wirklich\\wahr – extrem
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\\extrem
2 x 20 Seiten
in
2 Wochen:
zu
Extremismus.
So lange hat die Entstehung
dieses Magazins gedauert.
wirklich\\wahr 03
3
Chefredaktion
Jonas Seufert
ist freier Autor und Journalist. Studium in Dresden in
Zeiten von Neonaziaufmärschen und Pegida. Danach
Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in
München. Schreibt über alles, was ihn interessiert,
u.a. Dörfer in Ostfriesland, Minen in Schweden und
Schlauchboote vor der libyschen Küste.
Manuel Stark
studierte in Bamberg Kommunikationswissenschaft und
Philosophie. Als Schüler der 55. Lehrredaktion wurde er an
der Deutschen Journalistenschule in München ausgebildet.
Er lebt in Hamburg und arbeitet als freier Journalist.
4
wirklich\\wahr 03
Das Heft &
seine Entstehung
Was ist Extrem?
Extrem sein, das hat mindestens zwei Seiten.
Da ist das Fanatische, das keine Zwischentöne zulässt,
keine Empathie und keinen Widerspruch. Da gibt es
kein „aber“, kein „einerseits – andererseits“, nur ein „so
ist es und nicht anders“. Schwarz oder weiß. Wer nicht
für mich ist, ist gegen mich. Und Gegner muss man
ausschalten, notfalls auch mit Gewalt.
Das Extreme fasziniert uns aber auch. Weil Menschen
für ihre Überzeugungen einstehen. Vielleicht von einer
besseren Welt träumen. Oder den Nervenkitzel
suchen. Ohne Kompromisse, von denen es im Alltag
schon zu viele gibt.
Extrem sein, das heißt radikal von der Norm abweichen.
Der Duden schreibt: „An die äußerste Grenze
gehen“. Das kann beängstigend sein und gefährlich.
Oder beeindruckend und spannend. Als Journalist ist
das Extreme in jedem Fall interessant, weil wir uns als
Gesellschaft dazu verhalten müssen. Was können wir
dulden? Was geht zu weit? Was können wir vielleicht
sogar lernen?
Journalisten brauchen dafür aber das „einerseits-andererseits“,
das „aber“. Uns geht es ja gerade um die Widersprüche.
Und um die Zwischentöne.
Was bedeutet es eigentlich, extrem zu sein?
Extrem zu denken? Sich Extremen auszusetzen? Und
wo beginnt das Extreme eigentlich? Jeden Tag bemühen
sich Journalisten in ganz Deutschland darum, das
Extreme zu fassen und von der Norm abzugrenzen,
hinterfragen ihre Einordnung im Sinne einer demokratischen
Debatte und verwerfen sie teils wieder.
Extrem – das kann auch bedeuten, sich mit dem Wort
auseinanderzusetzen, das in unserer heutigen Zeit derart
negativ besetzt ist und oft reduziert wird auf die
Spaltung in rechts und links, liberal und konservativ,
moralisch und verwerflich, richtig und falsch. Für dieses
Heft sind junge Autoren ausgezogen und haben
sich Extremen gestellt.
So hat eine Autorin Liebe in einem extremen Spannungsfeld
gefunden: Er ist AfD-Wähler und will ein
weißes Deutschland. Sie ist schwarz.
Ein Autor ging ins Netz und erlebte, wie Hass und
Verführung zusammenspielen, wenn Extremisten versuchen
in den Sozialen Medien für ihre Ideologien zu
werben.
Wie können gute Ideale zu extremem Schrecken führen,
fragte eine andere Reporterin – und machte sich
auf die Spuren von Ulrike Meinhof und der RAF.
Extrem – das Abweichen von der Norm. Das Wort
scheint einfach, und ist doch so reich an Facetten wie
ein Kaleidoskop. Das beweisen die jungen Journalisten
der wirklich\\wahr-Redaktion 2018 mit diesem Heft.
Jonas Seufert
Manuel Stark
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5
1 – extrem…kontrovers
10 - Schwarz und Weiß
12 - Radikal im Cyberspace
14 - „Den Hass habe ich verbrannt“
16 - Volksbingo in Kandel
2 – extrem…leben
20 - 18 Jahre als Zeugin Jehovas
22 - Olivenzweige gegen Bomben
25 - Ich mag euch trotzdem
27 - Freerunning
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3 – extrem…historisch
Rote Armee Fraktion - 30
Einbinden statt Ausgrenzen - 33
Extremismus im Christentum - 34
Heimatfront - 36
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extrem
…kontrovers
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wirklich\\wahr 03
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Schwarz
und Weiß
Eine junge Frau erfährt, dass ihr Freund die AfD wählt.
Er will ein Deutschland ohne Ausländer.
Sie ist schwarz.
Was macht das mit einer Liebe?
Von Zoe Bunje
Was bedeutet Liebe für dich?“,
frage ich Julia. Sie ist 26, studiert
Tourismuswirtschaft,
ihre Mutter ist in Deutschland
geboren, ihr Vater in Nigeria. Julia muss lange
nachdenken, bevor sie auf meine Frage antwortet.
Sie stützt ihren Kopf auf ihre Hände und
grübelt. Zwischendurch grinst sie ein wenig,
wir lachen. Liebe bedeutet für sie Respekt.
Wertschätzung. „Den Partner so akzeptieren,
wie er ist.“ Julia ist schwarz. Vor wenigen Tagen
hat sie sich von ihrem Freund Paul getrennt.
Paul wählt die AfD. Julia ist meine Mitbewohnerin.
Sie hat immer eine Packung Nudeln
oder Tomatensauce für mich übrig. Wenn ich
vergesse einen Topf zu spülen, lacht sie, statt
wütend zu werden. Ihr Lachen beginnt meistens
mit einem leichten Grinsen, steigert sich
dann, ergreift ihren ganzen Körper, bis ihre
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dunkelbraunen Locken wippen. Julia trägt gerne
Blumenmuster – die passen zu ihren sanften
Gesichtszügen.
Seit neun Monaten wohnen wir gemeinsam
in dieser Wohnung mit riesigem Bad und Spülmaschine,
die wir uns nur leisten können, weil
unsere Stadt klein und unsere Hochschule noch
viel kleiner ist. „Vor knapp zwei Jahren hat mich
mein Optiker gefragt, ob ich an einem Angebot
für Minderjährige interessiert bin“, erwiderte
sie unter Lachen, als ich nach Hause kam
und ihr erzählte, dass ich im Supermarkt nach
meinem Ausweis gefragt wurde. Ich hatte Sekt
gekauft.
Heute, ein Nachmittag im November: Wir
sitzen am Tisch unserer WG- Küche. Durch
ihre zusammengesunkene Haltung wirkt Julia
sehr klein, viel kleiner als sonst mit ihren 1,66
Metern. Ich möchte ihr nicht zu nahe treten.
Sie nicht verletzen. Also zögere ich, bevor
ich meine Fragen stelle. Julia bemerkt, dass
ich mich unwohl fühle. „Frag, was immer du
magst“, ermutigt sie mich. Wir essen Schokoladen-Fondue.
Das tun wir meistens, wenn wir
über schwierige Themen sprechen. Als würde
die Schokolade ein wenig Gewicht von unseren
Schultern nehmen.
Wir erzählen uns heute nicht die Erlebnisse
der letzten Tage. Ich bitte sie stattdessen um
eine Geschichte, die ich schon kenne. Eine Geschichte,
die ich dieses Mal aufschreiben möchte.
Es geht um Paul, ihren ehemaligen Freund.
„Wir haben uns im September über eine Dating-
App kennengelernt“, erzählt sie mir. Eine
Woche schrieben sie, trafen sich dann in einer
wirklich\\wahr 03
Bar. Nach dem ersten Treffen sahen sie sich für
zwei Wochen jeden Tag. „Eigentlich hatten wir
uns erst eine Woche später wiedersehen wollen,
aber er hat mich schon am nächsten Tag gefragt,
ob ich mich direkt wieder mit ihm treffen
möchte.“
Als sie mir davon erzählt, lächelt sie zwar,
vermeidet aber Blickkontakt. Julias Augen
wandern durch den Raum, finden keinen Halt.
„Eines Tages stand der Gärtner vor Pauls
Wohnung. Er hat gefragt, ob ich Pauls Freundin
bin“, erzählt sie. „Zu dem Zeitpunkt hatten
Paul und ich uns ein paar Mal getroffen, waren
uns auch körperlich nähergekommen. Aber definiert
haben wir unsere Beziehung nie.“ Paul
antwortete ja auf die Frage des Gärtners. Er
sagt auch ja, als Julia ihm die gleiche Frage wenige
Minuten später stellt. „Das hat mich überrumpelt,
aber gefreut.“ So kommen die beiden
zusammen. Es gibt keine große Liebeserklärung.
Für beide steht fest, dass es passt, dass sie
sich mögen.
Ich frage weiter. Wie hat sie von Pauls politischer
Einstellung erfahren? Julia erzählt,
dass sie oft beim Essen über ganz verschiedene
Themen geredet haben. Auch Politik. „Ich
habe gemerkt, dass er sich gegen Flüchtlinge
äußert, Merkel nicht leiden kann.“ Je länger sie
sich unterhalten, desto extremer drangen seine
Ansichten nach Außen. „Ich habe ihn eigentlich
nur aus Spaß gefragt, ob er die AfD wählt.“
Plötzlich wird Julia lauter, bestimmter. „Er hat
nur gegrinst. Das war Antwort genug.“ Sie wird
schneller, als sie fortfährt: „Er war überrascht,
dass mich das so aufregt. Hat versucht mich zu
umarmen, aber das habe ich nicht zugelassen.
Ich war enttäuscht.“
Es gibt Menschen, die schreien, wenn sie
wütend sind, die allein mit ihrer Stimme ganze
Räume für sich einnehmen. Julia ist anders: „Ich
war wütend, habe erstmal probiert Argumente
zu bringen und dann doch geschwiegen. Paul
hat immer gesagt, dass ich in solchen Situationen
zum Eisklotz werde.“ Mit den Worten: „Das
heißt ja nichts“, versuchte Paul seine politische
Einstellung zu relativieren. „Trotzdem habe ich
ihn erstmal nicht an mich ran gelassen“, erzählt
Julia. Es habe bestimmt eine Stunde gedauert
bis sie wieder aufgetaut sei. Bis sie versucht
habe, die Leere zwischen ihr und Paul mit Worten
zu füllen.
Ich kann mich noch an den Abend erinnern,
an dem Julia mir das erste Mal von Pauls politischen
Ansichten erzählt hat. In meiner Erinnerung
läuft sie durch die Küche. Ihre Sätze enden
mit Fragezeichen. Fragezeichen, auf die – nicht
wie sonst – auch eine Antwort folgt. „Wie kann
er die AfD wählen, obwohl er mit mir zusammen
ist? Ergibt unsere Beziehung so überhaupt
Sinn? Kann das so weitergehen?“
Julias Oma macht schon seit Jahren immer
wieder rassistische Anmerkungen. Der gruselige
Schwarze im Drogeriemarkt will Julia
bestimmt entführen. Die Flüchtlinge sind die
Einbrecher. Wer soll das sonst gewesen sein? Sie
äußert sich niemals direkt gegen Julia. Aber immer
gegen Ausländer.
Im Gespräch mit mir sucht Julia Entschuldigungen
für ihre Oma: „Ihr geht es nur darum,
eine Bemerkung abzulassen. Anfangs habe ich
probiert ruhig mit ihr zu diskutieren, aber sie
kann ihr Verhalten nicht begründen. Natürlich
stört mich ihr Verhalten, aber ich nehme es ihr
nicht so übel. Mittlerweile ignoriere ich das
meiste.“
Bei Paul ist das anders. Paul ist war ihr
Freund. Aber das ist nicht der einzige Grund,
warum sie sein Verhalten so verletzte. Er sei
noch jung, 29. Müsse es aber auch ohne die Beziehung
zu ihr besser wissen. „Pauls politische
Einstellung hat mich sehr aufgeregt. Ich bin wütend
geworden. Dafür fehlt mir noch heute das
Verständnis. Das Thema kam aber nicht oft auf.
Deswegen habe ich nicht darüber nachgedacht,
die Beziehung zu beenden.“
Zu Anfang unseres Gesprächs saß Julia zusammengesunken.
Sie sprach so leise, dass ich
mich ein wenig zu ihr lehnen musste, um sie
zu verstehen. Jetzt sitzt sie aufrecht. Spricht
lauter. Schaut mich an. Sie erzählt, wie sie in
ihrer weiteren Beziehung mit Pauls politischer
Einstellung umgeht: mit Gesprächen. Sie diskutierten
nach ihrem Essen noch zwei, drei Mal
über Politik: Er wolle nur keine Ausländer im
Land, die sich nicht benehmen könnten. Merkel
habe schließlich nichts verändert, da müsse er
radikaler wählen. Würde er entscheiden können,
er wolle ein deutsches Deutschland. Ohne
Ausländer. Ohne Julia.
„Ist das noch Liebe?“, ich stelle die Frage leise.
Habe Angst, damit eine Grenze zu überschreiten.
Julia zu verletzen. „Ich hatte nie das Gefühl,
er hätte lieber eine blonde Freundin“, sagt Julia.
Sie macht eine kurze Pause. „Der Gedanke,
dass er etwas gegen mich hat, kommt aber natürlich
auf.“ Grund für eine Trennung sei Pauls
politische Einstellung – trotz Allem – aber nie
gewesen.
Ich möchte mit Paul sprechen. Verstehen, wie
er die Beziehung zu meiner Mitbewohnerin mit
seiner politischen Weltsicht vereinbaren konnte,
wieso er sich jemals mit Julia traf. Ich schreibe
ihm eine 50-zeilige Nachricht auf WhatsApp
und bitte ihn, mich direkt zu kontaktieren. Er
antwortet nicht. Am nächsten Tag erfahre ich
von Julia, dass er nicht mit mir sprechen möchte.
