Online-Ausgabe 4, ET 18.04.2020
Krise, Krieg, Katastrophe: Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden, offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll, das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
Krise, Krieg, Katastrophe: Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden, offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll, das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
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Samstag, 18. April 2020
Samstag, 18. April 2020
Samstag, 18. April 2020
Online-Ausgabe 287 am am 4. 18. April April 2020 2020
Trumps Versäumnisse
Corona in den USA
Samstag, 18. April 2020
Anhand der Aussagen von US-Präsident Donald
Trump lässt sich klar belegen, wie leichtsinnig er
das Corona-Virus unterschätzte. Doch
das schert Trump nicht, trotz stündlich
wachsender Anzahl der Toten. Seite 2
Samstag, 18. April 2020
Knurrender Kretschmann
Lockerungen der Länder
Die Bundesregierung und die 16 Regierungschefs
der Länder haben eher kleine, vorsichtige Schritte
der Lockerung bis 4. Mai beschlossen. Und dabei
haben Söder, Laschet und Kretschmann auch
Streit vermieden. Seite 4
Krise, Krieg, Katastrophe
Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden, offenbaren schon die Unsicherheit.
Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll, das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
Das Wort „Krise“ impliziert,
dass es vorbei gehen könnte.
Man spürt dem Wort an,
dass eine Dringlichkeit darin liegt,
und dass es Unsicherheit darüber
gibt, wie der richtige Weg aus der
Krise denn aussehen soll. Denn im
Grunde ist die „Krise“ erst im Rückblick
als eine solche zu bezeichnen,
wenn es nämlich einen Ausweg gab.
Wenn es keinen gab, wurde die Krise
nicht überwunden sondern endete
in einer „Katastrophe“.
Insofern ist es interessant, dass
man von der Corona-Pandemie als
der „Corona-Krise“ spricht. Denn
das Wort ist einerseits geeignet,
Hoffnung zu machen, eben darauf,
dass es vorbei gehen wird. Doch es
offenbart sich darin auch jedwede
Unsicherheit, weil „Corona-Krise“
sehr unbestimmt bleibt. Was meint
der Begriff eigentlich? Meint er die
gesundheitliche Krise der einzelnen
Menschen, die von dem Virus
schwer krank wurden? Meint er die
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
Folgen, die nicht direkt durch das
Corona-Virus entstehen, sondern
durch die Maßnahmen, die dagegen
ergriffen werden (müssen)? Oder
meint er alles gleichermaßen?
In seiner Unschärfe scheint der
Begriff der „Corona-Krise“ alle zu
vereinen. Quasi: Zusammenhalt zur
Überwindung der Krise. Doch die
Krux an der Geschichte ist, dass ein
unscharfer Begriff keine scharfen
Einblicke bringt. Da ist das Los
desjenigen, der sich jahrzehntelang
etwas aufgebaut hat (sei es eine
Kneipe oder sonst was) und nun
vielleicht alles verliert, weil der
Staat ihm die Bude zuschließt. Und
da ist derjenige, dessen Leben noch
gerettet werden konnte, weil es
noch ein Bett mit Beatmungsgerät
für ihn gab, und zwar eben weil der
Staat durch herbe Einschnitte in das
Recht des Einzelnen dafür gesorgt
hat, dass die Ausbreitung des Virus
so verlangsamt wurde, dass das
Gesundheitssystem in Deutschland
(bisher) nicht zusammen brach.
Dies alles und millionenfach
noch weitere persönliche Umstände
sind derzeit unter dem Begriff der
„Corona-Krise“ miteinander verbunden.
Wenn man denn „Krise“ als
einen entscheidenden Wendepunkt
versteht, der dann zum Besseren
führt, dann geht es eine Weile gut,
möglichst viele in der Gesellschaft
darunter zu versammeln, weil na
klar: die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wenn aber später unzählige
wirtschaftliche, existenzielle oder
psychische Krisen nicht mehr überwunden
werden konnten, sondern
zu lauter persönlichen Katastrophen
führten, wird der Sammelbegriff
„Corona-Krise“ schlicht und einfach
millionenfach auseinander fallen.
Zwischenzeitlich wurde ja auch
der Begriff „Krieg“ gebraucht, von
Macron in Frankreich und Trump
in den USA, in dem man sich gegen
das Virus befinde. Was soll uns
das sagen? Da man ein Virus nicht
erschießen, nicht wegsprengen und
auch nicht einschüchtern kann (von
wegen psychologische Kriegsführung),
bleibt eigentlich nur der dem
Begriff „Krieg“ implizite Gedanke
der „Mobilisierung“ übrig.
Dies wiederum ist aber nur eine
Steigerung der Unschärfe, die schon
im Begriff „Krise“ steckt. Wenn im
„Krieg“ gegen das Corona-Virus alle
Kräfte (also Leute) mobilisiert werden
sollen, dann soll das ebenfalls
auf den Zusammenhalt abzielen. Da
werden aber natürlich persönliche
Unterschiede der jeweils Betroffenen
weggewischt, in diesem Falle
ist sogar der Begriff des „Opfers“
mit integriert, welche im Krieg ja
Einzelne zu erbringen haben.
Wenn Begriffe wie „Krise“ und
„Krieg“ einen Zusammenhalt in der
Gesellschaft herstellen sollen, der
aber nur oberflächlich eine Weile
lang funktionieren kann, dann sind
es andere, negierende Begriffe, die
noch deutlicher werden. So sagte
etwa Markus Söder kürzlich, dass es
sich beim Corona-Virus NICHT um
ein Gewitter handele. Damit nahm
er der „Krise“ das Optimistische,
dass es bald vorbei sein könnte.
Noch krasser war hier die Wortschöpfung
von Österreichs Kurz, sowie
Scholz und Spahn, die sagten,
dass man sich an eine „neue
Normalität“ gewöhnen müsse.
Fast so, als sei der Begriff
ansteckend. Sprich: Tschüss
Freiheit. Das hört sich schwer
nach Katastrophe an.
HALLO ZUSAMMEN
Sagen Sie es
gerne weiter!
Liebe Leserinnen und Leser, wer
Lust und Zeit hat, findet auf
unserer Homepage unter
www.zas-freiburg.de
nun JEDEN SAMSTAG ein
paar aktuelle Essays und News
wie heute die folgenden Seiten.
Diese Texte sind für Sie also
immer am Samstag nur einen
Klick weit entfernt, und zwar
ebenso frisch geschrieben und
meinungsstark wie sonst auch
immer, selbstverständlich ohne
Bezahlschranke und so, also
gratis. Sagen Sie das gerne
weiter, denn je mehr Leser
in unseren Online-Ausgaben
schmökern, desto mehr Seiten
wollen wir online anbieten. Im
Mai hoffen wir, die ZaS dann
auch wieder gedruckt an Sie zu
verteilen. Ja, es ist wie überall
ein womöglich interessantes
Experiment, mal andere Wege
zu gehen als jene seit 13 Jahren
bei der ZaS sonst üblichen.
Denn wie die Politiker und alle
Bürger wissen auch wir nicht,
wie es wann weiter gehen wird.
Es ist ein gemeinsamer Blindflug
entgegen jeder Gewohnheit.
Da wir alle nicht wissen, wohin
die Reise geht, sollten
wir umso mehr darauf
vertrauen, dass
uns etwas einfällt.
Immer wieder neu.
Michael Zäh
Samstag, 18. April 2020
2
POLITIK
AMERIKA
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Donald Trump findet
sich always great
Amerika und die Corona-Katastrophe. Obwohl der US-Präsident nachweislich die Gefahr
durch das Corona-Virus lange leugnete, wollte er sich mit „allumfassender Macht“ zum
alleinigen Entscheider darüber machen, wann Lockerungen für die Wirtschaft kommen.
Von Michael Zäh
Donald Trump zeigt ja eigentlich
immer sein wahres Gesicht. Man
kann ihm daher nicht anlasten,
dass er ein echt raffinierter Lügner sei.
Jede noch so bescheidene Dumpfbacke
erkennt, dass es Trump stets um ihn
selbst und seine von ihm postulierte
Großartigkeit geht. Er ist also insofern
ehrlich. Man weiß, was man an ihm hat.
„Wir haben es völlig unter Kontrolle.
Es ist nur eine Person, die aus
China kommt, und wir haben es unter
Kontrolle. Es wird alles gut werden“,
sagte Trump am 22. Januar in einem
CNBC-Interview, nachdem am Vortag
der erste Fall einer Corona-Infektion in
den USA bekannt geworden war.
Am 30. Januar dann, als die WHO
die Ausbreitung des Virus zur „gesundheitlichen
Notlage von internationaler
Tragweite“ erklärte, sagte Trump: „Wir
haben in diesem Land im Moment ein
sehr kleines Problem - fünf. Und alle
diese Menschen erholen sich erfolgreich.“
Am 10. Februar sagte Trump: „Sie
wissen, dass es im April angeblich mit
dem heißeren Wetter stirbt. Und das ist
ein wunderbares Datum, auf das man
sich freuen kann.“
Am 26. Februar hieß es von Trump:
„Bei uns geht es ganz erheblich nach
unten, nicht nach oben. Es ist in etwa
wie die normale Grippe, gegen die
wir Impfungen haben. Und im Prinzip
werden wir dafür ziemlich schnell eine
Grippeimpfung bekommen.“
Am 9. März twitterte Trump: „Die
Fake-News-Medien und ihre Partner, die
Demokratische Partei, tun alles in ihrer
halbwegs beachtlichen Macht (früher war
sie größer!), um die Corona-Lage stärker
anzuheizen, als die Fakten es hergeben.“
Stand 17. April gibt es in den USA
knapp 672.000 Infizierte und 33.288
Tote, stündlich wachsend.
Heutzutage sind ja all die früheren
Sprüche des US-Präsidenten in Ton,
Bild und Twitter gespeichert. Doch jetzt
kommt das Erstaunliche: Trump schert
es nicht, dass mit all diesen digital gespeicherten
Aussagen von ihm selbst
ja auch schon bewiesen ist, dass er das
Corona-Virus lange Zeit verharmlost
hat. Er setzt offenbar darauf, dass in
der schnellebigen Welt der sozialen
Netzwerke kein Mensch mehr die Aufnahmen
von gestern (gefühlt: vor einer
Ewigkeit) anschaut.
Kürzlich hat nun die „New York
Times“ detailliert nachgezeichnet, wie
Trump es in den wohl entscheidenden
Wochen zwischen Ende Januar und
Mitte März versäumt hatte, die USA
auf die Corona-Krise vorzubereiten.
Während einige seiner Berater und die
Gesundheitsexperten in der Regierung
schon früh vor einer Pandemie gewarnt
hatten, hatte Trump es versäumt, Ausgangssperren,
Schulschließungen und
andere Maßnahmen abzusegnen, um
die Ausbreitung des Virus möglichst zu
verlangsamen.
Trump sprach - wie immer - von
„Fake News“ und sagte gleich dazu,
dass auch die „New York Times“ selbst,
quasi als ganze Zeitung eine einzige
Fake-News sei. Dummerweise hat dann
aber ein Mann dem Präsidenten indirekt
widersprochen, den das Magazin „The
New Yorker“ erst kürzlich zum „vertrauenswürdigsten
Mann Amerikas“
gekürt hat: Der Immunologe Anthony
Fauci, 79 Jahre alt, der bereits sechs
US-Präsidenten als oberster Berater zur
Seite stand.
Bei Trump ist dies in letzter Zeit
ziemlich buchstäblich zu verstehen
Samstag, 18. April 2020
April 2020
AMERIKA POLITIK 3
April 2020
Samstag, 18. April 2020
gewesen: In den täglichen Presseauftritten
von Trump steht Fauci seitlich
hinter Trump, während dieser von
Dingen prahlt, die er nicht versteht. Wie
etwa am 5. April, als er vor Millionen
Zuschauern die Einnahme eines Malaria-Mittels
anpries. „Take it“ und „Try
it“ rief Trump der Nation zu. Er hatte
davon schon am 6. März in einer Rede
in Atlanta geschwärmt: „Ich mag dieses
Zeug. Ich verstehe es wirklich. Die Leute
sind überrascht, dass ich es verstehe.
Jeder dieser Ärzte sagte: ‚Woher wissen
Sie so viel darüber?‘ Vielleicht bin ich
ein Naturtalent.“ Noch Fragen?
Doch dann kommt Anthony Fauci
als Fachmann zu Wort, der somit von
seitlich hinter Trump ganz nach vorne
gebeten wird. Und der sagte in diesem
Fall: Die Wirksamkeit des
soeben vom Präsidenten
angepriesenen Mittels sei
nicht durch Studien belegt,
die nämlich allenfalls eine
„anekdotische Evidenz“ hätten
(ein kleiner Seitenhieb nach Marseille,
wo Frankreichs führender Seuchenbekämpfer
eine Mini-Studie mit 26 (!)
