wirklich\\wahr – extrem
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Religionsextremismus, das ist Islam
und der IS. So denken viele Christen
in Deutschland. Religionsextremismus
scheint etwas zu sein, das
Christen in die Opferrolle drängt. Das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
hat eine Beratungsstelle, bei der Menschen benannt
werden, die sich angeblich radikalisieren
und zu einer Gefahr für die Bevölkerung entwickeln.
Tipps kommen aus der Bevölkerung.
Laut BAMF ist es Aufgabe der Mitarbeiter,
die Gemeldeten „aus der Radikalisierungsspirale
zurück in die Familie, die Klasse und den
Freundeskreis“ zu holen. Versprochen werden
außerdem Antworten auf Fragen zur Zukunft
des Betroffenen und die Vermittlung von Ansprechpartnern
vor Ort. Eine Anleitung, wie
man extremistische Anzeichen erkennen soll,
gibt das BAMF auf seiner Webseite nicht: „Es
gibt keine feste Checkliste von Anzeichen, aus
denen man klar schließen kann, dass ein Mensch
radikal wird“, erwidert es auf Nachfrage nach
solchen Richtlinien. Alle Informationen der
Beratungsstelle beziehen sich ausschließlich
auf Radikalisierung im extremen Islam. Was
aber ist mit anderen Religionen? Gibt es, etwa
im Christentum, keinen Extremismus? Und ab
wann gilt eine Religion als extremistisch?
Für manche beginnt die Vorweihnachtszeit mit
Einkaufstrubel, andere suchen Stille zuhause oder
in Kirchen. Die eigentliche Botschaft des Advents
wird oft verdrängt. Es geht um das Warten auf den
Messias, auf seine Wiederkunft – es geht um das
Ende der Welt. Von diesem Wiederkommen sprechen
Bibeltexte, die am Ende des Jahres und zu
Beginn der Adventszeit in der Kirche vorgelesen
werden. In dem Evangelium zum ersten Advent
steht: „Dann wird man den Menschensohn in einer
Wolke kommen sehen (…) Wenn dies beginnt,
dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter;
denn eure Erlösung ist nahe.“ Seit 2000 Jahren gab
es immer wieder Gruppen, die diese Botschaft extrem
lebten. Bibeltexte wurden wörtlich interpretiert,
andere Glaubensformen als ungenügend abgetan.
Allen Sekten war gemein: Sie sahen sich als
die einzig wahren und würdigen Wartenden auf
den Messias. Glaubensgemeinschaften mit extremen
Lebensweisen sind zum Beispiel die Zeugen
Jehovas. Sie sind der Meinung, dass die Bibel frei
von Widersprüchen oder Irrtümern ist. Das wahre
Wort Gottes, niedergeschrieben in einem Buch.
Andere extreme Lebensweisen gibt es bei Organisationen
wie Opus Dei und der Piusbruderschaft.
Eine besondere Form des religiösen Extremismus
geht auf eine psychische Erkrankung zurück: das
Jerusalem-Syndrom.
wirklich\\wahr 03
Dr. Eckhard Türk, Experte im Bischöflichen
Ordinariat für Religions- und Weltanschauungsfragen
in den Diözesen Mainz und Speyer definiert:
„In der Bundesrepublik Deutschland wird
im Allgemeinen in der Forschung und bei Behörden
unter „religiösem Extremismus“ eine politische
Ideologie (…) oder Handlungen verstanden,
die aus religiösen Gründen den demokratischen
Verfassungsstaat, das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische
Grundordnung radikal
ablehnen und für deren Beseitigung tätig sind.
Religiöser Extremismus kommt in allen Religionen
vor.“ Auch im Christentum. Der religiöse
Extremismus unterstütze die Entstehung einer
Diktatur oder Theokratie, eine göttliche Herrschaft,
die weder Menschen-, noch Freiheitsrechte
anerkenne.
Zu allen Zeiten gab es Formen des Christentums,
die genauso extremistisch, menschenverachtend
und tödlich waren, wie die des radikalen
Islamismus.
Ein Bespiel ist das Täuferreich von Münster.
Eine ursprünglich lutherische Reformation unter
Führung des Prädikanten, des Laienpredigers
Bernhard Rothmann. Sein Machtzentrum hatte
das „Täuferreich“ im „Neuem Jerusalem“, das die
Glaubensgemeinschaft in der Stadt Münster entdeckt
zu haben glaubte. Das Reich bereitete sich in
den 1530er Jahren auf die Wiederkunft Christi vor.
Seine Eiferer wollten unübertrefflich sein, heilig.
Sie hielten andersgläubige Menschen für „ewig
Verlorene“ und duldeten kein anderes christliches
Bekenntnis. Kritiker wurden ermordet. Bücher
vorangegangener Zeit wurden verbrannt, wenn
sie Glaubensbotschaften vertraten, die nicht mit
dem Täuferreich vereinbar waren.