Dass ich nur anonym über ihn schreiben soll.
Ich suche auf anderem Weg nach einer Erklärung.
Thomas Kliche lehrt als Professor
für Politische Psychologie an der Hochschule
Magdeburg- Stendal: „Rassismus beruht häufig
auf verdrängten Wünschen und verdrängter
Faszination“, erklärt Kliche. So hätten die
Nationalsozialisten den Juden positive Eigenschaften
wie einen engen Zusammenhalt und
gegenseitige Unterstützung zugeschrieben. Diese
Eigenschaften jedoch negativ ausgelegt und
damit ihre Verfolgung gerechtfertigt. Es sei gar
nicht überraschend, dass Paul Julia als Person
faszinierend finde, aber dennoch Menschen mit
schwarzer Hautfarbe oder vermeintliche Ausländer
aus Neid ablehne. Neid auf Stereotype
– wie beispielsweise viele Kinder und einen
starken familiären Zusammenhalt.
Durch ausländische Freunde oder einen ausländischen
Partner werde es sogar einfacher,
rassistisches Verhalten zu rechtfertigen. „Ich
habe viele ausländische Freunde,“ stehe in der
Diskussion mit Rechtsextremen häufig für „ich
kenne mich aus und habe daher das Recht zu
urteilen.“
Auch wenn Paul mit Julia über Politik diskutiert,
beurteilt Kliche die Situation nicht
als ausgeglichen. Paul erlaube Julia zwar Argumente
zu äußern, lässt die Diskussion aber niemals
zu einer Lösung oder einem Kompromiss
kommen. „Er erlebt sich in den Diskussionen
als großzügiger Gentleman und hat zusätzlich
die Möglichkeit, politisch die Sau rauszulassen“,
vermutet Kliche. „Er stellt sich ganz klar über
sie.“
An diesem Novembernachmittag haben wir
unser Schokoladen- Fondue beinahe aufgegessen.
Julia tunkt die letzte Weintraube in Schokolade
„Ich hoffe, dass irgendwann kein Unterschied
mehr zwischen Menschen gemacht wird.
Wenn sich Freunde von mir rassistisch äußern,
suche ich immer wieder die Diskussion. Wie damals
mit Paul. Ich möchte Anreize zum Nachdenken
geben.“
Es dauert einige Tage, bis ich diese Geschichte
aufgeschrieben habe. Eine Geschichte über
Julia, die liebt, obwohl sie in ihrer Beziehung
mit Ablehnung konfrontiert wird. Über Paul,
der – trotz schwarzer Freundin – die AfD wählt.
Über Julias Oma, die Angst vor Menschen, Kulturen,
Religionen hat, die sie nicht kennt.
Eine Frage drängt in mein Bewusstsein: Bin
ich ihnen allen nicht viel ähnlicher, als ich zugebe?
Bin ich nicht auch oft Julia und blicke über
Probleme hinweg, die ich nicht lösen kann?
Bin ich nicht auch oft Paul und verstricke
mich in Widersprüche?
Bin ich nicht auch oft Julias Oma und habe
Angst, weil jemand anders wirkt?
Ich habe mich mit Julia zusammengesetzt,
um etwas über ihre Beziehung zu Paul zu erfahren.
Gelernt habe ich auch viel über mich.
wirklich\\wahr 03
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Radikal im Cyberspace
Extremismus hat seinen Ursprung oft im Gefühl „anders zu sein“.
Über das Internet gelangen radikale Gruppen leichter an Menschen,
die ohnehin schon sozial isoliert leben.
Von Tarek Bunni
Der Cyberspace ist seit Jahren ein Ort, um extremistische
Ideen zu fördern. Soziale Medien ziehen
Terroristen der ganzen Welt an. Daher ist
es wichtig, daran zu arbeiten, dieser Bedrohung
entgegenzuwirken.
Das Verhältnis Sozialer Netzwerke und Ideologie des Terrorismus
wird vor allem in zwei Aspekten deutlich: Zum einen
ist die auffallend intensive Nutzung sozialer Medien im
Allgemeinen durch Mitglieder der Gesellschaft zu nennen.
Zum anderen, dass extremistische Gruppen die sogenannten
Sozialen Medien immer mehr nutzen, um Extremismus zu
verbreiten und für ihre Ideologie empfänglich zu machen und
zu rekrutieren.
Die Art von Ideen die so Verbreitung finden, reichen von
der Erlaubnis, andere Menschen zu töten, fangen aber eher bei
kleinerem Übel, wie dem Versenden von Bildern an, auf denen
Gräueltaten abgebildet sind. Anlass dafür sind lediglich
Unterschiede im Glauben oder weil andere Menschen andere
Ansichten zum Thema haben. Zudem holen soziale Medien
Menschen dort ab, wo sie stehen. Gerade soziale Außenseiter
fühlen sich da schnell von einer extremen Gruppe verstanden
und sind empfänglich für ihre Worte und Regeln.
Dieses Phänomen hat sich in den meisten Ländern der Erde
verbreitet, auch in europäischen Ländern wie Frankreich. Unter
dem Namen "fachosphère" sind dort extreme Kräfte tätig
und fördern Gewalt gegen im Land lebende Ausländer.
Weil es so leicht ist, Nachrichten, Bilder und Filme im Internet
zu verbreiten und zu empfangen, werden diese Inhalte
auch von Menschen konsumiert, die mit ihnen etwas füllen
wollen, das ihnen in ihrem Leben fehlt: intellektuelle Leere,
körperliche Bedürfnisse, die Lust nach Abenteuer, die Zugehörigkeit
zu einer Gruppe.
Das Konzept des Extremismus sagt aus, dass extrem ist, was
von den üblichen Normen, Werten und Verhaltensweisen einer
Gesellschaft radikal abweicht. Isolation, Negativität und
Rückzug aus einer Gesellschaft aber kann einen solchen Extremismus
fördern. Weshalb sich an die Werte und Standards
einer Welt halten, zu der man ohnehin nicht wirklich gehört?
Deshalb nehmen Menschen am Rande der Gesellschaft möglicherweise
neue Normen leichter an, die sie in ein Kollektiv
aufnehmen und als Individuum scheinbar wertschätzen.
Diese Menschen, einmal von der neuen Ideologie infiziert
wiederum, wollen das, was ihnen gut tat und daher als richtig
empfunden wird, weiter verbreiten. Sie wollen selbst Gehör
finden und sich ausdrücken. Also verbreiten auch sie wiederum
Texte, Filme und Soundnachrichten, machen Lärm, um
Ideen auszudrücken, die sie als die für die Menschheit richtigen
halten.
Extremismus kann aber auch plötzlich im Einklang mit
kulturellen und ideologischen Konzepten stehen. In Amerika
sehen wir das gerade mit dem – nicht mehr ganz so neu
gewählten – Präsidenten Trump: Das Land, das ehemals als
Speerspitze der freien westlichen demokratischen Welt galt,
hat einen politischen Führer an seiner Spitze, der aus europäischer
Sicht in verschiedener Weise als schwer radikal gilt. Als
extrem. Und auch er greift auf die Sozialen Medien zurück,
um seine radikalen und extremen Botschaften in die Welt zu
tragen und Anhänger zu mobilisieren.
Es ist eine Art elektronischer Extremismus, der hier stattfindet.
Über konkrete Beispiele hinaus kann dieser ganz allgemein
stattfinden unter Einsatz des Internets, durch die Verbreitung,
Ausstrahlung, das Empfangen und die Übertragung
extremer Inhalte und Botschaften an eine größere Öffentlichkeit
oder ein zielgerichtetes Publikum. Der Anstifter von Gewalt
kann eine unabhängige Person oder eine ganze Gruppe
sein. Wichtig ist nur, dass die Empfängerzahl möglichst groß
ist und die Personen, beinahe als wären sie ein Kollektiv, auf
die Botschaft des Anstifters positiv reagieren – und seine
Nachrichten durch eigenes Zutun weiter fördern.
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wirklich\\wahr 03
wirklich\\wahr 03
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wirklich\\wahr 03
„Den Hass habe ich verbrannt“
Anne Salzbrenner erlebt als evangelische Pfarrerin immer wieder Extremismus. Sie fordert:
Lebt nach dem Gebot der Nächstenliebe und behandelt alle Menschen gleich – egal ob Ausländer,
Flüchtling oder Deutscher. Deshalb drohte man ihr schon mit Gewalt und Hinterhalten.
Von Nawar Al Eid
Auf welche Weise haben Sie bereits Extremismus
erlebt?
Extremismus fängt für mich an, wenn ich gefragt
werde, ob ich nicht Angst vor Islamisierung
habe, und, dass uns der Islam überrollen
will.
Über andere Menschen übel zu reden, nur weil
sie Flüchtlinge sind – alle nach Hause schicken
–, oder Ausländer wie Rumänen und Polen –
die klauen eh nur –, das ist für mich Alltagsextremismus.
Auch im Thema Homosexualität erlebe ich
immer wieder extreme Äußerungen: Weil ich
Pfarrerin bin, müsse ich doch etwas gegen Homosexuelle
haben. Das sei doch nicht Gott gewollt.
So ein Quatsch!
Waren Sie persönlich bereits Extremismus ausgesetzt?
Als Frau werde ich von manchen Menschen
nicht akzeptiert, wenn es darum geht, dass ich
eine Hochzeit abhalte oder aber auch als Geschäftsführerin
handle, wenn es um Belange
unserer Gemeinde geht. Ein Beispiel dafür ist
die Belegung unseres Gemeindehauses. Manche
Menschen sagen, dass ich als Frau erst gar nicht
Pfarrerin sein kann. All das erlebe ich klar als
gegen mich als Frau gerichteten Extremismus.
Fühlten Sie sich schon einmal bedroht durch
extremes Gedankengut?
Ich habe in meiner Studienzeit regelrechte
Straßenkämpfe miterlebt. Eine Gruppe von
Studenten, die eher gewerkschaftlich orientiert
war, wurde auf offener Straße angegangen und
mit abgeschlagenen Bierkrügen attackiert. Studienfreunde
bekamen nachts Terroranrufe, ihr
Zimmerfenster wurde mit einem Gewehr beschossen,
noch während Menschen im Zimmer
waren.
Heute begegnet mir Extremismus in Hassbriefen
und Telefonanrufen, wo ich zeitweise sogar
bedroht werde: ich Flüchtlingsfreund solle
„nachts gut aufpassen“. Das hinterlässt Etwas in
einem.
Wie haben Sie reagiert?
Die Briefe habe ich verbrannt. Ich bin Sprecherin
des Bündnisses Lichtenfels ist bunt. Das ist
ein Bündnis, das sich für Toleranz und gegen
Rechtsextremismus wendet. Wir organisieren
bunte Feste, aber auch Demos gegen rechte Organisatoren.
Ich bin dort Sprecherin, weil andere
zum Teil Angst um ihre Familie haben oder
vor Attacken.
Mein Vater hat den Krieg erlebt und verbrachte
viereinhalb Jahre in Gefangenschaft. Ich bin
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von Kindesbeinen an dazu erzogen worden,
mich gegen Rechtsextremismus und für Frieden
und Toleranz einzusetzen. Mein Vater hat
sich oft mit Menschen angelegt, die den Krieg
verherrlicht haben, oder sich über Menschen
ausließen, nur weil diese anders aussahen.
Für mich ist das keine Frage der Überlegung.
Ich tue es, weil Schweigen für mich Zustimmung
bedeutet. Und ich will nicht schweigen.
Das hat nichts mit Mut zu tun. Es geht nicht
anders.
Haben Sie Angst vor Extremisten?
Sicher. Angst ist da, wenn ich mich in einem
Interview, in der Zeitung oder während einer
Demo oder in einer Predigt deutlich gegen Extremismus
ausgesprochen habe. Ich habe Angst
vor Nazi Gangs. Machen die ihre Drohungen
wahr und stellen mir eine Falle? Wer schon
Überfälle erlebt hat, der weiß, dass Extremisten
keinen Spaß verstehen. Und kein Erbarmen
kennen. Kollegen von mir ist das schon passiert.
Aber diese Angst kriegt mich nicht klein, sonst
hätten die Extremisten schon gewonnen. Das
darf ich nicht zulassen. Noch leben wir in einer
Demokratie, und die gibt mir Möglichkeiten
gegen Extremisten vorzugehen – durch Polizei
und Gericht. Ich erfahre viel Solidarität von
Menschen, die es gut finden, dass ich mich als
Pfarrerin, also als Person des öffentlichen Lebens,
klar positioniere. Als bekannt wurde,
dass ich von Extremisten bedroht wurde, bekam
ich Emails und Post von jungen und alten
Menschen aus Gemeinde und Nachbarschaft.
Mir teils fremde Leute schrieben mir, dass ich
anrufen soll, wenn ich wieder bedroht werde.
Sie seien da, würde ich Geleitschutz brauchen.
Solche Reaktionen machen mir Mut und bestärken
mich.
Macht diese Angst Ihr Leben schwieriger?
Ich finde es gar nicht schlecht, ein wenig Angst
zu haben. Dadurch passe ich besser auf, bin
wachsamer und nicht naiv. Ich überlege sehr
genau, was ich wann wo sage und wie ich aus
einer Situation wieder heraus kommen kann,
um Hilfe zu holen. Diese Gedanken laufen immer
ab, bevor ich mich irgendwo einmische.
Manchmal ist ein weiser Rückzug besser, als
naives Gegenhalten. Einen Selbstverteidigungskurs
habe ich nie belegt. Dafür aber eine Ausbildung
in Gewaltfreier Konfliktbearbeitung.
