Gliedmaßen fehlten und die alle in Lumpen

gekleidet waren.

„Dies sind die Ärmsten der Armen“, sagte meine Mutter.

„Es sind Aussätzige, die das Tal nicht verlassen dürfen. Sie

haben eine Krankheit, die sehr ansteckend ist: Lepra. Ihre Gesichter

sind oft entstellt. Ihre Arme und Beine faulen ab, bis

sie daran sterben. Sie leben von Almosen, von Essen, das von

Vorbeigehenden hinuntergeworfen wird. Manchmal sind

auch Münzen dabei.“

Beim Anblick dieser armen verstümmelten Menschen wurde

mir schwindlig. Ich hielt meine Augen zu, um dieses Elend

nicht anschauen zu müssen. Nur schnell weg von dieser Mauer,

von diesem Anblick, von diesem Geruch der Fäulnis, der

heraufdrang!

Wir gingen weiter, bis wir an das Geschäft des Juden kamen,

der Kinderkleidung verkaufte. Ich bekam eine schicke

Kakihose und ein rotes Hemd. Das hatte ich mir schon immer

gewünscht, da Rot schon damals wie heute noch meine Lieb-

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lingsfarbe ist. Ich durfte beides auch sogleich überstülpen. Mit

meinem eigentlich viel zu großen Korkhelm, original englischer

Machart, musste ich lustig ausgesehen haben. Nun ging

es wieder zurück zum Jaffator. Überall waren Kirchen. Manche

davon versteckt in den vielen Gassen, von außen oft nicht

als Kirche oder Kloster auszumachen.

Meine Mutter zeigte auf eine Steintreppe, deren ausgetretene

Stufen zu einem offen stehenden Portal nach unten führten.

„Das ist der Orden der blauen Nonnen“, erklärte sie uns

bedeutungsvoll und sagte uns auch den richtigen Namen, den

ich allerdings nach so langer Zeit vergessen habe. Wir standen

im rückwärtigen Teil des Gewölbekellers. Um den in der

Mitte stehenden Altar, der mit vielen Kerzen beleuchtet war,

gruppierten sich kniende, betende Nonnen in leuchtenden

blauen Gewändern, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt.

Unbeweglich. Starr. Es roch nach verbranntem Wachs und

Weihrauch.

„Wie lange müssen sie beten?“, fragte ich flüsternd meine

Mutter.

„Den ganzen Tag mit wenigen Pausen zum Essen“, erwiderte

sie genau so leise, wie ich gesprochen hatte. Ich fror. Den

ganzen Tag beten? Mein kurzes Gebet am Abend erschien mir

schon zu lange. Wie lange war dann ein ganzer Tag? Unendlich

lange! Auf den Knien. Kein draußen, keine frische Luft,

keine Sonne, kein Gespräch, kein Gegenüber.

„Das ist ein strenger Orden“, fuhr meine Mutter fort, als sie

mein Gesicht sah. „Nicht alle Orden sind so.“

„Wie viele Tage müssen sie beten?“, wollte ich wissen.

„Solange sie leben, für immer“, war ihre Antwort.

Seither haben die Worte für immer eine schreckliche Bedeu-

113


tung für mich erlangt. Ich sehe die blauen Nonnen vor mir auf

den Knien, unbeweglich, wie gehauene kalte Steine.

Nein, eine Nonne oder ein Mönch in einem solchen Orden

wollte ich nie werden. Und ein Gedanke durchzuckte mein

Gehirn, den ich allerdings nie aussprechen dürfte: Lieber würde

ich bei den Aussätzigen leben, einer von ihnen sein, als in

diesem kalten Keller den ganzen lieben Tag über als Nonne

oder Mönch beten! Für immer!

Noch in trüben Gedanken verloren schlenderte ich neben

meiner Mutter her. Ich ging auf der Straße, sie und meine kleine

Schwester auf dem schmalen Gehweg. Das Jaffator war in

Sichtweite.

Plötzlich kam Bewegung in die Menschen. Schreiend stoben

sie auseinander. Ein Stier mit gesenkten Hörnern hatte

sich losgerissen und galoppierte die Straße hinauf in unsere

Richtung. Er erblickte mich. Das rote Hemd! Er stürmte auf

mich zu. In Panik wollte ich wegrennen. Nonnen und Aussätzige

waren vergessen. War es schon zu spät? Ich sah mich

schon aufgespießt auf seinen Hörnern.

Ein Araber packte mich im letzten Augenblick und zerrte

mich in einen schützenden Hauseingang. Der Stier raste mit

glasigen, wilden Augen vorbei. Meine Mutter schrie. Meine

Schwester weinte. Der Araber lachte mich aber an. Ich fiel ihm

um den Hals. „Allah Akbar“, sagte er, drehte sich um und ging

seines Weges, ohne dass meine Mutter sich bei ihm bedanken

konnte.

Alle diese Eindrücke und Erlebnisse an einem Tag! Zu viele

für einen Bub. Der Stier war weg und das Leben in der Straße

verlief wieder in seinen gewohnten Bahnen. Wir erreichten

den Bus, der uns zurückbrachte.

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Unruhen in Jerusalem

Das Brot des Satten kommt für den Hungrigen zu spät.

Die Unruhen in Jerusalem nahmen von Tag zu Tag zu. Menschen

wurden auf den Straßen erschossen und erstochen. Die

Engländer reagierten darauf mit harten Strafen. Gefasste Terroristen

wurden gehängt, meistens öffentlich. Dann führten

sie eine Ausgangssperre, auf Englisch Curfew genannt, für die

Nacht nach 18:00 Uhr ein. Sirenen heulten auf, und die Straßen

waren leer gefegt, bis auf patrouillierende Soldaten in

Militärfahrzeugen.

In der Kolonie merkten wir weniger von den Unruhen, doch

ich entdeckte immer wieder flachköpfige Nägel auf der Hauptstraße,

die beim Hinwerfen auf dem Kopf zu stehen kamen

und die Reifen der Fahrzeuge zum Platzen brachten. Puncture

nannten die Engländer das. So hatte auch ich mit meinem

Fahrrad einen Platten bekommen.

Wir beobachteten auch, wie Draisinen einige Hundert Meter

vor den Zügen herfuhren, auf denen arabische Freischärler

angekettet waren. Dadurch sollten Sprengstoffanschläge

auf die Züge und Beschädigungen an den Schienen verhindert

werden, die zum Entgleisen der Züge führen konnten. Die

Draisine würde zuerst in die Luft fliegen und der angekettete

Araber, ein zumeist wegen Terroranschlägen zu einer langen

Freiheitsstrafe oder schon zum Tod Verurteilter, verletzt oder

getötet werden. Die Anschläge auf die Züge blieben in Folge

aus.

Als Jugendliche waren wir ganz versessen darauf, uns die

Nummern der eingesetzten Lokomotiven zu merken. Die

Nummer 1 war häufig eingesetzt. Aber die Nummer 13 hatte

erst einer gesehen. Keine der Lokomotiven hatte eine höhere

Nummer als 18. Wir saßen dazu stundenlang auf der Schul-

115


hofmauer gegenüber dem Bahnhof, von wo wir eine gute Übersicht

über die Zugbewegungen hatten, aber auch der Bahnübergang

am Ende der Kolonie, nicht weit vom Friedhof der

Templer, der bis heute unversehrt besteht, war ein guter Beobachtungspunkt.

Nicht weit davon war Onkel Abram Dycks Haus an der Kreuzung

der Straßen Masaryk und Smats. Hans Werner, mein etwa

gleichaltriger Vetter, Sohn von Abram, war fast immer mit

von der Partie. Als wir nach einer erfolglosen Beobachtung

zu ihm nach Hause gegangen waren und von seiner Mutter

Friedel eine Limonade bekamen, fand ich im Garten im Sand

eine schwarze, kleine Scheibe, die sich bei näherem Hinsehen

als eine alte Münze herausstellte. Hannelore und Peter, die

jüngeren Geschwister von Hans Werner, rannten gleich zu

ihrem Vater und riefen: „Papa, Papa, Siegfried hat eine wertvolle

Münze in unserem Garten gefunden!“ Onkel Abram war

sofort da und betrachtete sie aufmerksam.

„Die ist uralt“, meinte er. „Die ist bestimmt viel wert. Sie

war auf unserem Grundstück und deshalb gehört sie auch

uns!“

Ich war den Tränen nahe. Ich hatte sie doch gefunden. Sie

gehörte mir ganz allein. Er hatte mir schon den Charlie gestohlen.

Und jetzt auch noch die Münze? Das war zu viel!

„Darf ich sie noch einmal sehen?“, fragte ich ihn so unauffällig

wie möglich. Er gab sie mir. Ich steckte sie schnell in die

Hosentasche und rannte weg, so schnell ich konnte, bis ich zu

Hause war und die unglaubliche Geschichte meiner Mutter

erzählen konnte.

„Du kannst die Münze behalten. Ich werde mit meinem Bruder

sprechen“, sagte sie mit festem Ton, der keine weiteren

Zweifel aufkommen ließ.

Wo sie geblieben ist? In den Wirren der nachfolgenden

116


Kriegsjahre ist sie verloren gegangen. Vielleicht war sie sogar

eine der uralten Münzen mit einer eingeprägten Lilie und einem

Falken, die 350 Jahre v. Chr. in Jerusalem im Umlauf

waren und von der ich schon berichtet hatte?

Die linke Seite zeigt einen Falken mit ausgestreckten Flügeln mit

dem Kopf nach rechts gewandt. Die weiße Lilie, auf der rechten

Abbildung zu sehen, ist bis heute das Symbol der Reinheit geblieben.

„Ich werde für Israel sein wie der Tau. Blühen soll es wie die

Lilie, und Wurzel schlagen wie der Libanon ...“ (Hosea 14,6).

Sie kommt heute noch selten als Wildpflanze in Galiläa und an

den Berghängen des Carmels vor, doch sie soll im Altertum in Israel

weit verbreitet gewesen sein. Ihre Duftstoffe waren als Parfüm

begehrt. Die Inschrift auf der Münze ist in Alt-Hebräisch abgefasst.

Die Lilie gilt als Wahrzeichen Israels, insbesondere aber Jerusalems.

Sie hat sechs zarte Blütenblätter und sieht von oben betrachtet

wie ein Stern aus. Hieraus leitet sich das sechseckige Symbol

der Juden ab: zwei sich überschneidende Dreiecke. Eines der bekanntesten

Symbole der Welt, das schon über drei Jahrtausende

besteht.

117


Tante Kea

Ein Haus ohne Nachbarn ist 1.000 Denare wert.

Meine Mutter kam aufgeregt auf die überdachte und verglaste

Terrasse, wo Gisela und ich gerade spielten, und rief:

„Kinder, morgen fahren wir ans Meer auf den Bauernhof

Neuhardthof von Tante Kea und Onkel Hans [Nachname

Hermann]. Onkel Abram hat ein größeres Auto gemietet. Hans

Werner und Hannelore kommen mit.“ Abram war der zwei

Jahre jüngere Bruder meiner Mutter und Tante Kea ihre fünf

Jahre ältere Schwester. Mein Vetter Hans Werner war einige

Monate jünger als ich und meine Cousine Hannelore etwas

jünger als Gisela. Wir waren in unserem Leben erst einmal

am Meer gewesen, und zwar am Strand bei Tel-Aviv. Das

Meer hatte eine ungeheure Faszination auf mich ausgeübt,

nicht nur wegen des Badens, sondern war wegen seiner Weite

mit meiner Vorstellung verbunden, dass es unendlich ist, nie

aufhörte, auch nicht, wenn man es mit einem Schiff befahren

würde. Meine Mutter hatte uns natürlich auch von dem Hof

erzählt, dass es dort Pferde gäbe, Maultiere, Esel, Kühe, Schweine,

Schafe, Ziegen, Hühner und auch Hasen. Das würde ein

Erlebnis geben. Vielleicht durfte ich sogar auf einem Pferd reiten!

Aufgeregt und voller Erwartungen stiegen wir am nächsten

Morgen in das vorgefahrene Auto ein. Zuerst waren die

Straßen noch asphaltiert, doch die gingen dann in staubige

Schotterstraßen über, bis wir dann nach mehreren Stunden

Fahrt in einen schmalen Feldweg einbogen, an dessen Ende

der Hof lag. Wie ich bei meinen späteren Recherchen für dieses

Büchlein herausfand, musste das die Siedlung „Neuhardthof“

sein, die von den Templern 1892 gegründet worden war.

Doch von einer „Siedlung“ konnte keine Rede. Ich kann mich

118


nur an das Wohngebäude mit den darum herum angeordneten

Stallungen erinnern.

Tante Kea, die mit vollem Namen Cornelia hieß, stürmte

auf das Auto zu, als es in den Hof einfuhr. Die Geschwister

hatten sich schon längere Zeit nicht gesehen und umarmten

sich innig. Keas blaue Augen strahlten vor Freude an diesem

heißen Augusttag, der keine Wolke am Himmel zuließ. Obwohl

sie erst etwa 43 Jahre alt war, konnte sie sich schlecht

bewegen, ihre körperliche Fülle gestattete das nicht. Sie war

nicht besonders groß und ihr Bubikopfschnitt machte sie optisch

noch kleiner als sie schon war. Onkel Hans sei im Kuhstall,

meinte sie. Eine Kuh kalbe gerade. Sie reichte uns Kindern

kalte Zitronenlimonade. Doch wir waren nicht mehr zu

halten, ließen die Limonade stehen. Wir rannten zu den Stallungen

und sahen das zarte Kalb, noch nass von der Geburt,

auf dem strohbedeckten Boden liegen. Aus der Kuh sei es herausgekommen,

erklärte meine Mutter, die auch herbeigeeilt

war. Aus dem Bauch der Kuh? Ich konnte das nicht glauben.

Es versuchte immer wieder, aufzustehen. Die Kuh leckte es,

wie um es zu ermuntern, die Versuche nicht einzustellen.

„Lasst dem Kalb noch etwas Zeit“, sagte Onkel Hans mit

einer tiefen Bassstimme, die uns erschrocken hätte, wenn er

dabei nicht so breit gelacht hätte.

„In einer halben Stunde steht es auf seinen Beinen.“ Er hatte

ein rotes Gesicht, als ob sein Blutdruck bei 180 stehen geblieben

wäre. Seine Körperfülle stand in nichts der von Tante

Kea nach. Groß war er auch. Ein ungepflegter Schnauzer hing

ihm unter den Lippen, tiefblaue Augen darüber. Seine schwarzen

Reitstiefel waren mit Kuhmist verschmiert.

„Kommt erst einmal ins Haus“, bestimmte er.

„Eure Tante hat für euch eine Zitronenlimonade vorberei-

119


tet und Wassermelonenschnitze kalt gestellt. Das ist das Beste

gegen den Durst bei dieser Hitze.“

Er schob uns mit diesen Worten die weinigen Steinstufen

hinauf, die in der Bauernstube endeten. Wir bekamen auch

einige Butterbrote zu essen, die Tante Kea aus selbst gebackenem

Brot vorbereitet hatte.

Ein Pferdewagen von einem der angestellten Araber geführt,

fuhr in den Hof ein. Er war voll beladen mit Wassermelonen.

Riesige runde Melonen! Größer als Fußbälle. Tante Kea sah

meinen Blick und erläuterte:

„So große Melonen wie dieses Jahr hatten wir noch nie gehabt.

Wir hatten eine Melone mit sage und schreibe einem

halben Meter Durchmesser.“ Und sie zeigte mit ausgestreckten

Armen an, wie groß sie war, weil sie nicht wusste, ob ich

ermessen konnte, wie groß ein halber Meter war.

Dann zog es uns zum Strand, der nur etwa 600 Meter entfernt

war. Ein breiter Sandstrand. Wir stürzten uns ins Wasser,

obwohl wir nicht schwimmen konnten. Meine Mutter rief

aufgeregt:

„Nur am Rand bleiben, um Gottes willen nicht hinausgehen!“

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meine Mutter

im Badeanzug. Wie komisch sie aussah! Gar nicht wie meine

Mutter.

Schreiend stürzte Hans Werner aus dem Wasser. Auf seinem

Rücken hatte sich eine Qualle festgesaugt. Sie ließ sich

nicht entfernen. Wir rannten alle zum Bauernhof. Ein Araber

wollte schon ein Eisen glühend machen. Das würde helfen,

die Qualle könne die Hitze nicht ertragen und lasse sofort los.

Hans Werner hatte aber Glück. Sie ließ von selbst los und fiel

zu Boden in den Sand. Zurück blieb auf seinem Rücken ein

großer roter Fleck, der höllisch brennen musste.

In späteren Recherchen habe ich herausgefunden, dass die

120


bewirtschaftete Fläche um den Hof etwa 128 Hektar betragen

hat (Bundesministerium für Justiz BGBl. I 1965, 201 – 205).

Kea und Hans hatten 1921 geheiratet. Sie hatten dann den

Hof gekauft und bewirtschaftet. Durch harte gemeinsame

Arbeit, einer war auf den anderen angewiesen, stellte sich

schließlich ein bescheidener Erfolg ein, der ihnen ein Auskommen

sicherte. Sie konnten zu dem Leidwesen beider keine Kinder

bekommen.

Das besinnliche Leben, das die beiden auf dem Neuhardthof

führten, sollte ein jähes Ende nehmen. Hans deutete die

Zeichen der Zeit auf seine Weise. Kurz vor Ausbruch des Krieges

brach er nach Deutschland auf. Er wollte dabei sein, um

sein deutsches Vaterland zu verteidigen. Wenn ich mich richtig

erinnere, war er in jungen Jahren bei der Kavallerie gewesen.

Der Krieg brach los, Hans war weg und Tante Kea kam in

ein Internierungslager, ich glaube in die Templersiedlung nach

Wilhelma, das von den Engländern in ein Internierungslager

umfunktioniert worden war. Sie kam bei dem ersten Gefangenenaustausch

im Dezember 1941, den die Engländer organisiert

hatten, in Stuttgart an. Ihr Herz schlug bis zum Hals,

denn sie hatte ihren heiß geliebten Mann und Kamerad, ihren

Hans, über zwei Jahre lang nicht gesehen. Sie hatte in diesen

zwei nicht zu Ende gehen wollenden Jahren Briefe von ihm

erhalten. Er nannte sie darin mit ihrem Kosenamen. Er vermisse

sie. Er habe eine Wohnung. Zur Front war er wegen seines

Alters noch nicht eingezogen worden. Er redete von Liebe.

Jetzt nur noch einige Minuten, der Zug fuhr gerade in den

Hauptbahnhof in Stuttgart ein, und sie würde ihren geliebten

Hans in ihren Armen halten. Sie kämmte vor dem Handspiegel

nochmals ihre kurzen Haare, sprühte noch etwas 4711,

121


122

Hans und Kea Hermann, Neuhardthof


das sie für diesen Moment die ganze Zeit über in der Gefangenschaft

bewahrt hatte, in ihr Gesicht.

Sie sah ihn am Bahnhofsteg stehen, als der Zug aus Wien

holpernd in den Bahnhof einfuhr. Sie sprang aus dem Zug, so

gut es ihre Körperfülle zuließ mit dem kleinen Köfferchen in

der Hand, das ihre ganze Habe enthielt, die sie mitnehmen

durfte. Er hatte eine Wehrmachtsuniform an. Er war schlanker

geworden, sah mit seinem jetzt gepflegten Schnauzer blendend

aus. Sie wollte auf ihn zuspringen, doch er wich einen

Schritt zurück. Erstaunt schaute sie ihn an.

„Ich habe eine andere Frau gefunden“, stand in seinem Blick

und dann sagte er auch diesen fürchterlichen Satz.

„Ich liebe eine andere. Ich habe das nicht gewollt, dass eine

andere Frau in mein Leben tritt. Es ist einfach passiert. Wir

leben zusammen. Du kannst bei mir nicht wohnen. Doch im

Ausländerheim haben sie einen Platz für dich reserviert, bis

du entschieden hast, wo du hingehen willst.“ Sie hörte seine

weiteren Entschuldigungen und Beteuerungen nicht mehr und

sagte nur: „Bitte geh! Ich will Dich nie mehr wiedersehen.“

Die Welt brach in diesen wenigen Augenblicken für Kea

zusammen und ihr Herz zerbrach. – Nie sollte sie sich von

diesem Schlag erholen. Nie sollte sie ihren Neuhardthof wiedersehen.

Nie sollte sie wieder einen anderen Mann besitzen.

Ihr Herz war zersprungen und hatte keinen Platz mehr, wollte

keinen Platz mehr finden für irgendjemand anderen.

Sie lebte noch lange und starb 92 Jahre alt 1987 in Stuttgart.

Sie hatte ein kleines Fotoalbum hinterlassen, in dem viele

Aufnahmen des Hofes enthalten waren. Shay Farkash, wie

bereits erwähnt Member of the Society for Preservation of Historic

Sites in Israel, war von den Aufnahmen fasziniert. Es seien

die Einzigen, die je aufgetaucht seien, das einzige Zeugnis, was

von Neuhardthof übrig geblieben sei.

123


Ein neues Büro am Jaffator

Am Baum des Schweigens hängt seine Frucht, der Frieden.

Mein Vater brauchte zusätzliche Räume für das Konsulat.

Er fand entsprechende Räumlichkeiten in der Nähe des Jaffators.

Sein Geschäft hatte er auf Ausgleich aufgebaut. Ich kann

mich gut an den bereits erwähnten Herrn Falscheer erinnern,

den er angestellt hatte und der morgens im Büro die Jerusalem

Post las, die damals wie heute die maßgebliche Zeitung des

Landes war. Ich wunderte mich schon als Junge darüber und

fragte mich, ob er nichts anderes, Wichtigeres, zu tun hatte.

Auch ein ungarischer Jude, namens Horowitz, war beschäftigt,

der sich um die konsularischen Belange kümmerte und

mit den ins Konsulat kommenden Ungarn in ihrer Sprache

reden konnte. Fast alle Juden in Jerusalem sprachen deutsch,

meistens in jiddischem Dialekt, auch untereinander, nur wenige

studierte, orthodoxe Juden hebräisch, das damals keine

Umgangssprache war.

Für die arabische Klientel hatte mein Vater einen arabischen

Angestellten, namens Yussaf, im Büro sitzen. Alle Bürowände

waren mit Weltkarten und den Bildern von den Schiffen des

Norddeutschen Lloyd behangen. Er war von seinem Geschäft

voll in Anspruch genommen, Konsulat, Reisebüro und Großhandel.

Die Gespräche mit Kunden und anderen Besuchern

waren immer mit dem Anbieten eines türkischen Kaffees verbunden,

den er schon aus Höflichkeit mittrank. Der Boy, der

die Tassen ausspülte, hatte von dem aggressiven Kaffeesatz

hässliche, aufgerissene Finger mit tiefen, braunen Spalten bekommen.

Wie für die Hände des Boys war der starke Kaffee

natürlich auch Gift für den Magen meines Vaters.

Nach Büroschluss und an curfew-freien Tagen schaute er in

Lendtholds Pub auf einen Arrak vorbei, dem starken, bereits

124


erwähnten Anisschnaps. Unter den Templern war das Pub

unter dem Namen Mätchle bekannt. Dort erfuhr man das Neueste

aus der Kolonie. Wer war gestorben, wer geboren, wann

war die nächste Hochzeit, wer fuhr nach Deutschland, wer

war zugezogen, wer hatte in der Lotterie gewonnen? Wird

Hitler mit einem Krieg beginnen?

Wenn er vom Mätchle nach Hause kam, war sein erster

Gang zur Toilette, wo er sich übergeben musste. Die Aufregungen

im Geschäft, die vielen Tassen türkischen Kaffees, die

Arraks in der Wirtschaft bei unregelmäßigen Essgewohnheiten

und die allerdings in Maßen gerauchten Zigaretten hatten

diese Reaktion des Körpers ausgelöst. Und das Abendessen

schmeckte ihm nicht. Diese Lebensweise war seiner Gesundheit

nicht zuträglich und meine Mutter machte sich Sorgen.

Irgendetwas musste sich ändern. Die Veränderung kam aber

ganz anders als erwartet, denn der Zweite Weltkrieg stand

bevor.

125


Onkel Egmont

Prüfe deinen Freund, ehe du ihn nötig hast.

Meine Großmutter Katharina hatte einen Bruder in Jerusalem.

Er hieß Hugo Wieland. Er war verheiratet und hatte mit

seiner Frau fünf Kinder. Er hatte mit seinem Bruder (Carl?)

eine Fabrik zur Herstellung von Fliesen und Steinplatten gegründet,

die gute Geschäfte machte. Egmont, der Jüngste seiner

Söhne, etwa zehn Jahre jünger als mein Vater, war im Krieg

bei der Kavallerie gewesen und sein Hobby waren Pferde. Er

soll einmal, vielleicht hatte er zuvor etwas getrunken gehabt,

auf seinem Pferd ins Mätchle hineingeritten sein und mit seinem

Säbel herumgefuchtelt haben. Einige englische Offiziere,

die das Mätchle als besonders gemütliche Kneipe für sich entdeckt

hatten, wo vorzügliches deutsches Bier ausgeschenkt

wurde und wo sie auch, ohne dass sich jemand störte, ihre

Beine auf die niedrigen Tische legen konnten, zogen ihre Revolver.

Das brachte Egmont zur Vernunft. Er stieg ab und führte,

den Säbel wieder in der Scheide, das Pferd aus dem Lokal.

Egmont hatte sich in ein Au-pair-Mädchen namens Gertrud

Waldbauer verliebt, das im Haushalt der Familie arbeitete. Sie

war eine Pfarrerstochter aus Schweigern bei Heilbronn. Die

beiden hatten vor Jahren geheiratet und in der Zwischenzeit

drei Kinder: Margret, Marianne und Werner, der in meinem

Alter war.

Egmont hatte in der Innenstadt von Jerusalem einige Lose

der Süddeutschen Klassenlotterie gekauft und den Höchstgewinn

gezogen. Sie hatten sich eines der schönsten Häuser am

Rande der Kolonie auf einer kleinen Anhöhe gebaut, aber auch

ein herrlich gelegenes Anwesen in Deutschland mit weitem

Blick über den Bodensee in Aufkirch nördlich von Überlingen

erworben. Gertrud hatte ein besonderes Gespür für politische

126


Entwicklungen. Sie traute dem Frieden und vor allen Dingen

Hitler nicht. Sie überzeugte Egmont, dass die Familie möglichst

bald in dieses Haus nach Überlingen übersiedeln sollte.

Und sie taten das auch, kurz bevor der Krieg ausbrach, und

konnten so der Internierung durch die Engländer entgehen.

Egmont hatte seine besondere Liebe für das Jordantal nördlich

von Jericho, die als älteste Stadt der Welt gilt, entdeckt.

Er kaufte sich ein fruchtbares Stück Land, das er mit dem

Wasser des Flusses bewässern konnte, und legte sich eine Obstplantage

an mit all den exotischen Früchten, die in dem subtropischen

Klima mit Temperaturen um die +40 °C – Jericho

liegt fast 400 m unter dem Meeresspiegel – wuchsen. Trauben,

Avocados, Maracuja, Ananas, Melonen jeder Art, Papayas,

Mangos und natürlich alle Arten von Zitrusfrüchten. Ein

kleines Paradies. Er nannte es liebevoll „Hatschle“. Er ritt häufig

mit seinem Pferd den beschwerlichen Weg zu seiner Bijare,

wie eine solche Pflanzung auf Arabisch heißt, verbrachte

dort einige Tage, bis er wieder den Aufstieg nach Jerusalem

antrat. Auf der etwa 30 km Strecke musste ein Höhenunterschied

von 1.200 m überwunden werden, da Jerusalem etwa

800 m über dem Meeresspiegel liegt.