Teilnehmern machte). Die Belege, sagte
Fauci nun dem Millionen-Publikum,
reichten nicht für eine Empfehlung.
So ging das schon seit einer Weile
zwischen Trump und Fauci, der dabei
stets betonte, dass er sich nicht gegen
den Präsidenten aufspielen will. Nun
aber hat Fauci in einem Interview mit
CNN (auf den New-York-Times-Artikel
angesprochen), bestätigt, dass wohl
weniger Amerikaner gestorben wären,
wenn man das Land früher dicht
gemacht hätte. Prompt ließ Trump
in einem Tweet durchblicken, dass
er Fauci feuern will. Es ist so: Jeden
Morgen steht Trump auf, schaut in den
Spiegel und sagt sich: „Make
Trump great again!“
Und als er es gemerkt hat,
dass seine Verharmlosung
des Corona-Virus ihm noch schaden
könnte, hat er schamlos die verbale
Kehrtwende gemacht: „Ich habe immer
gewusst, dass das eine Pandemie
ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine
Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie
bezeichnet wurde.“ Oder, na
klar, einen Schuldigen benannt: „Die
WHO hat es wirklich vermasselt.“ Der
Organisation mit Sitz in Genf fror er
die US-Zahlungen ein.
Besonder dreist ist der Gegensatz
späterer Äußerungen zu den früheren:
„Wenn wir es so eindämmen können,
dass wir zwischen 100.000 und 200.000
Tote haben, dann haben wir alle zusammen
einen guten Job gemacht“, so
Trump im April.
Es könnte sein, dass sich in den USA
ein Drama abspielt, wie es bisher kaum
vorstellbar war. Nämlich dass Trump
trotz täglich steigender Todeszahlen
(die ja längst die höchsten in der Welt
sind) den Lockdown öffnen will, weil er
um seine Wiederwahl fürchtet, wenn
es der Wirtschaft schlecht geht. Trump
meint, dass er allein über die Lockerung
der Corona-Auflagen entscheiden
kann. „Wenn jemand Präsident der
Vereinigten Staaten ist, ist die Macht
allumfassend“, so Trump in geradezu
verräterischer Offenheit. Gouverneure
aus den einzelnen US-Staaten wiesen
das umgehend mit der Argumentation
zurück, die Verantwortung für
die öffentliche Sicherheit liege gemäß
dem föderalen System der USA bei ihnen.
Das wiederum ist prima für
Trump: Geht es schief, dann
sind die Gouverneure schuld.
Layout: Viktor Lukanow
4 POLITIK DEUTSCHLAND
Samstag, 18. April 2020
Samstag, 18. Apr
Ausgabe 287 am 4. Ap
Knurrender Kretschmann Samstag, 18. April 2020
und bremsender Söder
Videoschalte der Ministerpräsidenten: Die ersten Schritte zur Lockerung der Einschränkungen
im öffentlichen Leben sind eher zaghaft ausgefallen. Armin Laschet hatte sich da eher mehr
vorgestellt, Markus Söder sogar noch weniger. Das ist ja auch okay. Von Michael Zäh
Wenn Winfried Kretschmann eine blöde Frage gestellt
bekommt, kann er ziemlich patzig sein. So war es bei
der ARD-Sendung „Corona Extra“ zu sehen, als die
Moderatorin beim Ministerpräsidenten Baden-Württembergs
nachfragte: Wer der nun eigentlich alles eine Notbetreuung in
Kitas und Schulen in Anspruch nehmen könne? Dabei verwies
die Moderatorin auf ein zuvor gezeigtes Filmchen, wo ARD-like
mal wieder tränenreich eine Familie gezeigt wurde, der Mann
Schreiner, die Frau Designerin, alle zu Hause, weil die Kinder
ja nirgends hin können. „Ich verstehe Ihre Frage nicht“,
hat der Kretschmann der Moderaorin wohl noch eine
Chance geben wollen. Als diese weiter so tat, als
müsse der exemplarisch gezeigten jungen Familie
nun doch wohl eine Notbetreuung zustehen, da hat es
dem Kretschmann gereicht: „Die Notbetreuung ist für
Kinder von Eltern vorgesehen, die das Land nun
drigend braucht, wie Ärzte, Polizisten und
Pfleger. Dass sich auch andere Menschen
in Not wähnen, hat damit nichts zu tun.
Natürlich ist diese Not auch da. Aber dafür
haben wir die Notbetreuung nicht geschaffen.
Wenn nämlich alle jetzt ihre Kinder in
die Notbetreung schicken könnten, dann
hätten wir die Kitas und die Schulen ja gar
nicht erst schließen brauchen.“
Zuvor hatte es die Videoschalte der
Bundeskanzlerin (plus ihrer Regierungsvertreter)
mit den Ministerpräsidenten
der Länder gegeben, bei der die nächsten
Schritte bis 4. Mai beschlossen wurden.
Es wurden kleine Schritte: Geschäfte bis
800 Quadratmeter Größe dürfen wieder
öffnen, außerdem Buchläden, Fahrradund
KfZ-Händler unabhängig von der
Größe. Ab 4. Mai können auch Friseure wieder
ran an die zwischenzeitlich wild wuchernden
Haare. Auch Bibliotheken an Hochschulen
dürfen wieder öffnen, alles natürlich unter Beachtung
besonderer Abstandsvorschriften. Die
Schulen sollen ebenfalls schrittweise wieder
öffnen, aber erstmal nur für Schüler, die vor
einer Prüfung stehen. Na ja, und dann sollen
eben auch die Plätze für Notbetreuung in
Kitas und Schulen ausgebaut werden.
Schon im Vorfeld der Viedeoschalte der
Regierung mit den 16 Ministerpräsidenten
der Länder hat sich eine Art Zweikampf
abgezeichnet, da Armin Laschet, dem Regierungschef
Nordrhein-Westfalens in die Rolle des Lockerers geschlüpft
ist, während Bayerns Markus Söder den Bremser
gab. Wenn man sieht, was bis zum 4. Mai alles
verboten bleibt, könnte man sagen, dass Söder
sich durchgesetzt hat: Die bisherigen Kontaktbeschränkungen
bleiben bestehen, Kneipen,
Bars, Restaurants und Hotels müssen weiter
geschlossen bleiben, Großveranstaltungen
sind bis 31. August verboten. „Es freut mich,
dass die vorsichtigere Linie – die auch die
Bundeskanzlerin vertreten hat – sich durchsetzt“,
sagte Söder. Als Ministerpräsident
Bayerns wird er nicht stolz darauf sein,
dass er weiterhin Biergärten verbietet und
auch das Oktoberfest jetzt schon abgesagt
hat. Sowas hat es in Bayern ja noch nie
gegeben. Und Söder hat für seinen Kurs
den sagenhaften Zustimmungswert von
94 Prozent aller Bayern.
Es ist ja auch gut, dass es verschiedene
Ansätze und Ansichten gibt. Der knurrende Kretschmann
hat auch klar gemacht, dass diese Corona-
Sache zu ernst ist, um einen Kindergarten-Streit unter
den Ministern vom Zaun zu brechen.
Corona-Tagebuch | 11. April 2020
5
Mal Zeit
für ein Lob!
Die Politik und vor allem die solidarische sowie disziplinierte Gesellschaft in Deutschland
haben im internationalen Vergleich ziemlich gute Werte erreicht, vor allem was
die Anzahl der Verstorbenen aufgrund des Corona-Virus angeht. Von Michael Zäh
Es ist mal Zeit für ein Lob. Jetzt natürlich die Frage:
für wen und wofür? Sagen wir es umgekehrt: Nicht
für Sebastian Kurz, den österreichischen Präsident,
der sich permanent selber lobt, als sei er der Oberschlaui
auf der Welt. Nein, kein Lob dafür, auch wenn
Bayerns Markus Söder sich ständig auf Kurz bezieht
(die Österreicher seien halt drei Wochen vor den Bayern),
quasi Kniefall, weil über kurz oder lang in Bayern
genau das gemacht würde, was zuvor im Versuchslabor
nebenan erfolgreich probiert wurde. Doch die Bayern
sind es nicht gewohnt, drei Wochen hinter dem Kurz
und seinem Team Österreich hinterher zu hinken. Diesbezüglich
bräuchte der Söder ja nur den Hoeneß fragen.
Doch zurück zum Lob, für das auch mal Zeit sein
muss. Der Kurz kriegt also keines und der Söder eher
auch nicht. Der prescht ja schon wieder vor, von wegen
der Mundschutzpflicht, die er kommen sieht (siehe Seite
6) und überhaupt, harter Hund und großer Macher, das
gibt von uns Punktabzüge, keine Frage.
Kanzlerin Merkel hat derweil eine ihrer Eigenschaften
wieder neu entdeckt: das Pastorale in ihrer
Ansprache. Ein Minuspünktchen in der Wertung, aber
laut den üblichen Umfragen sind die Deutschen mit ihrer
Dauer-Merkel schwer einverstanden. Einmal Raute,
zweimal Raute in schwerer Zeit, und das ist besser als
nix. Ja, gut ist es.
Heute gibt es mal ein Lob. Allein schon für die faktischen
Erfolge, die im internationalen Vergleich da sind.
Zum Beispiel dass es in Deutschland und Frankreich
jeweils ähnlich hohe Infektionszahlen gab, aber die Zahl
der am Corona-Virus Verstorbenen in Deutschland bei
2.276 Menschen lag, in Frankreich jedoch bei 12.228
Menschen (Stand 9.April). Das ist ein gewaltiger Unterschied,
der natürlich eine Vielzahl von Ursachen haben
kann. Offensichtlich ist, dass die Sterberate in Deutschland
eklatant niederiger ist als in den meisten anderen
Ländern mit einer ähnlichen Anzahl von Infektionen.
Dafür jetzt mal ein Lob! Dies geht zuallererst an die
deutsche Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen
darin, der sich trotz massiver Einschränkungen hinter
die Maßnahmen zur Bekämpfung der weiteren
Ausbreitung des Virus gestellt hat. Ja, da könnte
man von Vernunft und Disziplin sprechen, die
offensichtlich von weiten Teilen der deutschen
Bevölkerung ausgeübt werden. Zweitens geht das
Lob an das gute Gesundheitssystem hierzulande,
die Ärzte und Kliniken, die es geschafft haben,
dass bisher kein Notstand an Intensivbetten
und Behandlungen aufgetreten ist.
Es ist nur ein Zwischenwert und die Aussagekraft
der Zahlen kann sich außerdem
noch verschieben. Aber gerade im Vergleich
mit dem Nachbarn aus Frankreich wird
auch das Verdienst der Politik von Bund
und Ländern deutlich (wenn denn nur der
Söder sich zurückhalten kann): Die sogenannten
Kontaktverbote in Deutschland
(nur zu Zweit sein, aber das auch jederzeit im Freien)
sind ja deutlich maßvoller als die Ausgangssperren in
Frankreich (siehe Seite 2).
Also ein dickes Lob dafür, dass die Politik in
Deutschland hier viel mehr Maß gehalten hat, um damit
gleichzeit größere faktische Erfolge zu erzielen. Denn
die Folgen jedes politischen Handelns kommen ja erst
noch. Je restriktiver ein Staat seine Bürger behandelt
hat, desto eher sind später soziale Unruhen zu erwarten.
Einen Kessel in der Krise unter Druck zu setzen, kann
zur Explosion führen.
Das haben Merkel, Kretschmann und Co. bisher
vermieden so gut es ging. Dafür heute: ein Lob!
Trotz dem Aussetzen so ziemlich aller bürgerlichen
Freiheiten neigen die deutschen Bürger noch dazu,
der Kanzlerin zu glauben, wenn sie sagt, dass auch
sie die Rückkehr zu einer Normalität anstrebe, da sie
ja selbst ein freiheitsliebender Mensch sei. „Wir
dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen. Wir
dürfen jetzt nicht leichtsinnig sein. Wir
können sehr schnell wieder zerstören, was
wir erreicht haben“, so Merkel vor Ostern.
Es ist ein Appell, und das ist immerhin
besser als großkotzige Befehle.
Samstag, 18. April 2020
6
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Da ist der Mensch
wie der Hund
Verbote. Wenn es verboten ist, in München auf einer Parkbank ein Buch zu lesen, dann fragt
sich der Mensch schon, was hier der Hintergedanke ist. Der Weiße Schäferhund oder der Tibet
Terrier befolgen Befehle auch nur, wenn sie deren Sinn einsehen. Von Michael Zäh
Wenn Sie einen Hund suchen,
der ohne zu zucken auf Ihre
Befehle hört, dann ist der
Weiße Schäferhund nicht der richtige
für sie. Denn er befolgt einen Befehl
nur, wenn er auch den Sinn des Befehls
einsieht. So steht es geschrieben in
einem einschlägigen Ratgeber.