Was raten Sie Menschen, die Extremismus erleben?
Wer schweigt, stimmt zu! Für mich ist es ganz
klar notwendig, Partei zu beziehen. Unbedingt
ohne selbst extrem zu werden. Würde ich körperlich
angegriffen, ich würde mich verteidigen
und um Hilfe rufen, damit die Polizei eingreift
und mich verteidigt.
Werde ich verbal angegriffen, reagiere ich mit
Worten. Wenn ich Zeugin eines Gesprächs bin
oder mitbekomme, wie andere Menschen bedroht
werden, mische ich mich ein. Wird es
körperlich, rufe ich die Polizei.
Gibt es eine Lösung für das Problem des Extremismus?
Soziale Armut, finanzielle Bedürftigkeit, Bildungsmangel,
Wissensmangel, anerzogene
Feindbilder und Kriegstraumata sind für mich
die Saat, aus der Extremismus erwächst.
Deshalb müssen Menschen gerecht Teil haben
an den Rohstoffen dieser Welt. Eine extreme
Schere zwischen arm und reich muss überwunden
werden, wollen wir eine Gesellschaft, die in
Frieden lebt. Wieso bekommt ein Bankdirektor
unverhältnismäßig viel Geld im Vergleich zu einem
Pfleger oder einer Erzieherin?
Menschen brauchen eine gute Schulbildung,
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Es
kann nicht angehen, dass Kinder in der gleichen
Grundschulklasse zum Teil lesen können
und zum Teil nicht. Wem Wissen fehlt, der
fängt an, das Fremde schlecht zu reden, weil er
einen Sündenbock braucht für die eigene Situation.
Für extremistisches Gedankengut ist ansprechbar,
wer selbst unsicher ist.
Wie kann man etwas gegen Extremismus tun?
In den Integrativen Kindertagesstätten (Anmkg.
d. Redaktion: Krippe, Kindergarten und
Hort), die unsere Kirchengemeinde als Träger
betreibt, wird im Besonderen auf das gleiche
Miteinander geachtet. Und siehe da: Kinder
verstehen oft nicht, warum ihre Eltern, oder
warum Andere, Menschen mit Behinderung für
dumm halten, oder warum Christen und Muslime
sich streiten. Originalsatz eines acht Jahre
alten Jungen: „Ich verstehe nicht, warum Papa
über die Türken schimpft und warum Krieg
zwischen Christen und Muslimen ist. (Anmkg.
d. Redaktion: Der Satz fiel kurz nach dem Attentat
in Berlin 2017) Der Mustafa und ich, wir
sind doch auch beste Freunde und verstehen
uns. Und wenn wir uns mal nicht verstehen,
sprechen wir uns aus und dann ist wieder gut.“
Man kann Kinder vom Extremismus weg erziehen.
Jugendliche, Deutsche wie Ausländer,
bräuchten viel mehr Möglichkeiten, um einander
kennenzulernen.
15
Volksbingo
in Kandel
Seit einem Jahr demonstrieren
Rechte im rheinland-pfälzischen
Kandel. Unseren Autor
nervt das. Er wohnt nicht weit
weg, also geht er hin.
Seine erste Demo.
Von Lucas Kehrer
Ich stehe zwischen zwei Fronten, von
beiden Seiten ohrenbetäubender Lärm
– gefüllt mit Provokation und Hass.
„Haut ab!“ ertönt es von der linken Seite.
Auf den Transparenten steht „kein Mensch
ist illegal“. Die rechte Seite erwidert „scheiß
Antifa!“ und hetzt im gleichen Atemzug gegen
Ausländer und andere Minderheiten. Der
Schlag einer Trommel gibt den Takt vor. Es
wird gebrüllt und gesungen.
Kandel - knapp ein Jahr nach dem Mord an
einer 15-Jährigen kommt es in der 8000-Seelen-Stadt
Monat für Monat zu Protesten.
Ich komme selbst aus der Gegend und kann
nicht begreifen, dass es so etwas bei uns in
der Nähe gibt. Man wirft uns jungen Menschen
ja gerne vor, nicht politisch zu sein. Ich
bin es. Deshalb will ich demonstrieren und
besuche Anfang Dezember die Kundgebung
von „Kandel gegen Rechts“. Diese ist eine Reaktion
auf die rechten Demonstrationen des
„Frauenbündnis Kandel“. Es ist meine erste
Demo.
Auf dem Weg nach Kandel sitzt gegenüber von
mir in der Regionalbahn ein Mann mit Sonnenbrille
und einer verdächtigen grauen Kutte. Die
Fahrgäste schauen ihn misstrauisch an. Mein erster
Gedanke: Mist, einer der anderen Seite. Wenn
hier im Zug schon so einer sitzt, kann das ja noch
was werden.
Gegen 11 Uhr komme ich in der Stadt an. Gähnende
Leere auf den Straßen, nur ein paar freiwillige
Helfer sind schon da. Den verdächtigen Mann
aus dem Zug treffe ich zu meiner Verwunderung
wieder. Er heißt Nico De Zorzi und ist bei der
Satirepartei „die PARTEI“ in Kandel. Er leitet die
Demonstration, auf die ich will. So kann man sich
täuschen.
Ich komme mit einigen der Helfer ins Gespräch.
Als ich meinen Rucksack in eine Einfahrt
legen will, werde ich gewarnt: Es könnte eine
Anzeige wegen Hausfriedensbruchs geben. Einer
der Helfer, ein älterer Mann aus Kandel, erzählt,
dass er die Anwohnerin aus Schulzeiten kenne.
Er glaubt, dass sie die rechten Demos unterstützt.
Aber genau weiß er es nicht. Wenn noch nicht
einmal Kandler wissen, wem sie vertrauen können.
Wie gespalten ist diese Stadt? Generell habe
ich den Eindruck, die Kandler haben keine Lust
mehr auf die Proteste. Zum Kotzen sei das alles,
sagt ein Künstler aus der Stadt. Viele gehen genervt
weiter.
Die Antifa ist zuerst da, sie kommt zum Beispiel
aus Karlsruhe und Heidelberg. Ich muss an
die Bilder von G20 denken. Brennende Barrikaden
und Autos. Hier schwingen sie zwar stolz ihre
Fahnen, aber die Begrüßung untereinander ähnelt
mehr der in einem Fußballverein. Angst, dass Autos
später brennen, habe ich nicht. Ohne „Feinde“
wirkt die Gruppe recht entspannt.
Dann beginnen die Redebeiträge bei „Kandel
gegen Rechts“. Es gibt kostenlose Getränke und
einen Infostand. Mitglieder der „PARTEI“ zeigen
mir ihr Demospiel: „Volksbingo“. Es spielt mit der
Rhetorik der gegenüberliegenden Seite. In ein
normales Bingofeld trägt man Begriffe ein, die mit
hoher Wahrscheinlichkeit von Populisten verwendet
werden. Schmarotzer, Afrika, Deutschland
oder Missbrauch.
Kurz vor 14 Uhr kommen die Rechten. Mit ihren
gelben Warnwesten sammeln sie sich langsam
auf dem Bahnhofsvorplatz. Unter tosendem Lärm
wird Marco Kurz, der Leiter des Frauenbündnis,
von den Gegendemonstranten begrüßt. Wir kön-
16
wirklich\\wahr 03
nen die Kundgebung sehen, aber wir sind immer
noch lächerlich weit weg, dafür, dass Protest in
Hör- und Sichtweite versprochen wurde.
Mit den Westen lehnen sich die Teilnehmer
an die französische Bewegung der „Gelbwesten“
an. Ich denke mir: Viele Gemeinsamkeiten haben
die Demonstranten vom Frauenbündnis mit dem
französischen Vorbild nicht. In Frankreich geht es
um Steuern und gegen den Präsidenten, in Kandel
geht es bisher um Rassismus und Hass.
Da drückt mir jemand eine graue Warnweste
in die Hand. „Der graue Block – frei, bequem,
dingsextrem“, steht auf dem Rücken. Nicht nur
eine Anspielung auf die gelben Westen der Gegner,
sondern auch eine Hommage an den „bösen
schwarzen Block“, erklärt Nico. Die Idee kommt
von der „PARTEI“. Ich streife mir die Weste über.
Zu Beginn eigentlich nur, weil ich das witzig finde.
Später auch, um gegen die „Gelbwesten“ auf
der anderen Seite zu sticheln. Menschen sprechen
mich an, fragen was auf der Weste steht. Ich fühle
mich langsam als Teil der Demo.
Als Kurz seine Rede beginnt, wünsche ich mir
einen Mitspieler für das Volksbingo. Immer wieder
plärrt er rassistische Parolen ins Mikrofon.
Dazwischen Beleidigungen, Verschwörungstheorien.
Er sagt immer wieder „Achtung, Satirewarnung“
– aber lustig ist das nicht. Neben mir nennt
einer Kurz „kleiner Göbbels“. Passt irgendwie.
Wer tut sich das freiwillig an? Immerhin 200
Menschen. Stolz tragen sie das „mobile Denkmal
der Schande“ auf dem angeblich die „Wahrheit“
stünde. Ich sehe nur eine Wäscheleine mit
Artikeln von fragwürdigen Webseiten voller Fake-News.
Nach den Kundgebungen beginnt der Marsch
des Frauenbündnisses. Die Gegendemonstranten
rennen los, zur ersten Einmündung. Sie wollen näher
ran, vielleicht sogar blockieren. Mehr als laut
ist es dort aber nicht. Die eine Seite brüllt „Kandel
wird zu Stalingrad“, die andere grölt „dumm,
dümmer, Antifa“. Auf der Seite des Frauenbündnis
ragen Schilder mit der Aufschrift „Trump - unser
größtes Glück“ aus der Masse, auf der anderen
ein Schild, das die Gelbwesten parodiert: „Wir
fordern eine Spritpreisbremse - Alkohol muss bezahlbar
bleiben“.
Ich stehe nebendran und esse Döner. Ich bin
entspannt, der anfängliche Schock hat sich gelegt.
Irgendwann muss man ja auch mal essen.
Als Kurz und seine Anhänger weiterziehen,
stellt sich die Antifa in den Weg. Die Polizei
räumt nach wenigen Minuten. Ich halte mich
zurück. Eine Weile stehe ich noch rum, aber viel
passiert nicht mehr. Zeit für den Heimweg.
Im Zug lasse ich den Tag Revue passieren. Ich
bin fasziniert - Partei ergreifen, Meinung äußern,
das Ganze auch mit Humor. Andererseits denke
ich mir: Wie können Menschen den Worten der
Populisten vor Ort zuhören? Ich finde das erschreckend.
Und es fällt mir immer noch schwer
zu glauben, dass sie es ernst meinen. Ich muss an
einen Mann mit gelber Weste denken, der einem
genervten Passanten unbedingt seine Meinung
aufdrücken wollte.
Trotzdem finde ich es gut, dass alle demonstrieren
dürfen. Auch wegen banalem Müll. Und dass
es Menschen gibt, die sich diesem banalem Müll
entgegenstellen.
Aber auch in der Gegendemo habe ich mich
nicht immer wohl gefühlt. Der zum Teil blinde
Hass auf die Polizei war abschreckend. Es wurde
oft gesagt, dass nur „wir Linken“ Gewalt erfahren,
aber der Erste, der auf die Nase bekam, war ein
Rechter. Auch wenn Rechte, das lese ich später in
einem Artikel, einen Gegendemonstranten nach
der Demo mit einer Stahlstange verprügelt haben.
Dennoch finde ich: Protest lohnt sich, auch in
der Kleinstadt. Marco Kurz, der rechte Parolenschwinger,
hat am Ende gesagt: „Wir kommen
wieder.“
Ich auch.
wirklich\\wahr 03
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extrem
…leben
18
wirklich\\wahr 03
wirklich\\wahr 03
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„Es war, als ob ich in
einer Kapsel
groß geworden bin“
In Deutschland sind die „Zeugen Jehovas“ als
Religionsgemeinschaft anerkannt.
Eine junge Frau findet das falsch.
18 Jahre ist sie bei den „Zeugen Jehovas“ aufgewachsen,
dann beschloss sie auszusteigen. Nun redet sie auf
ihrem YouTube-Kanal über ihre Kindheit.
Von Sarah E. Kühn
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wirklich\\wahr 03
In weißen Hemden oder schlichten, langen
Röcken lächeln sie den vorbeirauschenden
Fußgängern zu und strecken ihnen ihr Magazin
„Der Wachtturm“ entgegen. Einige ihrer
Regeln: Keine weltliche Musik, keine kurze
Kleidung, keine Bluttransfusionen. Und vor
allem – keine Geburtstage, kein Ostern, kein
Weihnachten. Die Zeugen Jehovas führen ein
entbehrungsreiches Leben. Aber sind sie eine
Sekte? Vergleichbar mit „Heaven‘s Gate“oder
„Scientology“? Sophie Jones ist vor fünf Jahren
ausgestiegen und sagt klar: Ja.
Mit der eigenen Vergangenheit an die Öffentlichkeit
zu gehen ist nicht leicht. Wieso
hast du dich dazu entschlossen, Videos über
deine Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas
zu drehen?
Direkt nach meinem Ausstieg wollte ich mit
den Zeugen Jehovas erst mal nichts mehr zu
tun haben. Ich habe aber gemerkt, dass das
Thema nicht aus meinem Leben verschwindet.
Mit den Videos möchte ich über die Zeugen
Jehovas aufklären und Menschen helfen,
die darüber nachdenken, aus dieser Sekte
auszusteigen. Auch wenn sich nur eine Person
durch meine Videos dazu entschließt, bei den
Zeugen Jehovas auszutreten, ist das für mich
ein Gewinn.