Er hatte sich in seinem kleinen Paradies mit Bilharziose angesteckt,

einer weitverbreiteten Krankheit und Geißel der

Menschheit in den Tropen und subtropischen Ländern, wofür

es damals, besonders im fortgeschrittenen Stadium, keine

effektive Therapie gab. Das Verhängnis für ihn war, dass die

Krankheit viel zu spät, als die Familie schon längst in Deutschland

war, als Bilharziose diagnostiziert wurde und eine wirksame

Behandlung nicht mehr möglich war.

Das Auftreten der Krankheit ist vom Vorkommen der als

Zwischenwirte fungierenden, in warmen Binnengewässern

lebenden Schnecken abhängig. Die eigentlichen Krankheits-

127


erreger sind 1-2 cm lange Saugwürmer. Die Wurmlarven dringen

bei Kontakt mit kontaminiertem Süßwasser durch die

Haut des Menschen ein und wandern über Lymph- und Blutgefäße

in die Leber, wo sie sich zu reifen Pärchenegeln entwickeln.

Anschließend verbreiten sie sich im Körper und befallen

Harnblase und Darm. Ihre Eier werden mit dem Stuhl oder

Urin wieder ausgeschieden. Theodor Bilharz (1825-1862), ein

in Württemberg geborener und in Kairo arbeitender Tropenarzt,

entdeckte 1852 den Erreger dieser Erkrankung.

128


The German Colony

Dem Ersten gebührt der Ruhm, wenn auch die Nachfolger es

besser gemacht haben.

Mit sechseinhalb Jahren kam ich in die Schule, die auf dem

abgedruckten Plan der Kolonie weiter vorne in diesem Buch

eingezeichnet ist.

Viele Jahre später, bei meinem Besuch in den 80er-Jahren in

Israel, bemerkte ich, dass das ganze Areal, auf dem sich die

alte Schule, die neue Schule und der Saal befanden, mit einer

von Soldaten bewachten Absperrung versehen war. Auf einem

großen Schild war zu lesen: Institut für Agrikultur.

Ich sprach den Soldaten an und fragte, ob ich wohl das Schulhaus

besuchen könne. Er sah mich skeptisch an, musterte mich

von oben bis unten und dachte sich: Terroristen sehen anders

aus!

„Nie von einer Schule gehört“, fauchte er missmutig.

Ich fragte ihn, ob er mich zu seinem Vorgesetzten führen

könne, was er dann auch widerwillig tat.

Der Direktor des Instituts empfing mich sehr freundlich. Er

hörte sich ungläubig meine Geschichte an und als ich ihm erklärte,

dass ich im unteren, linken Zimmer des Hauses auf der

Schulbank gesessen hatte, gab er sich einen Ruck und führte

mich in den Raum, in dem etwa zehn Personen an Schreibtischen

arbeiteten. Ich erklärte den erstaunten Büroangestellten,

dass ich hier die Schulbank gedrückt hatte. Keiner von

allen hatte die blasseste Ahnung, dass dieses Gebäude einmal

eine deutsche Schule gewesen war. Und keiner hatte jemals

etwas von den Templern gehört.

Der Begriff German Colony, dieser Stadtteil wird in gültigen

Stadtplänen auch so bezeichnet, war ihnen allerdings geläufig.

Sie konnten damit jedoch nichts anfangen. Mir wurde ein

129


Kaffee angeboten. Danach verließ ich das Gebäude, nicht ohne

mich herzlich zu bedanken.

In einem jungen Staat wie Israel ist alles im Fluss. Die Menschen

werden von der Gegenwart mit all ihren Problemen so

in Beschlag genommen, dass Vergangenes kaum interessiert.

Doch das sollte sich in späteren Jahren ändern, als Alex Carmel

sein Buch Die Siedlungen der württembergischen Templer in

Palästina 1868-1918 im Kohlhammer Verlag veröffentlichte. Er

war 1931 als Alexander Buchmann in Berlin geboren und verließ

Deutschland als Kind mit seiner Familie nach dem Pogrom

von 1938. Er lehrte später Neue Geschichte an der Hebräischen

Universität von Jerusalem. Die israelische Öffentlichkeit

wurde auf die württembergischen Siedler aufmerksam.

Es ist hauptsächlich der Initiative Einzelner wie Shay Farkash

und Ariel Atzil zuzuschreiben, dass Häuser der Siedler erhalten

blieben und sogar restauriert worden sind, unterstützt von

der Stadt Tel-Aviv. Shay Farkash hat es sogar zu seiner Aufgabe

gemacht, die Geschichte der Familien, die in den Häusern

gewohnt hatten, zu erforschen und ein Archiv mit allen

erhältlichen Fotos anzulegen. Die beiden haben sich besonders

auf Sarona spezialisiert.

Der bekannte israelische Architekt David Kroyanker hat ein

Buch über die Architektur der württembergischen Häuser der

Deutschen Kolonie Jerusalem verfasst, das in hebräischer Sprache

im Jahr 2008 veröffentlicht worden ist (Jerusalem – The

German Colony and Emek Refaim Street, by David Kroyanker,

399 Seiten). Das Buch setzt sich mit der Architektur der

Templerhäuser im Detail auseinander und ist eingerahmt von

faszinierenden persönlichen Erzählungen ehemaliger Bewohner.

Hunderte von Fotografien, Grafiken und Zeichnungen,

von denen die meisten bisher unveröffentlicht waren, schmü-

130


cken das Buch weiter aus. Darunter sind auch einige Fotos von

der Kuebler-Familie.

Das Leben der Templer in ihren Siedlungen war weniger von

religiösen Dogmen geprägt, als man bei einer relativ jungen

Sekte vermuten würde. Am Sonntag war Gottesdienst, der

entweder vom Tempelvorsteher oder einem ganz gewöhnlichen

Mitglied gehalten wurde. Einen Pfarrer gab es nicht. Der

Saal – so nannten die Templer ihre Kirche – war im Innern

schlicht gehalten, und es gab auch keine Kanzel, sondern

lediglich ein etwas erhöhtes Pult. Die Templer hatten ein eigenes

Gesangbuch verlegt, das auf dem Württembergisch-

Evangelischen beruhte, doch bei vielen Liedern war der Text

umgeschrieben worden, wenn er zu viele sakrale Elemente

enthielt. Auch der Bezug auf Gottes Sohn – Jesu war, wie zuvor

erwähnt, bei den Templern ein Mensch mit göttlichen Eigenschaften

– oder auf die Dreifaltigkeit – die Templer glaubten

konsequenterweise auch nicht an den Heiligen Geist – war

aus den Liedertexten entfernt worden. Aber musizieren konnten

die Templer! Fast jeder von ihnen spielte ein Instrument

und viele sangen im Gemeindechor mit. Ihre Lieblingslieder

waren, soweit ich mich erinnern kann: Eine feste Burg ist unser

Gott und So nimm denn meine Hände. Viele Lieder im Gesangbuch

waren von Mitgliedern komponiert worden und andere

schrieben einen passenden Text dazu.

Es war keineswegs Pflicht, den Gottesdienst zu besuchen,

und wir Kinder wurden dazu auch nicht gezwungen. Die

Templer lebten frei und versuchten, nach Gottes Wort zu leben.

Wenn einer mehr oder weniger unverschuldet in finanzielle

Not geriet, sein Haus abbrannte oder einen Unfall hatte,

half ihm die Gemeinde. Wenn die Eltern von Kindern frühzeitig

starben, fand sich immer eine Familie, die die Waisen

aufnahm. Für einen Templer war irgendeine Versicherung im

131


Grunde überflüssig. Es war – wenn man das so sagen kann –

ein praktizierter und funktionierender Kommunismus ohne

jeglichen Beigeschmack, der die individuelle Freiheit einschloss.

Er entsprang der religiösen Einstellung, beruhte dennoch

auf Freiwilligkeit und kam aus dem Herzen.

Das Bibelwort Liebe deinen Nächsten wie dich selbst stand im

Vordergrund. Danach wollten die Templer leben.

Deshalb war es für eine Templerfamilie ein besonderes Anliegen,

eine oder mehrere heimatlose Waisen auch anderer

Religionen und Rassen als Familienmitglieder aufzunehmen,

mit Brot und Bett, und ihnen eine Berufsausbildung zu ermöglichen,

bis sie auf eigenen Beinen stehen konnten. Dabei wurde

ihre Religion respektiert und keine Anstalten unternommen,

sie zu missionieren. Schon in der zweiten Generation der

Templer, also in den 30er-Jahren, ließ dieser Idealismus mit

wachsendem Wohlstand merklich nach. Viele Templer waren

durch ihren Fleiß und auch durch den wachsenden Bedarf

vermögend geworden, der durch die jüdischen Einwanderer

aus Europa, hauptsächlich aber aus Deutschland, für

Güter entfacht worden war, die die Templer herstellten oder

vertrieben. Leider muss man auch berichten, dass manche

sogar der National Sozialistischen Deutschen Arbeiter Partei –

der NSDAP von Hitler –, in Verkennung der wahren Absichten

dieser Partei, beigetreten waren.

Ja, das Heilige Land mit Jerusalem im Zentrum ist die Wiege

der drei großen Weltreligionen, die nur einen Gott kennen.

Es ist das Ziel von unendlich vielen Pilgern von alters her für

Juden, Christen und Moslems auf der Suche nach den Ursprüngen

ihrer Kultur. Viele ihrer allerheiligsten Stätten sind

hier. Alle gehen auf dieselben Urväter zurück. Abraham, Isaak

und Jakob. Die Bibel gibt Hinweise auf den König von Salem,

der Abraham die Kunde Gottes überbracht hat. Die Israeliten

132


nach der Prophezeiung von David unter Salomo errichteten

ihren ersten Tempel auf dem Tempelberg, auf dessen Grundmauern

jetzt vermutlich die Al Aqsa Moschee der Mohammedaner

steht. Die Klagemauer ein Teil der alten Stadtmauer von

Jerusalem und unmittelbar am Tempelberg gelegen (manche

sind fälschlicherweise der Ansicht, dass die Klagemauer ein

Teil des alten Tempelfundaments sei) ist über 2000 Jahre alt

und für Juden das bedeutendste Heiligtum. Immer wieder fanden

hier Kämpfe statt, ob mit den Römern, Arabern, Kreuzfahrern,

Mamelucken, Türken oder Briten – immer wieder

wurde die Klagemauer von den Juden zurückerobert. So pilgern

täglich viele Menschen zu einem Gebet an die Klagemauer.

Frauen und Männer beten getrennt, für Frauen gibt es ein

extra reserviertes Stück Mauer.

Das Alte Testament gilt interessanterweise für alle drei

Weltreligionen gleichermaßen, im Koran etwas abgewandelt.

Als mich Ariel Atzil, ehemaliger Pilot der israelischen Luftwaffe,

der gerade an der Universität Haifa seine Doktorarbeit

über die Templer schreibt und nebenher als Fremdenführer

tätig ist, in Überlingen im Frühjahr 2009 besuchte, zeigte er

mir ein Reiseprospekt meines Vaters, ein Reiseprospekt des

Kueblers Tourist & Travel Office, das er mitgebracht hatte. Er

erklärte, dass es heute mehrere Tausend Fremdenführer in Israel

gäbe und mein Vater, soweit seine Ermittlungen ergaben,

der Erste in Palästina gewesen sei, der diesen Beruf hauptberuflich

ausübte. Es freute mich sehr, dass ein Israeli diese anerkennenden

Worte nach so vielen Jahren über meinen Vater

fand. Mein Vater hatte seinen Beruf sehr ernst genommen. Er

kannte Palästina und auch Transjordanien, das heutige Jordanien,

wie seine Westentasche.

Mein Vater pflegte Kontakte zu hohen Vertretern der verschiedenen

Religionen unter anderem auch zu einem jüdischen

133


Rabbi, der aus Berlin stammte mit Deutsch als Muttersprache.

In den Gesprächen, die er mit dem Rabbi führte, hatte er

viel über den jüdischen Glauben erfahren. Einen muslimischen

Geistlichen kannte er auch, der hatte in Kairo studiert und

anschließend in Berlin, und er sprach deutsch. Die Moslems,

vornehmlich die Sunniten, zu denen die meisten Moslems in

Palästina gehören, kennen den Beruf eines Priesters in unserem

Sinne nicht, da es für den Muslim keiner vermittelnden

Instanz zwischen den Gläubigen und Gott bedarf. Es gibt aber

in der Moschee einen sogenannten Iman, der die Gebete

spricht, und er war ein solcher. Mein Vater erfuhr von ihm

einiges über den Inhalt des uns zunächst fremd anmutenden

Korans. Und mein Vater hat mir einen Teil von seinem Wissen

in seinem Alter weitergegeben.

Wie unterscheidet sich die jüdische Religion von der Christlichen?

Wie der Islam? Abenteuerliche Vorstellungen, wenn

nicht sogar Vorurteile, herrschten da zuweilen unter den

württembergischen Einwanderern mit meinem Vater eingeschlossen.

Nach den Gesprächen wurde ihm bewusst: In den

Grundwerten sind alle drei Glaubensrichtungen ebenbürtig.

Sie halfen meinem Vater, die Menschen um ihn herum, Christen

jeder Glaubensrichtung, Araber und Juden, besser zu verstehen.

Und das vermittelte ihm der Rabbi:

Die drei monotheistischen Religionen gehen auf gleiche Wurzeln

zurück. Abraham ist eine zentrale Figur des Alten Testaments.

Abrahams Geschichte wird im biblischen Buch Genesis

erzählt. Danach gehört er zusammen mit seinem Sohn Isaak

und seinem Enkel Jakob zu den Erzvätern, aus denen laut biblischer

Überlieferung die Zwölf Stämme des Volkes Israel hervorgingen.

Neben dem Judentum berufen sich auch das Christentum

134


und der Islam auf Abraham als Stammvater. Darum bezeichnet

man alle drei auch als abrahamitische Religionen. Sie ähneln

sich auch in ihren ethischen Grundsätzen. Erinnern wir

uns an die Zehn Gebote der Christen:

Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Du sollst dir kein Bildnis machen.

Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.

Du sollst den Feiertag heiligen.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst kein falsches Zeugnis geben.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib oder Haus.

Sie unterscheiden sich im Inhalt nicht von den Geboten der

Juden, die in den Fünf Bücher Mose offenbart sind. Moses ist

der höchste Prophet in unserem Glauben, der Gott so nah sein

kann, wie sonst kein Mensch vorher oder seitdem. Er gilt als

Verfasser der Fünf Bücher Mose, umgangssprachlich Thora genannt,

die die Basis des jüdischen Glaubens bilden.

Die Thora wird nicht mit „Gesetz“ oder „Gebot“ übersetzt,

sondern mit „Weisung“, die das Leben erleichtern soll. In der

Thora sind diese Weisungen etwas ausführlicher als die 10

Gebote der Christen niedergeschrieben, die man auf das heutige

Leben übertragen hat. Dadurch entstanden 613 Bestimmungen,

die alle im Alten Testament stehen. Die Schriftgelehrten

nannten diese Bestimmungen den „Zaun der Weisung“,

der sie vor der Außenwelt schützen soll. Im Talmud,

das ist neben der Bibel unser wichtigstes Buch, wird der Sinn

der Thora von zwei Lehrern ausführlich erläutert. Ich möch-

135


te als Beispiele herausgreifen: die Weisung der Elternehrung,

die Weisung zu opfern, die Weisung, Arme zu beschenken,

die Weisung, den Nachbarn wie sich selbst zu lieben, die Weisung,

keine Rache zu üben, die Weisung, keine „Schatnes“,

also Kleidung aus Wolle mit Leinen vermischt, zu tragen, die

Weisung, zwei verschiedene Samen nicht einzupflanzen und

die Weisung vom koscheren Essen. Das zeigt, wie die Thora in

das tägliche Leben eines gläubigen Juden eingreift und es zu

regeln versucht.

Die Gebote, also die Weisungen, die Mose von Gott erhalten

hat, lauten in unserem Glauben wie folgt:

Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus

dem Sklavenhaus.

Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.

Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von

irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im

Wasser unter der Erde.

Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich

nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott,

bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge

ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und

vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine

Gebote achten, erweise ich tausendfach meine Huld.

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen;

denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen

missbraucht.

Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!

Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.

Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht.

An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Toch-

136


ter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde,

der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.

Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meergemacht

und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum

hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.

Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in

dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.

Du sollst nicht morden.

Du sollst nicht die Ehe brechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.

Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du

sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem

Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel

oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.

Die „Parascha“, ein Leseabschnitt in der Thora, enthält noch

weitere Gebote.

Du sollst die Früchte eines Baumes innerhalb der ersten drei Jahre

nach dem Pflanzen nicht essen.

Du sollst die Schläfenlocken und den Bart nicht mit einem Rasiermesser

zuschneiden.

Du sollst die Dienste eines Magiers nicht beanspruchen.

Du sollst vor älteren Menschen aufstehen und ihnen so Ehre erteilen.

Du sollst keine Konvertiten verhöhnen.

Du sollst im Geschäftsleben nicht betrügen.

Du sollst keine unerlaubte sexuelle Beziehungen eingehen.

Du sollst keine unerlaubte Tierarten konsumieren.

137


Und das wusste der Iman:

Der Koran ist die Grundlage des islamischen Glaubens. Koran

heißt übersetzt: Das oft zu lesende Buch, Islam heißt Frieden

und Sure Weisheit. Von den 114 Suren – Abschnitten –

des Korans ist die erste „eröffnende“ Sure sehr kurz und gleichzeitig

das Kurzgebet der Moslems, das immer allen anderen

Gebeten voransteht. Sie lautet:

Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen. Lob sei Gott,

dem Herrn der Menschen in aller Welt, dem Barmherzigen und

Gnädigen, der am Tag des Gerichts herrscht. Dir dienen wir und

Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg

derer, denen Du gnädig bist, die nicht dem Zorn anheimfallen

und nicht irregehen.

Der Koran enthält alle verbindlichen Religionsvorschriften,

aber auch bürgerliche, soziale und strafrechtliche Richtlinien.

Allem voran steht der Glaubenssatz:

Allah ist der einzige Gott und Mohammed ist sein Prophet. Einige

weitere herausgegriffene Gebote sind:

Achtung vor dem Leben der Mitmenschen, damit verbunden ist

die Einschränkung der Blutrache und das Verbot der Tötung von

weiblicher Nachkommenschaft.

Treue und Anständigkeit im Einhalten von Verträgen z. B. in

Maß und Gewicht. Die Ächtung des Zinses im Besonderen des

Zinses Zins.

Beschränkung in der Polygamie auf vier Frauen.

Güte gegenüber Eltern, Kindern und Verwandten.

Hilfe gegenüber Mitmenschen besonders aber Waisen.

Güte gegenüber Untergebenen.

Geben von Almosen an Bedürftige.

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Verbot des Selbstmords. Der Selbstmord ist laut Koran haram,

also verboten.

[Da es im Islam gegenwärtig weder eine dem Papst vergleichbare

Autorität gibt noch eine sonstige zentrale Auslegung

der religiösen Schriften vorhanden ist, herrscht Uneinigkeit

innerhalb der islamischen Jurisprudenz darüber, ob

die Selbsttötung unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist

oder nicht].

Prozessuale Vorschriften kommen hinzu wie z. B.:

Anrufung des Propheten bei Streitigkeiten. Verfahrenweise bei

einer Scheidung, bei der Verteilung des Erbes und der Aufteilung

der Beute nach erfolgreichen Kriegen.

[In der Bibel ist Vergleichbares nicht zu finden. Der Koran

ist so nicht nur die Bibel der Moslems. Für manche moslemische

Länder ist der Koran auch das Gesetzbuch.]

Vieles im Koran bezieht sich auf das Alte Testament. So gilt

Abraham als Stammvater der Araber. Es wird immer wieder

Bezug auf Moses mit seinen Zehn Geboten genommen. Jesus

wird als Prophet genannt und Maria wird verehrt. Immer

wieder findet man Legenden aus dem Alten Testament in abgewandelter

Form.

Der Koran wurde in den Jahren 610 bis 625 nach Chr. von

Mohammed verfasst und verkündet, nicht als sein Wort, sondern

als die ihm zuteilgewordenen Offenbarungen Allahs, des

alleinigen einzigen Gottes seit Ewigkeit, Weltenerschaffers und

Herren aller Weltenbewohner, der keinen Sohn und Helfer

besitzt und benötigt. [Wahrscheinlich eine Anspielung auf

Jesus, den die Christen als den Sohn Gottes betrachten. Goethe,

der den Koran studiert hatte, sah übrigens in der zweiten

Sure den maßgeblichen Teil des Koran.]

139


Alt Jerusalem

Eile ist vom Teufel.

Auf alten Karten ist Jerusalem als Zentrum der Welt gezeigt

– nicht ganz zu Unrecht. Man kann die Geschichte bis 1917

grob in vier große Perioden in die Biblische Periode von 1004 v.

Chr. bis 70 n. Chr., die Römische Periode von 63 v. Chr. bis 324

n. Chr., die Byzantinische Periode von 324 bis 638 n. Chr. und

die Muslimische Periode von 638 n. Chr. bis 1917 einteilen.

Für Christen ist Jerusalem die Stadt, wo Jesus lebte, predigte,

gestorben und auferstanden ist. Die Orte, an denen er gewirkt

hat, ziehen seit Jahrhunderten Pilger und Gläubige an.

Die Verwaltungsrechte der verschiedenen christlichen Kirchen

an den Heiligen Stätten – auch Status-quo-Regelung genannt

– wurden im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts mit

dem Osmanischen Reich geregelt. Sie blieben während des

englischen Mandats in Kraft und gelten bis heute in Israel fort.

Aber warum lassen wir nicht meinen Vater zu Wort kommen,

der in seinem Alter in Überlingen Lichtbildervorträge hielt,

die den Besuch eines Touristen in Palästina und im Besonderen

in Jerusalem nachzeichnen?

„Durch eines der sieben Tore Jerusalems gelangen wir auf

den Tempelplatz. Vor uns liegt der imposante Felsendom mit

seiner schwarz-blauen mit einem Halbmond gekrönten Kuppel.

Nachdem wir den Vorplatz überschritten haben, steigen

wir auf breiten, steinernen Stufen zur höher gelegenen Plattform

des Felsendoms hinauf. Diese Moschee dürfte wohl die

schönste aller sein, die Hagia Sophia in Konstantinopel

vielleicht ausgenommen. Sie wirkt auf uns Abendländer wie

ein verwirklichter Traum aus Tausend und einer Nacht. Die

mit Blei belegte 30 m hohe Kuppel [heute ist der Dom mit Blatt-

140


gold, einer Spende Saudi Arabiens, überzogen] prägt die Silhouette

der alten Stadt.

In der Mitte des Doms erkennen wir einen unbehauenen

Felsrücken, der uns wie eine erstarrte Woge des Chaos anmutet.

Hier sollen Abraham, David, Salomon und Elias gebetet

haben. Von hier soll, nach mohammedanischem Glauben,

Mohammed in der Nacht der Geheimnisse auf dem Pferd El

Barak in den Himmel geritten sein, um dort einen Besuch abzustatten.

Hier war einst der alte Tempel der Juden gestanden und

genau an dieser Stelle das Allerheiligste. Hier, im ehemaligen

Tempel, wo Jesus aus- und einging und predigte, glauben wir,

seine Worte zu hören: Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen,

denn der Ort, worauf du stehst, ist Heiliges Land.

An dieser Stelle stand einst auch der alte Zweite Tempel der

Juden, der 70 n. Chr. von den Römern zerstört wurde. Sie raubten

die Menora, den siebenarmigen Leuchter aus reinem Gold,

für dessen Anfertigung Moses auf dem Berg Sinai von Gott

den Auftrag erhalten hatte und der einer der heiligsten Ritualgegenstände

des jüdischen Volkes war. Im Triumphzug

wurde sie später durch Rom getragen und auf dem Titusbogen

abgebildet. 1948 dann übernahm der junge Staat Israel

die Menora als offizielles Emblem.

Mohammed hatte einen Bart getragen. Die mohammedanischen

Geistlichen und Strenggläubigen sowie alle Stammesoberhäupter,

Scheichs und Derwische tragen Bärte. Es gilt bis

heute der Schwur: Beim Barte des Propheten. Die heiligen Haare

des abgeschnittenen Barts von Mohammed wurden nach

seinem Tod auf 40 Fläschchen verteilt. Sie werden in verschiedenen

Moscheen aufbewahrt. Auch im Felsendom ist ein solches

Fläschchen vorhanden und wird den Gläubigen jedes Jahr

an Mohammeds Geburtstag gezeigt.

141


Außerhalb des Tempelplatzes erstreckt sich die Klagemauer,

wo die Juden den Untergang und die Zerstörung ihres Großen

Tempels beklagen, ein Herzstück jüdischer Kultur. Sie gilt

als Relikt des von Herodes gebauten Großen Tempels, tatsächlich

aber ist sie ein Teil der alten Stadtmauer. An der Klagemauer

sehen wir Orthodoxe Juden in ihren schwarzen Anzügen,

schwarzen Hüten und Schläfenlocken, den so genannten

Peijes. Sie schlagen ihre Köpfe gegen die Mauer und stecken

Nägel zwischen die großen Steine der Mauer.

Man nimmt an, dass das Haus, in dem Jesus mit seinen Jüngern

das Abendmahl einnahm, auf dem Zionsberg lag. In der

Nacht des Verrats durch Judas Ischariot wanderte Jesus mit

seinen Jüngern durch das Kidrontal, an den Mauern des Tempelhofs

vorbei, in nordöstlicher Richtung zum Garten Gethsemane.

Diesen Weg soll seinerzeit auch König David gegangen

sein, als er vor seinem eigenen Sohn Absolon fliehen musste.

Gethsemane ist ein ruhiger Ort, etwa 70 Schritte lang und breit,

bepflanzt mit Olivenbäumen und Zypressen. Einige der Olivenbäume

sollen zu Jesu Zeiten schon hier gestanden haben.

Auf einem Fels mitten im Garten soll Jesus mit seinen Jüngern

geruht haben, als die Häscher der Pharisäer erschienen

und ihn festnahmen. Man glaubt, seine Worte im Rascheln

der Olivenblätter zu hören: Mein Vater ists möglich, so gehe

dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie

du willst!

Wir folgen dem gleichen Weg nach Jerusalem, den die Häscher

mit Jesus genommen haben. Bevor wir über das Josephatal

in die Stadt kommen, entdecken wir auf beiden Seiten des

Wegs bis zum Abhang des Ölbergs hinauf mohammedanische

und jüdische Friedhöfe. Hier soll, den Weissagungen zufolge,

am Jüngsten Tag die Auferstehung aller Toten stattfinden. Beim

Eintritt durch das Stephanstor in die Altstadt taucht das Haus

142


des Pilatus vor uns auf und nicht weit davon das Gefängnis

Christi, die Antonia Festung. Von hier beginnt der Leidensweg

Jesu mit dem Kreuz auf dem Rücken. Es ist die berühmteste

Straße Jerusalems, die Via Dolorosa, eine enge Gasse, auch

Kreuzweg genannt, mit ihren 14 Stationen, die hinauf nach

Golgatha zur Grabeskirche, den Ort der Kreuzigung, führt. Im

vierten Jahrhundert erklärte Kaiser Konstantin das Christentum

zur Staatsreligion und befahl, über dem Grab Christi eine

prachtvolle Kirche zu bauen. Sie wurde später von den Arabern

und Persern bis auf die Grundmauern zerstört. Die Grabeskirche

wurde von den Kreuzrittern wieder neu errichtet.