Nun ist der Mensch natürlich
nicht in jeder Hinsicht wie der Hund.
Es könnte aber sein, dass auch der
Mensch sich eher jenen Befehlen
beugt, deren Sinn er einsehen kann.
Und umgekehrt: Je strikter der Mensch
die Befehle befolgen soll, die derzeit
überall in der Welt sind, desto eher
neigt er zum Ausbrechen. Und wenn
der Weiße Schäferhund nicht will,
dann will er nicht. Da kann Herrchen
zehnmal „du sturer Hund“ rufen. Nutzt
dann gar nix.
Doch heute ist ja auch ein Mensch
nicht nur „der Mensch“, sondern er ist
womöglich ein Franzose anstatt ein
Deutscher, ein Amerikaner gar, oder
als Deutscher vielleicht ein Bayer.
Die Unterschiede sind derzeit riesig,
jetzt mal rein vom erzieherischen
Ansatz her gesehen. Es ist insgesamt
zu loben (siehe Titel), dass in Deutschland
mit den deutlich sinnvolleren
Kontakverboten anstatt den schwer
nachvollziehbaren Ausgangssperren
wie etwa in Frankreich und anderswo
operiert wird.
Wer dort nur eine Stunde am
Tag aus der Wohnung darf und dies
dann auch nur im Umkreis von einem
Kilometer um den Wohnsitz, selbst
wenn er völlig allein spaziert und den
Mindestabstand von zwei Metern zu
anderen Personen einhält, dem kann
als Mensch und Franzose schon die
Sinnkrise kommen, weil hinter dem
strikten Ausgehverbot einfach nur
Drohung (und die Vollstreckung der
Strafe) steckt und keine nachvollziehbare
Erklärung.
Hinzu kann dann noch kommen,
je nach Lebenssituation, dass die so
auferlegten Verbote aller Wahrscheinlichkeit
nach mehr Schaden anrichten
als Gutes zu bewirken. Etwa wenn der
Mensch in einem Hochhaus in einem
Vorort von Paris lebt, und dort auf
45 Quadratmetern mit weiteren acht
Leuten in einem Haushalt. Jetzt, selbst
wenn er da nicht wahnsinnig wird,
weil er nur eine Stunde am Tag raus
darf, ist es doch so, dass es für alle
besser wäre, wenn er fünf Stunden an
der frischen Luft spaziert wäre.
Auch in Deutschland gibt es einige
Beispiele, bei denen sich die Sinnfrage
stellt. „Nein, ein Buch auf einer Bank
lesen ist nicht erlaubt“, lautet etwa
ein Tweet der Müncher Polizei. Es gab
entsprechend auch Fernsehbilder von
Park- bzw. Uferbänken am Bodensee,
die allesamt mit rotweißem Plastikband
umwickelt sind, damit sich da
bloß keiner drauf setzt.
Jetzt warum? Angenommen man
würde sagen, dass halt derzeit immer
nur eine Person auf eine Bank sitzen
darf, möglicherweise mit dem Appell
verbunden, dass der lesend Sitzende
auch an jene denken soll, denen er
nicht zu lange den Platz wegnehmen
soll, sprich: Kurzgedicht und dann im
Gehen weiter denken. Dann wäre doch
im Sinne der Gesundheit aller logisch,
dass dies kaum gefährlich wäre, aber
förderlich für Geist und Seele.
Wenn ein Buch auf einer Bank zu
lesen in München nicht erlaubt ist,
dann kommt der Mensch ins Grübeln.
Denn er fragt sich prompt nach dem
Grund dafür. Da ist der Mensch ganz
ähnlich wie der Tibet Terrier, der laut
Ratgeber „über ein großes Maß an
Unabhängigkeit und Sebstsicherheit
verfügt.“ Ergo: „Unterwürfigkeit oder
gar bedingungslose Unterwerfung
können wir beim Tibet Terrier also
niemals erwarten.“
Doch weil der Mensch sich etwas
denken kann, kann er sich schon auch
denken, dass hinter solchen Verboten
wie dem von der Müncher Parkbank
ein weiterer Gedanke der Behörden
steckt. Nämlich derselbe, weshalb das
Sonnenbaden (trotz allem Abstand
zu anderen Leuten) in Parks und auf
Wiesen nicht erlaubt sein soll.
Achtung, die Beörden denken sich:
Wenn einer auf die Parkbank darf,
dann wollen das alle anderen auch.
Und dann ist jeder Abstand schnell dahin
und womöglich finden dann sogar
Gespräche zwischen Leuten statt, die
sich erzählen, was sie jeweils lesen.
Auch das Sonnenbaden hat ja quasi
einen Sogeffekt, weil die Sonne ist ja
für alle da. Warum aber Leute nicht
aus Berlin raus in ihre Zweitwohnung
aufs Land dürfen, kann dann doch
wieder keiner erklären.
Solche Hintergedanken, die nicht
wirklich mitgeteilt oder gar diskutiert
werden, haben einen groben Fehler.
Und der besteht darin, dass sowieso
alle Maßnahmen zur Eindämmung
des Corona-Virus nur funktionieren
können, wenn halt möglichst viele
Menschen aus eigener Überzeugung
auch mitmachen. Und dies scheint ja
in Deutschland auch recht gut zu klappen.
Deshalb sollte es nicht von dem
Gedanken der Unmündigkeit der Bürger
(schwer erziehbare Kinder) untergraben
werden, wo es doch gerade die
Mündigkeit ist, die derzeit alles trägt.
Deshalb nochmal zurück: Weshalb soll
es den Bürgern nicht zuzutrauen sein,
sich an sonnigen Tagen an der frischen
Luft, auf Parkbänken oder Wiesen so
verantwortungsvoll zu verhalten wie
sie es schon die ganze Zeit über tun?
Ohne die Einsicht und Disziplin der
Gesellschaft geht eh gar nix. Da ist der
Mensch wie der Hund: „Naturgemäß
verfügt der Tibet Terrier über eine
gewisse Zielstrebigkeit, wenn es ihm
darum geht, seinen Willen durchzusetzen.
Anweisungen, die er nicht für
geeignet hält, kann er auch einmal
schlicht ignorieren.“
Samstag, 18. April 2020
| 11. April 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 7
April 2020
Samstag, 18. April 2020
Samstag, 18. April 2020
8
GESELLSCHAFT
EXPERTISE
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
„Jeder einzelne
Samstag, 18. April 2020
Mensch erlebt dies
seelisch anders“
Interview. Die Psychologin Dr. Andrea Zäh trägt einen anderen Blick zur
aktuellen Pandemie bei. Was vorher schon war, wird durch die Corona-
Krise nicht verschwinden, sondern nur anders sein.
Interview von Michael Zäh
Dr. Andrea Zäh erklärt im Interview
mit ihrem Bruder, weshalb
es auch noch einen anderen
Blick auf das Geschehen rund um die
Ausbreitung des Corona-Virus geben
kann. Nämlich den der Einzigartigkeit
jedes einzelnen Menschen und den Umstand,
dass deshalb auch jeder einzelene
Mensch die momentane Corona-Krise
seelisch anders erlebt.
ZaS: Was versteht man unter Gesundheit
?
Andrea Zäh: In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation
heißt es: „Gesundheit
ist ein Zustand des vollständigen
körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlergehens und nicht nur das Fehlen
von Krankheit oder Gebrechen. »
ZaS: Was heißt dies bezüglich der psychischen
Gesundheit?
Andrea Zäh: Psychische Gesundheit ist
die Möglichkeit zum seelischem individuellem
Wohlbefinden. Ein Mensch,
der sich seiner selbst bewusst ist, der
einerseits genug widersprüchliche Fixierungen
in sich trägt, um so krank
zu sein wie viele Patienten, der andererseits
aber auf seinem Weg nicht
auf zu viele oder zu große interne und
externe Schwierigkeiten gestoßen ist,
hinsichtlich seiner erblichen und seiner
erworbenen affektiven Ausrüstung,
hinsichtlich seiner defensiven und anpassungsfähigen
persönlichen Fähigkeiten.
Denn dieselben ermöglichen
ihm seine Bedürfnisse und Triebe, seine
irrationalen und rationalen seelischen
Vorgänge weiterhin so zu steuern, in
Schach zu halten, damit er auf persönlicher
und sozialer Ebene, unter gebührender
Berücksichtigung der Realität,
flexibel bleibt.
ZaS: Was bedeutet dies in Bezug auf die
derzeitige Krisen-Situation wegen des
Corona-Virus, die ja nun tatsächlich
eine Realität ist, die es gebührend zu
berücksichtigen gilt? Es wurden inzwischen
mehr als 3,5 Milliarden Menschen
aufgefordert zu Hause zu bleiben, um
die Ausbreitung der Pandemie einzugrenzen
bzw. zu verzögern.
Andrea Zäh: Ja genau, diese Schutzmaßnahmen
betreffen unglaublich
viele Menschen auf der Welt, in ganz
verschiedenen Ländern, wo die medizinische
Versorgung mehr oder weniger
gelingt. Auch in Europa sind die
sozialen, materiellen und finanziellen
Unterschiede sehr groß, und damit auch
konkret die persönlichen Bedingungen
der Menschen, diese Kontaktsperre
positiv oder negativ zu erleben. Solange
man nicht ins Krankenhaus muss und
da man nicht mehr an seinen Arbeitsplatz
gehen kann, soll ja Jeder zu Hause
bleiben. Entscheidend ist hier aus meiner
Sicht: Jeder einzelne Mensch erlebt
dies seelisch anders!
ZaS: Worauf wollen Sie hinaus? Haben
Sie vielleicht ein paar Beispiele?
Andrea Zäh: Ich will betonen dass jeder
Mensch nicht nur unter ganz verschiedenen
sozialen, beruflichen, materiellen,
auch körperlichen Bedingungen
diese noch nie dagewesene Situation
mehr oder weniger bewältigt. Sondern
dass auch jeder Mensch psychisch
mehr oder weniger unter der Situation
leidet. Ein paar Fallbeispiele sollen das
verständlich machen. Also, es gibt Menschen
welche die derzeitige Ausgangssperre
eher nutzen, um weiterhin zu
schaffen: Worte finden, Gestalt geben,
kreativ sein in verschiedener Weise.
Ich denke an eine 60 jährige Künstlerin,
Madeleine (alle Namen wurden von der
Redaktion geändert, sind also fiktiv),
ZUR SACHE
Die Methode der Psychoanalyse
Die Methode der klinischen Psychologie ist die eingehende Untersuchung von
normalen oder pathologischen Einzelfällen auf der Grundlage von Beobachtungen
und Gesprächen, in denen persönliche lebensgeschichtliche, innere seelische
psychodynamische, sowie familiäre und soziale Elemente gesammelt werden.
Anders ausgedrückt: es geht um individuelles menschliches Verhalten und seine
Bedingungen, also um die Untersuchung einer einzigartigen Persönlichkeit in der
Gesamtheit ihrer momentanen Situation und ihrer Entwicklung.
Klinische Tiefenpsychologie wurde von Sigmund Freud als Psychoanalyse bezeichnet
in der man drei Ebenen unterscheidet: „Psychoanalyse ist der Name
1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum
zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich
auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem
Wege gewonnen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen
Disziplin zusammenwachsen.“ (S.Freud, Gesammelte Werke XIII, Seite 211)
Die psychoanalytische Methode besteht also in der Hervorhebung der unbewussten
Bedeutung von Gesagtem, Handlungen, Träumen, Fantasien oder
Wahnvorstellungen von jedem einzelnen Menschen. Die Methode beruht auf den
freien Assoziationen des sogenannten Patienten einerseits, und auf der Deutung
derselben vom Psychoanalytiker anderseits, welcher seine ganze gleichschwebende
Aufmerksamkeit diesem einen Patienten widmet.
Es handelt sich um eine individuelle Psychotherapie. Diese psychoanalytische Kur
besteht aus regelmäßigen Treffen, wobei der Patient folgende Grundregel einhalten
sollte: „Sagen Sie, was Ihnen spontan einfällt, auch wenn es ihnen unwichtig,
albern, peinlich, nicht dazugehörig oder unlogisch erscheint“. Es handelt sich also
nicht um ein rationales vernünftiges Gespräch!
Währenddessen kommt es zur einer sogenannten Übertragung , das heißt der
Patient überträgt seine unbewussten Wünsche bzw. Ängste auf den Analytiker,
und wiederholt dabei seine üblichen inneren seelischen Konflikte. Sie werden
somit aktualisiert, dann werden ihre unbewussten Bedeutungen freigelegt. Diese
Ursachenforschung ist gleichzeitig die Lösung der seelischen Konflikte wodurch
neurotische Symptome verschwinden, sich geradezu auflösen.