Wodurch hast du angefangen, dein Leben
bei den Zeugen Jehovas zu hinterfragen?
Nachdem sich meine Eltern geschieden haben,
musste mein Vater die Zeugen Jehovas verlassen.
Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen,
wollte aber den Kontakt zu meinem Vater
Sophie Jones versucht mit ihrem YouTube-Kanal
Mitglieder der Zeugen Jehovas
zum Ausstieg zu bewegen.
nicht abbrechen. Als „ungetaufter Verkündiger“
wird es gerade noch so toleriert, Kontakt
zu Ausgeschlossenen zu haben. Aber als ich
mich mit 17 Jahren taufen lassen wollte, musste
ich den Kontakt zu meinem Vater abbrechen.
Das ist mir unglaublich schwer gefallen und
ich habe in dieser Zeit sehr darunter gelitten.
In der Bibel steht, dass man seine Eltern ehren
soll, aber plötzlich durfte ich meinen Vater
nicht mal mehr grüßen, wenn ich ihm auf der
Straße begegnet bin. Das erschien mir alles
widersprüchlich.
Innerlich hast du gezweifelt. Konntest du
deine Zweifel auch nach außen tragen?
Wenn man ein, zwei mal nicht in der
Versammlung gewesen ist, wird man sofort
von anderen Zeugen Jehovas angerufen und
ausgefragt. Sie behaupten dann, dass sie sich
für dich und dein Wohlergehen interessieren,
dabei wollen sie nur sicher gehen, dass
du dabei bleibst. Es ist gefährlich, wenn sich
jemand distanziert. Das wird immer mit einer
Krankheit verglichen: Wenn ein Schaf krank
ist, steckt es die ganze Herde an.
Du sagst, dass die Zeugen Jehovas eine Sekte
sind. Ein Merkmal von Sekten ist ja die
soziale Kontrolle, ein anderes die Isolation
der Mitglieder.
Mein Vater ist nicht der einzige gewesen, zu
dem ich Abstand halten musste. Meine Mutter
war sehr streng. Sie meinte, dass alle Menschen,
die keine Zeugen Jehovas sind, schlechter
Umgang für mich seien. Stattdessen sollte
ich zu den wöchentlichen Zusammenkünften
in der Versammlung gehen, mich auf die
Versammlungen vorbereiten, täglich die Bibel
studieren, Tagestexte der Zeugen Jehovas lesen
und in den Predigtdienst gehen. Die Zeit wird
absichtlich gut gefüllt. Es war, als ob ich in
einer Kapsel groß geworden bin. In der Schule
konnte ich oft nicht mitreden, ich habe mich
immer wie ein Alien oder ein Freak gefühlt –
und wurde auch oft so behandelt. Mein Auszug
von zu Hause hat sich wie der erste Kontakt
zur Außenwelt angefühlt.
Offiziell gelten die Zeugen Jehovas als „Körperschaft
des öffentlichen Rechts“. Aber der
Sekten-Vorwurf ist nicht neu. Wie bist du
früher damit umgegangen?
Wenn jemand zu mir gesagt hat, dass ich in
einer Sekte sei, habe ich mich persönlich angegriffen
gefühlt. Als Zeuge Jehovas wird man
bereits als Kind mit dem Buch „Unterredungen
anhand der Schriften“ auf solche Vorwürfe
vorbereitet. Es gibt dort einen Abschnitt, in
dem erklärt wird, was man antworten soll,
wenn die Zeugen Jehovas als Sekte bezeichnet
werden. Zum Beispiel behaupten sie darin,
dass sie sich nicht von der Gesellschaft zurückziehen
würden, wie es typisch für eine Sekte
ist. Stattdessen würden sie mitten unter den
Menschen arbeiten und leben. Die Antwort
aus dem Buch habe ich dann auswendig gelernt
und runter gerattert.
Würde sich etwas verändern, wenn die Zeugen
Jehovas auch offiziell als Sekte gelten
würden?
Auf jeden Fall! Wenn Scientology am Bahnhof
Flyer verteilt, ist das ein Skandal. Wenn das
Zeugen Jehovas machen, interessiert es kaum
jemanden. Sie werden von der Gesellschaft als
harmlose, nette Menschen wahrgenommen,
die ab und zu an der Haustür klingeln. Sie sind
aber nicht harmlos! Die Zeugen Jehovas stellen
ihren Gott über alles. Sie wollen sich nicht in
die Welt und in den Staat, in dem sie leben,
einfügen. Wenn etwas in der Gemeinschaft
passiert, zum Beispiel eine Vergewaltigung,
wird es in einem eigenen Rechtssystem geregelt
– oder einfach nur vertuscht. Ich engagiere
mich deswegen in dem Verein „JW Opfer
Hilfe“. Wir versuchen, den Zeugen Jehovas die
Körperschaftsrechte aberkennen zu lassen.
JW Opfer Hilfe e.V.
Der 2018 gegründete Verein informiert
über Menschenrechtsverstöße bei den
Zeugen Jehovas, Sekten und destruktiven
Gruppen. In Zusammenarbeit mit Psychologen,
Selbsthilfegruppen, Rechtsanwälten
und Aussteigern bietet „JW Opfer
Hilfe e.V.“ Betroffenen psychologische und
rechtliche Hilfe an.
wirklich\\wahr 03
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Olivenzweige gegen Bomben
In Syrien hat unsere Autorin Demonstrationen organisiert, ein Magazin gegründet, an Hauswände
gesprayt – alles um ihre Mitmenschen zum friedlichen Widerstand gegen Asad aufzurufen.
In Deutschland hat das niemand mitbekommen. Gedanken zur Gewaltlosigkeit im Krieg.
Von Sara Ali
22
wirklich\\wahr 03
Widerstand braucht
Aufmerksamkeit.
Aber was, wenn man die
Aufmerksamkeit
nur mit Gewalt bekommt?
Ich bin in einer kleinen Stadt in der Umgebung
von Damaskus aufgewachsen. Ein Jahr nach der
Revolution, im März 2011, war das ganze Land in
Aufruhr. Überall demonstrierten die Leute. Das
Assad-Regime schickte Panzer und Scharfschützen,
seine Soldaten erschossen Menschen oder
sie wurden zu Tode verurteilt.
In meiner Stadt demonstrierte niemand, Politik
war kein Thema. Niemand traute sich, der
Asad-Clan hatte Syrien längst zu einer Fabrik
der Angst gemacht. Aber meine Freunde und
ich hatten das Gefühl, dass es unter den Trümmern
Feuer geben müsste. Wir dachten, dass wir
selbst der Funke sein könnten. Auch wenn wir
uns verbrennen könnten. Und wir waren uns
sicher: Hoffnungsvoller Widerstand konnte nur
gewaltlos gehen.
Wir wollten eine Demonstration organisieren.
Wir wussten, wie vollkommen selbstmörderisch
eine solche Idee war. Wir hatten Angst. Aber für
eine großartige Idee wie die Freiheit zu sterben,
hat uns mutig gemacht.
Wir wollten die Menschen aufklären, bevor
wir auf die Straße gingen. Wir hatten eine Facebook-Seite
erstellt, um die Missstände in unserem
Land zu erklären. Wir berichteten über die
Demonstrationen in den Nachbarstädten. Und
wir schrieben an die Persönlichkeiten unserer
Stadt, an die Lehrer, Pfarrer und Stadträte. Wir
unterzeichneten die Briefe als „Freie Frauen der
Stadt“. Es waren leidenschaftliche Reden, kraftvoll,
verständlich und einfach geschrieben, manche
den Geist und andere das Herz ansprechend.
Wir wollten keine schriftlichen Antworten, wir
wollten Reaktionen. Aber es gab keine.
Am Tag vor der Demonstration erfuhren wir,
dass der Geheimdienst von unseren Plänen weiß.
Der Platz, an dem wir demonstrieren wollten,
war voll mit fremden Leuten. Junge Männer, die
Muskeln prall wie Ballons, die Stiefel schwarz
und dreckig. Sie musterten uns mit finsteren
Blicken, als überlegten sie, wie sie uns am besten
loswerden konnten. Wir haben uns entschieden,
nicht zu demonstrieren. Wir wollten unser
Leben für die Freiheit opfern, aber niemals aus
Dummheit. Wir wären in Asads Gefängnissen
gelandet - ohne etwas bewirkt zu haben. Aber
wir kämpften weiter. Wir wollten die Wände als
Raum für unsere Worte nutzen. Die Leute aufwecken.
Ein Zeichen gegen Asad setzen.
Wer damals Spraydosen kaufte, lenkte den
Verdacht der Regierung auf sich. Die Verkäufer
mussten jedes Mal nach dem Personalausweis
fragen. Eine Freundin besorgte die Dosen, sie gab
vor Kunst zu studieren. So hatte sie einen Grund
und war unverdächtig.
Zum Sprayen brauchten wir mindestens zwei
Personen: Eine zum Sprühen und die andere, um
Wache zu schieben. Niemand sollte uns erkennen.
Deshalb wickelten wir unsere Gesichter in
unsere Hijabs ein. Unsere Stadt ist so klein, dass
jeder jeden kennt.
Bevor wir sprayten, gingen wir zehnmal die
Straßen entlang, um sicherzustellen, dass niemand
da war. Ich zitterte jedes Mal, wenn ich
ein schwarzes Auto wie das meines Vaters sah.
Es war mir lieber vom Geheimdienst erwischt
wirklich\\wahr 03
23
zu werden, als von meinem Vater. Er war gegen
die Revolution, glaubte, dass wir nichts verändern
konnten. Das hatte er in der Vergangenheit
selbst erlebt. Er glaubte, dass ich in der Schule
oder beim Englisch-Unterricht war. Stattdessen
war ich auf der Straße.
Es war sehr gefährlich: Die Spraydosen in
unseren Taschen klapperten, wenn wir rannten.
Der Geruch des Sprays klebte an unserer Kleidung,
auf unseren Händen hatten wir Sprühflecken.
Nach einiger Zeit schnitten wir Schablonen,
die Vorlagen hatten wir im Internet
gefunden. Wir wurden besser. Und schneller.
Ein kurzer Sprühnebel reichte aus, und Asad
prangte an der Wand - mit Hitlerbart. Neben
die Flagge der Revolution schrieben wir: “Entschuldigung
für die Störung, wir bauen eine
Heimat“. Oder einfach nur „Freiheit“, wenn die
Zeit zu kurz war.
Nach der Arbeit wechselten wir die Kleidung
und wischten die Tinte und den Schweiß ab.
Dann warteten wir, bis der Gasgeruch nachließ,
bevor wir sicher nach Hause gehen konnten.
Wir beobachteten die Reaktionen auf dem
Rückweg. Doch wir hörten nur abschätziges
Tuscheln. Die Menschen in meiner Stadt bewarfen
uns mit ihren Worten wie mit Tomaten.
Ohne zu wissen, dass wir es waren, auf die sie
zielten.
Was uns viel Kraft und Zeit gekostet hatte,
blieb nicht lange an den Wänden. Keine
Zeitung berichtete, kein Fernsehteam kam.
Assad-Anhänger übermalten unsere Parolen:
„Asad für immer oder wir brennen das Land
nieder”. Auch die Hausbesitzer übermalten unsere
Sprüche. Oder sie veränderten sie. Im Arabischen
reicht ein Punkt auf dem ersten Buchstaben
von „Freiheit” aus, damit dort „Scheiße”
steht. Wie-der hatten wir niemanden erreicht.
Unser nächstes Projekt: Ein Magazin. Heimlich
schrieben wir über die gewaltlosen Widerstandsmittel
von Gene Sharp in seinem Buch "Von der
Diktatur zur Demokratie” und druckten alles im
Keller eines Freunds. Wir versuchten aufzuklären,
wie effektiv und stark Frieden sein kann. Die Verteilung
war der harte Teil. Es durfte auf keinen
Fall herauskommen, woher die Magazine kamen.
Wir hinterließen sie in Taxis und Supermärkten
oder schoben sie unter Haustüren hindurch. Niemand
durfte uns erwischen, es war ein Tanz mit
dem Feuer. Trotzdem hat die Welt nie davon gehört,
niemand berichtete über das Magazin. Alle
interessierten sich immer nur, wenn Gewalt im
Spiel war. Egal auf welcher Seite.
Einige Monate später gingen junge Leute auf
die Straße, bewacht von Soldaten der Freien Syrischen
Armee. Die Soldaten hielten Maschinengewehre
in ihrer Hand, die jungen Leute Farbeimer.
In dieser Nacht bemalten sie die Wände mit der
Flagge der Revolution. Wir beobachteten sie mit
einer Mischung aus Trauer und Begeisterung. Sie
haben in einer Nacht mit Waffen geschafft, was
wir in sechs Monaten friedlich nicht geschafft
hatten.
Widerstand braucht Aufmerksamkeit. Aber
was, wenn man die Aufmerksamkeit nur mit
Gewalt bekommt? Egal, was wir uns ausdachten,
unser gewaltloser Widerstand scheiterte jedes
Mal. Wie konnten wir erfolgreich kämpfen ohne
Gewalt anzuwenden? Ich war ratlos.
Mein Onkel war revolutionär, ich ging zu ihm,
fragte ihn, ob Waffen notwendig seien. Mein Onkel
sagte: “Frieden ist nicht die Taube und der
Regenbogen, so schön sie auch sein mögen. Wir
brauchen das Militär, aber nur zur Verteidigung.
Den Luxus zu gewaltlosem Widerstand haben wir
nicht mehr.”
Gewalt kommt bei mir nicht in Frage, auch
nicht zur Verteidigung. Ich glaube einfach an Gewaltfreiheit.