Ein weiteres historisches Beispiel sind die
Kreuzzüge: Sie wurden unter dem Vorwand „Gott
will es“ geführt. 1212 werden tausende Kinder
und Jugendliche verpflichtet, als Soldaten an den
Kreuzzügen teilzunehmen. Auch Hexenverbrennungen,
das Aufspüren und Foltern von Personen,
denen vorgeworfen wurde, mit dem Teufel im
Bunde zu stehen, sind ebenfalls Resultat extremer
Glaubensmacht.
Extremismus gehört aber nicht nur zur Vergangenheit
des Christentums, sondern auch zum
Heute. Das sind Glaubensgemeinschaften wie
Opus Dei: Das Tragen eines schmerzhaften, metallischen
Bußgürtels mit vielen Dornen rund
um den Gürtel, für zwei Stunden am Tag, außer
Sonn- und Feiertagen ist vorgeschrieben. Er
wird am Oberschenkel angelegt und die Dornen
bohren sich in das Fleisch. Der Ausruf: Serviam!
(„Ich werde dienen!“) gehört zur morgendlichen
Routine. Der Körper solle gezüchtigt und diszipliniert
werden, sei eine Teilhabe am Erlösungswerk
Christi. Kritiker werfen ihr vor, eine starke politische
Ausrichtung zu besitzen, einige bezeichnen
sie auch als „Demokratiegefährder“; insgesamt sei
sie zu konservativ – rechtsgerichtet. Ein Mitglied
leugnete den Holocaust. Aber auch der Glaubensgemeinschaft
als solcher werden antisemitische
Bemerkungen vorgeworfen. In einer Schrift von
Opus Dei hieß es: „Es unterliegt keinem Zweifel,
dass jüdische Autoren an der Zersetzung der religiösen
und sittlichen Werte in den zwei letzten
Jahrhunderten einen beträchtlichen Anteil haben.“
Für die Piusbrüder ist die Kirche „häretisch“
(ketzerisch), so sei das Buch des ehemaligen Papstes,
Joseph Ratzinger, voller Glaubensirrtümer.
In einer ganz anderen Form von Extremismus
denken Personen, sie wären Heilige. Das Jerusalem-Syndrom
ist eine psychische Erkrankung, die
Betroffenen halten öffentliche Predigten und kleiden
sich wie die Zeitgenossen zu der Zeit des Heiligen.
Zum Beispiel verkleidet sich der Betroffene
als Petrus oder Johannes der Täufer. Er bekleidet
sich mit einem weißen Bettlaken, es soll die Kleidung
des Heiligen darstellen. Er stellt sich mitten
in eine Menschenmasse oder auf einen Berg, um
von dort aus zu predigen. Auch von ihm ausgehende
Gebete sind üblich. Ein solcher „Prophet“,
der australische Tourist Michael Rohan, verübte
1969 einen Brandanschlag auf eine Moschee. Jährlich
sind bis zu 100 Besucher der Stadt Jerusalem
von der psychotischen Störung betroffen.
Entsprechen diese Gruppierungen mit ihren
extremen Weltanschauungen den Kriterien des
religiösen Extremismus? Und sind sie vergleichbar
mit dem Extremismus des Islams? Experten
sind hier unterschiedlicher Meinung: Rüdiger
José Hamm, Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft
religiös begründeten Extremismus
sagt: „Entsprechende Gruppierungen in Deutschland,
die sich auf das Christentum berufen und
aktiv-kämpferisch gegen das politische System
vorgehen, sind uns nicht bekannt“. Eckhard Türk
dagegen erörtert: „Auch heute gibt es noch Gruppen
innerhalb des Christentums, die bereit sind,
ihre Anschauungen mit Gewalt durchzusetzen
und die sich vollkommen intolerant gegenüber
Andersdenkenden zeigen.“. Es kommt also darauf
an, wie man für sich den Begriff des Extremismus
definiert. Man kann mit dem Begriff zwei verschiedene
Fälle bezeichnen. Zum einen ist Extremismus,
wenn es zu einer aktiven Bekämpfung
unseres politischen Systems kommt. Andererseits
kann man all die Gruppierungen „extremistisch“
nennen, die sich von den „Andersgläubigen“ distanzieren
und eine extreme politische Ausrichtung
besitzen.
Dennoch wird das Christentum nicht mit religiösem
Extremismus assoziiert. Das liege, so Dr.
Eckhard Türk, an historischen Umständen: „Das
Christentum hat geschichtlich eine Entwicklung
durchgemacht, oft auch gegen Widerstände, die
ihm einen Platz in modernen demokratischen
Gesellschaften ermöglicht. Diese Entwicklung hat
dazu geführt, dass das Christentum zum großen
Teil zur Religionsfreiheit für alle Menschen steht.
Diese Entwicklung steht für den Islam noch aus.
Islamistische Extremisten haben in ihren Ländern
nur diktatorische Vorbilder. Wenn die Islamisten
aus Europa kommen, sind sie der Meinung, dass
die Unsicherheiten einer modernen offenen Demokratie
nur mit Diktatur zu überwinden sind“.
Das Schwarz- und Weiß Bild des guten Christentums
und des bösen Islams greift also zu kurz.
Aus jeder Religion, eigentlich jeder tiefen Überzeugung,
kann Extremismus entstehen.
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