Andrea Zäh
Samstag, 18. April 2020
| 11. April 2020
April 2020
EXPERTISE GESELLSCHAFT 9
April 2020
die weiterhin kreativ zuhause eine
Samstag, neue 18. April Schmuckkollektion 2020 entwirft. Sie
sagte mir sogar, dass sie sich während
dieser Zeit intensiver auf ihr Schaffen
konzentriert.
Auch eine 67 jährige Schriftstellerin,
Ariane, schreibt weiter an ihrem früher
begonnenem Kriminalroman. Sie steht
jeden Morgen auf und setzt sich gleich
an ihren Schreibtisch, das gefällt ihr, ja
das gelingt ihr eher gut.
Auch kenne ich einige liebe Omas die
weiterhin still stricken, zum Beispiel
die 81jährige Clara, die momentan
viele wunderbare tolle Pullis für sich
und ihre Lieben strickt. Und auch die
88jährige Monique bestickt weiterhin
wunderschöne Tischdecken.
Samantha, 45 Jahre alt, hat inzwischen
die tollsten Dekorationen in Macrame
erfunden, in Vorbereitung auf ihre im
Sommer bevorstehende Hochzeit. Das
beruhige sie, selbst wenn die geplante
Heirat wahrscheinlich auf später verschoben
wird.
Und es gibt Menschen, die neue Musik
oder Lieder komponieren und diese
Kreationen sogar veröffentlichen in den
digitalen Medien. Darunter übrigens
eine Menge Komiker, die mehr oder
weniger Lustiges, manchmal Ironisches
veröffentlichen.
ZaS: Sie fangen mit denen an, die nicht
so sehr unter der Situation leiden. Haben
Sie auch Beispiele von Menschen, die
jetzt größere Probleme haben?
Andrea Zäh: Vielleicht riskiert derzeit
so mancher Drogenabhängige, dass
er derzeit zu noch mehr individuellem
Konsum von Alkohol, Cannabis oder
anderem neigt. Der 70jährige Christophe
kümmert sich vor allem darum wo, er
problemlos seine übliche tägliche Dosis
Whisky kaufen wird. Der 50jährige
Pierre, der sich schon jahrelang an Cannabis
gewöhnt hat, weiß inzwischen,
dass bald aus Marokko fast nichts mehr
nach Europa rüberkommen wird, weil
die Grenzen geschlossen sind.
Simon und seine Freunde, Jugendliche
jünger als 20 Jahre alt, zeigen weiterhin
Risikoverhalten, wollen den erlassenen
Verboten entgehen, treffen sich abends
in Gruppen obwohl die Regierung das
inzwischen verbietet!
Alzheimerkranke verstehen durch ihre
neurologische Krankheit vielleicht
gar nicht, warum jeder Mensch sich
unbedingt an die vernünftige Hygiene
halten sollte.
Und so stellen sich viele Fragen: Wie
geht es den Zwangsneurotikern, zum
Beispiel jenen, die sowieso andauernd
ihre Wohnung putzten? Immer wieder
putzen, heute mehr als jemals zuvor?
Wie sieht es aus, wenn jemand schon
etwas länger an einer Angstneurose
leidet, sich lieber in großen Räumen, gar
draußen aufhält als in einer vielleicht zu
engen Wohnung?
Hypochondrische Menschen oder sogenannte
Hysteriker fühlen sich eventuell
in ihren schon da gewesenen inneren
irrationalen Ängsten vor körperlichen
Krankheiten bestätigt.
Werden gewalttätige Männer gegenüber
Frauen sanfter oder noch schlimmer?
Wie begreifen besonders liebenswerte
Autisten überhaupt, worum es eigentlich
momentan geht in der allgemeinen
Realität?
Oder Schizophrene, Paranoiker, Melancholiker:
sind sie gewappnet, unsere
Psychotiker?
Etwa eine 32jährige Schizophrene, die
ihre Therapeutin wiederholt täglich
anruft, um dieselbe zu bitten, ihr nochmal
genau den Prozentsatz zu nennen
zwischen Corona-Risikopatienten, den
Kranken und den Toten.
Mancher empfindet Trennungsangst,
und solche wird je mehr aktiviert als er
jetzt von seinem Partner oder Partnerin
getrennt leben muss, da Reisen derzeit
weitgehend verboten sind.
Ein Anderer kann möglicherweise seine
häufige sexuelle Lust momentan nicht
mehr befriedigen und leidet besonders
unter dieser aktuellen Frustration, seine
Kastrationsangst überkommt ihn.
Schon früher konkret traumatisierte
Menschen durch Attentate – gerade hier
in Nizza – werden an das schrecklich
Erlebte erinnert: ihre Todesangst wird
reaktiviert.
ZaS: Sie wollen also verdeutlichen, dass
die extreme Situation in der sogenannten
Corona-Krise für jeden Menschen
anders ist, je nachdem wie er disponiert
ist?
Andrea Zäh: Es gibt viele Beispiele
dafür. Alberto, ein 40jähriger Mann,
ein eher kontaktscheuer Mensch, fühlt
sich erleichtert durch die offizielle
Ausgangssperre: endlich braucht er
nicht mehr dem sozialen Druck der
üblich flüssigen zwischenmenschlichen
Kommunikation zu entsprechen. Viele
Sportler trainieren weiterhin bei guter
Laune daheim: sie halten sich durchaus
fit, in Form und bei weiterer körperlicher
Gesundheit. Nur wie machen denn das
die Surfer, Schwimmer, Segler: eine
besonders große Anpassung ist also
gefragt!
ZaS: Klar, jeder Mensch empfindet
sein Leben, seine eigene Seele, seine
bisherigen oder momentanen Probleme
und führt seine individuelle
Lebensgeschichte weiter. Könnten
Sie vielleicht etwas klarer ausführen
inwieweit oder inwiefern Ihr psychoanalytischer
individualpsychologischer
Gesichtspunkt in dieser kollektiven
Situation hilfreich sein könnte?
Andrea Zäh: Individualpsychologisch
ausgedrückt geht es um die Besonderheit
jedes Menschen, um seine
Einzigartigkeit. Um sein seelisches
Gleichgewicht
und um seine Anpassungsfähigkeit
in jeglicher und
momentan um
die von außen
angsterregende
Situation. Laut psychoanalytischem
Ansatz hat sowieso jeder Mensch immerzu
mit seinen inneren widersprüchlichen
bewussten und unbewussten
Konflikten zu kämpfen. Kommt eine
tatsächliche äußere Gefahr hinzu, wird
es noch komplizierter! Je nach Lebensalter
– Kleinkinder, Kinder, Jugendliche,
Erwachsene, alte Menschen – wirkt sich
die äußere Gefahrensituation anders auf
ihr seelisches Innenleben aus.
ZaS: Wie lässt sich das näher erklären ?
Andrea Zäh: Jeder Mensch, je nach Alter,
Erfahrung und Lebensgeschichte
empfindet zwar immer wieder seine
eigenen inneren üblichen Ängste, jedoch
wendet jeder Mensch dagegen
individuelle psychische Abwehrmechanismen
an.
ZaS: Was sind Abwehrmechanismen ?
Andrea Zäh: Abwehrmechanismen sind
psychische Prozesse, die im Allgemeinen
dem organisierten Selbst zugeschrieben
werden. Ihre Aufgabe ist
es, optimale psychische Bedingungen
zu organisieren und aufrechtzuerhalten,
die dem Selbst des Individuums
helfen können, sich zu wappnen, zu
stellen und Angstzustände und geistige
Beschwerden zu vermeiden. Sie
beteiligen sich somit an Versuchen, die
psychischen Konflikte zu bewältigen,
können aber durch ihre übermäßige
oder unangemessene Verwendung das
psychische Wachstum beeinträchtigen,
und dann zu durchaus störenden
und beeinträchtigenden Symptomen
führen. Anders gesagt: Gegen innere
sowie äußere Ängste – wie hier die
Angst vor der Ansteckung mit dem
Corona-Virus – wird einer versuchen
sie zu vergessen, indem er sie möglicherweise
verdrängt. Der nächste wird
sie verneinen, sie vielleicht gar nicht
wahrnehmen, indem er seine Angst
von seinem Bewusstsein, seiner Wahrnehmung
abspaltet. Wieder ein anderer
verschiebt oder verdichtet hingegen
seine Ansteckungsangst auf eine bisher
belanglose körperliche Schwäche,
der er plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit
widmet. Kreative Menschen
sublimieren.
ZaS: Was können Sie den Menschen
raten in diesen Zeiten der Bedrohung
durch das Corona-Virus?
Andrea Zäh: Es ist besonders wichtig den
grundsätzlichen Unterschied zwischen
Fantasie und Realität beizubehalten,
d.h. jeden Tag so zu organisieren dass
eigenes Gefühl von Raum und Zeit
weiter gut strukturiert bleibt. Seine
Affekte sollte man versuchen zu erkennen,
wenn möglich in Worte fassen.
Natürlich sollten ein paar persönliche
Träumereien nicht fehlen, einen gewissen
inneren Spielraum sollte man
sich durchaus gewähren, sozusagen als
Übergangsbereich: etwa vorübergehend
Zuflucht in einen guten Film finden,
oder einen schönen Roman lesen, ja
mal öfters die eigene Lieblingsmusik
anhören.
ZUR PERSON
Dr. Andrea Zäh
Die Dipl.-Psych. Dr. Andrea Zäh
arbeitete 40 Jahre im Gesundheits-
und Bildungswesen, in der
Forschung, in psychosozialen Helferinstitutionen
sowie in eigener
Praxis als Psychoanalytikerin. In
Paris an der Universität Paris 10 als
klinische Psychologin durch praxisbezogenes
Hochschuldiplom zum
Master ausgebildet, hat sie an der
Universität Paris 7 als Freud-Expertin
promoviert. Weitergebildet
in Sciences-Po Paris durch ein Executive
Master der gerontologischen
Politikwissenschaften und an der
Universitätsklinik Nizza in der psychiatrischen
Phänomenologie.
Sie war hauptsächlich in Einrichtungen
der Behindertenhilfe, Kindertagesstätten,
in der Jugendund
Familienhilfe sowie Kinderheilkunde
tätig. Als Dozentin wirkte
sie an der Universität Paris 13, in
École Centrale Paris der allgemeinen
Ingenieurwissenschaften, als
Erasmusgastdozentin an der Charité
in Berlin und als leitende Pädagogin
an der Psychopädagogischen
Fachoberschule zur Erzieher-Ausbildung
in Nizza.
Sie lebt weiterhin in Frankreich,
widmet sich heute persönlich in
Nizza besonders der Philosophie,
dem Yoga und der Meditation.
Kontakt:
andreazah@sfr.fr
miz
Samstag, 18. April 2020
10
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuc
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Was alles bald
kommen könnte
Coronavirus. Nach dem schrittweise Aufheben der derzeitigen Kontaktverbote wird es eine
neue Strategie geben müssen, da das Coronavirus noch immer da sein wird. Vielleicht hilft da
eine neue App, die sogar aus acht EU-Ländern kommt. Von Michael Zäh
Warum soll nicht jetzt schon
über Exit-Strategien nachgedacht,
geredet und vielleicht
auch gestritten werden? Früh
hat Armin Laschet (Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen, CDU) eine
Diskussion darüber bereits angeregt.
Markus Söder (Ministerpräsident von
Bayern, CSU) hat sich eine solche
verbeten, da sie „zur Unzeit“ käme. Es
gehört zu einer Demokratie dazu, sich
rechtzeitig und gemeinsam über Dinge
den Kopf zu zerbrechen, die da kommen
sollen. Und in diesen Tagen umso
mehr, weil ja so gut wie jeder Bürger
von den immensen Einschränkungen
betroffen ist, die gegen die ungehinderte
Ausbreitung des Corona-Virus
verfügt wurden. Es geht dabei ja nicht
darum, dass jetzt sofort schon die Kontaktbeschränkungen
aufgehoben werden
sollen. Denn bis nach Ostern wird
das öffentliche, wirtschaftliche wie
gesellschaftliche Leben still stehen,
haben Bund und Länder beschlossen
und verkündet. Doch könnte man in
der Zwischenzeit nicht darüber reden,
was danach sein könnte?
Nun ja, man könnte nicht nur, man
müsste es tun. Es ist doch wohl jedem
klar, dass der momentane Stillstand nur
zeitlich sehr begrenzt durchzuhalten
ist. Deshalb muss man ja genau die Zeit
dieses – derzeit wohl noch nötigen –
Stillstandes nutzen, um Strategien
für danach zu entwerfen. Wann soll
man es denn sonst tun? Wann wäre
es nicht zur „Unzeit“? (Was eh ein
„Unwort“ ist).