Aber ich hatte keinen Beweis, dass sie
funktionierte. Im Krieg ist es schwierig, den Sinn
von friedlichen Mitteln zu erkennen. Wenn das
Auge viel Blut sieht, kann das Gehirn nicht mehr
richtig denken.
Über die “Demokraten-Schwärmer” wurde viel
gelacht. Viele meiner Freunde haben sich extremistischen
Gruppen angeschlossen. Der Rest hat
sich vor allem mit humanitärer Hilfe beschäftigt,
nicht mit dem Widerstand. Das Wort “Frieden”
wurde bei den Revolutionären zu einem schmutziges
Wort. Unser Magazin erschien nicht mehr,
die Spraydosen blieben halb voll im Keller zurück.
Was können Wörter und Zeichnungen gegen Panzer
machen? Was richten Olivenzweige in den
Händen gegen Bomben vom Himmel aus?
Heute fragen mich viele Menschen in Deutschland:
“Warum haben die Syrer Gewalt angewendet?
Wo ist der syrische Gandhi?” Ich frage mich
dann, ob die Leute wissen, was wir alles probiert
haben. Und wie enttäuschend das war. Es ist leicht,
Gewalt und Extremisten zu verurteilen. Was die
Welt aber braucht, ist ein anderes Werkzeug, das
mindestens so stark und wirksam wie Gewalt ist.
Ich weiß nicht, wie dieses Werkzeug aussieht,
aber ich bin mir sicher: Die größte Hoffnung
der Menschheit liegt darin, Gewalt überflüssig
zu machen.
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wirklich\\wahr 03
Ich
mag
euch
trotzdem
In Deutschland wurde unser Autor von Rechtsextremen angegriffen.
In Syrien hat er den IS erlebt. Er sagt:
Wir müssen den Extremismus mit Liebe bekämpfen.
Von Nour Al-Eid
Sangerhausen in Sachsen-Anhalt, Anfang 2015.
Ich wohnte mit vier Syrern in einem Zimmer.
Das Haus stand auf einem Berg, ganz allein, getrennt
von der Stadt. Ich fragte mich: Warum? Es
war die erste Stadt, in der ich in Deutschland gewohnt
habe. Der erste Tag war anstrengend, weil
alles neu war. Die Stadt, die Menschen und die
Sprache.
Die Sozialarbeiterin war wie eine Mutter für
uns. Sie hat uns gezeigt, wo das Zentrum ist und
wo man einkaufen gehen kann. Am nächsten Tag
sind meine Freunde und ich losgegangen.
Wir mussten dafür durch einen Park, der
Schützenplatz. Wir haben zwei Männer gesehen
und eine Frau. Tattoos, Piercing, schwarze Haare,
in der Hand eine Flasche Bier. Die Frau fing an
auf deutsch zu reden, ich habe gelächelt weil ich
im ersten Augenblick die Situationen nicht verstanden
habe. Aber dann hat die Frau auf englisch
geschimpft: „Go Home, Motherfucker!“ Sie wollte
sich mit uns prügeln, aber die beiden Männer
hielten sie zurück. Wir sind einfach nach Hause
gelaufen.
Das Bild war die ganze Nacht in meinem Kopf.
Die anderen Flüchtlinge hatten mir erzählt, dass
es solche Menschen hier gibt. Aber ich habe immer
gedacht sie tun uns nichts solange wir ihnen
nichts tun. Auf dem Weg in die Stadt gab es keinen
Weg am Schützenplatz vorbei. Möglich, dass
sie uns wieder angreifen würden. Seitdem sind wir
immer in Gruppen in die Stadt gelaufen um Lebensmittel
zu kaufen.
Ein Paar Tage später haben Rechtsextreme eine
schwarze Person in Sangerhausen angegriffen. Sie
haben ihn fast tot geschlagen und sein Geld und
Handy geklaut. In dieser Nacht habe ich mich
entschieden, Ostdeutschland zu verlassen. Freunde
haben mir geholfen, in Baden-Württemberg
eine Wohnung zu finden. In Sangerhausen gab es
viele nette Leute, wir haben Kaffee getrunken und
Sport gemacht. Aber ich habe mich nicht mehr
sicher gefühlt.
Im Westen habe ich viele Freunde gefunden.
Aber manche wollen uns auch hier nicht haben.
Sie fragen:
Woher kommst du?
Warum seid ihr so?
Ich frage mich: Wer sind diese „Ihr“ eigentlich?
Wieso sollte man die Persönlichkeit eines Menschen
mit dem Herkunftsland verbinden? Der
eine äußert Extremismus in Gewalt. Der andere
in Worten.
Wir selbst haben Extremismus in unserem
Land erlebt: Der „Islamische Staat“. Es gibt sicher
viele Unterschiede, aber wenn ich in allen Fällen
von Extremismus spreche, meine ich: Überall werden
bestimmte Gruppen von Menschen diskriminiert.
Oft wird Gewalt angewendet. Wir müssen
gegen Extremismus kämpfen. Aber nicht mit Gewalt,
sondern mit Liebe. Ich sage den Menschen,
die gegen uns sind: Ich mag euch trotzdem.
wirklich\\wahr 03
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wirklich\\wahr 03
Höher, Schneller, Härter
Elvin Kalinowski ist Gründungsmitglied der Freerunninggruppe
Trick-Ink. Gemeinsam mit seinen Kumpels
bricht er aus dem Alltag aus. Ob er nun auf Kräne klettert,
einen doppelten Rückwärtssalto hinlegt oder über
Hindernisse fliegt – er sucht das Extrem.
von Jens C. Maurer
Ein Sprung, ein Abgrund. Die Füße fliegen über
Dachziegel. Unter ihnen – nichts. Oben weht ein
anderer Wind. Ein falscher Schritt – das Ende.
Ein Mal nicht aufgepasst, ausgerutscht – Genickbruch.
Dieser Gefahr stellt sich Elvin Kalinowski,
17, täglich. Warum? „Wegen des Kicks!“, sagt er.
Elvin ist Mitglied der Freerunninggruppe
Trick-Ink. Beim Freerunning geht es darum, sich
zu bewegen, Hindernisse zu bewältigen und dabei
möglichst cool auszusehen.
Ein Sprung von zwei Meter Höhe. Springen,
landen, abrollen. Sie hatten das tausende Male geübt.
Ein letztes Mal tief durchatmen und los. Er
hebt vom Boden ab. Seine Arme wirbeln durch
die Luft. Springen, landen, abrollen. Elvin landet.
Ein Knall. Das Schienbein ist gebro-chen. Über
Wochen hinweg muss er im Krankenhaus bleiben
– für den Filmdreh eines Schulprojekts im Februar
2016. Heute zeugen nur noch zwei linienförmige
Narben von seinem Unfall.
„Selbst ein Trick, den man angeblich im Schlaf
beherrscht, kann einen zerlegen. Die Selbsteinschätzung
in diesem Sport ist das wichtigste Attribut
des Freerunners. Hinter jeder Narbe steckt
eine Geschichte.”
Das Ereignis von damals sieht er heute so: ein
paar Wochen ausgeruht. Weiter geht’s!
„Freerunning ohne Verletzung ist wie Schule
ohne Stress – unmöglich. Man springt, man fällt.
Ob man unverletzt wieder aufsteht, liegt bei einem
selbst“, sagt Elvin.
Oktober 2017. Ziel: Ein Kran. Elvin klettert
die Stufen zum Führerhaus hoch. Es ist dunkel.
Oben angekommen hangelt er sich zum Ende des
Krans. Er setzt sich und genießt die Aussicht. Es
ist bis heute eine besondere Erinnerung für ihn,
dort oben gesessen zu haben. „Es geht darum, den
Menschen zu zeigen, was es bedeutet, frei zu sein.
Für Freerunning braucht es keine Worte - nur ein
paar Schuhe.“
Auch in den sozialen Medien ist Freerunning
Trend: Flucht vor einem Polizisten in Hong Kong
– 80 Millionen Klicks. Sprung in ein startendes
Flugzeug – 83 Millionen Klicks. Feerunning ist
ein Bestseller-Narrativ auf YouTube, Facebook
und Instagram. Die Zuschauer sind auf der Suche
nach dem Extrem, dem Ausbruch aus dem Alltag.
Wenn sie es selbst nicht wagen, begleiten sie über
die Displays ihrer Smartphones und Computer
wenigstens andere dabei.
Einer der großen Stars ist Pasha „The Boss“ Petkuns,
26, und Mitglied der weltberühmten Freerunning-
und Parkourgruppe Team Farang. Als
sein bekanntester Auftritt gilt das Video „Chasing
Love In Venice | Freerunning with Pasha The
Boss“. Er fällt von einem Boot und wird so von
seiner Freundin getrennt. An Land angekommen
machen sich beide auf die Suche nach dem anderen.
Pasha sprintet durch enge Gassen, springt
über Gondeln, um Kanäle zu überqueren. Plötzlich
schaltet sich die Polizei ein. Drei Polizisten
versuchen mit Pasha mitzuhalten – vergeblich. Es
wird dunkel. Pasha springt über Dächer, von Brücken,
auf fahrende Gondeln und kommt letzten
Endes doch noch pünktlich zum Feuerwerk an. Er
nimmt seine Freundin an der Hand. Happy End.
Mit seinem Youtube-Channel hat der Lette
rund 20.000 Leute von seinem Können überzeugt.
Er ist ein Vorbild, ein Idol, ein Held. Er tut das,
was er liebt und hat es zum Beruf gemacht. Pasha,
das ist die Marke Freigeist. Er hat keine Wohnung
– nicht mal ein Bett. „Ich wohne überall
ein bisschen. Man nennt mich auch den famosen
Obdachlosen“, sagt er auf der Website des Team
Farang. „Naiv“, „verrückt“, „lebensmüde“. Die Tiraden
im Netz finden sich in Endlosschleife. „Wer so
mit seinem Leben spielt, hat das Leben nicht verdient.
Andere sterben unverdient an Krebs oder
sonstigem“, schreibt ein User unter einem Video
des Team Farang.
Freerunning birgt Risiken – Risiken, die jedem
professionellen Freerunner bewusst sind. Man
hat keine Gegner, keinen Schiedsrichter – man
kämpft alleine gegen sich selbst. Elvin ist genervt
son solcherlei Lästerei und Missgunst im Internet.
„Das Team Farang war die eigentliche Motivation
für uns, unsere eigene Gruppe zu gründen – Trick-
Ink!“, sagt er. Die Skeptiker würden das Wesentliche
übersehen: „Durch Freerunning lernt man den
eigenen Körper erst richtig kennen. Man wird sich
seiner Grenzen bewusst und versucht, die Messlatte
immer ein bisschen höher zu hängen.“
Besser, extremer, mutiger sein als der Rest –
Gleichzeitig die Freiheit spüren, gemeinsam Erlebnisse
teilen, Freundschaften schließen - das sei
Ansporn der Sportler.
Freerunning, das lässt sich auch als Aufforderung
verstehen: Jage das Extrem!
wirklich\\wahr 03
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extrem
…historisch
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wirklich\\wahr 03
wirklich\\wahr 03
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Rote Armee Fraktion:
34 Tote, 230 Verletzte – Extremismus der 70er
Seit dem 11. September 2001, der Zerstörung der Türme des
World Trade Centers in New York, scheint es so, als hätte
„nine-eleven“ den Begriff Terroranschlag erst definiert. Als
ob die Gefahr von Attentätern erst durch Einfluss anderer
Kulturen entstanden sei. Wer das glaubt, vergisst die
jüngste Geschichte.
Von Mareike Munsch
30
wirklich\\wahr 03
Mai 1970, die Geburtsstunde der
Roten Armee Fraktion, kurz
RAF. Ihre Mission: der Kampf
gegen den Kapitalismus. Die
Terrororganisation stemmte sich mit Gewalt
gegen militärischen Einsatz, die amerikanische
Schutzmacht, Wiederbewaffnung, Westintegration
sowie gegen atomare Aufrüstung. Ihr
Name, eine ideologische Verbindung zur Sowjetunion,
zur DDR, zum Sozialismus. Inspiriert
von der „Roten Armee Russlands“. Sie sah sich
als Teil einer Fraktion, einer internationalen
linken Bewegung.
Die Organisation zündete Bomben in amerikanischen
Militäreinrichtungen auf deutschem
Boden, in den Gebäuden deutscher Sicherheitsbehörden
und Medienunternehmen. Ihr Ziel:
Politiker, Menschen der Öffentlichkeit. RAF und
Bundesregierung, beide hatten die eigenen Interessen
vor Augen, nahmen Opfer hin. Das Land erlebte
einen Schreckzustand, den es seit 1945 nicht
mehr kannte. Große Teile des linkspolitischen
Spektrums sahen die RAF als „soziale Protestbewegung“.
Was verleitet Menschen dazu, politische Forderungen
mit Terror umzusetzen? Wer verschreibt
sein Leben dieser Art von Wiederstand? Ulrike
Meinhof, Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion,
lebt bis 1970 als angesehene Journalistin. Sie
bewegt sich in der High Society von Blankenese,
dem gesellschaftlichen Elitestadtteil Hamburgs.
Spannungen in ihrer Ehe zerreißen sie.
Im April 1968 schießt ein Rechtsextremist
drei Mal auf eine gute Freundin Meinhofs – zwei
Kugeln in seinen Kopf, eine in die Schulter. Rudi
Dutschke, der 1960er Studentenbewegung wird
lebensgefährlich verletzt. Von diesen Erfahrungen
geprägt, gleitet Ulrike Meinhof immer weiter ab.
Sie wird linker, extremer, radikaler.
Erdmann Wingert lebte nur einige Straßen entfernt
von Ulrike Meinhof. Er bewegte sich in den
gleichen gesellschaftlichen Kreisen, wohnte auch
in Blankenese. Während seines Studiums schreibt
er als Redakteur für Konkret. Seine Chefredakteurin:
Ulrike Meinhof.