Der Kreuzfahrer Gottfried von Bouillon stiftete damals die Glocke.

Die große Kirchenpforte wird täglich von einem mohammedanischen

Geistlichen auf- und zugeschlossen. Das Schlüsselrecht

für eine der ältesten christlichen Kirchen war von den

Türken einer mohammedanischen Familie zugesprochen worden

und wurde später auch von der englischen Mandatsregierung

respektiert.

Die Grabeskirche ist eines der ehrwürdigsten und gleichzeitig

eigenartigsten Gebäude in Jerusalem. Auf dem freien

Platz davor feiern die griechisch-katholischen Christen Gründonnerstag,

14 Tage später als wir. Auf einem hier unter freiem

Himmel errichteten Podium nimmt der griechisch-katholische

Patriarch bei zwölf Archimanliten – das sind hohe Geistliche

– in sinnbildlicher Weise eine Fußwaschung vor.

Am Samstag vor Ostern Punkt 13:00 Uhr schlägt eine Flamme

aus der ovalen Öffnung der Grabeskapelle im Innern der

Kirche heraus. Es ist das Heilige Feuer. Kopf an Kopf drängen

sich die Gläubigen. Jeder will als Erster seine Kerze anzünden

und als Erster in der Geburtskirche in Bethlehem ankommen,

143


um dort die hängenden Öllampen mit dem Heiligen Feuer für

das kommende Jahr zu entzünden.

Das Anrecht für die Benutzung, wie z. B. die Abhaltung von

Gottesdiensten in der Grabeskirche, ist zwischen den verschiedenen

Konfessionen wie der römisch-katholischen, griechischorthodoxen,

armenischen, koptischen und abessinischen Kirche

nach alten Statuten festgelegt.

In Jerusalem sind vier Patriarchen ansässig. Es gibt auch

ungezählte Klöster und Kirchen aller christlichen Konfessionen.

Nur wenige Schritte von der Grabeskapelle entfernt ist die

Franziskaner Kapelle, in der deren Mönche das von dem Kreuzfahrer

und Eroberer Gottfried von Bouillon getragene Schwert,

Kettenpanzerhemd, Kreuz sowie seinen Ring aufbewahren.

Ihm wurde seinerzeit die Königskrone angetragen, die er aber

mit der Begründung ablehnte: Vor mir war ein größerer König!

Das erste Heiligtum, auf das wir beim Eintritt in die Kirche

stoßen, ist der Salbungsstein, eine gelbrötliche Marmorplatte.

Auf ihr soll Niedemus den Leichnam von Jesus einbalsamiert

haben. Wir gelangen in den Kuppelbau, der sich über dem

Heiligen Grab erhebt, ein Marmortempelchen, das erst im Jahr

1810 errichtet worden ist. Steinbänke und riesige Leuchter

umgeben den Vorplatz, über den wir in die von weiteren 15

kostbaren Lampen beleuchtete Engelskapelle eintreten.

Durch eine niedrige Pforte gelangen wir in die eigentliche

Grabeskapelle. Viele Lampen hängen von der Decke herab und

erhellen die eigentliche Grabbank. Mit Inbrunst hat manch

einer hier schon niedergekniet und gebetet und um die Vergebung

seiner Sünden gefleht. Abertausende gingen hier schon

ein und aus. Freund und Feind begegneten sich hier und beugten

ihre Knie vor diesem Heiligtum. Das ist vielleicht das ein-

144


zige Gotteshaus, in dem sich Christen aller Kirchen und Sekten

einfinden und zusammen beten, so, wie Jesus es sagte:

Eine Herde und ein Hirte.

Beim Hinausgehen klingen die Worte in unseren Ohren:

Was suchet ihr die Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier.

Er ist auferstanden!

Oben auf Golgatha wird uns der Platz gezeigt, wo das Kreuz

Jesu gestanden haben soll. Auch die gespaltene Felsplatte ist

zu sehen, von der schon Matthäus berichtete. Beim Tode Jesu

hätte die Erde gebebt und sich der Felsen geteilt. Hier rief Jesus

in seiner Qual am Kreuz:

Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!

Hier flehte er: Mich durstet.

Dort schied er von der Erde mit dem Ruf:

Es ist vollbracht, Vater in Deine Hände befehle ich meinen Geist.

Jeden Freitagnachmittag findet eine von den Franziskanermönchen

angeführte Prozession von Gethsemane den Leidensweg

entlang hinauf nach Golgatha statt. An allen 14 Stationen

wird eine Pause für ein kurzes Gebet eingelegt.“

Diese Schilderung ist auszugsweise einem Lichtbildervortrag

meines Vaters entnommen, den er Anfang der 50er-Jahre

in verschiedenen Städten und Dörfern rings um den Bodensee

hielt. Sie verdeutlicht, wie sehr Jerusalem mit dem

christlichen Glauben verbunden ist. Überall in der Altstadt

wirkt das Leben Jesu nach und für die Juden und Araber ist es

mit ihrer Religion nicht viel anders. Jerusalem ist unumstritten

die Heilige Stadt.

145


Der arabisch-israelische Konflikt

Wer ein Kamel liebt, muss sich mit seinen Höckern abfinden.

Wie kam es eigentlich zu der Feindschaft zwischen Juden

und Arabern?

Vor dem Ersten Weltkrieg lebten sie mit den Christen zusammen

friedlich nebeneinander in Palästina. Damals waren

es etwa 780 000 Menschen, etwa 90 000 Juden, 30 000 Christen,

der Rest Araber. Sie verteilten sich auf ein Land, die Negev-Wüste

nicht eingerechnet, das etwa halb so groß wie die

Schweiz ist.

Die Engländer waren an dieser Entwicklung nicht schuldlos.

Als der Erste Weltkrieg begann, erkannten die Engländer,

die Ägypten als Mandatsgebiet verwalteten, gleich die Gefahr,

die dem Suezkanal drohte, der nur wenige Hundert Kilometer

von der südlichen Grenze Palästinas entfernt liegt. Palästina

war von den Türken besetzt, die sich auf die deutsche

Seite geschlagen hatten. Der Suezkanal in türkischer oder gar

in deutscher Hand? Undenkbar! Für das Weltreich Großbritannien

strategisch unzulässig. Das musste unbedingt verhindert

werden.

Man brauchte die Hilfe und Unterstützung der arabischen

Bevölkerung, und zwar nicht nur der Araber in Palästina, sondern

auch die der umliegenden Länder wie Transjordanien,

Syrien und Saudi-Arabien. Die Araber sprachen jedoch nicht

mit einer Stimme. Es gab viele unterschiedliche Stämme, und

die Stammesfürsten waren obendrein untereinander zerstritten.

Wie konnte man hier eine schlagkräftige Truppe aufbauen?

Welcher Mann wäre in der Lage, diese schwierige Aufgabe

zu übernehmen? Wer kannte ihre Sitten, wer ihre Sprache?

Wem würden sie vertrauen? Ohne eine handfeste Belohnung

146


für die Araber würde selbst der beste Mann nichts ausrichten

können. Geld stand nicht in genügender Menge zur Verfügung,

aber vielleicht ein Versprechen?

Eines kam ihnen entgegen: der Hass aller Araber auf die

Türken!

147


Lawrence of Arabia

Wenn du redest, dann muss deine Rede besser sein, als dein

Schweigen gewesen wäre.

Wie so oft in der Vergangenheit hatte die damals unumstrittene

Weltmacht England die Gabe, den richtigen Mann für

diese schwer zu lösende Aufgabe zu finden. Es war Lawrence

of Arabia. Als junger Mann war er von den Burgen und Altertümern

des Mittleren Ostens fasziniert und als Student der

Oxford-Universität befasste er sich mit dem Einfluss der

Kreuzfahrer auf den Bau von Befestigungsanlagen in Europa.

Noch als Student unternahm er eine Trekking-Tour zu Fuß

durch Syrien und Palästina, die damals als Staatsgebiete nicht

existierten und zum Osmanischen Reich gehörten. Er lernte

Arabisch und konnte bei seinen gefährlichen Touren viele

Kreuzritterburgen vermessen und deren Architektur studieren.

Er wurde angeschossen, beraubt und geschlagen. Er erkrankte

sogar an Malaria. Doch seine Liebe zu diesem Land

blieb trotz all dieser Rückschläge bestehen!

Anschließend graduierte er mit dem Thema in Oxford.

Im Jahre 1911 wurde ihm eine Stelle als Aufseher für die

arabischen Arbeiter angeboten, die im heutigen Syrien bei archäologischen

Ausgrabungen bei der alten Hethiterstadt Carchemish

eingesetzt waren. Er nahm die ihm angebotene Stelle

an. Durch seine freundschaftliche Art und Kenntnis der Sprache

gewann er dabei viele arabische Freunde. 1914 wurde er,

wie viele andere, vom Ersten Weltkrieg überrascht.

Die Türken hatten die ganze Region unter ihrer Kontrolle.

Das Osmanische Reich, schon fünfhundert Jahre regierend,

hatte sich auf die Seite der Deutschen geschlagen. Lawrence

musste als Engländer schleunigst das Land verlassen und traf

in Kairo ein, wo er dem militärischen Geheimdienst zugeteilt

148


wurde. 1916 wurde er mit der Mission betraut, die arabischen

Beduinenstämme zu unterstützen, die mit einer Revolte gegen

die Türken unter der Führung des haschemitischen Scherifen

von Mekka Emir Husain begonnen hatten.

Er wurde bald Freund und Berater von dessen Sohn Prince

Feisal, der die Rebellen befehligte. Er konnte sich in kürzester

Zeit so einfügen – er trug ihre Kleidung, ritt auf einem Pferd

und kämpfte an deren Seite –, dass ihm die Führung der Rebellen

übertragen wurde.

Es gelang ihm mit seinen arabischen Beduinen, Akaba den

Türken zu entreißen und einzunehmen. Seine Kämpfer kannten

die Wüste wie ihre Westentasche, und es gelang ihnen

durch gezielte Anschläge, die wichtige Hedschas Eisenbahnlinie

von Damaskus nach Amman (sie sollte bis nach Mekka

weiterführen und eine Teilstrecke dorthin war auch schon

gebaut worden) zu unterbrechen und damit auch den Nachschub

für die weiter südlich gegen die Engländer kämpfenden

türkischen Truppen zu unterbrechen. Schließlich waren

die arabischen Kämpfer auch dabei, als Damaskus von den

Engländern erobert wurde. Die Neuigkeit über den nicht für

möglich gehaltenen Sieg über die Türken verbreitete sich in

Windeseile in alle Welt, und die Legende von Lawrence of Arabia

– gerechtfertigt oder nicht – war geboren. Man fragte sich,

wie Lawrence das nur geschafft hatte, mit diesen unzivilisierten

Barbaren gegen die gut ausgerüsteten Türken anzutreten

und militärische Erfolge zu erzielen.

Lawrence gab die Zusage seiner Regierung an die Araber

weiter, dass die von den Türken befreiten Länder, also auch

Palästina und Syrien, unabhängige arabische Staaten werden

würden. Die Araber kämpften also für ihre eigene Freiheit!

Hierüber gab es einen Schriftverkehr 1915/16 zwischen dem

englischen Chief Officer of the British Government in Egypt Sir

149


Henry McMahon, natürlich im Auftrag der englischen Krone,

und Emir Husain mit entsprechenden Zusicherungen an die

arabische Seite. Dieses Versprechen wurde aber nach Kriegsende

von der englischen Regierung anders ausgelegt und

schließlich, was Palästina und Syrien betraf, nicht eingehalten.

Lawrence musste erfahren, dass Lloyd George, englischer

Munitionsminister, und Clemenceau, französischer Kriegsminister,

zuvor schon einen geheimen Vertrag abgeschlossen hatten,

den sogenannten Sykes-Picot Vertrag, der vorsah, das befreite

Land zwischen Frankreich und England aufzuteilen.

England sollte das Mandat für Palästina und Frankreich das

von Syrien erhalten.

Lawrence sah sich von seiner eigenen Regierung betrogen.

Zurück in England verweigerte er deshalb alle Ehrenorden,

die ihm für seine Verdienste im Kampf gegen die Türken vom

englischen König verliehen werden sollten. Er wollte weiter

für sein Versprechen kämpfen, das er im Auftrag seiner Regierung

den Arabern gegeben hatte. Er konnte sogar erreichen,

dass Feisal, Sohn des Haschemitenkönigs Husain, zu den Friedensverhandlungen

nach Frankreich eingeladen wurde. Doch

der wurde in Frankreich, wie auch später in England, mehr

als diplomatischer Tourist denn als Verhandlungspartner behandelt.

Thomas Edward Lawrence hatte die Vision gehabt, ein arabisches

Königreich unter der Einbeziehung von Palästina und

Syrien zu schaffen. Er setzte nun alle seine Hoffnungen auf

die USA, die es vielleicht als einzige Macht der Welt in der

Hand hatten, gegen alle vor dem und in dem Krieg getroffenen

geheimen Verträge vorzugehen und sie neu zu verhandeln.

Diese Hoffnungen erfüllten sich aber nicht.

Er zog sich verbittert zurück und nahm sogar einen ande-

150


ren Namen an. Er kam 1935 bei einem mysteriösen Motorradunfall

ums Leben. Bis zu seinem Tod war er über den Verrat

an seinen arabischen Freunden nicht hinweggekommen.

Die Engländer hatten eine andere Zusage an die Juden gemacht,

die die Züge eines Vertrags aufwiesen und als Balfour

Deklaration in die Geschichte einging.

Der Führer der zionistischen Bewegung Haim Weizmann ließ

sich 1904 in England nieder, um seiner Karriere als Chemiker

nachzugehen. 1906 wurde er Lord Balfour vorgestellt, der den

jungen Zionisten davon überzeugen wollte, dass sich Uganda

viel besser als Palästina als neue Heimat für die Juden eignen

würde. Doch Weizmann gelang es seinerseits, die eigenen Pläne

ihm und damit auch der englischen Regierung näherzubringen.

Als dann der Erste Weltkrieg begann und jede Unterstützung

anderer Länder für den Krieg gewonnen werden

musste, erwärmte sich auch die englische Regierung für die

Ideen des Zionisten. Die jüdische Lobby in den USA war groß.

Man musste auch den Deutschen zuvorkommen, denn Gerüchte

gingen um, dass sie ein Papier in Vorbereitung hätten,

das zum Inhalt hatte, den Juden bei der Schaffung einer Heimat

in Palästina jede Unterstützung zuteilwerden zu lassen.

Der mit Emir Husain abgeschlossene Vertrag wurde indessen

so ausgelegt, dass weder Jerusalem noch die Küstenregionen

Palästinas eingeschlossen waren und deshalb auch nicht

zur Deklaration im Widerspruch standen.

So konnte die Balfour-Deklaration entstehen, die Lord Balfour

dem einflussreichen Lord Rothschild, Jude und reichster

Mann der Welt, übergab. Sie lautete ins Deutsche übersetzt:

151


„Die Balfour-Deklaration

Foreign Office of Great Britain, 2. November 1917.

Sehr geehrter Lord Rothschild!

Ich habe die angenehme Aufgabe, Ihnen im Auftrag der

Regierung seiner Majestät mitzuteilen, dass folgende Deklaration

im Sinne der dem Kabinett unterbreiteten jüdisch-zionistischen

Anregungen beschlossen wurde:

His Majestys Regierung befürwortet die Schaffung einer nationalen

Heimat für das jüdische Volk in Palästina und wird alle

Anstrengungen unternehmen, die Durchführung dieses Projekts

zu erleichtern. Es versteht sich, dass nichts unternommen wird,

die zivilen und religiösen Rechte der nicht jüdischen Volksgruppen

in Palästina zu beschneiden oder die Rechte und den politischen

Status, die Juden in irgendeinem anderen Land genießen.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Zionistische Vereinigung

über diese Deklaration in Kenntnis setzen würden.

Ihr ergebener Arthur James Balfour“

Nachdem der Krieg für die Alliierten gewonnen war, kamen

die verschiedenen Verträge nach und nach ans Tageslicht

und auch deren Bedeutung. Vereinfacht gesagt hatten

die Engländer Palästina sowohl den Arabern als auch den Juden

für deren Hilfe im Krieg gleichzeitig versprochen. Doch

die Engländer entzogen sich zunächst der Affäre, indem sie –

entsprechend dem mit Frankreich geschlossenen Vertrag – ein

Mandat für Palästina einrichteten mit einem englischen Hochkommissar

an der Spitze. Sie hielten sich wieder einmal an

ihr bewährtes Prinzip teile und herrsche, mit dem sie in anderen

Ländern gut gefahren waren, wie z. B. in Indien – Moslems

und Hindus – sowie in Zypern – Türken und Griechen –

und hielten sich so aus dem sich anbahnenden Konflikt her-

152


aus. Sie erhielten auch ein Mandat für Transjordanien, dem

heutigen Jordanien, und für Mesopotamien, dem heutigen Irak.

In keiner Weise wurde auf die geografische Ausdehnung

und die kulturellen Strukturen der heimischen arabischen

Volksstämme Rücksicht genommen, ein Mitbestimmungsrecht

unberücksichtigt gelassen und willkürlich Grenzen gezogen,

die heute noch Konflikte nähren, wie das Beispiel Irak zeigt.

Die Araber hatten es nicht für möglich gehalten, dass ihr

Land Palästina, in dem wie schon erwähnt etwa 570.000 von

ihnen und nur 90.000 Juden lebten, ihnen entrissen werden

könnte.

Die einsetzende Judenverfolgung durch die Nazis in

Deutschland verschärfte die Situation, denn immer mehr jüdische

Einwanderer kamen oft auf abenteuerliche Weise aus

Europa in das kleine unfruchtbare Land, teils legal, teils illegal,

wie es so dramatisch in dem Buch Exodus beschrieben

worden ist. Tel-Aviv, eine von den Juden gegründete junge

Stadt in der Nähe Jaffas, platzte aus allen Nähten. Und viele

neue jüdische Siedlungen sprießen im ganzen Land wie Pilze

aus dem Boden.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Araber

reagierten mit Terroranschlägen. Und die Juden schlugen zurück.

Die Engländer verhängten hohe Strafen für gefasste Terroristen,

manch einer wurde öffentlich gehängt. Sie führten

nächtliche Ausgangssperren ein, ließen Militärfahrzeuge patrouillieren,

wie jeder weiß mit wenig Erfolg.

So hatten die ersten Auseinandersetzungen zwischen Juden

und Arabern, die friedlich zuvor in Palästina zusammengelebt

hatten, Anfang der 1920er-Jahre begonnen. Die Spannungen

und Terroranschläge von beiden Seiten eskalierten und

erreichten zwischen 1936 und 1939 ihren vorläufigen Höhepunkt.

153


Der Zweite Weltkrieg bricht aus

Man fragte: Was ist süßer als Honig?

Es wurde geantwortet: Essig, den man umsonst haben kann.

Doch dann geschah etwas, was niemand glauben wollte.

Sollte es tatsächlich zu einem neuen Weltkrieg kommen? War

der letzte nicht schon barbarisch genug gewesen? Hatte er

nicht schon viel zu viel Leid über die Völker gebracht?

Man schrieb den 1. September 1939, einen Sonntag. Mein

Vater hielt seinen Kopf ganz dicht an den Lautsprecher des

Radiogeräts. Den Langwellensender konnte man nur schlecht

empfangen.

Er murmelte vor sich hin: „Hitler wird doch nicht von allen

Geistern verlassen sein und einen Krieg anzetteln?“

Mein Vater hielt nicht viel von den Nationalsozialisten.

Warum auch? Hatten sie nicht sein Geschäft fast in den Ruin

getrieben? Seit zwei Jahren hatte die Colombo nicht mehr in

Beirut angelegt. Die Spannungen zwischen Juden und Arabern

wurden mit jedem neu zugewanderten aus Europa geflohenen

Juden größer. Und Hitler trug die ganze Schuld. So

war mein Vater, im Gegensatz zu manchen anderen in Jerusalem

lebenden Templern, nicht der Partei beigetreten.

Gegen 14:00 Uhr, immer noch das Ohr am Radiogerät, läutete

es Sturm an der Haustür. Die Nachricht war im Radio

noch nicht gekommen, dass England Deutschland, nach

Deutschlands Überfall auf Polen, den Krieg erklärt hatte. Das

geschah erst eine Stunde später um 15:00 Uhr Palästinazeit.

Ein gepanzertes englisches Militärfahrzeug war vor unserem

Haus vorgefahren, und Soldaten mit angeschlagenen Gewehren

standen vor der Tür.

„We came to arrest you, Mr. Kuebler“, hatte einer von ih-

154


nen gesagt. „Sie haben fünf Minuten Zeit, das Notwendigste

zusammenzupacken.“

Als er abgeführt wurde, drückte meine Mutter meinem Vater

noch eine Wolldecke in die Hand. Wir wussten nicht, wo

er hingebracht werden sollte. Wir ahnten auch nicht, dass dies

ein Abschied für viele Jahre werden sollte.

Er wurde in das Gefängnis in Jerusalem für Schwerverbrecher

geworfen. In eine dunkle, feuchte Zelle, wo man die eigene

Hand vor dem Gesicht kaum erkennen konnte, mit finsteren

Gesellen und Ratten. Es stank fürchterlich, denn eine Ecke

des Raums diente als Toilette. Die feindseligen Blicke der eingesperrten

Araber beängstigten ihn. Es kam ihm jetzt zugute,

dass er fließend arabisch sprechen konnte.

Nach drei Tagen wurde er endlich dem Haftrichter vorgeführt.

Der diplomatische Protest seines einflussreichen Bruders

Jona, der natürlich als Schweizer frei war, half vielleicht,

und er wurde, wie alle anderen deutschen Männer im wehrpflichtigen

Alter, in das schon seit Monaten vorbereitete, die

Engländer hatten den Krieg erwartet gehabt, Gefangenenlager

bei Akko nördlich von Haifa verlegt, wo die Bedingungen

menschlicher waren.

Warum mein Vater als einziger Deutscher der Kolonie, der

als ungarischer Konsul eigentlich diplomatische Immunität

besaß, von den Engländern wie ein Schwerverbrecher behandelt

wurde, ist bis heute rätselhaft geblieben.

Hatte der englische Geheimdienst CID (Crime Investigation

Department) falsche Hinweise erhalten, dass mein Vater

mit den Nazis kollaboriert hatte? Warum war er als Deutscher

ungarischer Konsul geworden? Was steckte dahinter? Warum

war er nicht wie andere Templer Parteigenosse geworden?

Um vielleicht als Kollaborateur nicht aufzufallen?

Mein Vater musste jetzt dafür bezahlen, dass er damals in

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Deutschland wieder Deutscher geworden und nicht Amerikaner

geblieben war. Als Amerikaner wäre er dem Schutz der

USA unterstellt gewesen und niemand, zuallerletzt die Engländer,

hätten je gewagt, ihm nur ein einziges Haar zu krümmen.

Nicht nur mit den drei Tagen im Gefängnis sollte er dafür

bezahlen, nein, er musste fast neun lange Jahre in der Internierung

bleiben, getrennt von seiner Familie, und er sollte auch

sein ganzes Hab und Gut verlieren.

Aber wer weiß, wie es ohne die Internierung gelaufen wäre,

denn mein Vater hatte, jetzt 55 Jahre alt, wie bereits erwähnt

gesundheitliche Probleme, die er selbst zu verantworten hatte.

In der Internierung waren die Beschwerden bald wie weggeblasen,

da alle die Auslöser entfielen. Kein türkischer Kaffee

mehr, kein Arrak, keine Zigaretten, keine Aufregungen und

viel, viel Zeit für sich selbst. Er war gezwungen, ein enthaltsames

Mönchsleben zu führen.

So gesehen war es für ihn ein Segen, dass er aus dem Trott

mit Kriegsbeginn herausgerissen wurde. Er wäre sicher nicht

87 Jahre alt geworden.

Meine Mutter, Schwester und ich wurden ein halbes Jahr

später mit allen anderen Deutschen aus Jerusalem auch interniert.

Die Engländer hatten die Templersiedlung Sarona, eine

Gemeinde mit etwa 500 Einwohnern, bei Tel-Aviv gelegen, in

ein Internierungslager für Frauen, Kinder und alte Männer

umfunktioniert. Unter den Internierten befanden sich nicht

nur Templer, sondern auch evangelische und katholische

Deutsche, die in Jerusalem in christlichen Missionen, Krankenhäusern

und sozialen Einrichtungen, wie z. B. das im ganzen

Vorderen Orient bekannte, von der Familie Schneller im

vorigen Jahrhundert gegründete Syrische Waisenhaus, wo ara-

156


bische, meistens blinde Waisen betreut wurden tätig waren.

Auch waren interessanterweise viele Juden dabei, die noch

die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen. Alle wurden bei den

sesshaften Familien in Sarona einquartiert, sodass das Lager

schätzungsweise 800 Internierte aufwies.

Zweimal in der Zeit von September 1939 bis Ende 1942

durften die Frauen ihre Männer und Kinder ihre Väter im

Barackenlager in Akko für einige Stunden besuchen. Das

zweite Mal konnten wir die Männer nur von der Ferne, am

Stacheldrahtzaun stehend, sehen. Der Lagerkommandant

hatte angeordnet, dass sich alle Frauen einer von Soldaten

durchgeführten Leibesvisitation unterziehen müssten. Da sie

sich dazu ganz ausziehen sollten, war das für die Frauen so

erniedrigend, dass sie auf den Besuch ganz verzichteten, und

die Busse unverrichteter Dinge wieder zurückfuhren.

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Die Templersiedlung Sarona

Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh.

„Ich bin nur eine Blume in der Ebene Saron, eine Lilie aus

den Tälern. Aber wie eine Lilie unter den Dornen ist meine

Freundin unter den Mädchen!“ Hohelied 2/1-2.

Schon zu biblischer Zeit war Saron, hebräischer Begriff für

Ebene, Flachland, eine relativ fruchtbare Landschaft in Israel,

wo gelegentlich Rosen unter Dornen zu bewundern waren,

die sich einer hohen Wertschätzung erfreuten. Auch Lilien

waren zu finden, wie aus dem Text des Hoheliedes hervorgeht.

Hier erwarb der Gründer und Vorsteher der Tempelgesellschaft

Christoph Hoffmann im Jahr 1868 für die Gesellschaft

etwa drei Kilometer nordöstlich von Jaffa 60 Hektar Land, also

in der Saron Ebene, die sich entlang der Küste des Mittelmeers

von Jaffa, durchschnittlich 15 Kilometer breit, bis hin zum

Karmel Gebirge bei Haifa erstreckt. Es ist eine fruchtbare Ebene,

aber sandig an der Küste und sumpfig im Süden bei Jaffa.

Das gekaufte Land war für Mitglieder bestimmt, die Ackerbau

betreiben wollten.

Die entstandene Siedlung wurde, dem Namen der Ebene

folgend, Sarona getauft, als sie 1871 eingeweiht wurde.