Das Ärgerliche an dem Wegwischen
einer Debatte über Exit-Szenarien
ist ja, dass dies wieder einmal
den Eindruck erweckt, als seien die
deutschen Bürger nicht mündig genug,
obwohl diese ja im Moment mit ihrer
überwältigenden Solidarität beweisen,
dass sie es sind. Sollen die Bürger
nicht so viel an das Danach denken,
damit sie das Heute besser durchhalten?
Denn es ist ja klar, dass in den
Krisenstäben des Bundes und der
Länder längst mit Hochdruck darüber
gegrübelt wird, was alles bald kommen
könnte. Warum also diese Diskussionen
über mögliche Szenarien hinter
verschlossenen Türen führen? Die
Leute hätten heuer eine Menge Zeit,
sich daran zu beteiligen.
Man wird weiterhin alle brauchen,
ganz egal, welchen Weg man wählt.
Zum Beispiel, wenn eine neue App gegen
das Corona-Virus eingesetzt werden
würde. Dann käme es am Ende vor
allem darauf an, dass möglichst alle
Leute diese App auch auf ihr Handy laden.
Und um dies zu erreichen, wäre es
doch schön, schon jetzt mehr darüber
zu diskutieren. Denn möglicherweise
gibt es ja nicht nur bei den Viren eine
Inkubationszeit, sondern auch beim
Samstag, 18. April 2020
h April | 4. 2020 April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 11
April 2020
Samstag, 18. April 2020
Anfreunden mit neuen Strategien.
Und das zu Recht. Denn alles, was
schnell-schnell gehen soll, ist eben
auch verdächtig. Deshalb sagen wir
hier schon Mal, wie eine Strategie
gegen die weitere Verbreitung des
Corona-Virus wohl aussehen könnte,
nachdem der Stillstand des öffentlichen
Lebens und der Wirtschgaft
schrittweise wieder aufgehoben wird:
Es wäre grob gesagt nach dem Vorbild
Südkoreas, nämlich nach dem Prinzip,
zielgenau die Infizierten zu finden und
zu isolieren. Das ginge wohl nur über
sehr viel mehr zur Verfügung stehende
Schnelltests in Kombination mit
einer App, die blitzschnelle Dienste
leistet, um potenziell Infizierte zu
informieren.
Hier ist eine europäische Lösung
in der Mache. Forscher/innen aus acht
EU-Ländern haben eine Art Baukasten
vorgestellt, um mit Handy-Apps das
Virus einzudämmen. Unis, Startups,
Forschungsinstitute sind beteiligt.
Nicht jedes Land für sich, ausnahmsweise
mal alle zusammen. Epidemiologen,
Psychologen und IT-Experten
waren an der Entwicklung beteiligt.
Bei der App sollen nur so viele Daten
genutzt werden, wie unbedingt nötig
ist. Man will die Bluetooth-Funktion
von Handys nutzen, nicht die
Standortdaten. Um sagen zu können,
ob jemand gefährdet ist, muss eine
App nicht wissen, wo genau er oder
sie sich aufgehalten hat, und der Staat
sollte das erst recht nicht wissen. Es
reicht, dass die App weiß: Der und der
war in der Nähe - das geht mit Bluetooth.
Und wenn sich später herausstellt,
dass jemand infiziert ist, schickt die
App Kontaktpersonen eine Warnung,
dass sie gefährdet sind.
Diese Technik könnte helfen, viel
schneller als bisher all jene zu testen,
die potenziell infiziert wurden. Natürlich
nur, wenn die Leute mitmachen,
sprich: mündig, auch ohne Mundschutz.
Und auch nur, wenn dann auch
wirklich genügend Tests zur Verfügung
stehen, um sofort alle zu testen,
die sich nach Benachrichtigung durch
die App zum Test melden.
Gleichzeitig ist dies aber nur eine
Seite der Medaille. Denn wie schon
zuletzt immer häufiger zu beobachten
kann auch eine Hysterie (siehe Titel
dieser ZaS) immer weiter gesteigert
werden, die ebenfalls Schaden anrichtet.
Denn natürlich ist die Angst mitten
in der Gesellschaft angekommen. Die
Angst, am Virus schwer zu erkranken.
Die Angst, durch die verfügten Verbote
seine wirtschaftliche Existenz zu
verlieren. Die Angst, dass sogar die EU
an dieser Krise zerbricht. Die Angst vor
jedem, der an einem vorbei geht. Die
Angst, dass es alles noch schlimmer
kommen könne.
Da es unabdingbar ist, dass die
Wirtschaft irgendwann wieder Fahrt
aufnehmen muss, die Kinder irgendwann
wieder in die Schule gehen
sollen, ja sogar irgendwann wieder
Kultur, Sport und Events stattfinden
müssen, gibt es noch ein Szenario,
das auch Angst machen kann. Nämlich
jenes, die „Alten“ zu isolieren,
weil diese ja die „Risikogruppe“ sind.
Stell dir vor: Das Leben tobt wieder in
Deutschland, aber über 60 (wahlweise
70 oder 80) Jahren darfst du nur zu
Hause bleiben. Und der Polizist auf
der Straße erkennt es sofort, wenn du
dagegen verstößt, weil: Du siehst ja
auch so alt aus, wie du bist.
Was könnte sonst noch alles bald
kommen? Wenn die Kontaktverbote
wieder gelockert werden, die Kinos,
Fitnessclubs und sogar die Kneipen
wieder öffnen dürfen, kann es zu Staus
kommen, zum Beispiel beim Friseur/
in, beim Einkauf in zuvor so lange
geschlossenen Fachgeschäften (hoffentlich
in den Blumenläden), beim
Ansturm in den Schwimmbädern.
Die gute Nachricht ist, dass es
irgendwann einen Impfstoff gegen das
Coronavirus geben wird, womöglich
auch wirksame Medikamente. Die
schlechte Nachricht ist, dass es später
noch andere Viren geben kann, die
heute noch keiner kennt.
Illustrationen: Viktor Lukanow
12 Corona-Tagebuch | 4. April 2020
Rauchende Colts
Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase
und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV zusah, ist heute in der Risikogruppe.
Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh
Wenn es so käme, dass der deutsche Bürger nur
noch mit Mundschutz durch die Gegend laufen
darf, weckt dies bei manchem Zeitgenossen
ganz klar Erinnerungen: Rauchende Colts, ein gewisser
Marshall Matt Dillon, der all jene gejagt hat, die sich ein
Halstuch vor Nase und Mund gebunden hatten, sprich:
die Banditen. Damals im staubigen Wilden Westen, und
sehr lange vor dem World-Wide-Web. Auch vom Virus
keine Spur, damals.
Die Vorstellung, dass wir alle vom „Gunsmoker“ durch
die Prärie gejagt werden, weil wir schnell zu Pferde eine
Postkutsche ausgeraubt haben, ist durchaus tröstlich. Weil
das ist ja Kindheitserinnerung. Doch die Vorstellung, dass
wir bald alle unser Gesicht banditengleich hinter einer
Maske verstecken müssen, um außer Haus gehen zu dürfen,
hat dafür eher den Hauch des Bösen. Da wüsste der
Marshall Matt Dillon ja gar nicht mehr, welche Schurken
er zur Strecke bringen soll.
Man könnte auch sagen, dass es etwas irre wirkt, wenn
heuer über solche Mundschutzmasken für die gesamte
Bevölkerung gesprochen wird, während ja derzeit genau
solche Masken dort millionenhaft fehlen, wo sie wirklich
dringend gebraucht würden. Laut einer Liste der AOK
fehlen schon allein bei den niedergelassenen Ärzten (also
ohne die Kliniken, Krankenhäuser oder auch Pflegeheime
etc.) rund 115 Millionen Mund-Nasen-Schutzmasken,
außerdem 47 Millionen Masken der FFP2-Qualität sowie
zusätzlich noch mal 7,5 Millionen FFP3-Masken der
noch höheren Qualität. Was außerdem fehlt: 63 Millionen
Schutzkittel, 55 Millionen Packungen Einmalhandschuhe,
sowie 3,7 Millionen Schutzbrillen.
Diese Mängel sind nicht etwa durch das plötzliche
Auftreten des Coronavirus entstanden, sondern werden
dadurch nur sichtbar. Die bittere Wahrheit ist nämlich,
dass es bereits 2005, also vor 15 Jahren (ist ja natürlich
nix sind im Vergleich zu den Hochzeiten von „Rauchende
Colts“) einen Pandemieplan gab, den damals schon das
Robert-Koch-Institut (heute ja in aller Munde) im Auftrag
des Bundesgesundheitsministeriums erstellt hat. Dieser
Plan sieht vor, dass benötigte Materialien „rechtzeitig
vor Eintreten einer Pandemie“ von der Bundesregierung
bevorratet werden müssen. Sprich: All das, was jetzt fehlt,
hätte eigentlich nach dem Pandemieplan auf Vorrat sein
müssen. Das hat der Bund aber nicht so ernst genommen.
Man schlug solche ungeheuren Pläne in den Wind, weshalb
man heute umso entschiedener darüber nachdenkt,
wie eben dieses Ungeheuer mit dem Namen Coronavirus
durch private Initiativen noch gebändigt werden könnte.
Bayerns Ministerpräsident Söder hat doch prompt vorgeschlagen,
dass Bayerns Bürger zehn Millionen Masken
selbst nähen sollen. Wie im Krieg, sozusagen.
Da wir hier schon mal in Bayern sind, hört man den
Kaiser rufen: „Ja ist denn jetzt schon Weihnachten?“
Aber gut, das ist eine ganz andere tragische Geschichte.
Heuer würde es heißen: „Ja ist denn jetzt schon Ostern?“
Denn bis dahin regiert ja Marshall Söder als Gunsmoker
mit unbeirrter Hand. Diskussionen über eine „Exit-Strategie“
hat er sich verbeten. Erst muss der Bandit erlegt
sein. Ein Schuss, ein Treffer, mitten ins Virus, und dann
raucht der Colt.
Und danach also soll es all die selbstgenähten Mundschutzmasken
geben, quasi als Geste der Unterwerfung
des Volkes, wenn es denn wieder raus darf. Lieber als
Bandit auf der Arbeit als nur immer zu Hause im beengten
Homeoffice.
Der praktische Nutzen solcher Masken ist laut WHO
äußerst umstritten. Könnte medizinisch sogar mehr Schaden
anrichten als es Nutzen hätte. Aber darum geht es
offenbar längst nicht mehr. Eher scheint es um den Gleichklang
der Herde zu gehen (hier also: die deutschen Bürger
in Panik), weil die Autorität derer zementiert werden soll,
die zuvor fahrlässig versagt haben, als sie sich nicht an
bestehende Pandemie-Vorsorge hielten.
Na klar schauen jetzt diejenigen in die Röhre, die Matt
Dillon im Röhren-TV sahen. Sprich: Risikogruppe!
Corona-Tagebuch | 28. März 2020
13
Das Ende
der Freiheit
So richtig es ist, dass das Corona-Virus durch den Zusammenhalt aller bekämpft werden
soll, so wenig darf es sein, dass Politiker dies nutzen, um ihr Profil zu stärken.
Das wäre nämlich die Blaupause zum totalitären Regime. Von Michael Zäh
Wäre das, was wir alle derzeit erleben ein Film,
würde dessen Titel wohl lauten: „Das Ende
der Freiheit.“ Doch weil es kein Film ist,
sondern die Realität, muss man sagen: Wir führen jetzt
in echt mal ein Leben, das so gespenstisch ist, wie wir
uns das in Deutschland zuvor nicht vorstellen konnten.
Wir können jetzt fühlen, wie das ist, wenn alle Rechte
blitzschnell kassiert werden, quasi hopplahopp. Wer
hätte je gedacht, dass den Bürgern in Deutschland vom
Staat vorgeschrieben wird, wen und wieviele Leute sie
treffen dürfen? Wer hätte es für möglich gehalten, dass
der Staat die Kirchen schließt, dass der Wirt oder seine
Kneipe nicht mehr öffnen darf, dass überhaupt alle
Dienstleister und Vereine in Gesellschaft, Sport und
Kultur dazu gezwungen werden, ihren Betrieb einzustellen,
dass öffentliche Plätze zugesperrt werden, dass
sogar die Schulen, Kindergärten und Kitas zu sind, dass
nix mehr erlaubt ist, was sonst die Vielfalt des Lebens
und der Wirtschaft ausmacht?