„Dass die Meinhof in Radikalität und Untergrund
abtauchte, war ein Schock. Davor hatte ich sie als kluge
und engagierte Person schätzen gelernt. Was sie schrieb,
hatte Hand und Herz“.
Seit 1960 arbeitet Meinhof für das linke Magazin
Konkret. Sie übernimmt die Chefreaktion von
Klaus Rainer Röhl und heiratet ihn 1961. Meinhof
kritisiert, den Kalten Krieg, militärische Beteiligung
am Vietnamkrieg, Wiederbewaffnung, Antikommunismus
– die Politik Adenauers, Erhards
und Kiesingers.
Ich hatte nur ein „distanziertes Verhältnis“ zur Meinhof,
interessierte sie sich für meine Themen (Umweltschutz,
Ökologie und Nachhaltigkeit; Anmk. d. Redaktion)
doch höchstens am Rande, wenn überhaupt. Bis
auf ein paar kurze Kontakte innerhalb der Redaktion
und der Tatsache, dass wir beide in der „gutbürgerlichen
Ambiente“ von Hamburg-Blankenese lebten, hatten wir
kein inniges Verhältnis zueinander.
Woran ich mich jedoch erinnere: Sie war eine beeindruckende
Frau und hatte viele Verehrer in der
„Blankeneser Schickeria“. Darunter seien auch Größen
genannt wie Spiegel-Chef Rudolf Augstein, Dichter Peter
Rühmkorf und Journalist Stefan Aust.
Die SED Führung der DDR unterstützt das
Magazin Konkret finanziell. 1968 entscheidet sich
Röhl, als Herausgeber, die Zeitung umzugestalten
– Abwendung vom Marxismus hin zu einer
moderateren Einstellung des Magazins. Der SED
und Ulrike Meinhof gefallen diese Entwicklungen
nicht. Es kommt zu Machtkämpfen innerhalb des
Magazins, zur Trennung Röhls und Meinhofs. Mit
ihren Zwillingstöchtern verlässt Ulrike Meinhof
die Konkret-Redaktion und reist nach Berlin.
In der Hauptstadt finanziert sie den Lebensunterhalt
ihrer Familie unter anderem durch einen
Lehrauftrag für Publizistik an der Freien Universität
Berlin.
1968 begehen Andreas Baader und Gudrun
Ensslin Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus.
Meinhof lernt die Beiden bei einer Recherche
über den Brandanschlag kennen und freundet
sich mit ihnen an. 1970, ein radikaler Umbruch in
Meinhofs Leben: Die Beteiligung an der gewaltsamen
Befreiung Baaders aus dem Gefängnis. Es ist
das erste Verbrechen, die Geburtsstunde der RAF.
Noch im gleichen Jahre reisen Mitglieder der neu
gegründeten Terrorgruppierung nach Jordanien.
Sie werden ausgebildet in den Grundlagen des
Guerilla-Kampfes in einem palästinensischen
Ausbildungslager. Die RAF und palästinensische
Terrororganisationen, wie der „Schwarze September“
teilen gemeinsame Ideologien: der Sturz des
Kapitalismus. Sie schließen einen Pakt zur gegenseitigen
Unterstützung.
Währenddessen beantragt Röhl das Sorgerecht
für die Zwillinge. Der Zwist zwischen ihm
und Meinhof eskaliert zum Sorgerechtsstreit.
Röhl gewinnt und lässt mit Interpol nach seinen
Töchtern fanden. Meinhof reagiert indem sie die
Töchter in Sizilien verschanzt – ein kleines Dorf,
drei Zimmer und eine Betreuerin. Während die
Mutter sich total dem Kampf gegen das System
verschreibt, geraten ihre Töchter in Gefahr in ein
Lager „militanter Palästinenser“ abgeschleppt zu
werden. Stefan Aust, ein früherer Verehrer von
Ulrike Meinhof, erfährt von einem Aussteiger der
RAF den Aufenthaltsort der Kinder. Er rettet die
zwei Mädchen gerade noch rechtzeitig und bringt
sie letztendlich doch zu ihrem Vater.
Bomben treffen das Hauptquartier der US-Armee
in Frankfurt – das erste Ziel der RAF nach
wirklich\\wahr 03
31
der Rückkehr aus Jordanien – der Anfang der
„Mai-Offensive“ 1972. Es ist der Anfang einer Reihe
von Attentaten. Polizei und Justiz sind von nun
an vor dem Willen der Terroristen nicht mehr sicher.
Die Bundesregierung, damals unter Willy
Brandt, reagiert mit Straßensperren und der
Aufruf zur Mitwirkung der Zivilbevölkerung,
der größten bisher bekannten Fahndung der Republik.
Die Suche dauert einen Monat, dann war
beinahe die gesamte RAF-Führung gefasst. Am
14. Juni 1972 steht vor Fritz Rodewalds Haustür in
Hannover eine fremde Frau mit der Bitte, in der
nächsten Nacht zwei Frauen Unterschlupf zu gewähren.
Er sagt zu. Doch die angespannte Atmosphäre
der letzten zwei Jahre lassen in ihm Angst
aufkommen – könnte es sich bei seinen Gästen
um RAF-Terroristen handeln? Tatsächlich: am
Nachmittag des 15. Juni betreten Ulrike Meinhof
und eine weitere Attentäterin eine Straße. Die Polizei
erwartet sie bereits. Beide werden verhaftet
und nach Stammheim gebracht, dem Stuttgarter
Hochsicherheitsknast.
Zu dieser Zeit besuchte ich Klaus Rainer Röhl.
Nach wie vor lebte er mit seinen zwei Töchtern in der
Blankeneser Villa. Er zeigte mir das Haus, die von ihr
ausgesuchte Einrichtung … ihr Ehebett, in welches ein
paar linke Aktivisten bei einer Besetzung unter Meinhofs
Führung pinkelten. Das war einige Monate nach
der Trennung.
Röhls größte Sorge: Wie bringt man seinen Töchtern
die Wahrheit über ihre Mutter bei?
Über die Gefangenschaft der Terroristen verstreuen
sich Gerüchte, die bis heute weder bestätigt
noch wiederlegt werden können. Berichte
der Inhaftierten über unmenschliche Haftbedingungen
und psychische Folter: kahle Wende, Isolation,
durchgehend grelles Licht. Im Herbst 1974
wird die Atmosphäre immer angespannter. Es
kommt zum Massenhungerstreik. Die Insassen
fordern bessere Haftbedingungen.
Am 9. Mai 1976 betritt ein Beamter Ulrike
Meinhofs Zelle. Sie hing, ein Strick um ihren Hals:
Sie hat sich am Fenstergitter aufgehängt. Todesursache:
Suizid. Linke gesellschaftliche Kreise reden
über Mord. Mord durch die Hand des Staats –
„Isolationsfolter“. Handelt es sich um Machtmissbrauch
von Justiz und Staat oder um politische
Manipulation der RAF?
Der „Deutsche Herbst“, eine Zeit politischer
Anspannungen und Konflikte, geprägt von Terrorangst
und staatlicher Lähmung. Die Attentate
der RAF zielten auf Politiker, Menschen der Öffentlichkeit,
keinesfalls auf die Zivilbevölkerung.
Als normaler Bürger fürchtete man die Fahnder
beinahe mehr als die Terroristen. So herrschte Angst,
dass die „Staatsgewalt zu einer Hexenjagd gegen alles
Linke eskalieren könnte“. Ich selbst wurde Anfang
der 70er festgenommen. Es bestand wohl eine gewisse
Ähnlichkeit zu einem RAF- Mitglied, Günther Sonnenberg,
der erst kürzlich zwei Grenzbeamten erschossen
haben sollte. Ähnliches geschah meiner Frau. Sie glich
angeblich Ulrike Meinhof. Obwohl wir keine weiteren
Schäden davon trugen, zeigt das doch die Anspannung
dieser Zeit.
Die Motive der linksextremen Roten Armee
Fraktion – Protest gegen Atomkraft, Kalten Krieg,
militärischer Einfluss und so weiter – erscheinen
aus heutiger Sicht plausibel, gar moralisch. Aber
können noch so ehrenwerte Motive diesen brutalen
Weg des Protests rechtfertigen?
Ulrike Meinhof und ich waren Kriegskinder. Die
Folgen der Nazizeit waren Alltag: „Bomben, Ruinen,
Vergewaltigung, Hunger“. Auf die Frage, wie es dazu
gekommen sei, wollten oder konnten unsere Eltern nicht
wahrheitsgemäß begegnen – die Antwort mussten wir
selbst finden. In der außerparlamentarischen Opposition
der Adenauer-Ära war man sich über die Inhalte des
Protests einig, sie waren richtig und nötig. Differenzen
entstanden, wenn es um die Umsetzung dieses Protestes
ging und um die „Grenzen der Gewalt“. Ulrike Meinhof
war „kämpferisch“. Aber das waren wir alle. Der Unterschied
lag darin, dass sie versuchte Gewalt mit Gewalt
zu bekämpfen.
Der Kampf der RAF ging nach dem Tod Ulrike
Meinhofs weiter. Der ersten Generation der
Terrororganisation folgten noch zwei weitere --
erfahrener, erfolgreicher und gewalttätiger. Als
1985 ein RAF-Kommando ein Sprengstoffattentat
auf die Rhein-Main-Air-Base verübt, sterben
zwei Menschen, etliche werden verletzt. Sogar die
inhaftierten RAF-Terroristen der älteren Generation
sind geschockt von dieser Brutalität.
Die Rote Armee Fraktion löst sich 1998 in einem
öffentlichen Schreiben auf. Bis heute sind
die meisten Verbrechen der dritten Generation
unaufgeklärt, Attentäter unbekannt und frühere
Mitglieder auf der Flucht.
Gesellschaftliche gebildete Eliten verschreiben
sich dem Terrorismus. Sie wollen einen Wandel
der Gesellschaft erzwingen, das bestehende System
stürzen. Sie sehen den Weg in Gewalt. Sie
rechtfertigen die Gewalt mit Gewalt.
Die Leidenden: 34 Tote und 230 Verletzte.
32
wirklich\\wahr 03
Kommentar
Einbinden statt Ausgrenzen
Beim Umgang mit extremen Einstellungen geht es zu oft um
Verbote, findet unser Autor. Am besten schwächt man Extremisten,
indem man sie einbindet. Ein Kommentar.
Von Dominik Jermann
Auf dem G20-Gipfel in Hamburg
kommt es zu Plünderungen von
Geschäften, PKWs werden angezündet,
Linksextreme greifen die
Polizei an. In der Folge soll das autonome Zentrum
„Rote Flora“ im Hamburger Schanzenviertel
geschlossen werden, eine linke Internetplattform
wird stillgelegt. Andernorts ziehen
rechte Extremisten durch die Straßen. In Dresden
trug ein Pegida-Demonstrant symbolisch
einen Galgen mit sich, mit dem Sigmar Gabriel
aufgehängt werden sollte. Die Forderung: Er
soll dafür strafrechtlich belangt werden.
Angesichts solcher Ereignisse stellt sich die
Frage, wie sinnvoll der Ruf nach Verboten und
dem Strafrecht ist. Wie viele extreme Einstellungen
verträgt eine Demokratie überhaupt?
Wo ist die Grenze der Meinungsfreiheit?
Seit der Weimarer Republik hat sich eine
Menge verändert. Trotzdem lohnt sich ein kurzer
Blick in die Geschichte. Denn die Zeit des
ersten „demokratischen Versuchens“ lehrt zweierlei:
Erstens, es gab den Versuch, alle Stimmen
zur Geltung zu bringen. Zweitens, dieser Versuch
endete im Faschismus.
Im Zusammenhang der Weimarer Republik
spricht man oft von einer „Demokratie ohne
Demokraten“: Der verlorene erste Weltkrieg,
die Wirtschaftskrise von 1929 und nicht zuletzt
das Fehlen eines zivilisierten Miteinanders
wirklich\\wahr 03
führten dazu, dass radikale Kräfte an Macht
gewannen. Am Ende übernehmen linke sowie
rechte Lager die Wortführung über eine
auch inhaltlich sprachlos gewordene moderate
Mitte. Das Ganze glich einem Tanz auf einem
Vulkan, der ausbrach, als Moderate Hitler für
sich „engagieren“ wollen, wie der damalige
Reichskanzler Franz von Papen sagte. Ihr Ziel
war es, dass sich Hitler selbst schwächt. Aber
die Demokraten haben sich letztendlich selbst
abgeschafft.
Das heutige Prinzip der „wehrhaften Demokratie“,
in der Verbote eine wichtige Rolle
spielen, geht auf diese Erfahrung zurück. Undemokratische
Ideen sollen von vornherein ausgeschlossen
werden.
Doch das bringt Probleme mit sich: Ein Verbot
von Parteien und politischen Gruppen oder
zumindest deren Ausschluss, beispielsweise aus
Elefantenrunden oder ähnlichen Formaten haben
exakt das Gegenteil bewirkt. Statt sie „kleinzuhalten“
hat man sie in eine Opferrolle gebracht, aus
der heraus sie noch mehr Zustimmung generieren.
Es ist sogar eine Strategie der „Neuen Rechten“,
überhaupt erst in die Opferrolle gedrängt zu werden.
Diese Stellung verdeutlicht ihrer Ansicht
nach den undemokratischen und „antifreiheitlichen“
Umgang mit anderen Meinungen.