Die Siedlung hatte eine Kreuz- und eine Querstraße, die sie

in vier etwa gleich große Sektoren teilte. Die Bauparzellen an

der Kreuzung wurden für gemeinnützige Bauten wie das Gemeindehaus

mit einer Schule, die Gemeindekirche (Saal) und

einen Wasserturm reserviert.

Die Anfänge gestalteten sich schwierig, denn der nahe gelegene

Wadi el Musrara mit seinen Sümpfen war ein idealer Lebensraum

für Moskitos, die, mit Malaria infiziert, die Krankheit

auf die Siedler übertrugen. Viele starben, nicht nur an

158


159


Malaria, sondern auch an Ruhr und Typhus. Das Fortbestehen

der Kolonie war bedroht. Erst nachdem es mit importierten

Eukalyptusbäumen gelungen war, die Sümpfe trocken zu

legen, verbesserten sich die Lebensverhältnisse. In den folgenden

Jahren entwickelte sich Sarona zu einer der blühendsten

Siedlungen aller Volksgruppen in ganz Palästina. Die Siedler

bauten Gerste und Weizen an, sie legten Plantagen mit Bananen

und Zitrusfrüchten an und kultivierten Wein, der sogar

nach Deutschland exportiert werden konnte. Die Jaffa Orange

war durch ihre Qualität weltbekannt geworden.

Um 1882 hatte die Siedlung etwa 200 Einwohner.

Heute ist Sarona ein Teil von der heute größten Stadt Israels,

Tel-Aviv – in Hebräisch heißt Tel-Aviv Hügel des Frühlings

–, geworden, die erst viel später im Jahr 1907 gegründet

wurde. Sarona wurde nach der Gründung des Staates Israel

in Hakirya umbenannt. Die Geschichte von Sarona ist in dem

umfassenden, in Englisch geschriebenen Werk von Helmut

Glenk, Horst Blaich und Manfred Haering aufgezeichnet: From

Desert Sands to Golden Oranges, 2005 erschienen, ISBN 1-4120-

3506-6.

160


Ein späterer Besuch in Sarona

Es trifft dich nur das, was für dich bestimmt ist.

Im Jahr 1985 hatte ich bei einer Studienreise durch Israel

Gelegenheit, Sarona zu besuchen. Die ehemalige Siedlung hatte

am Anfang des Zweiten Weltkriegs als Internierungslager

gedient für viele Templerdeutsche, aber auch andere Deutsche,

die in Palästina lebten. Ich hatte als Elfjähriger im Lager

Modellflugzeuge geschnitzt und an der Außenwand neben

einem Luftschacht unseres Hauses, in dem wir wohnten, vergraben.

„Die Flugzeuge bleiben hier!“, hatte meine Mutter unmissverständlich

gesagt und damit jeden Einwand im Keim erstickt.

Wir mussten unsere Habseligkeiten packen, um nach

Deutschland gegen andere Gefangene ausgetauscht zu werden.

Jeder durfte nur 20 kg mitnehmen. Die Flugzeuge waren

zu sperrig und wogen auch etwas. Ich aber gab einen feierlichen

Schwur ab:

„Ich werde euch eines Tages wieder holen und wenn ich ein

Leben dazu brauche.“

Das war natürlich nicht der einzige Grund, weshalb ich Sarona

wiedersehen wollte, doch ein gewichtiger. In Tel-Aviv

fragte ich einen älteren Passanten, ob er sich vielleicht an eine

deutsche Siedlung in unmittelbarer Nähe Tel-Avivs erinnern

könnte oder ob er jemals etwas von Sarona gehört hätte.

„Nein, da müssen Sie sich täuschen. In der Nähe von Tel-

Aviv hat es nie eine deutsche Siedlung gegeben. Ich würde es

wissen, denn ich lebe schon 50 Jahre in diesem Land und schon

sehr lange in dieser Stadt.“

Vielleicht wusste ein alter Taxifahrer mehr. Am Taxistand

konnte sich ein etwa 65-Jähriger tatsächlich an die Siedlung

erinnern.

161


Ja, Sarona hätte es gegeben. Da hätten vor dem Krieg etwa

500 Deutsche gelebt. Er glaube, sie hätten sich Templer genannt.

Sie hätten Landwirtschaft betrieben, hätten über große

Orangenplantagen verfügt und auch Wein angepflanzt. Sie

seien sehr fleißig gewesen und hätten sich schmucke Steinhäuser

gebaut. Sie hätten viel zur wirtschaftlichen Entwicklung

des damaligen Palästinas beigetragen.

„Ich kann Sie dorthin fahren, wenn Sie wollen. Sie werden

staunen, wie sich alles verändert hat.“

Ich schaute mir den Stadtplan von Tel-Aviv an, den ich mir

zuvor besorgt hatte. Hier konnte ich sehen, dass sich im Norden

entlang der Siedlung die breite Boulevardstraße Sederot

Shaul Ha-Melekh hinzog, an der sich auch das Museum und

der IBM Hochhauskomplex befanden, im Osten befand sich

die Durchgangsstraße Derekh Petah Tiqua, im Süden die Straße

Ha-Hashmondin und im Westen Leonardo da Vinci. Mitten

durch Sarona aber. von Westen nach Osten, lag die Kaplanstraße,

die die Fortsetzung der bekanntesten Einkaufsstraße

Tel-Avivs darstellte, mit Namen Digengoff, benannt nach dem

ersten Bürgermeister von Tel-Aviv. Sarona war auf dem Stadtplan

nicht erwähnt, dafür aber stand an der Stelle in fetten

Lettern: Verteidigungsministerium.

Ich war überrascht und gespannt, ob ich überhaupt noch

etwas von Sarona erkennen würde.

Sarona lag auf einem flachen Hügel und hatte eine Ausdehnung

von etwa einem Quadratkilometer. Ich schätze, dass auf

dem Gebiet etwa 150 Häuser standen. Auf dem Scheitelpunkt

des Hügels kreuzten sich rechtwinklig zwei Straßen. Natürlich

waren sie damals nicht geteert und wenn es regnete, klebte

der Lehm an den Schuhen. Eine davon war jetzt die bereits

genannte Kaplanstraße, die breit und geteert vor mir lag. Ich

162


dankte dem Taxifahrer, bezahlte und stieg aus. War das Sarona?

Die linke Seite der Kaplanstraße, also der nördliche Teil von

Sarona, war nicht wiederzuerkennen. Betonbauten und mittlere

Hochhäuser erhoben sich, wo einst die schmucken Siedlungshäuser

standen. Ein neues Hochhaus war gerade im Bau.

Es war schon etwa 70 m hoch und viele Radarschirme waren

bereits angebracht.

Einige der damaligen Häuser glaubte ich jedoch, einordnen

zu können. Der Zugang zu dieser Seite war untersagt. Hier

waren die vielen Behörden des Verteidigungsministeriums

untergebracht, ein hoch sensibles militärisches Sperrgebiet. Ich

glaubte, jetzt vor dem ehemaligen Haus der Wellers zu stehen,

in das wir einquartiert worden waren. War dies das

Schlafzimmerfenster, das jetzt direkt an der Straße lag? War

hier nicht ein schattiger Vorgarten mit hohen Bäumen gewesen?

Er hatte wohl zur Verbreiterung der Straße weichen

müssen.

Als ich mich streckte und in das Zimmer schielen wollte,

stand ein bis an die Zähne bewaffneter Soldat vor mir.

„Was suchen Sie hier. Zeigen Sie mir mal Ihre Papiere!“

Wenn ich ihm erklärt hätte, dass ich an der Hauswand graben

wollte, um Spielzeugflugzeuge herauszuholen, die ich vor

vielen Jahren als Jugendlicher versteckt und mir geschworen

hatte, sie eines Tages wiederzuholen, hätte er mich mitgenommen

und ich hätte endlose Verhöre über mich ergehen lassen

müssen. Wie lange das gedauert hätte! Ich hätte sicher den

Anschluss an die Reisegruppe verloren.

Ich gab mich kooperativ und nach eingehendem Studium

meines Reisepasses ließ er mich weiterziehen. Schließlich konnte

man sich auf der Kaplanstraße frei bewegen, allerdings war

fotografieren überall streng verboten.

163


Meinen jugendlichen Schwur, die zwanzig in mühevoller

Schnitzarbeit hergestellten Modellflugzeuge, mit einem Rumpf

aus poliertem, hartem, herrlich gemasertem Olivenholz mit

eingesetzten Aluminiumflügeln – alle sorgfältig in wasserdichte

Dachpappe verpackt und zu einem Paket verschnürt –

wie einen Schatz zu heben und aus ihrem Versteck zu befreien,

musste ich wohl oder übel brechen.

Ich war auf der kleinen Anhöhe an der Kreuzung angelangt.

Gegenüber auf der rechten Seite konnte ich unverändert den

Saal erkennen, das ehemalige Gottes- und Gemeinschaftshaus

der Templer. Dahinter hob sich der Wasserturm, ein großer

Betonbehälter auf Betonstützen, gegen den blauen Himmel ab.

War er noch in Betrieb? Neben dem Saal war früher die Schule

angesiedelt. Sie war verschwunden und hatte anderen Bauwerken

im Barackenstil Platz gemacht. Von dem Pinienwäldchen,

das unser Schulhof war, war nichts mehr zu sehen.

Insgesamt machte die Siedlung, die auf der rechten Seite deutliche

Merkmale von Sarona aufwies, einen traurigen Eindruck,

da die Stilelemente der grauen, glatten Betonbauten den

württembergisch geprägten Steinhäuschen übergestülpt worden

waren. Es scheint jedoch, dass eine durchgreifende, großzügigere

Planung bald diesem architektonischen Durcheinander

ein Ende setzen und danach nichts mehr an Sarona erinnern

wird. Am Ende der Kaplanstraße im Osten entdeckte

ich zu meiner Freude das von mir so geliebte Eukalyptuswäldchen.

Das war der Anfang von Sarona gewesen. Die Templer

hatten in der Gründerzeit eine Delegation nach Afrika geschickt,

um von dort Bäume nach Palästina zu bringen, die

hier gedeihen könnten. Es war der Orangenbaum dabei und

der Eukalyptusbaum.

Die Sümpfe bei Sarona mussten trockengelegt werden. Der

Eukalyptusbaum spielte dabei die entscheidende Rolle. Er ent-

164


zog dem Boden sehr viel Wasser und wuchs bis zu sieben Meter

im Jahr. Das Trockenlegen der Sümpfe war eine vordringliche

Aufgabe, sonst hätte man die Siedlung in diesem Gebiet

wegen der vielen Todesfälle aufgeben müssen, die die Malaria

seinerzeit forderte.

Die stattlichen Bäume standen vor mir. Sie waren 44 Jahre

älter geworden. Würde ich den Baum noch finden, in dessen

dicke Rinde ich mit meinem Taschenmesser tief die Buchstaben

SK und HB eingeschnitzt hatte? Die Buchstaben standen

für meinen Namen und den von Helga Baldenhofer, einem

gleichaltrigen Mädchen, in das ich mich mit elf unsterblich

verliebt hatte.

Ich fand einen Baum, dessen Rinde Vernarbungen zeigte,

und ich bildete mir einfach ein, dass das die gesuchten Buchstaben

waren. Von diesem Baum nahm ich einige am Boden

herumliegende Samen mit, weil meine Erinnerung wach bleiben

sollte.

Ich hatte etwas gefunden, das den Besuch in Sarona lohnenswert

gemacht hatte, auch wenn ich meinen Schwur gebrochen

hatte.

Wo sollte ich aber die Samen pflanzen? In Deutschland

würde ein Eukalyptusbaum bei dem ersten Frost eingehen.

165


Das ältere Wohnhaus „Jonathan Weller“ in Sarona

Fenster

In diesem Haus wohnten wir während der Gefangenschaft in Sarona.

Unterhalb des Fensters, direkt an der Wand in etwa 50 cm Tiefe, habe

ich die gebastelten Spielflugzeuge, in Dachpappe eingepackt, im

Sommer 1942 vergraben. Sie hatten einen Rumpf aus Olivenholz,

Flügel aus Aluminiumblech und eine Spannweite von vielleicht 10 cm.

Bilder im Jahr 2006 zur Verfügung gestellt von:

Ariel Atzil und Shay Farkash, member of the Society for Preservation

of Historic Sites in Israel.

Das dahinter liegende neue Wohnhaus „Jonathan Weller“

166


Bei Familie Weller

Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.

Meine Mutter, meine Schwester und ich wurden in das Haus

der Familie Jon Weller eingewiesen. Frau Weller hatte für uns

ein großes Zimmer freigemacht mit einem Ausgang in einen

kleinen Vorgarten entlang der staubigen Hauptstraße der

Siedlung.

Die Wellers besaßen einen relativ großen Bauernhof mit Pferde-,

Kuh- und Schweineställen. Etwa fünf Araber waren als

landwirtschaftliche Arbeiter angestellt. Sie bestellten die Felder

und bewässerten die Orangenhaine außerhalb des Gefangenenlagers,

kamen frühmorgens an und verließen den Hof

vor Dunkelheit, um in ihre Dörfer zurückzukehren. Allerdings

wohnte eine Familie mit ihren Kindern auf dem Hof in einer

Baracke. Die Mutter pflegte im Freien zu kochen. Sie entfachte

ein kleines Holzfeuer und stülpte eine große mit etwas Olivenöl

eingeriebene Blechschüssel umgekehrt über die Flammen.

Sie goss einen dünnen, stark gesalzenen Weizenmehlbrei

geschickt darüber. Nach wenigen Minuten war der dünne

Fladen, dünner als ein Pfannkuchen, gebacken und sie zog

ihn von der Schüssel ab. Zum Essen saß die Familie am Boden,

umgeben von diversen Tonschalen, die Oliven, Tomaten,

Zwiebeln und gemahlene Sesampaste, sogenannte Tine, enthielten.

Vom Fladen wurden Stücke abgerissen, zusammengerollt,

in die Paste getunkt und zusammen mit Oliven, Tomaten

und Zwiebeln gegessen. Nur bei besonderen Anlässen

gab es dazu etwas Hammelfleisch mit Couscous oder Reis.

Ganz besonders gut mundete das von ihr hergestellte Kebab,

Spießchen aus gemahlenem Lammfleisch mit untergerührten

geschnittenen Zwiebeln, Salz, Pfeffer und reichlich Petersilie,

die dem Kebab seinen unverwechselbaren Geschmack verlieh.

167


Sie hatte mir eines zum Probieren

gegeben, das über glühender Holzkohle

gegrillt worden war. In meinem

ganzen Leben habe ich nie wieder ein

vergleichbar köstliches Kebab gefunden.

Die Bestellung der Felder ließ zu

wünschen übrig, da es Jon (Jonathan)

Weller, der schon etwas älter war und

nicht in das Männerinternierungslager

Akko gekommen war, aus welchen

Gründen auch immer, natürlich

nicht gestattet wurde, das Lager zu

verlassen, um nach dem Rechten zu Ruth und Patrick McCorry

sehen.

Er hatte das Aussehen eines richtigen Bauern mit wettergegerbtem

Gesicht, worin blaue Augen strahlten. Tante Karoline

hatte ebensolche Augen. Er war schlank im Gegensatz zu

Tante Karoline, die sich in ihrer Fülle kaum bewegen konnte.

Sie hatten eine Tochter Ruth, die etwa 18 Jahre alt war. Sie

trug meistens ein Dirndl mit einem tief sitzenden, freizügigen

Ausschnitt, der ihre melonengroßen Brüste, aufrecht getragen,

zum Blickfang jeden Besuchers machten. So sehr man sich auch

bei einer Unterhaltung mit ihr bemühte, ihr dabei in die Augen

zu sehen, blieben die Blicke schließlich an ihrem übergroßen

Busen hängen. Ihrer pietistischen Mutter war das gar nicht

recht und wenn sie ihrer Tochter empfahl, den Ausschnitt

nicht so tief zu tragen, war er am nächsten Tag noch einige

Millimeter tiefer gerutscht.

Die Schönheit des rothaarigen Mädchens war auch dem

etwa 35-jährigen englischen Lagerkommandanten nicht entgangen,

der der Familie immer wieder einen Besuch abstatte-

168


te. Er hatte sich unsterblich in Ruth verliebt und verbrachte

manche Stunde mit ihr auf der Terrasse des Hauses und ließ

sich Tee servieren. Und wo die Liebe hinfällt, gibt es keine

Schranken. Die beiden heirateten.

Tante Karoline, wie wir Kinder Frau Weller nennen durften,

weil eine weitläufige Verwandtschaft ausgemacht werden

konnte, war eine hervorragende Köchin. Das Essen nahmen

wir im ersten Jahr gemeinsam auf der offenen, aber überdachten

Terrasse ein. Schwäbische Spätzle vom Brettchen ins

kochende Wasser von Hand geschabt und abgeschöpft mit

Butter angelassen konnte sie wie keine andere machen. Dazu

gab es Schweinekrustenbraten mit reichlich Soße, die durch

Zwiebeln und Tomaten eine unvergleichliche Würze erhielt

und in der auf dem Teller die Spätzle schwammen.

Mir gegenüber saß am Tisch Graf Lüttichau. Er war Deutschjude,

war aus Deutschland geflohen und in Palästina als Deutscher

von den Engländern interniert worden. Das Abendessen

wurde eingenommen, wenn die Sonne schon untergegangen

war, was in Palästina im Sommer auch nicht später als

19:00 Uhr geschah. Nach Osten konnte man den oft sehr klaren

Sternenhimmel von der Terrasse aus bewundern. Die Sterne

waren manchmal so nah, dass man meinte, sie fassen zu

können. Ich hing an den Lippen des Grafen, wenn er über die

Sterne erzählte.

„Alle Sterne, die du am Himmel siehst, gehören zum Milchstraßensystem“,

erklärte er mir.

„Der milchige Streifen, der quer über den Himmel läuft, wird

durch Sterne gebildet, die hier besonders nahe beieinanderliegen.

Daher der Name des Systems. Nur einen Stern am Himmel,

den wir mit bloßem Auge sehen können, gehört nicht

dazu. Vielleicht kannst du ihn dort erkennen“, und er zeigte

mit dem Finger in eine Richtung.

169


„Das ist der Andromeda-Nebel und damit auch kein einzelner

Stern, sondern ein Spiralnebel. Man nennt diese Spiralnebel

auch Galaxien, die aus Milliarden von Sternen bestehen.

Der Andromeda-Nebel hat etwa die Größe der Milchstraße,

die natürlich auch ein Spiralnebel ist. Im Milchstraßensystem

hat es etwa 400 Milliarden Sterne. Eine Milliarde ist eine

Zahl mit neun Nullen! All diese Sterne sind Sonnen wie unsere

Sonne, teils viel größer, teils kleiner, und viele könnten wie

unsere Sonne Planeten besitzen. Weißt du, dass unsere Sonne

von Planeten umkreist wird, die selbst nicht leuchten und

trotzdem am Himmel sichtbar sind, weil sie das Licht unserer

Sonne reflektieren? Du hast sicher von den Planeten schon

gehört. Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Neptun

und Pluto. Ja, unsere Erde ist nur einer der kleineren Planeten,

der die Sonne umkreist.

Und stell dir vor, es gibt Milliarden von Galaxien im Weltall,

von denen man viele mit einem guten Teleskop erkennen

Das neue Jon Weller Haus

170


Eigentümer der Häuser in Sarona (unvollständig)

Der nebenstehend abgebildete Plan wurde freundlicherweise von Ariel

Atzil und Shay Farkash (s. auch S. 111) zur Verfügung gestellt.

01 Weiss, Christian

02a Weinkeller

U2b Co-opershop, Weinkeller

03 Weinkeller, Wohnungen

04 Weber, Heiner

05 Knoll, Karl

07 Lämmle, Fritz, Otto und Lina

08 Kübler, Karl 1.

09a Saal

09b Verkaufsladen

09c Kindergarten

10 Jung, Heinrich

11 Weiss, Jakob

12 Groll, Phillip

13 Kübler, Carl

14 Kübler, Fritz

15 Weinmann, George

16 Ehnis, Ludwig (Hoefer)

17 Baldenhofer, Friedrich

18 Weinkeller, Druckerei u. Wohnung

19 Lämmle, Wilhelmine

20a Pflugfelder, Christian

20b Ölmühle (Pflugfelder)

21 Günther, Wille (Café)

22a Weller, Georg

22b Mamlock & Jakob, (Drogerie)

23 Fröschle, Karl

24 Graze, Gottlob

25 Altes Gemeindehaus

26 Häring (Geschwister)

27 Weller, Jakob

28 Groll, Samuel

29 Aberle, Wilhelm

30 Wennagel, Josef

31 Weiss, Johann

32 Jung, Jakob

33 Sickinger, Jakob

34 Weller, Jon

35 Orth, Johannes

36 Jung, Otto

37 Wasserturm

38a Grözinger, Willi

38b Grötzinger, (Metzgerei)

39 Weller, Samuel

40 Steller, Karl

41 Weller, Rudolf

171


Stacheldraht im

Zweiten Weltkrieg

Sarona

172


kann. Aber das ist natürlich nicht alles. Das Weltall dehnt sich

mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aus. Wohin? In die Unendlichkeit?

Gibt es so etwas überhaupt?“

Die für mich unvorstellbare Größe des Weltalls erschreckte

mich, aber machte mich auch gleichzeitig neugierig. Alles, was

die Menschen darüber wissen, wollte ich erfahren, wollte ich

lernen, und dieser Wissensdrang hat bis spät in mein Mannesalter

angehalten.

„Hört das Weltall denn gar nie auf, kann es denn gar nie

aufhören?“, kam es über meine Lippen. Die Vorstellung von

etwas Unendlichem bereitete mir Kopf- und Magenschmerzen.

„Ja“, entgegnete er nachdenklich. „Vielleicht ist es unendlich.

Wir können das mit unserem begrenzten Verstand nicht

nachvollziehen. Und wenn wir länger darüber nachdenken

würden, würden wir meschugge werden. Aber ein jüdischer

Wissenschaftler, namens Einstein, hat eine neue Theorie entwickelt.

Er hat die Zeit als weitere Dimension eingeführt. Die

drei Dimensionen kennst du sicher, Länge, Breite, Höhe. Er

sagt, dass der Raum gekrümmt sei. Das würde bedeuten, dass

man auf einer Reise durch den Raum irgendwann an die ursprüngliche

Stelle zurückkehren würde. Das würde bedeuten,

dass das Weltall nicht unendlich ist.“

Was er erzählte, war so geheimnisvoll und spannend für

mich, dass ich ihn ein Loch in den Bauch fragte. Er erklärte

mir, wie man am Himmel den nicht so stark leuchtenden Polarstern

finden kann, der immer im Norden stünde, ganz

gleich, auf welcher Stelle ich mich der Erde befände.

„Du musst dir das so vorstellen: Der Polarstern liegt auf der

Verlängerungslinie der Erdachse. Von der Südhalbkugel

kannst du ihn natürlich nicht sehen, da dir dann die Erde selbst

im Weg ist. Du musst zuerst lernen, den Großen Wagen am

173


Himmel zu entdecken. Das ist nicht schwierig, denn der Wagen

besteht aus vier hellen Sternen und die Deichsel davor

aus drei. Der mittlere Stern mit dem Namen Mizar hat einen

kleinen Reiter Alkor dabei, den du mit deinen scharfen Augen

sehen müsstest. Die beiden Sterne haben aber tatsächlich nichts

miteinander zu tun, sondern stehen nur zufällig in derselben

Richtung. Ich kann den Reiter nicht mehr mit dem bloßen Auge

sehen, dazu brauche ich eine Brille. Verlängere die Hinterachse

des Wagens fünfmal im Geiste und du landest direkt auf dem

Polarstern, der übrigens das Ende der Deichsel des Kleinen

Wagens darstellt.“

Manchmal konnte ich es nicht erwarten, bis er den letzten

Bissen geschluckt hatte, denn meine Mutter hatte mir eingebläut:

„Lass ihn zuerst essen, bevor du ihn mit deinen Fragen

bombardierst.“

Graf Lüttichau war ein großer hagerer Mann, der hin und

wieder eine Brille trug. Er war bestimmt schon 60 Jahre alt, er

war braun gebrannt und glatt rasiert, immer höflich und den

Damen gegenüber zuvorkommend, wie man es von einem

Grafen erwartete, und seine Geschichten, die er erzählte, handelten

nicht nur von den Sternen, sondern auch von vielen

anderen Wissensgebieten.

Sein Zimmer lag zur Hauptstraße hin, und er pflegte nach

dem Mittagessen einen Mittagsschlaf zu halten. Da durfte man

keinen Lärm machen. Wir unterhielten uns um die Mittagszeit

nur leise, denn einmal hatte er losgewettert in seinem dann

durchkommenden Jiddisch und gebrüllt: „Wer hat gemacht

Radau?“

Einmal jedoch schrie er so laut, dass wir in sein Zimmer

stürzten und fragten, was denn passiert sei. Entsetzt starrte

er uns mit offenen Augen an und brüllte: „Herr, nundiekass!

174


Eine Schlange, eine Schlange ist zwischen meinen Beinen!“

Der erste Ausdruck war ein jiddischer Fluch.

Und tatsächlich! Sie war wahrscheinlich durch die offene

Tür ins Bett gekrochen. Sie hatte ihn nicht gebissen, sondern

schnell das Weite gesucht. Ich konnte mir nichts Entsetzlicheres

vorstellen, als im Bett zu spüren, wie eine Schlange die

Beine entlang zu den Lenden kriecht.

Neben mir saß Madame Silberstein. Sie war auch Deutschjüdin

und in dem Lager völlig fehl am Platz. Sie war aus Beirut

gekommen und hatte ebenfalls viel zu erzählen.

„Gehabt hab ich Massel, dass die Franzosen nicht mich ins

Gefängnis in Beirut einlocht haben. Ich hab Zores gehabt großen

wegzukommen. Hatte zuvor ich in meinem Geschäft einen

guten Reibach gemacht! Hatte in der oberen Etage wunderschöne

Zimmer, die mit rotem Plüsch ausgeschlagen waren

und eingerichtet. Schicksen hatte ich von der ganzen Welt,

rissen sich bei mir um Anstellung. Unsere Kunden waren nur

Prominente, auch von Palästina, Diplomaten und Geschäftsleute.

Gingen ein und aus. Ich könnte einige Namen nennen

von der ganzen Mischpoke, die Ihnen alle geläufig wären, sogar

die Namen von einigen Templern. Die waren alle gut betucht.

Manche hatten aber eine Macke ab, andere miese Typen waren,

aber alle waren sie jeck. Wenn sie nach ihrem gemachten

Geschäft wieder gingen, waren sie meistens ganz schön schicker.

Das war dann ein gut gemachter Reibach für mich. Ich

als seriöse Geschäftsfrau nenne selbstverständlich keine Namen,

das gehört sich nicht.“

Graf Lüttichau, dem ihre freimütige Erzählung peinlich war,

warf ein:

„Jetzt ist aber genug mit diesem Stuss“, worauf sie still wurde

und nur noch ihre dick rot lackierten, langen Fingernägel

betrachtete, dann die über ihre übergroßen Brüste spannen-

175


de, gelbe Bluse zurechtrückte und an ihren aufgeklebten Augenwimpern

zupfte.