Okay, die Begründung dafür ist ja in ihrer Schrecklichkeit
ebenfalls vom anderen Stern. Das sogenannte
„Corona-Virus“ ist über die Welt hergefallen und wütet
grausam, ja sogar heimtückisch unter den Menschen.
Wenn in Italien dann an einem einzigen Tag 800 Menschen
sterben und die Leichen in Lastern der Armee
abtransportiert werden, ist die Notwendigkeit fast aller
Maßnahmen einzusehen. Erst recht, wenn man die
mathematischen Berechnungen kennt, dass es in sehr
kurzer Zeit zu Millionen Toten allein in Deutschland
kommen könnte, wenn man keine einschneidenden
Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus einleitet.
Und natürlich ist jeder Tote einer zuviel.
Doch unabhängig davon stimmt es trotzdem, dass
wir gerade eine Blaupause dessen durchleben, was es
heißt, wenn der Staat totalitär wird. Na klar, wir vertrauen
bisher den Visagen „da oben“, von Merkel bis Kretschmann,
und können uns nicht wirklich vorstellen, dass
die uns in eine Diktatur führen wollen. Würden wir aber
auch einem Orban in Ungarn nichts unterstellen wollen,
oder Trump in den USA? Von jenen Regimes in China,
Russland, Iran, Saudi-Arabien und anderen mal ganz
abgesehen, die den Kampf gegen das Virus für andere
Zwecke instrumentalisieren.
Und schließlich können auch in Deutschland die
Gesichter mal andere sein. Nein, wir nennen jetzt keine
Namen, aber der Phantasie sind hier ja keine Grenzen
gesetzt. Es ist in der Krise schon jetzt ärgerlich, wie
manche Töne angeschlagen werden. Da gibt es Politiker,
die stigmatisieren in unerträglicher Weise (ehemals)
freie Bürger dieses Landes, wie dies etwa Thomas Strobl
(Innenminister in Baden-Württemberg) mehrfach tat.
Da ist dann von den „Unverbesserlichen“ die Rede,
meist junge Leute, die sich noch in Gruppen trafen und
den Ernst der Lage nicht erkannt hätten. Dieser Gruppe
wurde von Strobl öffentlichkeitswirksam harte Strafen
(25.000 Euro Bußgeld oder mehrjährige Haftstsrafen)
quasi versprochen. Im Grunde haben jedoch diese „Unverbesserlichen“
nur das gemacht, was Menschen gerne
miteinander machen. Mag sein, dass sie dabei etwas zu
leichtsinnig waren. Aber die Drohgebärden von Strobl,
Söder und Co. sind trotzdem bedenklich. Ja, es sind viele
harte Hunde unterwegs, angeblich als Reaktion auf das
gefährliche Virus. Der Ton macht die Musik!
Und dies wird dann unerträglich, wenn der Staat und
die Politiker argumentieren, dass wegen der Uneinsichtigkeit
weniger Leute halt dann auch die größere Gruppe
der Einsichtigen mit weiteren staatlichen Einschränkungen
bestraft würden, quasi Herdenhaftung. Denn
dieses Denken und eine solche „Argumentation“ ist ein
ganz klares Kennzeichen autoritärer Regimes. Da wird
die Herde blökender, unwissender Bürger mal so richtig
rangenommen, gell? Dabei gerät ganz in Vergessenheit,
dass die so streng drohenden Politiker von genau denen
gewählt wurden, die nun als „Herde“ gelten. In einer
Demokratie ist das Volk der oberste Souverän.
So richtig es ist, dass der Zusammenhalt aller das
Coronavirus bekämpft, so wenig darf es sein, dass dies
Politiker für ihr Profil nutzen.
Samstag, 18. April 2020
14
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
Bis zum nächsten
Friseurtermin
Coronavirus. Das 750-Milliarden Hilfspaket des Staates gegen die Folgen des Coronavirus ist
schon ein fettes Butterbrot, nachdem zuvor das Knallen der Peitsche dafür gesorgt hat, dass
gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivitäten zum Stillstand kamen. Von Michael Zäh
Wie wird Deutschland in den
kommenden Wochen (oder
gar Monaten) frisiert sein?
Das ist keine kleine Frage, da ja alle
Friseur/innen-Betriebe schließen
mussten. Wird unsere Mutti Merkel
dann plötzlich graue Strähnen im
Haaransatz aufweisen, werden Olaf
Scholz die (bisher nicht vorhandenen)
Haare zu Berge stehen? Und wie wirkt
es sich aus, wenn bei über 80 Millionen
deutschen Bürgern die Matte wächst,
wo sie es gar nicht soll, das Grau und
gar das Weiße sprießt, während das
akkurate Kurzhaar wie auch der schön
gestutzte Bart nur noch eine ferne
Erinnerung sind. Vielmehr sogar eine
Sehnsucht, die unerreichbar in den
Weiten des Seins dahin schwebt.
Nun ja, je länger das deutsche Haar
wird, desto mehr Milliarden Steuergelder
wird das kosten. Weil es
ja so ist: Der Staat nimmt
es, der Staat gibt es –
das ist quasi
ZUR SACHE
Einschneidende
Eingriffe, überall
Die Bundesregierung und die Länder
haben gemeinsam die Schließung
einer Vielzahl von Geschäften
und Institutionen beschlossen. So
sollen „Zusammenkünfte in Kirchen,
Moscheen, Synagogen und
die Zusammenkünfte anderer
Glaubensgemeinschaften“ verboten
werden, auch Gottesdienste
können nicht mehr stattfinden.
Ebenso sind Zusammenkünfte in
Vereinen und sonstigen Sport- und
Freizeiteinrichtungen untersagt,
Angebote in Volkshochschulen,
Musikschulen und sonstigen öffentlichen
und privaten Bildungseinrichtungen
sowie Reisebusreisen
sollen eingestellt, Spielplatzbesuche
unterlassen werden.
Bars, Clubs, Diskotheken sollen
geschlossen bleiben, desgleichen
Theater, Opern, Konzerthäuser,
Museen, Messen, Ausstellungen,
Freizeit- und Tierparks und Anbieter
von Freizeitaktivitäten, Spezialmärkte,
Spielhallen, Spielbanken,
Wettannahmestellen. Auch der
Betrieb öffentlicher und privater
Sportanlagen, Schwimm- und
Spaßbädern sowie Fitnessstudios
muss eingestellt werden. miz
Samstag, 18. April 2020
April | 28. 2020 März 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 15
April 2020
Samstag, 18. April 2020
ein alter Zopf. Wenn nun also Scholz,
Kretschmann, Söder, Laschet
und Konsorten sich darin übertreffen,
die aufgemotzte Bazooka in Anschlag
zu bringen, dann vergessen staatliche
Kurzhaardackel ja gerne, dass dieses
Geld nicht wie ein Sternenregen vom
Himmel fiel, sondern es sich um genau
jene Kohle handelt, die zuvor der gut
frisierte Steuerzahler (und danach
wirds auch so sein) an den Staat bezahlt
hat. Das ist also ungefähr so, als
ob der Friseur das Trinkgeld spendiert,
das er soeben vom Kunden für die
tolle Tolle bekam. Mit dem kleinen
Unterschied freilich, dass derzeit keine
Frisuren welcher Art auch immer zu
haben sind.
Der Transfer von insgesamt rund
750 Milliarden Euro zurück an die
Wirtschaft und die Steuerzahler ist
ein bisschen ein Ablasshandel dafür,
dass der Staat ja das wirtschaftliche
Leben von oben herab eingestellt hat.
Ja, es ist vielleicht sogar womöglich
so, dass damit auch die Demokratie
geschützt werden kann. Denn der
Staat, der Verbote erlassen hat und
die Freiheit seiner Bürger extrem einschränkt,
gibt so auf der anderen Seite
Millionen Menschen etwas Hoffnung,
dass sie nicht völlig pleite gehen in
den nächsten Wochen. Es ist schon ein
fettes Butterbrot nach der knallenden
Peitsche des Zusperrens allen gesellschaftlichen
Lebens.
Der Bundestag hat also ein großes
Rettungspaket für die deutsche Wirtschaft
beschlossen. Die Abgeordneten
stimmten einem Nachtragshaushalt
in Höhe von 156 Milliarden Euro und
dem Rettungsschirm WSF im Volumen
von 600 Milliarden Euro zu. Die
Schuldenbremse des Grundgesetzes
soll vorübergehend ausgesetzt werden.
Selten einhellig: Es gab gegen das gesamte
Paket nur drei Gegenstimmen.
Weil Bundeskanzlerin Angela
Merkel unter häuslicher Quarantäne
steht (ein Arzt, der sie geimpft hat,
hatte das Coronavirus intus), stellte
der Finanzminister und Vizekanzler
Olaf Scholz die Pläne der Regierung
vor. „Vor uns liegen harte Wochen -
und doch: Wir können sie bewältigen“,
sagte Scholz. Quasi ein bisschen Zuversicht
verbreiten. Um dann fortzufahren:
„Wir erleben eine Krise, die in der Geschichte
der Bundesrepublik ohne Vorbild
ist“, und für die Krisenbewältigung
gebe es „kein Drehbuch“. Und erst recht
nicht die passende Frisur, möchten wir
an dieser Stelle hinzufügen.
CSU-Landesgruppenchef Alexander
Dobrindt (lange nix gehört von ihm)
bezifferte das Volumen des Hilfspakets
der Bundesregierung gar auf etwa 1400
Milliarden Euro. Das sei in etwa die
Gesamtsumme an Krediten, Garantien
und Hilfen. Je länger die Haare wachsen
müssen, desto größer sind die Zahlen.
Oh je, Schwindel, lass nach.
Es lässt sich noch gar nicht bis in jede
Haarspitze darstellen, wer denn nun
welche Gelder erhalten soll. Klar ist aber
schon mal der Löwenanteil (nein, bitte
nicht mit der Löwenmähne verwechseln):
Es wird einen 600 Milliarden Euro
umfassenden Schutzschirm für größere
Firmen geben. Der Staat will in großem
Umfang Garantien geben und notfalls
wichtige Unternehmen auch ganz oder
zum Teil verstaatlichen. Wenn die Krise
vorbei ist, sollen sie wieder privatisiert
werden. Profitieren können nicht alle
Unternehmen, sondern nur solche mit
hohen Umsatzerlösen oder mehr als
250 Mitarbeitern. Unter diesen Schutzschirm
können kleinere Firmen nur im
Einzelfall schlüpfen - wenn sie für die
Infrastruktur besonders wichtig sind.
(Wie Friseure, möchte man rufen).
Aber da wären dann noch die 50
Milliarden, die für kleine und kleinste
Unternehmen ausgegeben werden
sollen, inklusive den sogenannten
Solo-Selbstständigen. So hat etwa das
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit
und Wohnungsbau Baden-Württemberg
ein Soforthilfeprogramm aufgelegt:
„Gewerbliche Unternehmen,
Sozialunternehmen und Angehörige
der Freien Berufe, die sich unmittelbar
infolge der Corona-Pandemie in einer
existenzbedrohenden wirtschaftlichen
Lage befinden und massive
Liquiditätsengpässe erleiden, werden
mit einem einmaligen, nicht rückzahlbaren
Zuschuss unterstützt“, heißt es
dort. Ausgezahlt über die Länder (wie
hier BW) sollen kleine Firmen und
Selbstständige, Musiker, Fotografen,
Heilpraktiker oder Pfleger direkte Finanzspritzen
erhalten. Je nach Unternehmensgröße
sind das für drei
Monate 9.000 bis 15.000 Euro. Dies
wären keine Kredite, sondern Zuschüsse,
die nicht zurück gezahlt werden
müssen. Die Anträge hierfür können
bereits digital gestellt werden. Ausgezahlt
werden die Zuschüsse dann
direkt über die Landesbank.
Millionen Menschen in Deutschland,
die sich durch die Maßnahmen
des Staates gegen die Ausbreitung
des Corona-Virus in existenzieller Not
wiederfinden, werden sich über solche
Programme freuen (falls diese dann
auch wirklich so unbürokratisch funktionieren
wie versprochen), und sich
zumindest mal kurz entspannen. Aber
Vorsicht: Experten warnen, dass diese
„Soforthilfen“ hohe Hürden haben
und es sich daher um Augenwischerei
handeln könnte. Es wäre allerdings
skandalös, so laut und unfrisiert die
Hilfe ins Land zu posaunen, riesige
Hoffnungen zu wecken und am Ende
doch für die meisten Kleinen nicht
infrage zu kommen! Es wäre ein staatlicher
und politischer Schwindel, wenn
das Soforthilfeprogramm quasi Hartz IV
ist, nur nicht so heißt.
Ist ja schon verwunderlich genug,
wie schnell über Jahre tragende
Grundsätze wie die „schwarze Null“
oder die im Grundgesetz verankerte
„Schuldenbremse“ von einem Tag
zum anderen plötzlich über Bord sind.