Zudem ginge von einer Einbindung extremer
Kräfte gar keine allzu große Gefahr aus. Denn in
der Tendenz legen sich extreme Bewegungen vor
allem auf ein Thema fest. Auf rechter Seite ist das
das Thema Migration, auf linker das des propagierten
Klassenkampfes zwischen Arbeitern und
Kapitalisten. Oft haben sie in anderen politischen
Bereichen, etwa zu Steuern, zur Bildungspolitik,-
zur freien Wirtschaft, zur Rüstungspolitik oder
zum Pflege- und Rentenkonzept keine eigenen
Positionen. Deutlich wurde das zum Beispiel im
ZDF-Sommerinterview mit dem oft sprachlosen
AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland.
Sicherlich kann man sich fragen, ob zunächst
nicht ein zentrales „Aufregerthema“ reicht, um
Aufmerksamkeit zu generieren. Doch braucht es
in einer vielfach verstrickten Welt auch eine gewisse
politische Breite. Doch oft verweigern extreme
Gruppierungen eine breite Diskussion, bei
der sie auch zu anderen Fragen einer Gesellschaft
Stellung nehmen müssten.
Erst wenn extremistische Bewegungen in die
aktive politische Debatte miteinbezogen werden,
müssen sie sich aus ihrer Opferrolle lösen und
sachpolitisch liefern. Wer liefern will muss sich
breit aufstellen und auf viele unterschiedliche Fragen
eine Antwort finden. Das erscheint mir in der
aktuellen Debatte das wehrhafteste Mittel einer
Demokratie zu sein.
33
Zwischen sanft und radikal –
Extremismus im Christentum
73 Prozent der Deutschen haben Angst vor Terroranschlägen.
Religiös motiviert durch den extremen Islam.
Aber was ist mit dem Christentum?
Von Miriam Rüdesheim
34
wirklich\\wahr 03
Religionsextremismus, das ist Islam
und der IS. So denken viele Christen
in Deutschland. Religionsextremismus
scheint etwas zu sein, das
Christen in die Opferrolle drängt. Das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
hat eine Beratungsstelle, bei der Menschen benannt
werden, die sich angeblich radikalisieren
und zu einer Gefahr für die Bevölkerung entwickeln.
Tipps kommen aus der Bevölkerung.
Laut BAMF ist es Aufgabe der Mitarbeiter,
die Gemeldeten „aus der Radikalisierungsspirale
zurück in die Familie, die Klasse und den
Freundeskreis“ zu holen. Versprochen werden
außerdem Antworten auf Fragen zur Zukunft
des Betroffenen und die Vermittlung von Ansprechpartnern
vor Ort. Eine Anleitung, wie
man extremistische Anzeichen erkennen soll,
gibt das BAMF auf seiner Webseite nicht: „Es
gibt keine feste Checkliste von Anzeichen, aus
denen man klar schließen kann, dass ein Mensch
radikal wird“, erwidert es auf Nachfrage nach
solchen Richtlinien. Alle Informationen der
Beratungsstelle beziehen sich ausschließlich
auf Radikalisierung im extremen Islam. Was
aber ist mit anderen Religionen? Gibt es, etwa
im Christentum, keinen Extremismus? Und ab
wann gilt eine Religion als extremistisch?
Für manche beginnt die Vorweihnachtszeit mit
Einkaufstrubel, andere suchen Stille zuhause oder
in Kirchen. Die eigentliche Botschaft des Advents
wird oft verdrängt. Es geht um das Warten auf den
Messias, auf seine Wiederkunft – es geht um das
Ende der Welt. Von diesem Wiederkommen sprechen
Bibeltexte, die am Ende des Jahres und zu
Beginn der Adventszeit in der Kirche vorgelesen
werden. In dem Evangelium zum ersten Advent
steht: „Dann wird man den Menschensohn in einer
Wolke kommen sehen (…) Wenn dies beginnt,
dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter;
denn eure Erlösung ist nahe.“ Seit 2000 Jahren gab
es immer wieder Gruppen, die diese Botschaft extrem
lebten. Bibeltexte wurden wörtlich interpretiert,
andere Glaubensformen als ungenügend abgetan.
Allen Sekten war gemein: Sie sahen sich als
die einzig wahren und würdigen Wartenden auf
den Messias. Glaubensgemeinschaften mit extremen
Lebensweisen sind zum Beispiel die Zeugen
Jehovas. Sie sind der Meinung, dass die Bibel frei
von Widersprüchen oder Irrtümern ist. Das wahre
Wort Gottes, niedergeschrieben in einem Buch.
Andere extreme Lebensweisen gibt es bei Organisationen
wie Opus Dei und der Piusbruderschaft.
Eine besondere Form des religiösen Extremismus
geht auf eine psychische Erkrankung zurück: das
Jerusalem-Syndrom.
wirklich\\wahr 03
Dr. Eckhard Türk, Experte im Bischöflichen
Ordinariat für Religions- und Weltanschauungsfragen
in den Diözesen Mainz und Speyer definiert:
„In der Bundesrepublik Deutschland wird
im Allgemeinen in der Forschung und bei Behörden
unter „religiösem Extremismus“ eine politische
Ideologie (…) oder Handlungen verstanden,
die aus religiösen Gründen den demokratischen
Verfassungsstaat, das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische
Grundordnung radikal
ablehnen und für deren Beseitigung tätig sind.
Religiöser Extremismus kommt in allen Religionen
vor.“ Auch im Christentum. Der religiöse
Extremismus unterstütze die Entstehung einer
Diktatur oder Theokratie, eine göttliche Herrschaft,
die weder Menschen-, noch Freiheitsrechte
anerkenne.
Zu allen Zeiten gab es Formen des Christentums,
die genauso extremistisch, menschenverachtend
und tödlich waren, wie die des radikalen
Islamismus.
Ein Bespiel ist das Täuferreich von Münster.
Eine ursprünglich lutherische Reformation unter
Führung des Prädikanten, des Laienpredigers
Bernhard Rothmann. Sein Machtzentrum hatte
das „Täuferreich“ im „Neuem Jerusalem“, das die
Glaubensgemeinschaft in der Stadt Münster entdeckt
zu haben glaubte. Das Reich bereitete sich in
den 1530er Jahren auf die Wiederkunft Christi vor.
Seine Eiferer wollten unübertrefflich sein, heilig.
Sie hielten andersgläubige Menschen für „ewig
Verlorene“ und duldeten kein anderes christliches
Bekenntnis. Kritiker wurden ermordet. Bücher
vorangegangener Zeit wurden verbrannt, wenn
sie Glaubensbotschaften vertraten, die nicht mit
dem Täuferreich vereinbar waren.
Ein weiteres historisches Beispiel sind die
Kreuzzüge: Sie wurden unter dem Vorwand „Gott
will es“ geführt. 1212 werden tausende Kinder
und Jugendliche verpflichtet, als Soldaten an den
Kreuzzügen teilzunehmen. Auch Hexenverbrennungen,
das Aufspüren und Foltern von Personen,
denen vorgeworfen wurde, mit dem Teufel im
Bunde zu stehen, sind ebenfalls Resultat extremer
Glaubensmacht.
Extremismus gehört aber nicht nur zur Vergangenheit
des Christentums, sondern auch zum
Heute. Das sind Glaubensgemeinschaften wie
Opus Dei: Das Tragen eines schmerzhaften, metallischen
Bußgürtels mit vielen Dornen rund
um den Gürtel, für zwei Stunden am Tag, außer
Sonn- und Feiertagen ist vorgeschrieben. Er
wird am Oberschenkel angelegt und die Dornen
bohren sich in das Fleisch. Der Ausruf: Serviam!
(„Ich werde dienen!“) gehört zur morgendlichen
Routine. Der Körper solle gezüchtigt und diszipliniert
werden, sei eine Teilhabe am Erlösungswerk
Christi. Kritiker werfen ihr vor, eine starke politische
Ausrichtung zu besitzen, einige bezeichnen
sie auch als „Demokratiegefährder“; insgesamt sei
sie zu konservativ – rechtsgerichtet. Ein Mitglied
leugnete den Holocaust. Aber auch der Glaubensgemeinschaft
als solcher werden antisemitische
Bemerkungen vorgeworfen. In einer Schrift von
Opus Dei hieß es: „Es unterliegt keinem Zweifel,
dass jüdische Autoren an der Zersetzung der religiösen
und sittlichen Werte in den zwei letzten
Jahrhunderten einen beträchtlichen Anteil haben.“
Für die Piusbrüder ist die Kirche „häretisch“
(ketzerisch), so sei das Buch des ehemaligen Papstes,
Joseph Ratzinger, voller Glaubensirrtümer.
In einer ganz anderen Form von Extremismus
denken Personen, sie wären Heilige. Das Jerusalem-Syndrom
ist eine psychische Erkrankung, die
Betroffenen halten öffentliche Predigten und kleiden
sich wie die Zeitgenossen zu der Zeit des Heiligen.
Zum Beispiel verkleidet sich der Betroffene
als Petrus oder Johannes der Täufer. Er bekleidet
sich mit einem weißen Bettlaken, es soll die Kleidung
des Heiligen darstellen. Er stellt sich mitten
in eine Menschenmasse oder auf einen Berg, um
von dort aus zu predigen. Auch von ihm ausgehende
Gebete sind üblich. Ein solcher „Prophet“,
der australische Tourist Michael Rohan, verübte
1969 einen Brandanschlag auf eine Moschee. Jährlich
sind bis zu 100 Besucher der Stadt Jerusalem
von der psychotischen Störung betroffen.
Entsprechen diese Gruppierungen mit ihren
extremen Weltanschauungen den Kriterien des
religiösen Extremismus? Und sind sie vergleichbar
mit dem Extremismus des Islams? Experten
sind hier unterschiedlicher Meinung: Rüdiger
José Hamm, Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft
religiös begründeten Extremismus
sagt: „Entsprechende Gruppierungen in Deutschland,
die sich auf das Christentum berufen und
aktiv-kämpferisch gegen das politische System
vorgehen, sind uns nicht bekannt“. Eckhard Türk
dagegen erörtert: „Auch heute gibt es noch Gruppen
innerhalb des Christentums, die bereit sind,
ihre Anschauungen mit Gewalt durchzusetzen
und die sich vollkommen intolerant gegenüber
Andersdenkenden zeigen.“. Es kommt also darauf
an, wie man für sich den Begriff des Extremismus
definiert. Man kann mit dem Begriff zwei verschiedene
Fälle bezeichnen. Zum einen ist Extremismus,
wenn es zu einer aktiven Bekämpfung
unseres politischen Systems kommt. Andererseits
kann man all die Gruppierungen „extremistisch“
nennen, die sich von den „Andersgläubigen“ distanzieren
und eine extreme politische Ausrichtung
besitzen.
Dennoch wird das Christentum nicht mit religiösem
Extremismus assoziiert. Das liege, so Dr.
Eckhard Türk, an historischen Umständen: „Das
Christentum hat geschichtlich eine Entwicklung
durchgemacht, oft auch gegen Widerstände, die
ihm einen Platz in modernen demokratischen
Gesellschaften ermöglicht. Diese Entwicklung hat
dazu geführt, dass das Christentum zum großen
Teil zur Religionsfreiheit für alle Menschen steht.
Diese Entwicklung steht für den Islam noch aus.
Islamistische Extremisten haben in ihren Ländern
nur diktatorische Vorbilder. Wenn die Islamisten
aus Europa kommen, sind sie der Meinung, dass
die Unsicherheiten einer modernen offenen Demokratie
nur mit Diktatur zu überwinden sind“.
Das Schwarz- und Weiß Bild des guten Christentums
und des bösen Islams greift also zu kurz.
Aus jeder Religion, eigentlich jeder tiefen Überzeugung,
kann Extremismus entstehen.
35
Heimat
Seit den 1880er Jahren fliehen mehrere hunderttausende Juden in
Nationalstaat. Das Problem: die Region ist bereits bewohnt. 1947
aufzuteilen: Da soll es Israel geben – für die geflohenen Juden – und
Ein Jahr später ruft David Ben Gurion den Staat Israels aus. Die
Israelisch- Palästinensische Konflikt beginnt. Noch heute kämpfen
Versprechen einer Zuflucht. Mohammed kommt aus Jordanien und
Israel. Zwei Seiten. Ein Konflikt. Von Zoe Bunje
Roy
Welche Seite ist verantwortlich für den Israelisch-
Palästinischen Konflikt?
Wir wollten Frieden. Die Palästinenser wollten
Krieg. Das lernen wir in der Schule. Ich
weiß nicht, ob das stimmt. Die Situation heute
ist für beide scheiße.
Wie begann der Konflikt?
Wir lernen in der Schule, dass vor 1000 Jahren
Juden in dieser Region gelebt haben. Viele
– aber nicht alle Juden – haben die Region
in den darauffolgenden Jahren verlassen. Im
Jahre 1896 veröffentlichte Herzl sein Buch
„der Judenstaat“. Er forderte einen eigenen
Staat für die Juden und schlug die Region Palästina
für diesen Staat vor. Viele Juden folgten
seinem Aufruf und begannen ein Land
für uns aufzubauen. Am 29. November 1947
diskutierten die Vereinten Nationen über
die Zukunft der Juden in der Region. Sie beschlossen
die Region Palästina in zwei Länder
aufzuteilen. Das jüdische Land Israel und das
arabische Land Palästina. Die Araber waren
in der Überzahl. Deswegen beschlossen wir,
ihnen mehr Land zu geben. Doch die Araber
wollten kein Israel. Sie wollten ihr Territorium
nicht aufgeben. Sie dachten, ganz Israel
solle ihnen gehören. Sie haben den Krieg begonnen.
Wir aber haben den Krieg gewonnen.
War der Krieg der Ende des Konflikts?
Nein, das war der Krieg der Unabhängigkeit
Israels. Er endete in 1949. Wir haben einen
großen Teil unserer Bevölkerung verloren. Sie
haben uns noch einmal im Jahre 1973 angegriffen.