Anmerkung zu den jiddischen Ausdrücken:

meschugge – hebr. meschugä

= verrückt

Herr, nundiekass! – hebr. käass

= Zorn

Massel – hebr. Masäl = Gestirn, das Glück bringt

Zores – hebr. zarä

= Sorgen

Reibach – hebr. rewach

= Zins, Gewinn

Schikse – hebr. Schekez = Mädchen, Reptil

Mischpoke

= Gesindel, Verwandtschaft

betucht – hebr. batüuach

= zuverlässig

Macke – hebr. ma-kä

= Hieb, Schlag

mies – hebr. miüss

= ekelhaft

jeck- hebr. agur ben Jake = zu dumm für Menschen

schiker – hebr. schikör

= betrunken

Stuss – hebr. schtüh = Unsinn, albernes Gerede

Tante Karoline fügte in astreinem Schwäbisch hinzu:

„Frau Silberstein, sie könnet morgen in der Küche hälfe, dann

habetse was Vernünftiges zu tua und kommet auf keine dumme

Gedanka.“ Sie hatte schon bemerkt, wie ihr Mann Madame

Silberstein verstohlen mit seinen Augen abtastete.

Ich hatte damals als Junge noch nicht verstanden, was die

Mädchen bei ihr in den plüschbeschlagenen Zimmern zu tun

hatten, und auf meine Frage an meine Mutter schüttelte sie

nur mit dem Kopf, ohne eine Erklärung abzugeben.

Doch Ruth hatte dem Gespräch aufmerksam zugehört. Sie

wusste offensichtlich, welche Arbeit die Mädchen verrichtet

hatten.

Schräg gegenüber saß mein Onkel Jonathan.

Er schimpfte oft über die unzureichende Bestellung seiner

176


Felder. „Heute hat mir Achmed berichtet, dass die Traubenernte

ausfallen wird. Alle Trauben sind von den Reben gestohlen

worden. Diese Drecksäcke!“

Indem er das sagte, spuckte er auf den Boden, eine hässliche

Angewohnheit, die selbst Araber verabscheuten. Ich konnte

mich an die Schilder in jedem Bus von Jerusalem erinnern,

auf denen in großen Buchstaben stand: No Spitting! Das waren

die ersten englischen Worte, die ich zu lesen vermochte.

Und er wischte sich anschließend mit seinem rauen Handrücken

über die Lippen, als ob er etwas wegschieben wollte.

Er hatte eine kleine, stecknadelgroße Wunde an der Oberlippe.

Wenn sich eine Blutkruste gebildet hatte, ließ er sie nicht

heilen, sondern kratzte sie immer wieder mit den Fingernägeln

ab. Die Wunde wurde von Woche zu Woche größer und

schließlich suchte er den im Lager praktizierenden Arzt Dr.

Hoffmann auf. Überzeugter Templer und in direkter Linie vom

Gründer Christoph Hoffmann abstammend, war er ein erfahrener

Arzt. Er erklärte Jonathan, dass die Wunde gar nicht

gut aussehe und er sie keinesfalls mehr berühren dürfte. Der

Handrücken wäre schon schlimm genug und das Abkratzen

der Kruste das Verkehrteste, was er machen konnte. So könne

sie nie heilen.

Die Wunde war bald pfenniggroß, dann so groß wie eine

Dollarmünze und sie war auch schon tief geworden, bis sie

dann die Lippe durchgefressen hatte und man den Kiefer sehen

konnte.

Das Unheil nahm seinen Lauf. Der arme Mann wurde in

eine Klinik nach Tel-Aviv geschickt, um dort den Fortgang

durch Auflegen von Radium zu stoppen. Das Radium erzeugte

die erforderliche Strahlung, mit der man glaubte, den Krebs

stoppen zu können. Jonathan kam mit fürchterlichen Verbrennungen

zurück.

177


Ich hatte noch nicht erzählt, dass wir in dem alten Haus der

Wellers zusammen mit Graf Lüttichau und Madame Silberstein,

die je ein eigenes Zimmer uns gegenüber besaßen, lebten

und die Familie Weller in dem vierstöckigen Neubau nebenan.

In jener Nacht hörten wir zum ersten Mal Jonathan vor

Schmerzen schreien. Es war herzzerbrechend und durchdringend.

Die Schmerztabletten zeigten keine Wirkung mehr. Die

Bestrahlungen wurden fortgesetzt, doch die Wunde war jetzt

schon so groß wie eine Orange, die Haut über dem Oberkiefer

weggefressen und im Hals klaffte ein Loch, in dem ein Tennisball

Platz gefunden hätte. Der starke wortkarge Mann

wurde buchstäblich vom Krebs zerfressen, die Wunde faulte,

verbreitete einen schrecklichen Geruch nach verwesendem

Fleisch und jede Nacht hörten wir sein Schreien. Dem Ende

zu erhielt er schließlich gegen die Schmerzen Morphiumspritzen,

die ihm viel früher hätten verabreicht werden müssen.

Sein Tod war eine Erlösung für ihn, auch für seine Frau und

Ruth, die das Mitleiden kaum mehr verkraften konnten.

Nach seinem Tod ließ Tante Karoline wissen, dass sie nicht

mehr in der Lage sei, für alle zu kochen. Meine Mutter bekam

einen Petroleumherd, die bekannte Marke Primus, und das

Zimmer von Graf Lüttichau wurde zur Küche umfunktioniert.

Die Engländer hatten eingesehen, dass es Unsinn und völkerrechtlich

fragwürdig war, Deutsch-Juden, die unter dem

Dritten Reich gelitten hatten oder sich gar nicht als Deutsche

fühlten, in der Internierung zu halten. Fragebogen wurden

verteilt, in denen die Betroffenen eidesstattlich versichern

mussten, dass sie Juden seien und die deutsche Staatsangehörigkeit

aufgeben wollten.

So kamen aus dem Lager etwa 50 Personen nach etwa einem

halben Jahr frei, darunter natürlich auch Graf Lüttichau

und Madame Silberstein. Ich weinte, als sich der Graf verab-

178


schiedete. Die Unterhaltungen, die mich bis in mein späteres

Leben hinein nachhaltig prägten, waren zu Ende und ich vermisste

seine Geschichten.

Bestimmt waren sie in Tel-Aviv untergekommen. Was wohl

aus ihnen geworden ist?

179


Jugendstreiche

Das Kamel bleibt ein Kamel und wenn man es mit Edelsteinen

beladen würde.

Ich kam in die Schule, die nicht weit vom Wasserturm entfernt

war. Neben mir auf der Schulbank saß Peter Lange, ein

großer, intelligenter Junge, der in seinem späteren Leben Tempelvorsteher

in Stuttgart werden sollte. Hinter mir saß Heinz

Hesselschwerdt, der es auf mich abgesehen hatte. Wir prügelten

uns regelmäßig auf dem Schulhof. Wenn er mich schon

von Weitem sah, fiel er über mich her und ich zog den Kürzeren,

bis sich das Blatt wendete und er anstatt ich im Schwitzkasten

am Boden lag. Ich drückte und drückte seinen Hals zu,

bis er nach Luft rang, ließ meiner aufgestauten Wut freien

Lauf, bis ein alter Mann hinzukam und mich anschrie und

aufforderte, ihn sofort loszulassen. Von diesem Tag an ließ

Heinz Hesselschwerdt mich in Ruhe.

In diesem Alter muss man sich immer wieder vor anderen

Jungs beweisen. Ein besonders zäher und sportlicher Junge,

Walter Fröschle, konnte 50 Klimmzüge hintereinander absolvieren

und war dann immer noch nicht müde.

Am Rand des Schulhofs standen sieben Pinien dicht nebeneinander.

Als ich morgens auf dem Schulhof erschien, wurde

ich mit einem lauten Hallo empfangen. Walter hätte es geschafft,

vom ersten Baum über die Zweige bis zum Letzten zu

klettern, und triumphierend blökte Heinz, dass er es auch geschafft

hätte. Es war klar. Meine Position konnte ich nur verteidigen,

wenn ich dieser Mutprobe folgte. Ich stieg auf den

ersten Baum. Ich hielt mich wie ein Affe an den Zweigen fest.

Der Übergang zum zweiten Baum gelang mir und auch zum

dritten. Die Lehrerin kam von der Straße und die Jungs riefen

180


mir zu: „Sie kommt, sie kommt“ und rannten weg zum Schulzimmer.

Die Irritation, eine kleine Unachtsamkeit und ich fiel von

sechs Meter Höhe in die Tiefe. Ich konnte mich in der Luft

nicht mehr drehen, ich war von dem unerwarteten Fall viel

zu überrascht, als dass ich dazu die Geistesgegenwart gehabt

hätte, und landete auf dem harten, trockenen Boden voll auf

dem Rücken.

Die Lehrerin kam angelaufen und rief: „Hast du dich verletzt?“

und beugte sich über mich. Ich japste: „Ich bekomme

keine Luft“, und sie klopfte mir leicht auf den Rücken. Nach

einigen Minuten konnte ich ungeschickt aufstehen.

„Am besten du gehst jetzt gleich zu deiner Mutter“, sagte

sie. Ich schleppte mich nach Hause. Sie fragte noch, ob jemand

mich begleiten solle, doch ich schüttelte vehement den Kopf.

Meine Mutter sah mich überrascht an: „Was ist denn los

mit dir?“, fragte sie aufgeregt. „Ich will nur schlafen“, brachte

ich mühsam hervor und legte mich auf die blanke Matratze,

die meine Mutter gerade beziehen wollte.

„Was ist mit deinem rechten Arm geschehen?“ und deutete

auf meinen Arm. Die Hand stand im rechten Winkel ab. „Oh

Gott!“, jammerte sie, „der Arm ist gebrochen. Wir müssen

sofort zu Dr. Hoffmann in die Krankenstation. Ich wimmerte:

„Nicht jetzt, bitte nicht jetzt, ich bin soo müde.“

Sie zerrte mich zu Dr. Hoffmann. Er schaute mich mit seinen

schwarzen, bauschigen Augenbrauen finster an und

schimpfte:

„Das geschieht dir recht. Man steigt nicht von einem Baum

zum anderen. Jetzt wird es wehtun. Das hast du so verdient!“

Er nahm meine Hand und meinen Arm, riss sie mit einem

Ruck auseinander und renkte beide Teile wieder in eine gerade

Position ein. Ich schrie auf vor Schmerzen. „Es ist ein glat-

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ter Bruch direkt über deinem Handgelenk“, fuhr er fort. „Wir

können nur hoffen, dass das Gelenk nicht steif wird. Ich habe

auch nur noch einen Gipsverband im Schrank. Glaube ja nicht,

dass du den in den nächsten vier Wochen wegmachen kannst.

Einen Neuen bekommst du nicht.“

Die nächsten vier Wochen war ich von der Schule befreit,

da ich mit dem gebrochenen Arm nicht schreiben konnte. Im

Vorgarten hatte mir meine Mutter eine Liege aufgestellt, ich

schaute Bücher an, spielte mit den jungen Katzen und hörte

dem Gezwitscher der Vögel zu, die sich in dem dichten Baum

über mir tummelten. Der Käfig meines Distelfinken, einem

Prachtexemplar und dazu noch ein Männchen, der jeden

Morgen lustig die schönsten Melodien pfiff und so die anderen

Vögel anlockte, hing mitten im Baum.

Den Käfig hatte ich selbst gebaut. Ein Araber hatte mir ein

Muster geliehen und mir einige Tipps verraten. Ich hatte getrocknete

Bambusstangen aus der Gärtnerei Orth von nebenan

gestibitzt und aus einem langen Stück zwischen den Knoten

Stäbchen gespalten. Sie bildeten das Gitter des Käfigs mit einem

Abstand von etwa 10 mm voneinander. Die Rahmen

wurden aus weichen Rechteckhölzern gespalten, Löcher eingebohrt

und die Stäbchen eingesetzt.

Der Käfig hatte auf einer Seite eine Klappe, die man mit einem

Gummi spannen und offenhalten konnte. Ein kleines

Holzstäbchen lief quer über die Öffnung. Dadurch war der

Käfig zu einer Vogelfalle geworden. Legte man Sonnenblumenkerne

hinein, am besten gleich eine ganze Sonnenblume,

dauerte es nicht lange, bis ein Distelfink aufgeregt um den

Käfig herumflog, von Ast zu Ast hüpfend, bis er sich ein Herz

fasste und auf das Holzstäbchen sprang, das nach unten

rutschte, den Gummizug freigab und die Klappe zum Zu-

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schnappen brachte. Der Vogel war flatternd im Käfig gefangen.

Ein lustig singender Distelfink ist gar nicht so einfach zu

finden. Man muss ihn von vielen auswählen. Um mehrere

Vögel auf einmal zu fangen, hatten wir Buben eine Schabeke

gebaut, die die Araber zum Fangen von Vögeln verwenden.

Dem pfeifenden und trillernden Distelfink meines Freundes

banden wir vorsichtig ein Schnürchen an eines seiner Beinchen

und das andere Ende an einen dünnen Holzstab, der

seinerseits am Ende mit einem Lederstreifen auf einem Brett

festgenagelt war. Diese Konstruktion legten wir auf einen freien

Platz in einem Orangenhain. Hinter der Hecke saßen wir.

Mit einer Schnur konnten wir das Stäbchen bewegen. Der

Vogel flog hoch und nieder und beschwerte sich dabei mit

heftigem Gezwitscher.

Wir hatten rings um den Vogel Sonnenblumen mit reifen

Kernen gelegt. Ganz neugierig saßen schon um die zwanzig

Distelfinken auf den Orangenbäumen rings herum und beäugten

die Sonnenblumen argwöhnisch. Jetzt flog unser Vogel

wieder hoch und pfiff in den hellsten Tönen, als ob er sagen

wollte:

„Kommt herunter und fresst euch satt!“

Die vorsichtigen Distelfinken dachten: „Hat er wirklich etwas

zum Fressen gefunden?“

Alle Achtsamkeit vergessend, flog ein Weibchen daher, ließ

sich nieder und begann, die Kerne herauszupicken. Ein anderer

Distelfink folgte und auf einmal waren fast alle da.

Jetzt kam es darauf an: Links und rechts hatten wir Netzflügel

am Boden montiert. Ich zog schnell am dicken Seil. Die

Netze fielen über die fressenden Vögel, die sich darin verfingen.

Wir hatten auf einen Schlag 15 gefangen!

Alle kamen in einen großen Käfig, den wir mit einem Tuch

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abdeckten. Denn die Vögelchen waren so aufgeregt, dass sie

im Käfig wie wild umherflogen und sich dabei verletzen konnten.

Am nächsten Morgen, als wir das Tuch entfernten, waren

alle ruhig. Aber zwei fingen an zu pfeifen. Wie im Duett. Ein

größeres, wunderschönes buntes Männchen und, welch Wunder,

auch ein nicht minder schönes Weibchen. Nicht jeder Distelfink

pfeift. Von 15 Finken pfeifen und singen in der Regel

nur zwei und Weibchen sind selten darunter. Nur die beiden

Sänger behielten wir, die anderen ließen wir wieder fliegen.

Ich bekam das Männchen. Jeden Morgen bei aufgehender Sonne

weckte es mich jetzt mit seinem Gezwitscher.

Manchmal war ich darüber traurig. Ein Vogel, der frei in

den Lüften fliegen konnte, war bei mir gefangen. Sollte ich

ihn nicht freilassen, dass er sich mit einem Weibchen ein Nest

bauen konnte? Ich nahm mir fest vor, ihm die Freiheit dann

zu schenken, wenn der Gipsverband weg war und ich nicht

mehr die langweiligen Vormittage im Garten verbringen

musste.

An einem der nächsten Morgen, die ersten Sonnenstrahlen

fielen schon auf mein Bett, vermisste ich die Stimme des Vogels.

Ich stürzte im Pyjama in den Garten und entdeckte den

Käfig auf der Erde. Er war zwar ganz, doch der Vogel war

verschwunden und dann bemerkte ich die vielen kleinen, bunten

Federn, die rings um den Käfig herum verstreut lagen.

Dafür gab es nur eine Erklärung. Der schwarze Kater war

auf den Baum gestiegen und auf den Käfig gesprungen, der

mit dem Aufprall und Gewicht des Tieres zu Boden fiel. Dann

gelang es der Katze, mit ihren Krallen, sogar durch die engen

Stäbe, den panikartig flatternden Vogel zu fassen, herauszuziehen

und der Tod des wunderbaren Sängers war besiegelt.

Der verdammte Kater hatte meinen Liebling aufgefressen.

184


Mein Entsetzen und meine Traurigkeit hielten sich die Waage

und verwandelten sich schließlich in eine unbeschreibliche

Wut. Ich würde die Katze ersäufen, wenn ich sie erwischte.

Meine Mutter beruhigte mich: „Das ist die natürliche Veranlagung

einer Katze. Sie fängt Mäuse und Vögel, um sie zu

fressen. Sie ist unschuldig. Wenn jemand Schuld trifft, bist du

es! Du hättest den Käfig am Baum mit einem dickeren Draht

befestigen müssen. Dann wäre er nicht zu Boden gegangen

und die Katze hätte keine Chance gehabt. Du hättest den Vogel

gar nicht fangen sollen, dann würde er jetzt noch leben.“

Zwei Wochen nach dem Armbruch waren unter den Gipsverband

Hühnerflöhe eingedrungen und hatten sich in der

Gaze eingenistet. Die Flöhe hatten den ganzen Arm verstochen,

ich hielt es vor Jucken kaum mehr aus.

„Du hast Dr. Hoffmann gehört“, sagte meine Mutter. „Es

gibt keinen neuen Verband.“

Ich stocherte mit langen Stricknadeln zwischen Gips und

Arm herum, um mir etwas Linderung zu schaffen. Schließlich

schwoll der Arm so stark an, dass meine Hand sich leicht blau

verfärbte. Nicht ganz drei Wochen waren verstrichen, als ich

es nicht mehr aushielt und, ohne meiner Mutter etwas zu sagen,

den Verband mit einer Säge, die linke Hand benutzend,

aufschnitt und abnahm.

Der Arm erholte sich in wenigen Tagen. Einen neuen Gipsverband

erhielt ich nicht. Aber zur Schule ging ich wieder.

Dort war es viel interessanter als in meinem Vorgarten, nachdem

mein geliebter Distelfink gestorben war.

185


Gefährliche Jugendstreiche

Herzen sind die Verwahrer von Geheimnissen, Lippen die Schlösser

und Zungen ihre Schlüssel.

Walter Fröschle wartete mit einer neuen Idee auf. Nichts

war ihm zu gefährlich, nichts zu riskant.

Der im Dorf stehende Wasserturm hatte es ihm neuerdings

angetan. Er hatte ihn bestiegen und forderte uns auf, dasselbe

zu tun. Der etwa 10 m im Durchmesser messende, aus Beton

gegossene, zylindrische Behälter war auf vier Betonstelzen

gesetzt. Eine Treppe führte zu der Plattform unter dem Behälter

hoch. Hier begann über dem Geländer eine schmale

Eisenleiter zur Spitze. Um ein ungewolltes Besteigen des

Turms zu verhindern, waren die ersten zwei Sprossen der

Leiter abgesägt worden. Man musste also zuerst auf das Geländer

steigen und von dort in die Höhe springen, um die erste

Sprosse mit den Händen fassen zu können. Beim Absteigen

ließ man sich zuerst hängen, schwang dann an der schon locker

gewordenen Leiter hin und her und sprang schließlich

im richtigen Moment über das Geländer, um auf dem Boden

der Plattform mit einer Rolle sicher zu landen. Ich starb fast

vor Angst, als ich auf dem Geländer stand und unter mir ein

etwa 15 m tiefer Abgrund gähnte.

Oben waren vier Jungs angelangt. Das Dach war leicht abgeschrägt,

und in der Mitte war ein etwa 5 m weites offenes

Loch. Wenn man hineinfallen würde, wäre kein Entkommen

möglich, denn es führte keine Leiter heraus. Wie ein armes

Schwein würde man darin ersaufen. Walter Fröschle forderte

mich hier oben zu einem Ringkampf auf. Das war eines meiner

schrecklichsten Erlebnisse, das ich in meinem bisherigen

Leben hatte. Ein falscher Tritt, dann würde ich jämmerlich

ins Loch fallen und ertrinken. Eine falsche Bewegung und ich

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würde 30 Meter tief in die gähnende Tiefe fallen. Er war schon

über mir und nach einem kurzen Gerangel ließ er plötzlich

ab. Wahrscheinlich war ihm die Gefährlichkeit des Spiels, auch

für ihn selbst, bewusst geworden. Nachdem ich unten wieder

unversehrt angekommen war, schwor ich mir, diese Art von

Mutproben einfach nicht mehr mitzumachen. Ein klares Nein

ist mutiger, als vor Angst zu sterben!

Walter hatte mit seinem nicht weniger forschen Bruder Otto

in ihrem Garten hinter dem Haus lange Gräben ausgehoben

und mit Wellblech und Erde abgedeckt. Die Gänge führten

sternförmig nach allen Seiten

mit etlichen geheimen Ausgängen.

Ein echtes Labyrinth.

Es war klar, dass man alles

tun musste, was die Brüder

verlangten, wenn man bei diesen

Kriegs- und Abenteuerspielen

mitmachen wollte. Bei

den Grabarbeiten waren sie

auf ungebrauchte, aber stark

korrodierte Gewehrhülsen

aus dem Ersten Weltkrieg gestoßen,

die sie stolz vorzeigten.

Die Gewehrspitzen waren

besonders begehrt. Um sie

von den Hülsen zu trennen,

steckten sie das Teil in einen

Schraubstock und wuchteten

die Spitze mit einer Zange

nach der Seite heraus. Die gelben

Pulverstäbchen kamen

Der Wasserturm

zum Vorschein, die angezün-

187


det wurden und schnell verpufften. Ich war darüber überrascht,

denn ich hatte geglaubt, dass Pulver explodieren würde.

Das ist aber nur der Fall, wenn es in einer festen Hülle

steckt, wie z. B. in einer Gewehrhülse.

Da müsste es auch anderswo in Sarona Gewehrhülsen geben,

folgerte ich. Onkel Carl hatte erzählt, dass die deutschtürkischen

Truppen Sarona im Ersten Weltkrieg gegen die

Engländer verteidigt hätten. Die Stellungen seien östlich des

Wasserturms gewesen. Ich ließ es auf einen Versuch ankommen

und suchte die Felder ab, die auf dem Plan von Sarona

eingezeichnet waren. Gisela half mir dabei. Mit ihren scharfen

Augen hatte sie bald eine Kugelspitze auf dem Acker entdeckt.

Sie war vorne nicht spitz, sondern rund. Welch ein Fund!

Wir beide wurden vom Schatzfieber erfasst, ließen nicht locker,

wieder und wieder liefen wir suchend mit Argusaugen

über das Feld und hatten zum Schluss nicht ganz ein Dutzend,

wobei auch einige mit einer normalen Spitze dabei waren.

Die runden stammten von sogenannten Dum-Dum-Geschossen.

Sie sollen aus italienischen Gewehren abgeschossen worden

sein. Ein Dum-Dum-Geschoss verursacht beim Getroffenen

beim Austritt der Kugel aus dem Körper eine riesige Wunde.

Einen glatten Durchschuss gibt es offenbar nicht. Auf Menschen

schießen ist schon schlimm genug, dachte ich damals,

aber solche Geschosse anzuwenden ist ein richtiges Verbrechen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Dum-Dum-Munition

mit der Genfer Konvention vom Jahr 1929, wie auch

die Anwendung von Giftgas, international geächtet. Damit

wird der Grundsatz unterstrichen, dass die meuchlerische Tötung

oder Verwundung des Feindes untersagt bleiben sollte.

Ich war jetzt der Größte, denn Gisela überließ mir alle Kugeln,

die sie gefunden hatte.

In diesem Alter konnte man ein Geheimnis nicht lange für

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sich allein behalten. Plötzlich waren alle Jungs unterwegs,

suchten das freie Gelände überall in Sarona ab und wurden

fündig. Hunderte von intakten Gewehrhülsen mit Spitzen

wurden in einer Grube nicht weit hinter dem Wasserturm (auf

dem Gelände des Otto Jung?) gefunden. Der Handel mit den

Spitzen blühte.

Natürlich musste die Oxidation von den aus Messing oder

gar reinem Kupfer hergestellten Kugeln mit Sand- oder Glaspapier

entfernt werden. Das Polieren war eine zeitaufwendige

Arbeit, denn die Oxidation hatte sich teilweise tief in das

Metall hineingefressen, und bald war das knappe Sandpapier

aufgebraucht.

Ich beschloss, selbst Sandpapier herzustellen. Ich zertrümmerte

dazu eine Flasche und schlug mit einem Hammer so

lange auf die Scherben, wobei ich einen großen Stein als Unterlage

benutzte, bis sich feiner Glasstaub bildete. Jetzt fehlte

ein geeigneter Klebstoff.

Ich hatte einen kleinen Baum entdeckt, eine Akazienart mit

gelben Blüten und feinblättrigen grünen Blättern, der an einer

der vielen staubigen Wege in der Nachbarschaft stand und

an dessen Stamm relativ große Mengen Harz austraten, die

den Geruch des Klebstoffs hatten, mit dem die Rückseite von

Briefmarken beschichtet ist. Das würde vielleicht den richtigen

Klebstoff geben. Ich legte das abgekratzte Harz über Nacht

in Wasser. Am nächsten Morgen war nach Umrühren ein zäher

Klebstoff entstanden, der allerdings schrecklich stank. Einer

der älteren Mitschüler meinte, dass es sich bei dem Klebstoff

um Gummi arabicum handeln würde, den die Araber seit

alters her verwenden würden. Die fertigen Glaspapierbogen,

die in der heißen Sonne schnell getrocknet waren, bot ich meinen

Freunden im Tausch gegen Kugelspitzen an.

Doch dann verriet mir ein Mitschüler, wie er seine Spitzen

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bearbeitete. Am Rand der Tennisplätze hatte er zwei fassgroße

Glasgefäße ausfindig gemacht, die verdünnte Salzsäure

enthielten. Legte man die Spitzen über Nacht in ein mit dieser

Säure gefülltes Glas, waren sie am Morgen blitzblank. Ich

rannte mit einer Flasche hin und füllte sie ab. Beim Kippen

des Containers spritzte die Salzsäure über meine Hose und

lief über meine Hände, die ich mit Wasser abspülte, um das

beginnende unangenehme Jucken zu stoppen. In wenigen

Stunden hatten sich in der Hose große Löcher gebildet und

meine Hände waren gelb geworden. Beides blieb meiner Mutter

leider nicht verborgen, und ich musste die ganze Geschichte

von Anfang an erzählen, mit der Munition, mit den Kugelspitzen

und mit der Salzsäure. Das schöne Hobby fand ein

jähes Ende. Meine Mutter meldete das Vorkommnis der Kommandantur,

da sie Angst hatte, dass mir beim Hantieren mit

der gefährlichen Munition und der Salzsäure etwas passieren

könnte. Die Hauptfundstelle wurde ausgehoben und die Container

abtransportiert. Meinen Freunden erzählte ich

wohlweislich nicht, dass meine Mutter – durch meine leichtfertige

Beichte – hinter dem Verrat steckte.

Auf dem Bauernhof der Wellers gab es immer viel zu beobachten

und zu tun. Der hinter den Stallungen aufgetürmte

Strohhaufen, ein richtiger Strohberg, vielleicht zehn Meter

hoch, war ein richtiges Spielparadies. Wir hatten Gänge durch

das Stroh mit verschiedenen Ausgängen gebohrt, sodass intime

Verstecke entstanden. Von dem Scheitel des Haufens konnten

wir auf dem Hosenboden nach unten schlittern, was viel

Freude bereitete, bis eines Tages eine Heugabel dazwischenlag

und eine ihrer Spitzen tief in meinen Fuß zwischen zwei

Zehen eindrang. Wieder war der Gang zu Dr. Hoffmann fällig,

der mir, wie üblich, eine Moralpredigt hielt.