Zack, zack, oder sagen wir: Schnipp
Schnapp!
Ewig kann trotz Milliardenschirm
das komplette Runterfahren des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen
Lebens nicht dauern. Höchstens bis zum
nächsten Friseur-Termin.
ZUR SACHE
Der Streit um die
Deutungshoheit
In Berlin mahnte Gesundheitsminister
Jens Spahn weiterhin die
Einhaltung aller Regeln an. „Noch
ist das die Ruhe vor dem Sturm“,
sagte er. Natürlich werde es „eine
Zeit nach Corona geben“. Das Leben
werde sich aber erst schrittweise
wieder normalisieren müssen. Unter
Medizinern und Politikern gibt
es aber auch welche, die sich öffentlich
dahingehend äußern, dass
das Corona-Virus in Wirklichkeit
gar nicht so schlimm sei. Diesen
Thesen gegenüber hat nun Innenminister
Horst Seehofer Stellung
bezogen: Er lehne die These der
Herdenimmunisierung ab, nach der
möglichst viele Menschen vom Corona-Virus
befallen werden sollen,
um zügig immun zu werden. Das
halte die Kosten der Pandemie zwar
vergleichsweise niedrig, sei aber
nur um den Preis hoher Sterberaten
zu erreichen. „Erstens hat mir
noch kein Wissenschaftler in die
Hand versprochen, dass man dann
wirklich immun ist“, sagte Seehofer.
„Und zweitens heißt das, dass man
Opfer in Kauf nimmt. Das halte ich
für eine unvertretbare Strategie.“
Es gibt Zyniker, die berechnen, was
ein Menschenleben kostet. miz
Montagen: Viktor Lukanow
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16
GESELLSCHAFT
GASTBEITRAG
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 18. April 2020
„Menschen
ohne Kontakt
werden krank
oder aggressiv“
Gastbeitrag zum Coronavirus. Die Quarantäne ist keine Dauerlösung. Eine Bettenreserve für
die Notzeiten einer Epidemie ist hingegen unverzichtbar. Die bisherigen Anstrengungen zum
Ausbau der medizinischen Versorgung reichen nicht aus.Von Prof. Dr. Joachim Bauer
Berlin 25. März 2020 - Der
Psychoneuroimmunologe und
Psychosomatiker Joachim Bauer
hält die bisher verordneten Maßnahmen
gegen COVID-19 für richtig, warnt aber
vor einer längerfristigen Aufrechterhaltung.
„Mehr als vier Wochen halten
die meisten Menschen das psychisch
nicht durch“. Die Folgen einer längerfristigen
Kontaktsperre wären nicht nur
politisch, wirtschaftlich und kulturell,
sondern auch sozialpsychologisch verheerend.
„Zwischenmenschliche Nähe
ist, wenn sie einem Menschen nicht
aufgezwungen wird, eine der stärksten
heilsamen Drogen“, so Bauer. Er fordert
einen schnellen und massiven Ausbau
medizinischer Einrichtungen. Ein längerfristiger
Verzicht auf fundamentale
Freiheitrechte, wie er von einigen Virologen
und Epidemiologen avisiert werde,
gleiche einem aus Angst vor dem Tode
vorgenommenen präventiven Suizid.
„Politik muss mehr sein als Virologie
und Epidemiologie. Dass sich diejenigen,
die sich dem angeblich alternativlosen
Rational einiger Epidemiologen und
Virologen nicht beugen, dem Verdacht
aussetzen, mit den Erkrankten nicht
solidarisch sein zu wollen, ist inakzeptabel“,
so Bauer, der auch Facharzt für
Innere Medizin und Psychiatrie ist. Die
bisherigen Anstrengungen zum Ausbau
der medizinischen Versorgung der Gefährdeten
reichten, so Bauer, bei Weitem
nicht aus. Hier sein Gastbeitrag:
An der vom SARS-CoV2 Virus ausgelösten
Erkrankung COVID-19 gibt
es nichts zu beschönigen. Zwar erleiden,
wie bisher vorliegende Studien
zeigen, über 80% der Infizierten nur
leichte bis mittelschwere Symptome
(in der Regel mit Husten und Fieber),
ähnlich einer Grippe. Da aber bei bis
zu 20% der Infizierten der Virus zu
einer schweren Lungenentzündung
führt, handelt es sich um eine überaus
ernst zu nehmende Erkrankung. Etwa
fünf Prozent der Infizierten brauchen
intensivmedizinische Behandlung
mit maschineller Beatmung. Die bisher
gehandelten Prozentzahlen des
Anteils schwer Erkrankter, ebenso
wie die Angaben zum Anteil der an
der Infektion Verstorbenen sind tatsächlich
vermutlich deutlich niederer.
Der Grund dafür ist, dass die bisher
vorliegenden Studien sich nicht
auf die Gesamtheit von Infizierten in
der Bevölkerung bezogen, sondern
auf Menschen, die sich in einer Klinik
vorgestellt hatten. Alle Experten
gehen von einer nicht erfassten hohen
Zahl unerkannt Infizierter aus, die
nur geringe Symptome entwickeln.
Aufgrund dieser „Dunkelziffer“ ist
der tatsächliche prozentuale Anteil
derer, die schwer erkranken oder der
Infektion erliegen, als weit geringer
anzunehmen als bisher vermutet. In
Deutschland liegt der Anteil der Verstorbenen
unter den SARS-CoV2-Infizierten
nach neuesten Zahlen bei
0,4%.
Virologisch und epidemiologisch
unbestritten ist, dass wir alle der
Infektion auf Dauer nicht entkommen
können. Konsens der Fachleute
ist, dass wir einer „Durchseuchung“
(etwas vornehmer ausgedrückt: Herdenimmunität)
entgegengehen: An
deren Ende werden bis zu 70% der
Bevölkerung (das sind in unserem
Land 50-60 Millionen Menschen) den
Virus „durchgemacht“ und dann eine
Immunität erworben haben. Diese
bieten dann ihrerseits den restlichen
30% der Bevölkerung, sozusagen
als Puffer, einen gewissen Schutz.
Die bisherigen, der Reduktion von
Kontakten zwischen den Menschen
dienenden Maßnahmen haben – was
gerne verdrängt wird – nicht das Ziel,
Menschen vor der Infektion zu schützen.
Sie sollen lediglich verhindern,
dass sozusagen „alle auf einmal“
krank werden und unsere medizinischen
Einrichtungen überfordern.
Daher sind die Maßnahmen jetzt erst
einmal richtig. Auf längere Sicht
schützen sie aber niemanden, auch
die besonders Gefährdeten nicht vor
einer Infektion!
Unsere Gesellschaft steht vor einem
Dilemma: Je konsequenter und
länger wir die radikalen Maßnahmen
der Kontaktsperre aufrechterhalten,
desto weniger Menschen werden zu
einem gegebenen Zeitpunkt krank,
desto länger würde es aber auch
dauern, bis die genannten 70% der
Bevölkerung, also rund 50-60 Millionen
Menschen „durchinfiziert“
wären. Virologen und Epidemiologen
wie der Direktor des Robert-Koch-Instituts
haben nur das eine Ziel vor
Augen: der Kurvenverlauf müsse
abgeflacht werden, um unsere medizinischen
Einrichtungen, die als
nur wenig veränderbare, konstante
Größe kalkuliert werden, nicht zu
überlasten. Diese Argumentation ist
zunächst einmal richtig. Dass an
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GASTBEITRAG GESELLSCHAFT 17
April 2020
Samstag, 18. April 2020
einer Lungenentzündung erkrankte
Menschen, wenn sie stationäre
Behandlung brauchen (nicht alle
brauchen sie), eine Klinik finden, ist
ein „Muss“. Menschen haben, damit
ihre Gesundheit geschützt bleibt, aber
nicht nur körperliche, sondern auch
psychische, soziale und kulturelle
Bedürfnisse, die ebenso zu beachten
sind, in ihrer Bedeutung aber gerne
unterschätzt oder gering gehandelt
werden. Politik hat das gesamte Spektrum
dieser Bedürfnisse im Auge zu
behalten.
Menschen können ohne sozialen
Kontakt auf Dauer nicht auskommen.
Menschen sind ausweislich ihrer
neurobiologischen Konstruktionsmerkmale
auf sozialen Kontakt angewiesene
Wesen. Zwischenmenschliche
Nähe ist, wenn sie einem Menschen
nicht aufgezwungen wird, eine
der stärksten heilsamen Drogen, die
wir kennen. Psychisches Erleben hat
tiefgreifende, wissenschaftlich nachweisbare
– und tatsächlich unendlich
oft nachgewiesene - Auswirkungen
auf die biologischen Abläufe des
menschlichen Körpers. Das menschliche
Gehirn – US-Kollegen prägten
den Begriff des „social brain“ –
konvertiert psychische und soziale
Erfahrungen in Biologie. Mit
am stärksten davon betroffen ist
das menschliche Immunsystem,
dessen biologische Abwehrkräfte
erlahmen, wenn Menschen Einsamkeit
oder soziale Ausgrenzung
erleben. Dass die moderne Medizin,
auf die wir uneingeschränkt
stolz sein können und selbstverständlich
nicht verzichten wollen,
diesen Aspekt unterbewertet, ist
bedauerlich, macht ihn aber nicht
weniger bedeutsam. Menschen ohne
Kontakt werden krank und
depressiv oder aggressiv.
Gemeinschaft, soziale und kulturelle
Verbundenheit sind unersetzliche,
essentielle Lebensbedürfnisse.
Die analoge, physische
Gemeinschaft mit anderen Menschen
lässt sich durch digitale
Kommunikationsmedien für viele
Menschen gar nicht, für die andere
nur eingeschränkt und jedenfalls
nicht auf Dauer ersetzen. Vielen alten
Menschen, vielen Blinden oder
schwer Behinderten, aber auch vielen
Kleinkindern stehen die digitalen
Kommunikationsmittel gar nicht zur
Verfügung. Aber auch diejenigen, die
in der digitalen Welt zuhause sind,
wissen, dass der physische Kontakt,
der Blick in die Augen eines Anderen,
der Austausch eines Lächelns von Angesicht
zu Angesicht letztlich nicht zu
ersetzen ist. Gemeinsam Ausflüge
zu machen, gemeinsam Konzerte zu
besuchen oder sich anlasslos treffen
zu können sind menschliche Grundbedürfnisse.
Weil sie genau das sind,
haben wir die Grundrechte. Sie sind
kein juristischer Selbstzweck. Sie
sekundieren menschliche Grundbedürfnisse.
Wichtig für künftige Notzeiten:
eine Bettenreserve
Aus diesen Gründen muss Politik
mehr sein als Virologie und
Epidemiologie. Politik muss mehrere
Zielgrößen im Auge haben. Die körperliche
Gesundheit des Menschen ist
eine, ja eine besonders wichtige Zielgröße
- aber nicht einzige. Ich sehe
die Gefahr, dass wir als Gesellschaft
dabei sind, unseren Blick unter der
Drohung der uns bevorstehenden Epidemie
auf die Virologie zu verengen.
Die hier von mir nicht weiter thematisierten
wirtschaftlichen Schäden,
die der Shut-Down vieler gesellschaftlicher
Bereiche anrichtet, sind
derart gewaltig, dass jetzt hunderte
von Milliarden aufgebracht werden
sollen, um die Folgen von Maßnahmen
wiedergutzumachen, die eigentlich
eine Therapie sein sollten. Dies
mag in Ordnung sein. Doch warum
verwenden wir nicht einen guten
Teil dieser „Bazooka“-Gelder dazu,
unsere medizinischen Strukturen
in kürzester Zeit baulich, apparativ
und personell massiv aufzurüsten?
Für eine solche notfallmäßige Hochgeschwindigkeits-Aufrüstung
mit
Schaffung von 50.000 zusätzlichen
Betten nötig wäre ein Betrag in der
Größenordnung von 25 bis 50 Mrd. €.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie
ist nicht die erste, die unser Land
heimsucht, und sie wird nicht die
letzte gewesen sein. In Deutschland
liegt die Influenza-bedingte Übersterblichkeit
seit vielen Jahren alljährlich
bei über 20.000 Menschen.
Neue unbekannte Erreger sind auch
in der Zukunft zu erwarten. Daher
ist für ein Land wie das unsere eine
Bettenreserve für die Notzeiten
einer Epidemie unverzichtbar. Sie
kann in „Friedenszeiten“ ruhiggestellt
werden. Zu einer solchen Reserve
zählt auch ein Personalpool
von Menschen, die in Friedenszeiten
hinreichend trainiert wurden und in
Notzeiten kurzfristig aktiviert werden
können. Diese Bettenreserve vorzuhalten,
wäre, wie wir jetzt sehen,
eine weit billigere Angelegenheit
als das, was wir jetzt zur Stützung
der Wirtschaft und zur Abwendung
eines Totalkollaps der Gesellschaft
ausgeben müssen.