Erneut im Jahr 1976. Wir haben beide
Male gewonnen. Und dann auch mehr Land
eingenommen.
Wann endet der Konflikt?
Der Konflikt wird weiterbestehen, bis wir
Territorien abgeben. Denn die einzige Lösung
sind zwei getrennte Länder auf israelischem
Territorium.
Gibt es Bemühungen, dass das passiert?
Es gibt keine guten israelischen Politiker.
Niemand bemüht sich um Frieden. Kämpfen
ist ein Teil des israelischen Geistes. Die Generation,
die jetzt an die Macht in Israel kommt
ist extrem rechts. Gegen Araber. Für Gewalt.
Die wollen unser Land nicht aufgeben, damit
die Araber ein eigenes Land gründen können.
Wie ist das mit der jüdischen Vergangenheit
vereinbar?
Meine Eltern und meine Großeltern haben
Kriege miterlebt, bei denen andere verpflichtet
waren, sie zu töten. Es ist schwierig, Frieden zu
finden. Vielleicht wird es leichter für die nächste
Generation. Vielleicht können wir etwas verändern.
Und die Möglichkeit eines gemischten Landes
gibt es nicht?
Nein, die Palästinenser bestehen auf Teile des
israelischen Territoriums. Sie werden ihre Idee
eines eigenen Landes nicht aufgeben.
Welche Lösung wünscht du dir für dein Land?
Zwei Staaten sind die einzige Lösung. Sonst
müssten wir einen kompromisslosen Krieg beginnen.
Wir würden sie töten. Und dann? Natürlich
wäre das besser für Israel, weil wir unsere
Territorien nicht verlieren würden. Aber
auch israelische Einwohner würden sterben.
Die Zahl der Toten wäre zu hoch. Doch es ist
schwer, sein Zuhause aufzugeben. Einige Israelis
siedeln und wohnen ja bereits auf besetzen
gebieten.
36
wirklich\\wahr 03
front
die Region Palästina. Das Versprechen: ein jüdischer
beschließen die Vereinten Nationen Palästina
Palästina – für die bereits dort lebenden Araber.
arabischen Staaten reagieren mit Agression. Der
Palästinenser um ihre Heimat – und Israelis um das
bezeichnet sich als Palästinenser. Roy ist Schüler in
Mohammed
Wer begann den Israelisch- Palästinischen
Konflikt?
Die Israelis haben unser Land eingenommen. Das
ist nicht nur der Beginn eines Konflikts. Das ist
der Beginn eines Krieges.
Und wie begann dieser Krieg?
Die Israelis wurden aus Europa geworfen und
wollten einen Ort, um sich nach dem Weltkrieg
niederzulassen. Was dann geschah, nennen wir
das Versprechen von Balfour. Die Vereinten Nationen
gaben Palästina den Juden, ohne das Land
zu besitzen. 1945 begannen die Juden hier ansässig
zu werden – und jedes Jahr wurden sie mehr.
1967 begannen sie einen Großteil des Landes für
sich zu beanspruchen. Ich habe nichts gegen die
Juden. Ich habe etwas gegen die Zionisten (*Anmkg.
d. Redaktion: Zionismus ist eine jüdische
Nationalbewegung, deren Ziel es ist, einen jüdischen
Religionsstaat in Israel zu errichten und
zu rechtfertigen) die ein Land übernahmen, das
niemals ihnen gehörte. Die Palästinenser wurden
gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen. Viele
sind nach Jordanien geflohen. Sie durften nicht
arbeiten, hatten kein Geld. Manche sind in Israel
geblieben, haben israelische Pässe bekommen.
Wir nennen sie die Araber aus 1948. Aber selbst
diese waren immer zweite Klasse in Israel, waren
immer weniger wert als Juden.
Also sind die Vereinten Nationen schuld am
Krieg?
Die Vereinten Nationen und die israelische
Regierung tragen beide Schuld am Krieg. Die
Vereinten Nationen hätten nicht über Palästina
entscheiden dürfen. Aber das eigentliche Problem
ist, wie sich die israelische Regierung jetzt
verhält.
Wie lange wird der Konflikt noch bestehen?
Ich hoffe auf die junge Generation. Durch das
Internet ist es leichter, Informationen zu bekommen
und sich weiterzubilden. Doch unsere
Regierungen sind schwach, das macht es
schwer, etwas zu verändern. Trotzdem: Jeder,
der an die Menschlichkeit glaubt, sollte gegen
Israel kämpfen. Viele Leute sind entsetzt, wenn
die palästinische Hamas eine Rakete auf Israel
feuert. Sind die tausenden Palästinenser egal,
die von der israelischen Armee getötet werden?
Seit 70 Jahren sprechen wir über Frieden. Und
es passiert nur eins: Die Israelis bekommen
mehr Land. Mehr Palästinenser sterben.
Wie vereinbarst du die Taten der Hamas mit
dem Streben nach Frieden?
Die israelische Regierung sagt: die Hamas sind
Terroristen. Doch sie selbst sind nach Palästina
gekommen und haben unser Land eingenommen.
Sie haben Palästinenser ins Gefängnis
geworfen. Getötet. Wie kann die Reaktion der
Hamas darauf Terrorismus sein? Die Hamas ist
ein legitimer Widerstand gegen eine zionistische,
israelische Regierung. Wenn die Hamas
zwei israelische Soldaten entführt, können wir
1500 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen
befreien.
Also sind die Kämpfer der Hamas keine Terroristen?
Das Handeln der israelischen Regierung ist der
wahre Terrorismus. Sie wollen nicht Seite an
Seite mit den Palästinensern leben. Sie halten
sich nicht an das internationale Gesetz. Sie machen
einen Konflikt religiös, der auf keine Art
und Weise religiös ist. So rechtfertigen sie ihr
zionistisches Verhalten. Sie schaffen es, Judentum
und Zionismus so zu vermischen, dass sich
kein anderes Land mehr traut einzugreifen. Aus
Angst, als antisemitisch zu gelten. Dabei sind
nur 15 bis 20 Prozent der israelischen Bevölkerung
jüdisch. Und es ist nicht antisemitisch,
das Fehlverhalten der israelischen Regierung zu
kritisieren. Durch diese Angst wird einem Land
Legitimität zugesprochen, das es niemals hätte
geben dürfen.
Wäre eine Aufteilung der Region in zwei Staaten
sinnvoll?
Die Zwei Staaten Lösung wird niemals funktionieren.
Für die Israelis sind zwei Staaten nur
eine Notlösung, wenn sie sich nicht länger gegen
uns verteidigen könnten. Sie wollen nicht
wirklich in Frieden neben uns leben.
Welche Lösung gibt es dann?
Die Israelis haben genommen, was ihnen nicht
gehörte. Deswegen sollten sie gehen. Aber sie
sind schon lange hier. Es wäre in Ordnung,
wenn sie bleiben und Palästinenser und Juden
gemeinsam unter einer palästinensischen Regierung
leben. Das geht nicht unter einer rassistischen,
zionistischen, israelischen Regierung.
Eine Regierung, die Kinder tötet und Palästinenser
als wertlos ansieht.
Könnte ein gemeinsames Land unter anderer
Regierung funktionieren?
Ich habe Angst, dass es zu Ausschreitungen
von Palästinensern gegen Juden kommt. Es ist
schwer, nicht zu hassen, wenn dein Bruder,
deine Mutter oder ein Freund von den Israelis
umgebracht wurde. Aber für die meisten Palästinenser
ist ihre Religion sehr wichtig: wenn du
nicht angegriffen wirst, kämpfst du nicht. Ich
denke, wenn keine Gefahr von Israel ausgehen
würde, könnten wir in Frieden unter einer palästinensischen
Regierung zusammenleben. So
wie schon zuvor für viele tausend Jahre.
wirklich\\wahr 03
37
wirklich\\wahr
das junge magazin.
„Ernst genommen werden und eigene
Ideen direkt & praktisch umsetzen“
Janine Arendt
Jugendpresse Rheinland-Pfalz
Vorstand
Es ist der Traum vieler Journalisten: Ein eigenes Magazin
produzieren. Spannende, kontroverse und lebensnahe
Geschichten zu finden und sie lesenswert aufzubereiten.
Für junge Nachwuchsjournalisten lässt die Jugendpresse
Rheinland-Pfalz diesen Traum „wirklich\\wahr“ werden.
Bei unserem Magazinprojekt heißt es nicht bloß zuschauen,
sondern selbst gestalten: Recherchieren, Fragen stellen,
Beiträge schreiben. Eigene Entscheidungen treffen und im
Team Ideen umsetzen. Von Anfang bis Ende. Aus eigenem
Antrieb heraus und unter professioneller Anleitung Journalismus
entdecken und Medien machen - das ist wirklich\\wahr.
Zwei Wochen lang waren die zwölf Jugendlichen mit völlig
unterschiedlichen journalistischen Vorkenntnissen als
Redakteure für das Magazin unterwegs. Der Startschuss
fiel Ende November beim Auftaktwochenende mit der
Chefredaktion. Weil es beim Magazinjournalismus eben
nicht darum geht, fiktive Geschichten zu erfinden wie
Relotius, sondern tatsächlich echte Geschichten zu erzählen,
legte das erste Wochenende das Augenmerk besonders
auf das Handwerkszeug des Journalismus. Mit den
Chefredakteuren Manuel Stark und Jonas Seufert gaben
erfahrene und erfolgreiche Journalisten aus renommierten
Medienhäusern wichtige Einblicke und nötige Impulse für
die Arbeit der jungen Redakteure. Dass auch Bilder sprechen
und ein Magazin noch lesenswerter machen können,
erklärte Maximilian von Lachner, der das Projekt auch in
diesem Jahr fotografisch begleitete.
Zwei Wochen hatte die Redaktion dann Zeit, Fotos zu
machen und eigene Artikel zu schreiben, die beim Abschlusswochenende
mit der Chefredaktion besprochen,
bearbeitet und redigiert wurden. Immer auf Augenhöhe
– ein Erfolgsmodell. Für junge Medieninteressierten ist
es wichtig, ernst genommen zu werden und eigene Ideen
direkt praktisch und professionell umsetzten zu können.
Niemals allein gelassen von ihren Ansprechpartnern. Dass
dadurch herausragende Ergebnisse entstehen, hat bereits
das erste wirklich\\wahr Magazin „Zeitlupe“ eindrucksvoll
bewiesen. Und die zweite Auflage steht dem in nichts
nach.
Im Gegenteil: Mit der Teilnahme am Projekt „Jugend gegen
Extremismus“ der Robert-Bosch-Stiftung hat sich das
Magazin in diesem Jahr mit einem Thema beschäftigt,
das facettenreicher kaum sein könnte. Extremismus. Ein
Schwerpunkt, der für die junge Redaktion Konfrontation
mit eigenen Erfahrungen bedeutete. Viele sahen sich
schon einmal selbst extremistischen Positionen ausgesetzt,
mussten aus ihrem Heimatland fliehen. Andere
wunderten sich über Gewalt und Terror extremistischer
Bewegungen oder fühlen sich in Deutschland mehr und
mehr verunsichert vom Erstarken radikaler Kräfte. Einen
Eindruck von aktuellem Extremismus in Deutschland verschaffte
der deutsche Publizist Christoph Giesa. In einem
Workshop sorgte er für eine kritische Debatte über die
„neue Rechte“. Insgesamt haben so sehr persönliche Geschichten
aus dem Leben der Redakteure einen Platz in
unserem Magazin gefunden.
Wirklich\\wahr zeigt damit schon zum zweiten Mal ein
gelungenes Ergebnis jungen Journalismus – dank interessierter
Teilnehmer, engagierter Chefredakteure und
einem talentierten Fotografen. Im Besonderen gilt unser
Dank auch der Robert-Bosch-Stiftung, die „wirklich\\
wahr – Extremismus“ ermöglicht hat. Mit ihrer Unterstützung
und dem Projekt „Jugend gegen Extremismus“.
Wir freuen uns auf viele
weitere Auflagen unseres Magazins!
Impressum
Herausgeber: Jugendpresse Rheinland-Pfalz e.V.
Gymnasiumstraße 4, 55116 Mainz
Projektbetreuender Vorstand: Janine Arendt, Samuel Grösch
Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Jonas Seufert & Manuel Stark
Fotoredaktion: Maximilian von Lachner
Redaktion: Nour Al Eid, Nawar Al Eid, Heba Alkadri,
Zoe Bunje, Tarek Bunni, Dominik Jermann, Lucas
Kehrer, Sarah Kühn, Jens Maurer, Mareike Munsch, Miriam
Rüdesheim
Layout: Tom-Frederic Schliemann & Samuel Grösch
Bildnachweise: S.1-9, S.17-19, S.28-29, S.31-32 S.38-40:
Maximilian von Lachner; S.10: Zoe Bunje; S.13: Tarek Bunni;
S.14: Pixabay; S.16: Lucas Kehrer; S.20: Aaron Burden; S.21:
Michael Gubi; S.21 (Portrait): Sophie Jones; S.22: Sunyu; S.24:
Hasan Almasi; S.26: Verne Ho; S.30: Bundesarchiv; S.33: Konrad
Lembcke; S.34 Miriam Rüdesheim; S.36-37: Privat;
Projektzeitraum / Erscheinung: Nov & Dez 2018
38
wirklich\\wahr 03
Die Redaktion
Nour Al Eid Nawar Al Eid Heba Alkadri Zoe Bunje
Tarek Bunni
Dominik
Jermann
Lucas Kehrer
Sarah Kühn
Jens Maurer
Mareike Munsch
Miriam
Rüdesheim
Maximilian von
Lachner
Fotograf
gefördert durch die
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