Ein anderes Mal konnte ich meiner Mutter beim Kochen von

190


Orangenmarmelade helfen. Ich glaube, dass sie mit ihrer Marmelade

das ganze Lager versorgte, denn die Zinkbadewanne,

die wir zum Waschen und Baden benutzten, war voll. Sie sagte,

dass das Geheimnis einer guten Orangenmarmelade darin

läge, dass ein Drittel Grapefruit zu den Orangen hinzugegeben

werden müsste. Das würde den etwas bitteren Geschmack

verstärken und den säuerlichen Geschmack verfeinern.

Dann half ich Ali, einem jungen Araber, beim Häckseln von

grünen Maisstängeln, die an die Kühe verfüttert werden sollten.

Ein anderer Araber, Achmed, hatte einen Ausdruck mir

gegenüber verwendet, den ich mir gemerkt hatte. Inaldinak war

das Wort, dessen Bedeutung mir unbekannt war und das ich

nie vergessen sollte. Ich sagte leichthin zu Ali Inaldinak. Er

schaute mich entsetzt mit großen Augen an. Sein Gesicht verfinsterte

sich, und er packte mich mit beiden Händen an den

Schultern, schüttelte mich und schrie: „Was hast du gesagt?“

Die Häckselmaschine hatte einen Durchlass, durch den man

auch einen Jungen, wie mich, zu dem herabschlagenden Messer

hindurchschieben konnte. Sie funktionierte wir eine Guillotine.

Er zerrte mich auf das laufende Band der Maschine.

„Woher hast du dieses Wort. Meine Religion soll verflucht

sein?“, schrie er weiter, ohne sich beruhigen zu können. In

meiner panischen Angst rief ich: „Achmed hat es mir gestern

beigebracht.“ „Ist das wirklich wahr?“, wetterte er. „Achmed

hast du das zu dem Jungen gesagt?“ Achmed war plötzlich,

durch das Geschrei angelockt, erschienen und sah, wie er mich

auf dem Band festhielt. Er nickte verlegen und die beiden gerieten

in einen heftigen Streit. Die Worte flogen nur so hin und

her. Doch Ali ließ mich los. Ich nutzte sofort die Gelegenheit,

sprang von dem Band und rannte weg, so schnell ich konnte.

Ich fragte danach Tante Karoline nach der Bedeutung: Sie

sagte: „Das ist das Schlimmste, was man einem Araber sagen

191


kann. Verflucht sei deine Religion. Verwende dieses Wort nie

mehr in deinem Leben. Am besten du streichst es ganz aus

deinem Gedächtnis.“

Der gehäckselte Mais wurde den Kühen zum Fressen gegeben.

Sie dankten das mit viel Milch. Ich glaube, dass Mais das

nahrhafteste Futter für diese Tiere ist, wie die Kleie für die

Schweine, die sich auf dem Misthaufen der Kühe wohlfühlten

und sich sogar in deren Jauche suhlten, wenn es sehr heiß

war. Manchmal wurde es nämlich in der Sarona-Ebene sehr,

sehr heiß. Ich kann mich erinnern, dass ein Thermometer im

Schatten einmal +45 °C anzeigte. An diesem Tag war der Himmel

mit feinem Staub verdeckt, der von der Sahara herangezogen

sein soll. Ein Sandsturm, ein Schirokko, in der Höhe.

Der Sand war beim Aufsteigen in der Wüste so aufgeheizt

worden, dass er jetzt seine Wärme nach unten abgab. Unter

dieser Sandglocke war ein Atmen kaum mehr möglich. Niemand

wagte sich um die Mittagszeit auf die Straße. Alle suchten

etwas Linderung in den kühleren Wohnungen.

192


Die Ungarnbuben

Wenn der Gast ankommt, ist er ein Fürst, wenn er sich setzt, ein

Gefangener, wenn er geht, ein Dichter.

Angrenzend an den Bauernhof der Wellers befand sich die

Gärtnerei Orth. Der etwas skurrile Gärtnermeister Johannes

Orth war in Akko interniert, und zwei Araber sollten die Gärtnerei

in Schuss halten. Sie waren unbeaufsichtigt und sahen

deshalb nicht ein, mehr zu tun als absolut nötig. So verkam

der Garten zusehends.

Als Gärtnerei hatte sich Orth einen Namen gemacht. Templer

und Juden aus Tel-Aviv waren gute Kunden für seine Pflanzen,

die er nicht nur im Freien sondern auch in sieben Glasgewächshäusern

züchtete.

Orth hatte in seinem Garten, der Tradition vieler Templer

folgend, auch viele Bäume, Sträucher und Gräser angepflanzt,

die in Palästina nicht heimisch waren.

Vielleicht war ja irgendeine Pflanze darunter, die eine Lücke

in Palästina füllen könnte und die hier besonders gut gedeihen

würde. Jedenfalls war das weit auslaufende Areal zu

einem kleinen Dschungel geworden, der auf uns Buben einen

unbeschreiblichen Reiz ausübte.

Ein groß gewachsener afrikanischer Baum stand in der Mitte

mit dicht übereinanderliegenden Ästen, die es uns Buben

erlaubten, mühelos, wie auf einer Leiter, bis zur Spitze des

Baums hochzuklettern. Ich hatte eine klasse Hohner Mundharmonika

von meiner auch im Lager lebenden Tante Sofie

zum Geburtstag geschenkt bekommen und konnte schon ganz

gut darauf spielen. Der Alte Kameraden Marsch und Lustig ist

das Zigeunerleben waren meine Lieblingsstücke. Wenn ich

abends ganz oben in den Ästen saß und beobachtete, wie die

Sonne im Mittelmeer unterging, das in weiter Ferne wie ein

193


silberner Streifen am Horizont lag, und das Abendrot den

Himmel überzog, spielte ich die Lieder voller Inbrunst wieder

und wieder und wurde dabei sehr traurig, weil ich das Meer

nie von der Nähe sehen, nie am Strand rennen und mich nie

in die Wellen stürzen konnte. Dann war mir so richtig bewusst,

dass wir alle in einem Lager gefangen waren, aus dem es kein

Entrinnen gab.

Von hier oben konnte ich auch in der Ferne die Häuser von

Tel-Aviv erkennen, die wie rechteckige, mehr graue als weiße

Würfel in der Landschaft standen.

Mehr interessierten mich allerdings die dicht mit Laub bewachsenen

Bäume, die sich vor mir leicht im Wind wiegten.

Hunderte von Vögeln, hauptsächlich Distelfinke, schwirrten

aufgeregt um die Bäume herum, um schließlich darin einen

Schlafplatz für die bevorstehende Nacht zu finden.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen schlafenden

Vogel zu fangen. Das wäre das Einfachste der Welt.

Ich schlich zu einem der Bäume und versuchte, den ersten Ast

zu erhaschen, um mich hochzuziehen. Doch schon beim geringsten

Geräusch fing das Gezwitscher an, und die Vögel

schwirrten alle zusammen wie auf Kommando aus dem Baum

heraus und flogen aufgeregt mit den Flügeln flatternd weg.

Was mir mit einigen Schwalben gelungen war, gelang mit diesen

cleveren Vögelchen nicht.

Die Schwalben verbrachten die Nacht gewöhnlich im Pferdestall

von Wellers. An der Decke des Stalls waren Doppel T-

Träger aus Eisen eingezogen. Auf den unteren Flanschen saßen

sie in Reih und Glied ganz nah aneinandergedrückt, um

sich vielleicht gegenseitig zu wärmen.

Ich war von der Außenwand zum offenen Oberlicht hochgestiegen.

Die Schwalben saßen auf dem Flansch nicht einmal

einen halben Meter von meinem Kopf entfernt. Vorsichtig

194


streckte ich meine Hand aus und hatte die erste gefangen, die

ich in meinen Hosensack steckte. Es folgte die zweite und die

dritte. Die anderen Schwalben, es waren mehr als zweihundert,

merkten nichts davon, dass drei ihrer Kameraden verschwunden

waren. Unten wieder angelangt nahm ich eine und

schleuderte sie, meinen Arm im Kreis schwingend, in die Luft.

Sie flog leicht orientierungslos davon, wie beschwipst von der

Drehung. Die beiden anderen folgten.

Am nächsten Abend wollte ich den Spaß wiederholen. Als

ich durch das Oberlicht griff, entdeckte ich, dass sich keine

einzige Schwalbe auf den Trägern niedergelassen hatte. Im

ganzen Stall war keine einzige Schwalbe. Eigenartig dachte

ich, wie hatten die Betroffenen ihre Artgenossen warnen können?

„Wie kannst du nur so grausam sein! So geht man mit Tieren

nicht um“, schalt mich meine Mutter, als ich die Geschichte

erzählte. „Am Sonntag wirst du zum Gottesdienst gehen!“

Die beiden im Orth‘schen Haus mit ihrer Mutter untergebrachten

Ungarnbuben, die etwas älter als ich waren, hatten

sich Dei-Dies gebastelt, der arabische Name für Steinschleudern

mit Gummibändern, die von alten Autoschläuchen als

etwa 15 mm breite Streifen herausgeschnitten waren. Die

Holzgabeln stammten von Haselnusssträuchern. Ich hatte in

wenigen Stunden auch eine Schleuder angefertigt.

Wir gingen auf Spatzenjagd, aber auch Tauben waren ein

begehrtes Ziel, denn gebraten ist eine Taube eine Delikatesse.

Es erfordert viel Geschicklichkeit, einen Vogel zu treffen, und

wir verbrachten Stunden, uns im Schießen zu üben. Die jungen

Araber hatten eine unglaubliche Geschicklichkeit darin

entwickelt und jeder dritte Schuss war ein Treffer. Mir gelang

es einfach nicht, einen Spatzen zu treffen, und heute bin ich

darüber gar nicht so unglücklich, denn Spatzen sind an-

195


spruchslose Charaktervögel, die über alle Länder der Erde

verbreitet sind. Sperrt man einen in einen Käfig, verweigert

er die Futteraufnahme und trinkt auch nicht. Nach drei Tagen

Gefangenschaft ist er tot. Lieber den Tod, als ein Leben in

Gefangenschaft!

Die beiden Ungarn erzählten, dass sie eine große, schwarze

Schlange im Garten der Wellers gesehen hätten. Sie sei sehr

dick gewesen und drei Meter lang. Sie sei schnell über den

Boden gekrochen mit weit ausholenden Schlangenbewegungen

und sei in einem Loch verschwunden. Im Garten nicht

weit vom Feigenbaum, der reife Früchte trug, die besonders

morgens, wenn sie vom Tau noch kühl waren und aufgeplatzt

ein Hochgenuss waren, entdeckten wir viele große Löcher in

der Erde und dort am Rande lagen zwei große Schlangen in

der Sonne. Wir ergriffen die Flucht. Die beiden bei Orth angestellten

Araber waren auf einmal hellwach, als wir unsere

Geschichte erzählten. Das war etwas, was sie interessierte.

Giftig seien die Schlangen nicht, meinten sie. Nur Schlangen,

die einen stumpfen Schwanz hätten, seien giftig. Ob das wohl

stimmte?

Jedenfalls bewaffneten sie sich mit Spaten und Hacken, und

wir folgten ihnen im gebührenden Abstand. Sie versperrten

einer Schlange den Fluchtweg in ihr Loch und schlugen auf

sie ein, bis sie tot war. Sie schulterten die schwere Schlange

und trugen sie zum Gewächshaus. Sie rollten sie auf und legten

sie vor das Gewächshaus, in dem gerade eine junge Frau

beschäftigt war. Das Gezeter der Frau war entsetzlich, als sie

die Tür öffnete und die schwarze Schlange vor sich sah. Sie

konnte sich kaum mehr beruhigen, trotz unserer Versicherung,

dass das Tier tot wäre und sie sich nicht zu fürchten brauchte.

Wieder hatten wir auf Kosten eines anderen unseren Spaß

gehabt und auch die beiden Araber.

196


Jon Weller Bauernhof/Gärtnerei Orth

197


Der Orth‘sche Garten wurde immer mehr zu einer unheimlichen

Stätte. Als ich einmal, meinen Mut mir selbst beweisen

wollend, auf einem schmalen Pfad hindurchrannte, in den

Sträucher, Zweige und Gräser hineinragten, sah ich zu meinem

Entsetzen eine giftgrüne, dünne Schlange von einem Baum

herunterbaumeln, die einen stumpfen Schwanz hatte. Eine

grüne Baumschlange! Von ihr gebissen, wäre jedes von Dr.

Hoffmann gespritzte Gegengift zu spät gekommen, und man

wäre dem Tod geweiht gewesen. Innerhalb von nur zehn Minuten

hätte das Gegengift gespritzt werden müssen.

Trotzdem hatte der Garten ungeheure Reize. Ich begann,

Samen zu sammeln. Die meisten Samen der Pflanzen waren

in Schoten wie bei Bohnen gehüllt. Millimetergroße Samen bis

zu einem Zentimeter groß. Die Vielfalt der Farben und Formen

war erstaunlich. Rubinrote, blaue, bunt gesprenkelte,

weiße, einfach alle Farben, die man sich vorstellen konnte, und

manche glänzend mit einer faszinierenden Leuchtkraft. Hundert

Streichholzschächtelchen hatte ich mit unterschiedlichen

Samen gefüllt. Ich hatte sie zu einer größeren Einheit zusammengeklebt

und vor mein Bett gestellt, damit ich sie auch

nachts ganz nah bei mir hatte. Ich konnte es fast nicht glauben,

dass von jedem Samen ein Baum oder Strauch entstehen

konnte, dass so viel Information in einem so kleinen Teil enthalten

sein sollte. Wenn man einen Samen mit einem Stein

zerrieb oder zerschlug, war darin einfach nichts Besonderes

zu entdecken. Kein Hinweis auf einen Baum, kein Hinweis auf

die Fähigkeit zu keimen und zu wachsen.

Hat das Sammeln von Samen zu meiner späteren Sammlerleidenschaft

für Tennisschläger geführt, obwohl die Samen

mit Tennisschlägern wirklich nichts Gemeinsames hatten?

Eines Tages kamen die Ungarnbuben mit Murmeln an, die

in allen Farben schillerten und mich an manche Samen erin-

198


nerten. Es würde sicher welche in dem kleinen Laden geben,

der im Gemeindehaus untergebracht war. Ich bekam einige

Piaster von meiner Mutter und rannte los. Ein ganzes Päckchen

war noch da, voll mit herrlichen Glasmurmeln, innen

im durchsichtigen Glas mit einem farbigen Blumenkelch. Eine

war dabei, die einen grasgrünen Kelch zeigte und von grünlich

durchsichtigem Glas umschlossen war.

Welch ein Grün! Ich verliebte mich in diese Murmel. Wenn

ich in sie hineinblickte, glaubte ich eine Wahrsagekugel vor

mir zu haben, die mir die Weisheiten der Erde offenbaren

konnte. Dieses Grün versetzte mich in eine ähnliche Stimmung,

die ich später beim Hören von Musikstücken, wie Romeo

und Julia von Tschaikowsky, wiederfinden sollte.

Auf dem ausgetrockneten sandigen Wege durch Sarona gab

es viele geeignete Stellen, unser Spiel auszutragen. Im Boden

wurden drei hintereinanderliegende, kleine Mulden angelegt,

in die man eine ausgelegte Murmel durch Treffen mit der

Hauptmurmel, dem sogenannten Ras, was auf Arabisch Kopf

heißt, befördern musste. Der Gewinner des Spiels erhielt eine

Murmel vom Verlierer. Es dauerte nicht lange, bis ich meine

Murmeln verloren hatte. Ich hatte das letzte Päckchen bekommen,

und es gab keine Chance, neue zu kaufen. Die Ungarnbuben

waren natürlich die Gewinner.

Ich stand vor der Entscheidung, meinen Ras zu setzen. Das

war natürlich meine Murmel mit dem unverwechselbaren,

leuchtenden Grün. Das würde ich niemals tun! Das käme

niemals infrage! Diese Murmel würde ich bis an mein Lebensende

behalten!

Am nächsten Tag brach bei mir die Spielleidenschaft wieder

durch. Wie heute beim Schach, beim Skat, beim Bridge oder

an der Börse.

Ich setzte sie und verlor!

199


Schwimmbassin bei Lippmann

(Pumpenhaus rechts zu sehen)

Die Murmel ist in meiner Erinnerung immer schöner geworden.

Wenn ich heute das junge Gras der Fairways beim Golf

im Frühjahr vor mir sehe, gehen meine Gedanken zu dieser

Murmel zurück, und ich weiß, dass das Grün der Murmel weit

leuchtender war als das des jungen Grases. Das wunderbare

Gefühl der Murmel steigt unvermittelt tief aus meinem Herzen

in mir auf, versetzt mich in die Jugendzeit und macht mich

glücklich. –

Die Buben hatten wieder ein neues Hobby gefunden. Innerhalb

des Lagers lag ein Orangenhain, eine richtige Orangen-,

Mandarinen- und Grapefruit-Plantage. Ein etwa 30 m tiefer

Brunnen war früher gebohrt worden, aus dem eine Pumpe

Süßwasser in ein Bassin von etwa 15 m Seitenlänge förderte.

Dort wurde es für etwa acht Tage zurückgehalten, damit es

sich erwärmen konnte. Für die wöchentliche Bewässerung der

jungen Orangenbäume eignete sich das warme, abgestande-

200


ne Wasser besser als das kalte, direkt vom Brunnen geförderte

Wasser. Es war das „Lippmann‘sche“ Anwesen.

Die Ungarnbuben nahmen mich mit. Hier konnte man baden.

Das Bassin war ein ideales Spiel- und Schwimmbecken

für uns. Ich konnte noch nicht schwimmen und versuchte mich

damit am Rand des Beckens.

Ich glaubte, die ersten, freien Züge gemacht zu haben, und

schrie:

„Ich bin die ersten Meter geschwommen. Ich kann jetzt

schwimmen!“

Ein größerer Junge hörte das. „Wirklich?“, sagte er, „das

wollen wir sehen!“ und schleppte mich zur Mitte des Bassins,

ließ mich los und schwamm weg.

Ich schlug wie wild mit meinen Armen um mich, versank

im Wasser, kam wieder hoch, schluckte Wasser, sodass ich

kaum mehr atmen konnte. Panik überfiel mich. Ich möchte

nicht ertrinken, schrie es in mir. Ich ruderte wie verrückt mit

Armen und Beinen wie wild um mich schlagend weiter und

erreichte endlich, blau angelaufen, den rettenden Rand. Keiner

der Jungs, auch nicht die Ungarnbuben, war mir zur Hilfe

gekommen, auch der nicht, der mich zur Mitte gezerrt hatte.

Sie lachten nur. „Jetzt weißt du, was schwimmen heißt“, rief

der größere Junge und spuckte verächtlich in die Ecke.

Dies war mir eine Lehre für mein ganzes Leben, nie mit etwas,

was man nicht beherrscht, zu prahlen. Am besten ist es

sogar, überhaupt nie mit seinen Kenntnissen anzugeben. Und

hat man wirklich so gute Freunde, wenn man sie dringend

braucht?

Als ich zehn Jahre alt wurde, wurde ich mit einer Zeremonie

in die Jungvolkgruppe aufgenommen, die sich im Lager

unter Führung eines 16-Jährigen im Geheimen gebildet hatte.

Hitlersprüche, die aus seinen Reden stammten, musste man

201


auswendig lernen, so unsinnig sie auch waren, und Kriegsspiele

wurden angesetzt, die sich vornehmlich bei Einbruch

der Dunkelheit in dem besagten Orangenhain abspielten.

Die ungarischen Buben hatten eine weitere Abwechslung

für mich bereit. Sie freundeten sich an mit einem nicht allzu

großen Mann zwischen 45 und 55 Jahren, einem geistig etwas

behinderten Deutschen, der für die Brunnenstation verantwortlich

war und über dem Pumpengebäude ein Zimmer bewohnte.

Sie forderten mich auf mitzukommen. Der Mann,

dessen Name mir entfallen ist, näherte sich den Jungs unsittlich

und begann an ihren Geschlechtsteilen herumzuspielen.

Ich war damals Zeuge seiner Handlungen.

Die nächsten Tage verfolgte mich der Mann immer wieder,

wenn ich beim Schwimmen war, und versprach mir ein Taschenmesser,

wenn ich mit auf seine abgelegene, von außen

nicht einsehbare Bude ginge. Aber auch andere Jungen und

Mädchen in meinem Alter hatte er angesprochen und ähnliche

Versprechungen gemacht.

Wahrscheinlich haben einige davon zu Hause erzählt. Dies

blieb natürlich nicht ohne Folgen. Eine Anzeige einer Mutter

bei der Kommandantur genügte.

Er wurde von der Militärpolizei abgeführt und verschwand

aus dem Lager. Wohin? In ein Militärgefängnis? Oder abgeschoben

in ein anderes Internierungslager?

Die Sexualität in meinem Alter war noch nicht voll ausgebrochen.

Doch ich muss zugeben, dass ich immer wieder in

den Ausschnitt der schönen, rothaarigen Ruth schauen musste,

die so aufreizend am Abendtisch saß, und das, was ich sah,

gefiel mir.

202


Bombenangriffe auf Tel-Aviv

Ein Trunk Wasser in meiner Heimat ist mir lieber als Honig in

der Fremde.

Zum täglichen Zählappell Punkt 17:00 Uhr ertönte eine Sirene.

Niemand durfte sich um diese Zeit auf der Straße aufhalten.

Die Engländer hatten ihre arabischen Söldner angewiesen,

nach kurzem Warnruf die Waffe zu gebrauchen. Ich

glaube aber nicht, dass sie dann auch geschossen hätten.

Ein englischer Soldat kam die Straße entlang und zählte laut

die Internierten, die sich vor den Häusern im Vorgarten aufgestellt

hatten. Nach einer Stunde war der Appell zu Ende,

wenn die Sirene erneut heulte. Gewöhnlich nahm ich dann

mein kleines, von Jerusalem mitgebrachtes Fahrrad, wenn es

nicht gerade kaputt war, und radelte beim ersten Heulton so

schnell ich konnte los, um zu Tante Sofie zu fahren, die mich

im Haus des Carl Küblers mit den Hesselschwerdts und deren

Töchter Olga (19) und Nelli (16) erwartete. Tante Katharina

(zur Erinnerung: sie ist die Schwester meines Vaters) und

ihr Mann Onkel Hans, der in Jerusalem eine große Reparaturwerkstätte

für Fahrzeuge aller Art betrieben hatte, luden mich

manchmal zum Essen ein, wenn es Bratkartoffeln gab, die für

die Familie etwas ganz Besonderes waren. In Palästina wuchsen

zwar Süßkartoffeln prächtig, doch die normale Kartoffel

nur ganz schlecht.

Was sie an Bratkartoffeln fand, blieb mir ein Rätsel. Ein größeres

Rätsel aber war, wo sie sie herhatte. Ich wuchs mit Reis

auf, und den zog ich den Kartoffeln bei Weitem vor.

Tante Sofie, die älteste Schwester meines Vaters, hatte mich

in ihr Herz geschlossen. Ein Taschenmesser hatte ich immer

in meiner Hosentasche. Irgendetwas musste ich immer schnitzen.

Sie wusste das und versorgte mich damit. Wie viele Ta-

203


schenmesser habe ich im Laufe der Jahre von ihr bekommen?

Zehn? Fünfzehn?

Welch fürchterliches Schicksal diesen Fünf in wenigen Jahren

bevorstand, konnte damals niemand ahnen. Beim Gefangenaustausch

nach Deutschland kamen sie in Stuttgart an.

Am selben Tag wurde Stuttgart von den Alliierten bombardiert.

Sie wurden verschüttet und erstickten alle jämmerlich.

Nachzulesen in meinem Büchlein „In Überlingen“.

Carl Kübler war nur entfernt mit uns verwandt. Trotzdem

nannte ich ihn Onkel Carl. Er hatte viele Lieder am Klavier

komponiert. Manche wurden sogar in das eigene Gesangbuch

der Templer aufgenommen. In seinem hinter dem Haus liegenden

Garten hatte er, als eines seiner weiteren Hobbys, exotische,

von Afrika importierte Obstbäume gepflanzt, die

Früchte trugen, die ich zum Teil nie mehr in meinem Leben

sehen oder schmecken sollte. Darunter waren Maracujas,

Guaven, Ananas, Feigen, Zitrusfrüchte, Cashewnüsse, Mangos,

Papayas und andere mehr. Viele der meistens arabischen

Namen sind mir jedoch entfallen.

Onkel Carl hatte viele Begabungen. Das Lied „Heimat“ hatte

er 1942 in der Internierung komponiert. Es ist in dem genannten

Buch von Helmut Glenk abgedruckt. Auch hat er eine

Ansicht von Sarona im Jahr 1937 gezeichnet, die auch in diesem

Buch zu finden ist.

Wenn ich heute in einem tropischen Land eine mir unbekannte

Frucht probiere, habe ich manchmal das Empfinden,

sie irgendwann schon einmal gegessen zu haben.

Als ich wieder einmal mit meinem Fahrrad vorgefahren

kam, heulte die Sirene erneut auf. Was war geschehen?

„Das ist Fliegeralarm!“, rief Onkel Carl. Und wenn man sich

ganz still verhielt, konnte man ein leises Summen von Flugzeugmotoren

hören. Onkel Carl und die meisten anderen konn-

204


ten das Geräusch nicht wahrnehmen. Man musste dazu junge

Ohren haben. Ganz oben am Himmel, fast nicht sichtbar,

konnte man einige der Flugzeuge entdecken.

„Wie hoch fliegen die wohl? 4 000 Meter?“, räusperte er

sich.

Zuerst konnte ich die kleinen silbernen Punkte nicht sehen,

aber Gisela hatte viel bessere Augen als ich. „Siehst du sie

nicht?“, fragte sie mich und deutete mit dem Zeigefinger in

die Richtung eines hohen Baumes. Und dann entdeckte ich

sie. Es waren vier oder fünf. Wie war das doch noch vor wenigen

Jahren in Jerusalem, wenn der Frühling einkehrte? Wenn

wir hinter den Tennisplätzen mit unseren Eltern spazieren

gingen, suchten wir nach den ersten Anemonen. Es sind die

roten Anemonen des Heiligen Landes, die ganze Landstriche

zusammen mit dem roten Mohn in Blumenteppiche innerhalb

von wenigen Tagen verwandeln können. Gisela entdeckte die

ersten. Manchmal war eine gerade aufgegangene Anemone

nur wenige Meter von mir entfernt, und ich sah sie nicht. Selbst

meine Mutter war schneller.

Dann glaubten wir, Einschläge gehört zu haben, waren uns

aber nicht sicher. „Sie bombardieren Tel-Aviv“, sagte Onkel

Carl bedeutungsvoll. „Sie waren schon einmal da. Es sind

wahrscheinlich wieder Italiener.“

Vielleicht hatte er recht mit seiner vagen Vermutung. Sie

hatten schon einmal Bomben aus großer Höhe fallen gelassen,

und zwar bei den vorhergegangenen Angriffen auf die

Öl-Lager von Haifa. Sie wollten kein Risiko eingehen, abgeschossen

zu werden. Die Piloten dachten wohl, irgendwas wird

schon zerstört werden.