ZUM AUTOR
Professor Dr.
Joachim Bauer
Universitäts-Professor Dr. Joachim
Bauer ist Professor für Psychoneuroimmunologe,
Facharzt für
Innere Medizin und für Psychiatrie
und in beiden Fächern auch habilitiert.
Von der Corona-Krise ist
er persönlich wegen einer Bronchial-Allergie
betroffen (was ihn
zu einem Teil der Risikogruppe
macht) sowie auch als Betreuer
seiner 89-jährigen, in einem Berliner
Pflegeheim lebenden erblindeten
Mutter. Bauer forschte am
Mount Sinai Medical Center in
NYC über Immunbotenstoffe und
war lange Jahre am Uniklinikum
Freiburg tätig. Er lebt und arbeitet
in Berlin, wo er eine Gastprofessur
innehat. „Das Gedächtnis
des Körpers – Wie Beziehungen
und Lebensstile unsere Gene steuern“
(Piper Verlag, 11 Euro) und
„ Wie wir werden wer wir sind –
Die Entstehung des menschlichen
Selbst durch Resonanz“ (Blessing
Verlag, 22 Euro) heißen zwei
seiner Best seller.
Samstag, 18. April 2020
18
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 18.
Ausgabe 287 am 4.
Eine Hand wäscht
die andere,
oder wie?
Samstag, 18. April 2020
Coronavirus. Die drastischen Maßnahmen der deutschen Behörden
gegen die Verbreitung des Virus könnten am Ende zu einer paradoxen
Reaktion führen: Gelingt die Eindämmung auf einige Zehntausend
Fälle mit anschließend flacher Kurve, wird es heißen: Und deswegen
all die Verbote? Gelingt dies trotz aller Maßnahmen nicht, heißt es:
Wofür der ganze Zauber? Hat ja eh nichts genutzt! Von Michael Zäh
Es ist nicht so, wie man denkt, sondern so, wie es
kommt. Das sagte Sigmund Freud, der Begründer
der Psychoanalyse und einer der größten
Denker der Menschheit. Dies ist keinesfalls zu verwechseln
mit dem rheinischen Grundgesetz: „Et kütt
wie et kütt.“ Denn dieses „Es kommt wie es kommt“
ist eher fatalistisch lässig gemeint, bis hin zum unvermeidlichen
Untergang, während Freud sein Leben
lang Wissenschaftler war, der sich Gedanken darüber
machte, was den Menschen helfen könnte.
Niemand von uns hat derzeit die Macht, auch
nur zu wissen, was kommt und wie es kommt. Wohl
auch unsere Wissenschaftler nicht, denen aber in
der derzeitigen Situation zunächst einmal Glauben
geschenkt werden sollte. Und diese haben denn auch
eine recht klare Formel in Umlauf gebracht: Siebzig
Prozent der deutschen Bevölkerung werden sich über
kurz oder lang mit dem Corona-Virus anstecken. Dies
wären rund 58 Millionen Menschen in Deutschland.
Die Frage sei nur, in welchem Zeitraum dies geschehe.
Und genau diese Frage sei entscheidend dafür, wie
schlimm es kommt. Entweder zur Katastrophe und dem
gesellschaftlichen Zusammenbruch, oder zu einer gewaltigen
Aufgabe, die aber bewältigt werden könnte.
Die Wissenschaftler gehen bei ihren Prognosen
von zwei Prämissen aus: Erstens wird sich das Corona-
Virus so lange von Mensch zu Mensch weiter verbreiten,
in Deutschland wie in der Welt, bis es keine neuen
Wirte mehr findet, die nicht schon immun sind. Und
zweitens würde die Kurve der Ansteckungen in kurzer
Zeit steil nach oben gehen, wenn keine einschneidenden
Maßnahmen ergriffen würden. Wenn wie bisher
knapp ein Sechstel der Infizierten einen schweren
Verlauf der Lungenkrankheit bekämen und daher im
Krankenhaus behandelt werden müssten, dann wären
dies also knapp neun Millionen Menschen.
Dieses Szenario ist so, wie Wissenschaftler es
heute denken. Nein, keiner weiß, ob es so kommt.
Weil aber allein die Möglichkeit besteht, dass es –
ohne all die Gegenmaßnahmen, die bereits ergriffen
wurden – zu einem Kollaps in Kliniken führen könnte
(weil natürlich nicht neun Millionen Menschen dort
gleichzeitig behandelt werden könnten) alles rechtfertigt,
was man dagegen tun kann, kommt es im Moment
bei der Gesellschaft – uns allen – ganz gut an, wenn
nun der Ausnahmezustand ausgerufen ist. Noch dazu,
weil die Wissenschaftler ja darauf hinweisen, dass es
hauptsächlich eine bestimmte Gruppe ist, die durch
den Rest der Gesellschaft – uns alle – geschützt werden
müsse: Ältere und bereits erkrankte Menschen, also
unsere Eltern oder Großeltern (insofern wir das nicht
selbst schon sind). Und wer möchte nicht seine eigenen
Eltern schützen? Ohne die Bereitschaft aller käme es
laut Hochrechnungen bis zu 1,8 Millionen Toten in
kürzester Zeit durch das Corona-Virus. Hinzu kämen
vermutlich noch viele weitere Tote, die an ganz anderen
Krankheiten (wie etwa Herzinfarkte, Krebs und
dergleichen) leiden, aber wegen des Zusammenbruchs
des Gesundheitssystems nicht mehr entsprechend versorgt
werden könnten. Dass es nicht so kommen darf,
wie sich das die Wissenschaftler vorsorglich denken,
überzeugt auch jene von uns, die ungern auf all das
verzichten, was unser Leben schon auch ein bisschen
ausmacht: Soziale Kontakte, Kultur, Sport, Kneipen,
die Freiheit, sich dort bewegen zu dürfen, wo man will.
Man übt sich in Solidarität, es fühlt sich ja auch an
wie zwischen den Zeiten (verwandt mit den wenigen
Wochen zwischen den Jahren), ist mal etwas Neues
und schweißt im Abstandhalten sogar zusammen. Eine
Weile geht das gut. Es sind Coronaferien, die man gar
nicht beantragen musste (ja, die man nicht mal auf
die eigene Kappe nehmen muss), eine überraschend
geschenkte Zeit im Kreise seiner Nächsten. Und es
kann sogar sein, dass man dann in neun Monaten den
„Corona-Baby-Boom“ feststellt. Ja, was soll man auch
machen, wenn man mal nicht gestresst ist?
Eine Weile lang ist es ein Test, der seinen Reiz entfaltet.
Das sonstige gesellschaftliche Leben in Deutsch-
ZUR SACHE
Die „Bazooka“ soll
nun also helfen
Es ist eine seltsame Wortwahl, die
Finanzminister Olaf Scholz und
Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier in Anschlag bringen: Der
Bund werde die „Bazooka“ gegen
die Auswirkungen des Corona-Virus
einsetzen. Nun ja, das ist wohl als
Beruhigung gemeint, obwohl das
„Ofenrohr“ im Zweiten Weltkrieg
als eher grobschlächtige Waffe der
US-Streitkräfte galt, die nicht selten
die Schützen selbst zu Tode verbrannte.
In Übersetzung heißt dies,
dass der Bund in unbegrenzter Höhe
Kredite für Firmen bereitstellen will,
die durch das Corona-Virus in Not
geraten sind. „Das ist ein Schritt,
den es so in der Nachkriegsgeschichte
noch nicht gegeben hat.
An fehlendem Geld und fehlendem
Willen soll es nicht scheitern“, so
Altmaier. Man sitze auf gut gefüllten
Kassen und habe deshalb auch
großes Durchhaltevermögen, sagte
Scholz. „Wir können alles stabilisieren,
was stabilisiert werden muss“,
so der Finanzminister weiter. Dies
soll für kleine wie für große Unternehmen
gelten, so heißt es. Wenn
man dies aber die „Bazooka“ nennt,
rennen viele Firmen gleich davon.
Verbrennungsgefahr! miz
Samstag, 18. April 2020
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April 2020
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April 2020
Samstag, 18. April 2020
land ist ausgeknipst – was können wir an dessen Stelle
rücken? Manche machen vielleicht den Couch-Potato
vor der Glotze, dem Computer oder dem Handy. Ist
bequem und tut nicht weh. Wann hat man das schon,
dass es auch noch ohne schlechtes Gewissen gemacht
werden kann? Ist zum Schutz der Großeltern und ja
auch staatlich verordnet.
Andere nutzen die Auszeit dafür, mal das zu
machen, an das sie sonst gar nicht denken dürfen.
Nachdenken übers eigene Leben und das der Nächsten.
Sogar über Politik und Ethik. Mal ein Buch lesen, das
tausend Seiten hat. Mal raus aus der ewigen Beschleunigung
des sonstigen Alltags, um zu sich selbst zu
finden. Quasi eine Erfrischungskur für Geist und Seele.
Und dann soll es auch jene geben, die ganz konkret
helfen wollen. So gibt es bereits spontan gegründete
Nachbarschaftshilfen für ältere Menschen, damit diese
nicht selbst einkaufen gehen müssen. Oder es gibt
Leute, die vorübergehend arbeitslos geworden sind und
sich als Babysitter anbieten, um jene zur Arbeit gehen
zu lassen, die dringend benötigt werden, vor allem im
Gesundheitssystem.
Wenn wir alle immer schön unsere Hände waschen
und es dann auch noch stimmt, dass offiziell eine Hand
die andere wäscht, weil die Regierung einfach allen
Betroffenen finanziell unter die Arme greift, könnte
am Ende etwas ganz Großartiges stehen. Das wäre fast
wie das deutsche Wirtschaftswunder in der Folge des
Zweiten Weltkriegs.
Die Frage ist allerdings, wie lange diese Solidarität
gutgehen kann. Denn angesichts existenzieller
Nöte von all jenen, die freischaffend tätig sind oder
auf öffentliches Publikum angewiesen sind, wird es
wohl nicht allzu lange dauern, bis es sogar soziale
Unruhen geben wird. Wenn in vier Wochen alles unter
Kontrolle wäre und die rigorosen Beschränkungen mit
Pauken und Trompeten alle wieder aufgehoben werden
könnten, wäre dies noch machbar. Dann würde sich
die Gesellschaft ob ihres Zusammenhalts vielleicht
sogar feiern.
Wenn es nach acht Wochen immer noch heißt,
dass kein Ende absehbar sei, sondern immer noch neue
unzumutbare Restriktionen erlassen würden, rauscht
die gesellschaftliche Depression heran. Wenn es ein
halbes Jahr, gar ein Jahr oder länger dauern sollte, wäre
die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie wir sie heute
kennen, nicht mehr wieder zu erkennen. Dann wäre es
nicht so, wie es von heute aus gedacht war, sondern
so, wie es dann gekommen ist. Es wäre der Absturz ins
Bodenlose, mit allen politischen Verwerfungen, die das
mit sich brächte.
Kurzfristig könnte es zu einer paradoxen Reaktion
kommen: Sollte es nämlich gelingen, dass durch die
drastischen Maßnahmen des Staates die Zahl der Infektionen
recht konstant auf einem niedrigen Niveau
gehalten würde und dann flach verläuft, dann würden
die Millionen Menschen, die ihre wirtschaftliche
Existenz verloren haben, sagen: Wie bitte, wegen nur
ein paar zehntausend Infektionen wurde vom Staat
der Ausnahmezustand verfügt und habe ich alles
verloren? Sollte aber umgekehrt eine gesundheitliche
Katastrophe über das Land herein brechen, weil alle
Maßnahmen es nicht verhindern konnten, dann werden
Millionen Menschen sagen, dass man dann diese
wirtschaftlich vernichtenden Verbote auch hätte sein
lassen können, da sie ja nichts bewirkt haben.
Man kann sich das ausdenken wie man will. Derzeit
werden selbst frohgemute Geister verunsichert sein
und daran zweifeln ob ein „Et hätt noch immer jot jejange“
zutrifft. Es stimmt ja außerdem auch nicht, dass
es noch immer gut gegangen ist. Eher könnte sein, dass
das Jahr 2020 ein einschneidendes in der Geschichte
der Menschheit sein wird.
Womöglich kommt es so, dass der Virus irgendwann
kontrolliert wird, aber die Weltordnung und die
globale Wirtschaft sich zwischenzeitlich stark verändert
haben werden. Könnten wir uns denken, wenn wir
nicht wüssten, was Freud gesagt hat.