Bei einem der Bombenangriffe am 9. Sept. 1940, einem Montag,

wurden 119 Menschen in Tel-Aviv getötet, darunter 55

Kinder.

205


Anschaulich ist der Augenzeugenbericht, in gekürzter und

übersetzter Fassung, von Felix Haar, der, wie bereits erwähnt,

zwei Jahre älter ist als ich – damals also etwa 12 Jahre alt –

und mit seinen Eltern gegenüber von uns wohnte:

„Ich war gerade in Friedrich Orths neuem Haus mit seinem

Sohn Manfred und dessen Mutter, als Flugalarm gegeben

wurde und die Sirenen heulten im Ton an- und abschwellend.

Wir rannten ins Freie, um zu sehen, was los war. Wir entdeckten

zwei Bomber am Himmel, die niedrig flogen. Selbst kleine

Details konnten wir ausmachen. Aber wir hatten nicht viel

Zeit. Die Bombenschächte öffneten sich, und Bomben fielen

heraus. Eine Ansammlung von hohen Häusern war offenbar

das Ziel. Wir sahen Staub und Trümmer von den getroffenen

Häusern aufsteigen. Die Zeitungen berichteten am nächsten

Tag von vielen Opfern und zerstörten Häusern. Die Bomben

fielen vielleicht eineinhalb Kilometer von unserm Internierungslager

entfernt. Die Italiener rechtfertigten sich für diesen

Angriff als Vergeltung für die Versenkung ihres größten

Lazarettschiffes vor Tunis.“

Vielleicht hat er damit den oben erwähnten Angriff beschrieben.

Haar berichtet noch von einem weiteren Angriff:

„Ein weiteres Bombardement fand in einer Nacht statt. Das

Lager wurde nicht getroffen (was natürlich versehentlich gewesen

wäre), aber nur 200 Meter südlich vom Camp wurde

ein Old People Home getroffen. Weitere Bomben fielen. Mein

Vater befand sich im ersten Stock des Hauses der Stellers, in

dem wir wohnten. Ich wachte auf. Das Motorengeräusch des

Flugzeugs konnte man mit dem Geräusch eines lauten Motorrads

vergleichen. Mein Vater hörte den Einschlag eines

Projektils in die Hausmauer nur zwei oder drei Meter von ihm

entfernt. Am nächsten Morgen fanden wir tatsächlich einen

206


Bombensplitter, der etwa 50 mm im Durchmesser maß und

etwa 15 mm dick war.“

Ich kann mich an den Splitter erinnern, der natürlich in

unserem Lager für Aufsehen gesorgt hatte. Beinahe hätten die

Bomben der mit uns Deutschen verbündeten Italiener Verletzte

im Internierungslager gefordert.

Doch noch einige Worte über mein kleines Fahrrad. Im ersten

Jahr der Internierung in Sarona funkunierte es noch. Mit

meinen Taschenmessern war es das Wertvollste, was ich besaß.

Aber die Reifen waren nicht mehr in Ordnung. Mehrere

Löcher in den Schläuchen ließen die Luft entweichen. Damit

wollte ich mich nicht zufrieden geben. Mit neun Jahren versuchte

ich die Schläuche zu flicken. Von einem alten Schlauch

schnitt ich runde Aufkleber heraus, schliff ihre Ränder an einem

Schleifstein ab, raute die Klebefläche auf und klebte sie

mit einer Gummilösung, die Tante Caroline noch irgendwo

herauskramte, auf die punktierten Stellen. Dann pumpte ich

den geflickten Schlauch auf, hielt ihn unter Wasser und - hélas

- er war nicht dicht. Immer wieder versuchte ich diese

Prozedur. Ohne Erfolg. Onkel Hans bot mir seine Hilfe nicht

an, auch nicht Onkel Carl. Warum konnten diese Männer bei

ihren Familien bleiben und waren nicht in Akko in dem separaten

Männerlager interniert wie mein Vater? Sie waren doch

alle im gleichen Alter, nämlich um die 55. Nach welchen Richtlinien

sind die Engländer verfahren? Gab es gefährliche und

weniger gefährliche Deutsche? Kamen diese Informationen

vom englischen CID, dem englischen Geheimdienst, der im

Hintergrund in Palästina allgegenwärtig tätig war? Hatte die

CID über jeden Deutschen ein geheimes Dossier angelegt?

207


Trachom bricht im Lager aus.

Seelenruhe bekommt man, wenn man aufhört zu hoffen.

Immer wieder waren es die beiden ungarischen Buben, die

für neue Aufregung sorgten. So war es auch diesmal. Sie hatten

sich eine Augenentzündung zugezogen, die Dr. Hoffmann

als Trachom diagnostizierte.

Das ist eine Augenkrankheit, die hauptsächlich in tropischen

und subtropischen Ländern weit verbreitet ist und die nach

einigen Jahren zur Blindheit führt.

Die Bevölkerung Ägyptens ist von dieser Krankheit seit Jahrtausenden,

schon unter den Pharaonen, besonders stark betroffen,

weshalb sie auch als „Ägyptische Augenkrankheit“ in

Europa bekannt wurde. Viele Millionen Menschen sind schon

durch die Krankheit erblindet und haben in ihrem Leben keine

Chance, jemals wieder das Licht der Welt zu erblicken. Die

meisten von ihnen müssen sich durch Betteln am Leben erhalten.

Eine andere Möglichkeit gibt es für sie nicht.

Deshalb sitzen auch an den Straßenrändern von Kairo heute

noch Hunderte von Blinden, die um eine milde Gabe bitten.

Es ist für einen Touristen ein trauriger Anblick, dieses Leid

hautnah zu erfahren. Aber wie kann man helfen?

Heute vielleicht mit modernen Arzneimitteln. Aber in meiner

Jugend?

Es gab eine umstrittene Methode, die man anwenden konnte,

wenn die Krankheit noch im Anfangszustand war. Der

Erfolg war aber mehr als zweifelhaft. Der Arzt zieht dabei

das untere Augenlid nach unten und klappt das obere auf.

Dann nimmt er einen zurechtgeschliffenen Blausteinkristall,

reines Kupfersulfat, das auch zur Algenbekämpfung dient und

früher in Bootsfarben für den Unteranstrich des Bootskörpers

enthalten war, und bestreicht damit beide Lider. Der Stein soll

208


die Infektion wegbrennen. Wenn sich nach einigen Monaten

der täglich durchgeführten Prozedur keine Besserung einstellen

sollte, wird er durch den noch schärferen Höllenstein, ein

Silbernitrat, ersetzt. Nach der Behandlung hört das Brennen

des Auges erst nach Stunden auf und nachts kann man vor

Schmerzen kaum schlafen. Man hatte dauernd das Gefühl,

Sandkörner in den Augen zu haben und rieb und rieb mit den

Händen, bis die Augen rot anschwollen.

Die ungarischen Buben konnte man bedauern.

Dr. Hoffmann, seiner gestellten Diagnose nicht ganz sicher,

zog einen englischen Militärarzt hinzu und ließ sie sich bestätigen.

Nach einigen Wochen klagten auch andere Jungs und

Mädchen über Augenbrennen. Eine Epidemie war im Lager

ausgebrochen und die Katastrophe da.

Bald waren es 50 Kinder. Gisela und ich waren darunter.

Jeden Nachmittag führte uns unser Weg zum Saal, in dem

eine Notstation zur Behandlung eingerichtet worden war.

Unsere Augenlider wurden nach unten gezogen und nach

oben über ein Streichholz geklappt und das Einstreichen mit

dem Stein von Dr. Hoffmann vorgenommen. Weinend vor

Schmerzen schlichen wir nach Hause. Das Brennen in Verbindung

mit dem Gefühl von Sandkörnern in den Augen, die

gar nicht vorhanden waren, hörte nicht auf. Die tröstenden

Worte meiner Mutter nutzten nicht viel:

„Ihr müsst das durchhalten. Es würde noch viel schlimmer

sein, wenn ihr nicht mehr sehen könntet!“ und hielt uns liebevoll

und tröstend im Arm, während sie das sagte. „Es wird

vorbeigehen. Alles wird gut werden.“

Dr. Hoffmann war über einige Ecken mit uns verwandt. Ida,

die Schwester meines Vaters, hatte Dr. Hoffmanns Bruder

geheiratet. –

Der schnelle Vormarsch von Rommel in Nordafrika Rich-

209


tung Ägypten ließ die Engländer aufschrecken und reagieren.

Würde Ägypten fallen, fiele auch Palästina. Eine Verstärkung

der deutschen Truppen durch die gefangenen Deutschen in

Akko konnte nicht hingenommen werden. Sie mussten verlegt

werden.

Die ansteckende Augenkrankheit hatte unerwartete Folgen

für das weitere Schicksal unserer Familie.

210


Mein Vater wird nach Australien verlegt.

Ein Fremder ist der, der keinen Freund hat.

Australien schien der geeignete Ort zu sein. Die Queen Elizabeth,

der zum Truppentransporter umgebaute Ozeanriese,

damals das größte Schiff der Welt, sollte von Perth in Australien

zum Roten Meer kommen, um vor Reede der Stadt Suez,

wo der Suezkanal ins Rote Meer mündet, die etwa 700 nach

Australien zu verlegenden Deutschen aufzunehmen. Vielleicht

hätte das große Schiff auch den Kanal befahren können, doch

man wollte das Schiff keiner Gefahr von Luftangriffen durch

die Deutsche Luftwaffe aussetzen. So war es außerhalb deren

Reichweite.

Das 313 m lange und 84 000 Registertonnen große Schiff mit

einem Tiefgang von zwölf Metern hätte man vielleicht durch

den damals nur 16 m tiefen Suezkanal lotsen können. Heute

ist der Kanal auf 20 m Tiefe ausgebaggert, und Schiffe bis

150 000 Bruttoregistertonnen können passieren. Nur die riesigen

Supertanker, die einen Tiefgang bis zu 30 m haben, müssen

immer noch den Umweg um das Kap der Guten Hoffnung

nehmen.

Die Internierungslager in Palästina, auch Sarona, sollten so

schnell wie möglich aufgelöst, die Familien mit ihren Männern

zusammengeführt und alle auf das Schiff gebracht werden,

das seine Fahrt nach Australien im Zickzack-Kurs aufnahm,

um eventuellen Torpedos auszuweichen, abgeschossen

von sogar im Indischen Ozean operierenden, deutschen

U-Booten. Die deutschen U-Boote indes hatten kaum eine

Chance, das 32 Knoten schnelle Schiff zu stellen oder zu verfolgen.

Diese Geschwindigkeit konnte ein U-Boot nie erreichen.

So geschah es denn auch; die Deutschen wurden auf das

Schiff gebracht. Die australische Einwanderungsbehörde be-

211


stand allerdings darauf, dass keine Trachom-Kranke ins Land

kamen. Die hochansteckende Krankheit durfte nach Australien

nicht eingeschleppt werden. Auch nicht unter außergewöhnlichen

Umständen, wie bei einem Krieg.

Dr. Hoffmann fiel nun, zusammen mit dem unerfahrenen

englischen Arzt, die Aufgabe zu, eine Liste mit den Namen

der trachomkranken Kinder zu erstellen.

Als meine Schwester und ich zum täglichen Auspinseln in

den Saal kamen, schob er uns auf die Seite und sagte barsch:

„Was wollt ihr hier? Verschwindet!“

Ich verstand nicht, was er wollte. „Sind wir denn jetzt gesund?“,

fragte ich verwundert. „Müssen wir nicht mehr eingepinselt

werden?“ Der Engländer schaute misstrauisch auf.

Zu Dr. Hoffmann gewandt sagte er: „Please put them on

the list!“

Dr. Hoffmann wollte unserer Familie einen Gefallen tun und

uns nicht auf die Liste setzen, damit wir mit unserem Vater

zusammengeführt nach Australien fahren konnten. Als Jugendlicher

hatte ich seine gute Absicht missverstanden.

Die Augenerkrankung und unsere Namen auf der Liste hatten

dazu geführt, dass unser Vater fast neun Jahre von uns

getrennt blieb.

Nach drei Wochen dockte die Queen Elizabeth mit dem

Decknamen HMT P.P. unversehrt im australischen Hafen von

Freemantle bei Perth an, was nicht selbstverständlich war, denn

Hitler hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit allen Mitteln den

ganzen Stolz der Engländer zu versenken, koste es, was es

wolle – das Schiff war erst im September 1938 vom Stapel gelaufen

und 1940 in Dienst gestellt worden. Zu Anfang des

Kriegs war das Schiff auf Schleichwegen nach New York gekommen

und dann nach Singapur, wo es zum Truppentransporter

umgebaut wurde. Bis Ende 1941 pendelte es zwischen

212


Die "Queen Elizabeth"

Australien und dem Suezkanal hin und her und danach bis

Kriegsende über den Atlantik zwischen Southampton und

New York. Das gleich große Schwesterschiff, die Queen Mary,

ebenfalls zum Truppentransporter umgebaut, transportierte

auf einer ihrer vielen Überfahrten sage und schreibe 16 683

Mann. Nie wieder haben sich mehr Menschen auf einmal auf

einem Schiff befunden. Während dieser Überfahrt war in den

Rettungsbooten nur Platz für 8 000 Personen.

Das Ende der stolzen Queen Elizabeth war tragisch. Es wurde

nach dem Krieg verkauft und nach Hongkong geschleppt, wo

es zu einer schwimmenden Universität umgebaut werden sollte.

Ein Feuer war gelegt worden, bevor der Universitätsbetrieb

im Jahr 1972 aufgenommen werden konnte, das stolze Schiff

brannte, ein Ölkessel explodierte, die immensen Wassermen-

213


gen, welche die Hafenfeuerwehr zum Löschen einpumpte,

brachten das Schiff zum Kentern, sodass es schließlich sank.

Den Namen Tatura, wie das große Kriegsgefangenenlager

etwa 200 km nördlich von Melbourne im Staat Victoria hieß,

sollte mein Vater so schnell nicht wieder vergessen. Deutsche

und Japaner waren hier interniert. In der Halbwüste war an

ein Fliehen nicht zu denken, obwohl das einige junge Gefangene

immer wieder wagten. Spätestens nach einigen Tagen

wurden sie dann halb verdurstet wieder aus der Wüste eingefangen

und zurückgebracht.

Für die Palästinadeutschen war der Aufenthalt im Lager

erträglich. Immerhin waren die Familien vereint mit ihren

Männern. Man konnte einem geregelten Leben nachgehen,

wenn auch mit Einschränkungen, denn man war mit vielen

anderen gemeinsam in großen Baracken untergebracht. Die

Templer richteten für die Kinder eine Schule ein und am Sonntag

fand regelmäßig ein Gottesdienst statt.

Mein Vater war einer der wenigen Palästinadeutschen, die

allein und ohne Familie waren. Er hatte nach kurzer Zeit aber

das Glück, in einem Einzelzimmer wohnen zu können.

Was tut ein alleinstehender Mann den ganzen Tag lang in

einem Lager? Briefe an uns schreiben, war eine seiner Tätigkeiten.

Aber sie erreichten uns in Palästina nicht mehr. Sie

waren zu lange unterwegs. Bis zu einem Jahr.

Er begann Fremdsprachen zu büffeln, hauptsächlich Englisch

und Französisch, wobei er auch vor Russisch und Japanisch

nicht haltmachte. Einige im Lager erinnerten sich, dass

er in Jerusalem in der Blaskapelle mitgemacht hatte. Sie baten

ihn, eine Blaskapelle in Tatura ins Leben zu rufen, und er erhielt

dabei die Unterstützung des Lagerkommandanten.

Schließlich brauchte man Instrumente, die dann von der Kom-

214


mandantur zur Verfügung gestellt wurden. Er wurde Dirigent

der Blaskapelle.

Er hatte bei einem Unfall im Lager drei Finger verloren. Ein

Liegestuhl, den er benutzte, klappte unversehens zusammen

und schnitt ihm die Finger ab, sodass er selbst nicht mehr spielen

konnte. In späteren Jahren machte ihm das noch zu schaffen,

weil er gerne mit dem Klavierspielen wieder angefangen

hätte.

215


Das Internierungslager Athlit

Hast du viel Sorgen, so frage eine Frau um Rat, die das Alter

deiner Mutter hat.

Das Lager in Sarona wurde von den Engländern aufgelöst,

und wir wurden, vielleicht 150 Personen an der Zahl, in ein

mit Stacheldraht bewehrtes enges Barackenlager bei Akko im

Norden von Palästina mit Namen Athlit verlegt.

Es hieß, dass wir gegen andere Gefangene – Juden und einige

Engländer –, über die neutrale Türkei nach Deutschland

ausgetauscht werden sollten. Die Verhandlungen zogen sich

über Monate hin, während wir in Athlit eingezwängt waren.

Wie ich das als Bub verkraftete, habe ich in einer Geschichte

festgehalten, die in dem von mir geschriebenen Büchlein das

Mädchen, das der Sonne nachlief enthalten ist und nachfolgend

wiedergegeben wird:

Das Meer hinter dem Stacheldraht

Hinter einer hohen Düne aus gelbem, grobem Meersand erhob

sich ein Lager, in dem Frauen und Kinder im Zweiten Weltkrieg

interniert waren. Die Regenzeit hatte begonnen. Vom Meer her

zogen dunkle Wolken über den Himmel. Es regnete. Frierend standen

die arabischen Soldaten in ihren zu großen englischen Uniformen

in ihren Wachhäuschen. Ihre Schuhe waren nass und mit Lehm

beschmiert bis hinauf zu den Gamaschen.

Zwischen dem Geprassel der Tropfen auf das verzinkte Wellblechdach

einer Baracke tönte das fröhliche Geschrei von Buben.

Sie saßen am Boden und spielten mit Murmeln. Dazu hatten sie

sich kleine Löcher in den harten, getrockneten Lehmboden gescharrt.

Das Spiel war ernst, denn es ging immer um einen hohen Einsatz,

um eine Murmel, und Murmeln konnte man nicht kaufen, man

musste sie haben. Sie spielten so wie alle Jungen auf dieser Welt,

216


unbekümmert und ganz bei der Sache, nur darauf wartend, dass

der Regen aufhörte.

Frauen verschiedenen Alters und Standes lagen halb angezogen

auf den Holzbänken, saßen auf dem Bettrand und stopften Strümpfe

oder kämmten sich und ihren Töchtern die Haare. Sie unterhielten

sich, soweit das möglich war bei dem Lärm, der durch den Regen

auf dem Wellblechdach verursacht wurde. Einige saßen an einem

langen Holztisch in der Mitte der Baracke. Manche stillten ihre

Kinder, verprügelten ihre Jungen und kreischten mit hoher Stimme.

Sonst gab es nichts zu tun.

Ein Junge, etwa zehn Jahre alt, barfuß, mit einer Kakihose und

einem viel zu kleinen Trikothemd bekleidet, saß am Boden abseits

von den anderen Jungen, die Murmeln spielten. Seine Murmeln

hatte er beim Spiel verloren. Er spielte schlecht, und er gewann

nie.

Er hielt ein schmales Holzbrett einer Orangenkiste in der Hand

und schnitzte mit seinem Taschenmesser daran herum. Das Holz

war erstaunlich hart, wahrscheinlich stammte es von einem Orangenbaum.

Manchmal nahm er eine grüne Glasscherbe einer zerbrochenen

Flasche und schabte damit das Holz glatt. Hin und

wieder lutschte er an seinem Zeigefinger. Er hatte sich geschnitten.

Dann färbte sich das weißliche Holz an einigen Stellen rot.

Mit einem Nagel durch die Mitte befestigte er das geformte Brettchen

an einer Stange.

Er sprang hinaus in den Regen. Würde sich das Brettchen im

Wind drehen? Hatte er es fertiggebracht, einen richtigen Propeller

zu schnitzen? Ja, es drehte sich! Geschickt stieg er an einer

etwas erhöhten Stelle auf die Baracke, die zum Essen und zum Gottesdienst

bestimmt war, und klemmte seinen Propeller zwischen

zwei Wellblechbahnen fest, um den Wind vom Meer aufzufangen.

Von hier aus versuchte er auch, über die Düne hinwegzublicken,

um das Meer zu sehen. An keiner Stelle des Lagers waren die Vor-

217


aussetzungen günstiger als hier. Aber auch dieses Dach war zu

niedrig, er konnte das Meer nicht sehen.

Der Propeller drehte sich, er hielt den Wind vom Meer fest. Das

Meer kam dadurch dem Jungen näher; er bildete sich ein, es jetzt

deutlich rauschen zu hören. Sein Wunsch, es einmal zu erblicken,

brannte immer stärker in ihm. Er brach in Tränen aus und stieg

vom Dach herunter. Nie hatte er die Freiheit so vermisst wie jetzt.

Er lief auf die Baracke zu, in der er wohnte, und warf sich auf seine

niedrige Pritsche, das Gesicht in die Wolldecke vergraben, und

weinte. Seine Schwester beugte sich über ihn, streichelte die nassen

Haare und sagte: ,,Siegfried, was hast Du denn?“ Er schluchzte

noch mehr und schob ihre Hand weg.

Am gleichen Abend entdeckten Vorbeigehende den Propeller auf

dem Dach. Einige freuten sich, andere schimpften über den Unfug.

Niemandem kam in den Sinn, dass der Junge versuchte, mit dem

Propeller den Wind festzuhalten, um dem Meer näher zu sein.

Schließlich stieg einer der Buben, die Murmeln gespielt hatten, auf

das Dach, packte den Propeller mit beiden Händen und warf ihn

im hohen Bogen über den Stacheldraht auf die Düne. Seine Kameraden

lachten laut und klatschten Beifall.

Siegfried, verletzt und enttäuscht von den Jungen, lief am Stacheldraht

entlang und versuchte, irgendwo ein Loch zu finden. Es

schien vergebens zu sein. Endlich sah er eine Stelle, wo der Draht

nur lose über dem Sand lag. Wenn er hier den Sand wegräumte,

könnte er seinen schmalen Körper durch die entstandene Öffnung

schieben, er würde die Düne hinauflaufen, seinen Propeller holen

und dabei auch das Meer erblicken. Ihm wurde ganz warm ums

Herz bei diesem Gedanken.

In der Nacht konnte er kaum schlafen. Er hatte einen Plan gefasst.

Gegen Morgen, als es noch dunkel war, schlich er sich von

der Seite seiner Schwester, öffnete leise die Barackentür, schob sich

hinaus und eilte im Schutz der Barackenwände zu der Stelle hin.

218


Ein sternklarer Himmel wölbte sich über ihm. Hinter der Düne

begann es, schon heller zu werden. Schnell grub er mit beiden Händen

den Sand weg und schielte dabei vorsichtig nach beiden Seiten,

um sich zu vergewissern, dass er von niemandem beobachtet

wurde. Der Soldat im Wachhäuschen schlief. Im Lager war nie etwas

geschehen. Keiner hatte bisher einen Fluchtversuch unternommen.

Er hatte keine Veranlassung, sich mit aller Kraft wach zu

halten.

Vorsichtig schob der Junge seinen kleinen Körper durch die Öffnung

und rannte die Düne hinauf.

Beinahe am Kamm angelangt, hörte er einige Schüsse, die dumpf

in den Sand fielen. Er fiel vor Schreck hin. Er war aber nicht getroffen

worden. Er blickte über das ersehnte Meer. So sah es also

aus. So weit hatte er es sich nicht vorgestellt. Es schien in der Ferne

kein Ende zu nehmen. Am Horizont war es sogar blauer als der

Himmel. Die Sonne erschien als glühender Ball und ein Schiff zog

eine lange Rauchfahne hinter sich her. Die Wellen brachen sich an

den Klippen, überschlugen sich und rollten sanft an der schwachen

Neigung der Düne aus. Er zitterte am ganzen Leib, so hatte

das Bild von ihm Besitz ergriffen. Er wollte es am liebsten verschlingen.

Er fühlte, wie Männerhände seinen Körper betasteten, er drehte

sich um und schaute verwundert dem arabischen Soldaten ins Gesicht,

der sich über ihn beugte. Warum weinte der Araber? Der

Gesichtsausdruck des Soldaten änderte sich und ging in ein Lachen

über, als er merkte, dass der Junge nicht getroffen war. Er hob

ihn auf und stellte ihn hin, um wirklich sicher zu sein. Der Junge

war unverletzt. Der Araber kniete nieder, neigte sich der aufgehenden

Sonne zu und verrichtete sein Morgengebet.

Der Junge wartete und faltete verstohlen selbst die Hände. Der

Araber nahm sein Gewehr vom Boden und zog den Jungen von der

Düne weg. Als sie am Wachhäuschen vorbeikamen, verschwand

219


der Soldat kurz. Er brachte den Propeller heraus und gab ihn dem

Jungen.

Der englische Lagerkommandant sprach viel und lange mit dem

Jungen. Siegfried verstand nichts. Endlich wurde er in die Baracke

zurückgebracht. Er holte eine dicke Muschel aus seiner Tasche

hervor und schenkte sie seiner Schwester.

Der Stacheldraht wurde zwar in der Folgezeit verstärkt, aber

dafür durften die Kinder wöchentlich einmal in Begleitung einer

Rotkreuzschwester und zweier arabischer Soldaten über die Düne

ans Meer.

In einer der großen Baracken waren ungefähr 60 Personen

untergebracht. Sie war viel zu klein für so viele Menschen.

Der Geräuschpegel war hoch und die Stimmung unter den

Gefangenen schlecht. Und es roch nach Menschen! Die Tage

vergingen mit Warten.

Eine Frau schrie wie von Sinnen, als sie in einem ihrer Schuhe

einen Skorpion entdeckte. Sie wäre sicher gestochen worden,

wenn sie nicht zufällig vor dem Anziehen des Schuhs

hineingeschaut hätte, wie das wegen der in dieser Gegend

häufig vorkommenden Skorpione empfohlen worden war.

Ein älterer Junge rief: „Wollen wir doch einmal sehen, ob

ein Skorpion sich wirklich umbringt, wenn es keinen Ausweg

mehr gibt.“

Er nahm einen Kanister mit Petroleum, das für die Lampen

gebraucht wurde, und goss einen Ring um den Skorpion. Er

zündete die Flüssigkeit an. Der Skorpion drehte sich einige

Male im Kreis, seinen Stachel hoch erhoben, und als er erkannte,

dass rings um ihn Feuer brannte, stach er sich selbst, fiel

zur Seite und starb.

220


Der Gefangenenaustausch nach Deutschland

Die Verzeihung ist vollständig, wenn die Sünde vergessen ist.

Dann war es eines Tages so weit. Busse fuhren vor. Das

Wenige, was wir mitnehmen durften, war bald gepackt. Die

Eisenbahnwaggons der Schmalspurbahn standen bereit.

Die Abteile waren so angeordnet, dass jedes nur von außen

bestiegen werden konnte. Unter ihnen gab es keinerlei Verbindung.

Drei Frauen mit ihren Kindern kamen in jedes Abteil

und dazu ein bewaffneter arabischer Söldner. Der Zug

setzte sich im Schritttempo in Bewegung. Toiletten gab es keine,

und der Zug hielt kaum einmal an. Schließlich tauchte ein

Töpfchen auf, das dann von Fenster zu Fenster den ganzen

Zug entlang weitergereicht wurde. Trotzdem war es für die

Frauen eine heikle Situation mit dem anwesenden Araber im

Abteil.

Schließlich erreichten wir Aleppo und dann die Türkei. Der

Austausch fand statt und als wir Istanbul passiert hatten,

waren auf einmal deutsche Beamte in dem jetzt normalen Zug.

Wir waren jetzt auf der Strecke, wo in Friedenszeiten der Orientexpress

verkehrte.

An einem kalten, wolkenbedeckten Tag fuhren wir

schließlich in den Hauptbahnhof von Wien ein und fanden

ein Telegramm von Tante Gertrud Wieland vor, die uns in ihr

Haus in Aufkirch bei Überlingen aufnehmen wollte. War die

Internierung jetzt endgültig zu Ende? Waren wir wieder freie

Menschen? Konnte ich jetzt hinlaufen, wohin ich wollte?

Ich nahm die Gelegenheit gleich wahr, riss mich von meiner

Mutter los und rannte auf den Bahnhofsvorplatz. Ich

schaute in den Himmel. Alles grau! Wie schrecklich. Nirgends

war die Sonne zu sehen. Nirgends brach sie durch. Das war

ich von Palästina nicht gewohnt. Das Grau legte sich wie ein

221


schwerer Mantel auf mein Gemüt. Ich atmete tief und schwer,

als ob das Grau der Luft den Weg in meine Lunge versperrte.

Und auch die einzelnen herabfallenden Schneeflocken, die im

schwarzen Asphalt der nassen Straße schmolzen, konnten

meine düstere Stimmung nicht aufhellen. Hier in diesem Land

sollte ich in Zukunft leben? Die Helligkeit und die Sonne Palästinas

würde ich sehr vermissen, das war mir plötzlich bewusst

geworden.

Und welch andere Widerwärtigkeiten erwarteten uns in

dem vom Krieg zerrütteten Deutschland?

Den Beamten war natürlich berichtet worden, dass die meisten

der Kinder mit Trachom infiziert waren. Wir wurden nach

Tübingen ins Tropeninstitut zur Untersuchung gebracht. Die

Untersuchungen ergaben, dass weder meine Schwester noch

ich und auch alle anderen Kinder nie an Trachom erkrankt

waren und es auch nicht hatten. Wir wurden einfach als gesund

entlassen. Es war eine Fehldiagnose gewesen mit schwerwiegenden

Folgen für die betroffenen Familien. Wahrscheinlich

war es nur eine Bindehautentzündung gewesen, die wegen

der Behandlung mit den Ätzsteinen nicht heilen konnte.

Ein Abschnitt in meinem Leben war zu Ende gegangen. Ich

war gerade elf Jahre alt geworden und hatte schon viel erlebt.

Das Herausragende an meinem bisherigen Leben war die Liebe

zu meiner Mutter. Ich hatte immer ein wunderbares Zuhause

gehabt, konnte immer mit all meinen Problemen zu ihr

kommen und wurde mit Liebe und Verständnis empfangen.

Ich hatte erfahren müssen, wie emotional Araber reagieren

können. Welche Todesangst hatte ich gehabt, als ich auf dem

Band der Häckselmaschine lag und Ali fast bereit war, mich

loszulassen und es auch getan hätte, wenn Achmed nicht gekommen

wäre.

Ich musste erst einen lebensgefährlichen und sinnlosen

222


Kampf auf dem schrägen Dach des Wasserturms durchstehen,

um erkennen zu können, zu welchen Auswüchsen Menschen

fähig sind.

Ich wurde als Templer zu freiem Denken erzogen. Im Vordergrund

stand der Glaube an das Gute im Menschen, die

Ehrlichkeit und die Bereitschaft zu empfangen und zu geben.

Mein Vater hatte mir Jerusalem gezeigt. Die Heilige Stadt

mit ihren vielen Religionen und noch mehr Kirchen. Würde

ich die Stadt heute auch als meine Heimat betrachten? Nein,

Jerusalem ist mir, im Gegensatz zu meinen Eltern, immer

fremd, ja beinahe könnte man sagen, unnahbar, vielleicht

sogar etwas unheimlich geblieben.

Vielleicht hat der Jude Graf Lüttichau mich mit seinem Wissen,

seinem scharfen Verstand und seinen Geschichten so beeindruckt,

dass in mir ein Wissensdurst entfacht wurde, der,

wenn ich es richtig sehe, bis heute nicht erloschen ist. Vielleicht

war das das Schlüsselerlebnis in meinen jungen Jahren.

Ich hatte kennenlernen müssen, was der Verlust der Freiheit

bedeutet, hinter Stacheldraht gefangen zu sein und wie

süß die wiedergewonnene Freiheit danach ist.

Jetzt stand die Reise an den Bodensee bevor. Ich war gespannt.

Konnte man darin angeln, darin schwimmen? Würde

es dort heller und freundlicher sein als in dem grauen Wien?

Würde ich in jener fremden Stadt Überlingen Freunde finden?

Würde ich dort Murmeln kaufen können?

Wann würde der Krieg zu Ende gehen? Würde unser Vater

uns nach Australien holen, um dort endlich wieder vereint

ein neues Leben beginnen zu können? In einer neuen Heimat?

223


Die überraschende, neue Geschichte des

Hauses Kuebler

Der Einäugige ist eine Schönheit im Land der Blinden.

Dieser Abschnitt wurde im Jahr 2007 geschrieben, als Ehud

Olmert noch israelischer Ministerpräsident war:

Die Nummer 8 Cremieux Street – vor 1948 mit dem Namen

Seestraße – Jerusalem, ist in den letzten Jahren eine der bekanntesten,

wenn nicht sogar berühmtesten Adressen Israels

geworden. Wie konnte das geschehen, werden Sie als Leser

fragen? Das Haus ist doch bestimmt sehr alt und hat nichts

Außergewöhnliches zu bieten. Oder doch? Mein Großvater hat

es in den 1880er-Jahren aus mit Meißeln gehauenen, sehr breiten

Kalksteinen gebaut. Es sollte den häufigen Erdbeben in

dieser Gegend widerstehen, was es offensichtlich auch tat.

Ich traute meinen Ohren nicht, als Shay Farkash, der sich im

Auftrag der israelischen Regierung unter anderem für die Erhaltung

und Restaurierung der Templersiedlungen in Israel

einsetzt, mir am Telefon Ende 2006 erklärte, dass Ehud Olmert,

der heutige Ministerpräsident Israels, in der Zeit, als er noch

Bürgermeister von Jerusalem war, etwa 2004 dieses Haus gekauft

und darin mit seiner Familie gelebt hat, bevor er Prime

Minister geworden und in das ihm zustehende Regierungsgebäude

umgezogen ist.

Am 17.April 2006 berichtete ein Reporter des bekannten

amerikanischen Time Magazine über einen Besuch bei Ehud

Olmert:

„Es ist gerade 11 Uhr an einem wolkenlosen Morgen in Jerusalem.

Ehud Olmert sitzt mit seiner Frau Aliza am Frühstückstisch

mir gegenüber in einem luftigen, dreistöckigen

Haus, das in der German Colony steht und innen mit Ölgemälden

seiner Frau dekoriert ist. [Wie sich doch die Bilder glei-

224


Mein Vaterhaus in der 8, Cremieux Street, „Deutsche

Kolonie“, heute offiziell genannt „German Colony“ in

Jerusalem, aufgenommen ca. 2004. Für die freundliche

Überlassung der Aufnahme danke ich Shay Farkash,

conservator, Tel-Aviv.

chen. Auch meine Mutter hatte alle Zimmer in diesem Haus

mit ihren selbst gemalten Ölbildern geschmückt. Bernhardiner

Hunde waren eines ihrer bevorzugten Malmotive.] Während

Olmert Gurkensalat serviert, bietet Aliza an, mir ein

Omelette zuzubereiten, zusammen mit geräuchertem Lachs,

gekochtem Gemüse, Oliven und Käse. Es fällt mir leicht zu

vergessen, dass dieses Paar das einflussreichste und mächtigste

in ganz Israel ist.“

Aus Zeitungsberichten kann man ersehen, dass Olmert für

das Haus mit seinem Grund und Boden – das Grundstück mag

nach meiner Schätzung ca. 2 800 qm groß sein – 1,2 Millionen

US-Dollar bezahlt haben soll. Der Marktwert wurde aber auf

225


1,6 bis 1,8 Millionen geschätzt. Schließlich ist die „German

Colony“ die beste Wohnlage in Jerusalem. Es wird gemunkelt,

dass für das Haus in der Amtszeit Olmerts eine Abrissgenehmigung

erwirkt worden war, die in den Zuständigkeitsbereich

der Stadtverwaltung fiel, obwohl es zunächst unter vorläufigem

Denkmalschutz stand.

Die israelische Presse warf jetzt die Frage auf, weshalb Olmert

das Anwesen so billig erwerben konnte. Hatte er seine

Stellung als Bürgermeister missbraucht? Die Affäre wird jetzt

von einem Anwalt untersucht, der von der Regierung für Korruptionsfälle

eingesetzt ist. Die Untersuchungsergebnisse sollen

dem Staatsanwalt unterbreitet werden, dem bei entsprechender

Sachlage nichts anderes übrig bleiben wird, als Anklage

gegen Olmert zu erheben. Das könnte allerdings das

vorzeitige politische Ende des kometenhaften Aufstiegs von

Ehud Olmert bedeuten.

Ehud Olmert

bei einer Rede etwa 2007

226


Ullrich W. Sahm, Nahost-Korrespondent für deutsche Medien

in Israel, schreibt im Sept. 2007:

„Das zweistöckige leer stehende Haus mit dem roten Ziegeldach

in der Cremieuxstraße 8 wirkt ein wenig wie ein Märchenschlösschen.

Umgeben von alten Bäumen, steht es inmitten

der Deutschen Kolonie in einer kleinen schmalen Gasse

zwischen der Bethlehemstraße und der Straße des Geistertals.

Die braune Farbe blättert von den hölzernen Fensterrahmen

ab. Zwei Vorhängeschlösser verschließen das Tor zu dem verkommenen

Garten, in dem Bauschutt liegt und Gräser aus dem

Gehweg wuchern. Ein verbogenes Schild verbietet das Parken

vor dem Haus und sogar auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Das Namensschild aus bunter Kachel trägt noch den

Namen des Vorbesitzers: Ganani-Elad. Ehe Ministerpräsident

Ehud Olmert es beziehen kann, müsste das alte verfallene Haus

einer gründlichen Renovierung unterzogen werden, denn im

Augenblick sieht es eher wie eine Bauruine aus.“

Der folgende Abschnitt wurde im Jahr 2010 geschrieben,

nachdem Ehud Olmert von seinem Posten als Ministerpräsident

im März 2009 wegen einer anderen Korruptionsaffäre,

die nichts mit dem Kauf des Kuebler-Hauses zu tun hatte,

zurückgetreten war.

Die Anklage gegen Olmert wegen in Vorteilnahme seines

Amts beim Kauf des Hauses wurde durch den zuständigen

Staatsanwalt im Oktober 2007 eingeleitet. Die Untersuchung

dauerte drei Jahre. Generalstaatsanwalt M. Mazuz stellte im

Juli 2009 das Verfahren mangels Beweisen ein. Er fügte aber

bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung dem Sinn gemäß

hinzu: Die Untersuchung beseitige nicht alle Zweifel, die den

zu niedrigen Kaufpreis des Hauses betreffen. Die Vermutung

bleibe bestehen, dass die Baufirma Alumot als Verkäuferin

227


Olmert einen beträchtlichen Nachlass eingeräumt habe und

dafür von ihm als Oberbürgermeister von Jerusalem erwartete,

seinen Einfluss bei den Stadtbaubehörden bei außergewöhnlichen

Bauanträgen in ihrem Sinne geltend mache.

Olmert dagegen argumentierte, dass er den Kaufpreis im

Voraus entrichtet habe, obwohl Alumot noch nicht die vollen

Besitzerrechte erworben hatte. Dieses Risiko habe er getragen

und deshalb auch einen niedrigeren Preis bezahlt.

Mit dem Freispruch für Ehud Olmert dürfte die undurchsichtige

Angelegenheit um das Kuebler-Haus zu Ende gegangen

sein.

228


Zeitungsausschnitte, die meinen Vater betreffen.

Der Fremde ist blind, auch wenn er Augen hat.

Mein Vater hat gut arabisch gesprochen, so wie meine Mutter

auch, nämlich die in Palästina gebräuchliche Umgangssprache.

Schreiben und lesen konnten sie sie aber nicht. Manche

arabische Ausdrücke blieben mir in Erinnerung, von denen

ich hier einige wiedergeben will, sozusagen als Einstimmung

für dieses Kapitel, das aus Zeitungsausschnitten aus der

Palestine Post besteht, die meinen Vater betreffen.

Wallahe! – das war wirklich so!

Elhamdulillah – Allah sei gelobt!

Rasul Allah – der Gesandte Gottes

Marschallah! – Ausruf der Bewunderung

Salam alikoum – Willkommen, seid alle gegrüßt

Labass

– wie gehts?

Allah rallabe – so Gott will

Hada hareke – welch ein Durcheinander!

Alla akbar – Allah ist der Allergrößte

Die nachstehenden Ausschnitte wurden im Jahr 2006 von

Ariel Atzil und Shay Farkash, member of the Society for Preservation

of Historic Sites in Israel, zur Verfügung gestellt.

ca. 1931

ca. 1931

229


The Palestine Post,

14. Feb. 1934,

page No. 5:

Übersetzung:

„Der berühmte Schweizer Flieger und Forscher Mittelholzer flog

gestern in einem dreimotorigen Flugzeug über Palästina. Er startete

in Gaza nach Petra, umkreiste dabei Jaffa, Tel-Aviv und Jerusalem.

Schweizer Berufsfotografen, die an Bord waren, schossen

dreitausend Bilder von dem neuen und dem alten Palästina.

Das Flugzeug war von dem abessinischen Kaiser – Haile Selassie –

gekauft worden, und Mittelholzer überführte es nach Addis Abeba. Die

Teilnehmer werden bis Freitag hier bleiben, um die Filme

fertigzustellen. Dann werden sie über Ägypten und den Sudan nach

Abessinien weiterfliegen.

Dr. Gogler und Professor Morf, wissenschaftlicher Berater der

Expedition, begleiteten Mittelholzer auf dem Flug. Mr. F. Kuebler,

Kaufmann aus Jerusalem, begleitete Mittelholzer nach Petra. Das

große blaue Flugzeug konnte man gestern von verschiedenen Teilen

des Landes am Himmel beobachten.“

230


Noch einige Einzelheiten zu meinem Vater

Mein Vater wurde am 1. September 1939 am Tag des Kriegsausbruches

von den Engländern interniert. In der Palestine Post

erschien wenige Tage später diese kleine Notiz von seiner Festnahme.

Palastine Post,

Anfang Sept. 1939:

Mein Vater mit ca. 68 Jahren

Mein Vater mit ca. 78

Jahren

231


Shay Farkash

stellte mir die nachfolgenden Bilder zur Verfügung, die

Aufnahmen von Innenräumen meines Vaterhauses zeigen. Sie

stammen wahrscheinlich aus dem Jahr 1930. Er interessiert

sich für die Bordüren an den Wänden der Templerfamilien,

die zum großen Teil von jüdischen Künstlern entworfen und

gemalt worden sind. Bordüren sind auf beiden Aufnahmen

zu erkennen.

Auf dem unteren Bild links oben ist ein Ölgemälde eines

Bernhardiners (Kopf nicht vollständig gezeigt) zu sehen, das

meine Mutter, wie bereits erwähnt, gemalt hatte. Das Foto

wurde in unserem Wohnzimmer im obersten Stock des Hauses

aufgenommen. Im Jahr 1934/35 bezogen wir dann die

Wohnung im mittleren Geschoss. Das Foto zeigt die ganze

Familie von links nach rechts:

Hugo Kunz Hoffmann, Sohn von Hugo und Ida Hoffmann,

Schwester meines Vaters.

Friedrich Kuebler, mein Vater.

Hugo Hoffmann.

Katharina Dyck, die Ehefrau von Johannes Dyck.

Abram Dyck, Bruder meiner Mutter.

Baby auf dem Schoß meines Großvaters Johannes Dyck ist mir nicht

bekannt.

Friedel Dyck, Ehefrau von Abram Dyck.

Paula Kuebler, meine Mutter.

Ida Hoffmann mit Nellie auf dem Schoß, Tochter von Hans und

Katharina Hesselschwerdt, Schwester meines Vaters.

Marianne Dyck, Ehefrau von Dieter Dyck.

Dieter Dyck, Bruder meiner Mutter.

232


Bordüren im Wohnzimmer

Familie Kuebler - Dyck

233


Anmerkungen zu Walter Mittelholzer

Gekürzt aus Wikipedia 2009: „Mittelholzer wurde 1894 in

St. Gallen geboren und starb nach einem Flugzeugunfall in

der Steiermark. Er war Flugpionier, Schriftsteller und Fotograf.

Er gründete eine der ersten Fluggesellschaften. Er war

der Erste, der Afrika in der Nord-Südrichtung überflog. Er startete

am 7. Dez. 1926 in Zürich und landete nach vielen Zwischenstopps

in Kapstadt am 15 Febr. 1927. 1931 avancierte er

zum ersten technischen Direktor der neu gegründeten Swissair.“

In seinem Buch Abessinienflug von 1930 hat er seine Eindrücke

aus der Luft beschrieben. Er soll mit seinen Begleitern allein

über Palästina und dem heutigen Jordanien 3 000 Luftaufnahmen

gemacht haben, die bis heute (2010) noch nicht

aufgefunden worden sind und die das besondere Interesse von

Ariel Atzil erweckt haben, selbst ehemaliger Pilot bei der israelischen

Luftwaffe und Mitglied der Society for Preservation

of Historic Sites in Israel. Nicht verwunderlich, denn wenn

man als Beispiel Mittelholzers

Ausführungen über Gaza liest,

Walter Mittelholzer

kann man das kaum glauben:

„Noch vor wenigen Jahren

war Gaza ein kleines Araberdorf,

dessen Name mit der

Schlacht und dem Sieg der Engländer

über die Truppen der

Deutschen und Türken verbunden

war.“

Wie hat Gaza damals aus der

Luft ausgesehen? Waren es

2 000 Einwohner? Und wie

234


sieht Gazastadt heute aus? Mehr als eine halbe Million Einwohner?

Aber auch andere Landaufnahmen vom ehemaligen Palästina

aus den 1930er Jahren würden Aufschluss über die Entwicklung

des Landes geben und auch andere Forschungsgruppen

in aller Welt interessieren.

Ariel hatte uns mit seiner Frau im Mai 2009 in Überlingen

besucht. Wo sind die Luftaufnahmen geblieben? Waren die

Bilder vielleicht im Nachlass meines Onkels Jona Kuebler zu

finden, der damals Schweizer Konsul war und der damals

Mittelholzer in seiner Eigenschaft als Konsul betreut hatte?

Vielleicht wusste irgendjemand aus seiner Nachkommenschaft

etwas über den Verbleib der Bilder?

Doch ich konnte ihm nicht weiterhelfen. Ich wusste nur, dass

mein Onkel in der Limmattalstraße in Zürich ein Haus besessen

hatte. Ich wusste auch, dass seine Tochter Liselotte hieß.

Kurz nach meinem Studium war ich 1953 in Zürich gewesen,

um an einem Kongress der Gesellschaft für Weltraumfahrt

teilzunehmen. An das Haus erinnere ich mich noch. Die Räume

waren mit dicken Orientteppichen ausgelegt und arabische

Tischchen mit Elfenbeineinlagen und aufliegenden gehämmerten

und verzierten Messingtellern standen verstreut

herum. Palästina ließ sich nicht verleugnen.

Onkel Jona war schon lange tot. Liselotte, an deren Nachnamen

– sie hatte geheiratet – ich mich nicht mehr erinnern

kann, hatte eine Tochter, deren Namen Rosemarie war. Liselotte

fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihrer Tochter,

die wahrscheinlich ein oder zwei Jahre jünger als ich war

(damals vielleicht 20 Jahre alt), einen Kaffee in der Innenstadt

von Zürich zu trinken. Ich erinnere mich noch so gut an diese

Situation, da ich bis auf einige Rappen, genau noch so viel Geld

besaß, um die Rechnung für die beiden Kaffees zu begleichen.

235


Demnach musste die junge Dame im Zeitpunkt des Besuchs

von Ariel etwa 75 Jahre alt sein. Diese wenigen Informationen

reichten jedoch nicht aus, um sie ausfindig zu machen.

Aber wie so oft im Leben kam durch einen Zufall etwas Licht

in die Geschichte. Ein Tennisschläger-Fan, Jürg Schälchli, der

so wie ich alte Schläger sammelt, besuchte mich kürzlich in

Überlingen, um meine Sammlung anzusehen. Zufällig wohnte

er in Zürich in der Limmattalstraße, wo Jona Kuebler ja

bekanntlich auch sein Haus besaß. Ich glaube mich erinnern

zu können, dass es die Nummer 42 war.

„Ja, ich kenne dieses Haus. Ich werde mich umhören.

Vielleicht kann ich Rosemarie ausfindig machen.“

So erfuhr ich dann, dass Liselotte einen gewissen Mann namens

Schweizer etwa 1929 geheiratet habe und aus dieser Ehe

ein Mädchen mit dem Namen Rosemarie hervorgegangen sei.

Rosemarie sei 1932 geboren worden, habe in ihrem Leben aber

nie geheiratet, keine Nachkommen gehabt und habe bis zu

ihrem Tod im Sept. 2009 in dem Haus in der Limmattalstraße

42 gelebt.

Ihre Mutter hatte sich nach etwa sechs Jahren Ehe von ihrem

Mann scheiden lassen, der 19 Jahre später noch einmal

heiratete. Aus dieser Verbindung ging etwa 1951 die Tochter

Maya Schweizer hervor, die nun das Erbe von Rosemarie als

Halbschwester antreten konnte.

Ich konnte nach einigen Recherchen mit Maya telefonisch

in Verbindung treten.

„Nein, irgendwelche Luftaufnahmen von Mittelholzer waren

in dem Nachlass nicht dabei gewesen. Das hätte ich bestimmt

bemerkt.“

So geht die Geschichte zu Ende. Die wertvollen Aufnahmen

werden wohl für immer verschollen bleiben und damit ein Teil

historischen Erbes.

236


Literaturverzeichnis

Der Geizige bewacht sein Eigentum und ist Diener seiner Erben.

Der Koran, von Ludwig Ullmann, neu bearbeitet und erläutert von

L.W. Winter, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1959

Handschriftliche Aufzeichnungen meines Großvaters Johannes

Dyck, geb. 3. März 1858 in Rudnerweide, gest. 17. Mai 1931 in Jerusalem.

Handschriftliche Aufzeichnungen meines Vaters Friedrich Kuebler,

geb. 14. Juni 1884 in Jerusalem, gest. 30. Juni 1971 in Überlingen

Der Orangenpflanzer von Sarona, von Rudolf de Haas, mit Bildern

von Karl Mühlmeister, Enßlin & Laiblins Verlagsbuchhandlung/

Reutlingen, 1930

Templer und andere Erweckungsbewegungen im nördlichen

Schwarzwald und weit darüber hinaus, von Fritz Barth, Eigenverlag,

April 2004

From Desert Sands to Golden Oranges, the history of the German

settlers of Sarona in Palestine 1871-1947, Helmut Glenk in conjunction

with Horst Blaich and Manfred Haering, ISBN 1-4120-3506-

6, published 2005

The Holy Land Called - the Story of the Temple Society, von

Paul Sauer, verlegt von der Temple Society of Australia, Melbourne,

1991. Translation of Uns rief das Heilige Land, Konrad Theiss Verlag,

Stuttgart 1985.

Die Siedlungen der württembergischen Templer in Palästina

1868-1918, von Alex Carmel – Ihre lokalpolitischen und internationalen

Probleme; Kohlhammer - Verlag Stuttgart, 2000, 3te Auflage.

Jerusalem – The German Colony and Emek Refaim Street, by

David Kroyanker, 2008, 399 pages. (David Kroyanker hat ein Buch

237


über die Architektur der württembergischen Häuser der „Deutschen

Kolonie Jerusalem“ verfasst, das in hebräischer Sprache im Jahr 2008

veröffentlicht worden ist.)

Abessinien-Flug, von Walter Mittelholzer, Verlag A,G. Schweizer

Aero-Revue, Zürich, 1930

Mit den Türken zum Suezkanal, von Friedrich Freiherr Kreß von

Kressenstein, Vorhut Verlag, Berlin, 1938

Felix Haar, Melbourne, Brief vom 25. Juli 2009 an Shay Farkash,

Tel-Aviv. (Felix Haar, zwei Jahre jünger als ich, in Haifa geboren,

lebte seit 1939 in Sarona im Karl Steller Haus, schräg gegenüber dem

Haus von Jon Weller, in dem wir während der Internierung untergebracht

waren.)

238


Weitere Bücher von Siegfried Kuebler

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239


Titel Thema ISBN S. Verlag Jahr

Flugweltreise Südseeroute Reisebericht 97 Eigenverlag 1983

Das Mädchen, das der Sonne

nachlief Märchen 3-88325-302-2 71 World of Books 1985

Und dann? Abenteuerroman 3-88325-334-0 151 World of Books 1985

Medina Nueba Gedichte 3-89406-140-5 121 R. G. Fischer 1990

Die Lötkolbentherapie Satire 3-89406-190-1 49 R. G. Fischer 1990

Zwanzig Jahre Tennisschläger Tennisschläger

1972 - 1991 3-9802903-0-1 153 Kuebler GmbH 1992

Das Buch der Tennisrackets Tennisschläger

Book of Tennis Rackets

1555 bis 1990 3-9802903-2-8 423 Kuebler GmbH 1995

Tennis Rackets

1555 to1990 3-9802903-9-5 635 Kuebler GmbH 2000

Mörder unter sich Mordgeschichten 318 Dritte Auflage 2008

Geschichten aus Fuerteventura Abenteuer 253 Erste Auflage 2010

Tage in Süafrika und Namibia Geschichten 237 Limitierte Auflage 2012

Aufzeichnungen und GeschichtenWeingüter/Abenteuer 386 Erste Auflage 2013

Update 2010

to the Book of Tennis Rackets Tennis Rackets 322 Second Edition 2010

Autobiografie:

Unter dem Jerusalemer Kreuz 1931-1942 234 Dritte Auflage 2010

In Überlingen 1942-1953 372 Dritte Auflage 2008

Immer nur ein Fremder 1953-1956 162 Zweite Auflage 2012

Ein Immigrant in Kanada 1957-1960 232 Dritte Auflage 2009

Ein Kirschbaum blüht im Garten 1960-1984 350 Zweite Auflage 2011

von

Siegfried Kuebler

Erfahrungen, nicht unbedingt zur

Nachahmung empfohlen.

Nicht für Feiglinge und Wehleidige.

240

Zweite erweiterte Auflage.

Dieses Büchlein wird nicht kommerziell vertrieben.


241


Das Jerusalemer Kreuz

Das übliche christliche Kreuz ist an allen vier Enden mit einem zusätzlichen

Balken versehen, die wenn sie sich überkreuzen weitere Kreuze

bilden können.

Es sind dann insgesamt fünf Kreuze zu erkennen.

Das Jerusalemer Kreuz wird deshalb auch als Christus

und die vier Evangelisten gedeutet.

Es wurde erstmals 1099 von dem

Kreuzritter Gottfried von Bouillon als Wappen verwendet.

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