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https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gorgias_marginalia_06._Clarke_Plato.jpg
Seite des Codex Oxoniensis Clarkianus 39 (Clarke Plato). Dialog Gorgias.
96 JAHRGANG LXIV · LGBB 02 / 2020
Redestreit, Länge und Form der Rede hängen also
zusammen und machen für die Sache und die richtige
Methode offenbar einen Unterschied. Sie sind
Teil des Bildungskonzepts und -angebots, über das
sich Sokrates und Protagoras austauschen und
das den Streitpunkt zwischen ihnen ausmacht. Bei
allem gemeinsamen Erkenntnisstreben ist der
Dialog auch eine Stellungnahme des Gründers der
Platonischen Akademie und macht ein bestimmtes
Angebot für die Bildung.
Doch die Bezüge zwischen Coda und Anfang des
Gesprächs zwischen Sokrates und Protagoras sind
nicht nur formaler Natur: Zum anderen greift Sokrates
nämlich auch das Motiv des Brüderpaares
Epimetheus und Prometheus aus Protagoras’ Mythos
noch einmal auf und bezieht es auf die dialektische
und daher vorausschauende Methode bei
der Lösung der Sachfrage nach der Lehrbarkeit der
Tugend. 36 Das Motiv gerät in seiner Deutung also
zu einem Handlungsimpuls oder gar zu einer Art
Lebensmotto des Sokrates, das Bezüge zu ähnlichen
Beschreibungen in anderen Dialogen (wie z.
B. dem Symposion: 174d–175c) 37 ermöglicht.
Allerdings entzieht sich Protagoras einer von Sokrates
vorgeschlagenen erneuten Untersuchung, in
der sie nun alles richtig machen könnten. Das tut
er aber mit einem Lob: Unter allen Altersgenossen
des Sokrates schätze er ihn bei weitem am meisten.
Er würde sich nicht wundern, wenn Sokrates
einmal zu den für ihre Weisheit Berühmten gerechnet
würde (Prt. 361e3–5). Das Lob richtet sich also
auf eine mögliche Zukunft, auf die Entfaltung eines
Potenzials. Aus Sicht des Protagoras muss es nicht
ausgemacht sein, dass sich diese Hoffnung erfüllt.
Das ist analog am Ende des Dialogs Phaidros, wo
Sokrates den Platon-Konkurrenten Isokrates in
ähnlicher Weise ein Lob für dessen mögliche große
Zukunft und weitere philosophische Entwicklung
spendet (Phdr. 278e). Aus Sicht des Autors Platons
freilich hat sich diese Hoffnung für Isokrates
nicht erfüllt. Doch kann man es als feinen Zug des
Dialogcharakters Sokrates auffassen, dass er sich
Isokrates mit so viel pädagogischem Wohlwollen
zuwendet. 38 Auch Sokrates wird freilich nicht
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zum rhetorisch geschulten Sophisten mutieren.
Die Welten bleiben getrennt. Aber auch der Dialogcharakter
Protagoras wendet sich dem jüngeren
Gesprächspartner am Ende noch einmal mit
väterlichem Wohlwollen zu. Öffnet sich hier ein
Fenster auf eine andere, alternative Zukunft, in
der die Annäherung zwischen den beiden Schulen
als Möglichkeit erscheint? Die historische Zukunft
aber sieht anders aus: Die beiden Modelle von Bildung
und Exzellenz bleiben voneinander ebenso
getrennt wie die Gruppen der Anhänger, die sich
um die Sophisten bzw. Sokrates versammeln.
Wie also können wir verstehen, warum Sokrates
zu Beginn die Lehrbarkeit der Tugend mit dem Verweis
auf verbreitete Verhaltensweisen der Athener
bestreitet, das Gespräch nach der großen Rede
des Protagoras auf die Einheit der Tugend(en)
lenkt, dabei den Widerspruch in Protagoras’ Argumentation
über den Wissenscharakter der Tugend
Tapferkeit aufdeckt, dieses Ergebnis aber nicht als
Sieg deutet, sondern als sichere Grundlage, um
jetzt die ganze Frage mit der richtigen Methode
aufrollen zu können, und dabei schließlich den Mythos,
den Protagoras vorgetragen hat, als Material
zu nutzen, um zwischen einem vorausschauenden
methodischen Handeln und einem kurzsichtigen
Handeln zu unterscheiden? Der Grund ist, dass
Sokrates’ Argument gegen die Lehrbarkeit der Tugend
inklusive seiner Kritik an Protagoras und Protagoras’
große Rede zwei unterschiedliche Arten
des Umgangs mit (historischen) Exempla zeigen:
Der erste geht von einem historischen Sachverhalt
aus und legt ihn dialektisch aus, der zweite verwendet
die Mehrdeutigkeit und unterschiedliche
Auslegbarkeit einzelner Handlungen mittels einer
rhetorischen (gorgianischen) Methode.
37 Phd. 100a9–b2.
38 Ähnlich ist es mit der Hoffnung auf eine philosophische
Entwicklung des jungen Alkibiades, von der der Platonleser
schon im Dialog Symposion hört, dass sie sich nicht
erfüllt hatte. S. Michael Erler, Argument und Performanz:
Alkibiades’ Verhalten im Symposium und Platons Analyse
in den Nomoi, in: Peitho. Examina Antiqua 1 (8) 2017
(Festschrift M. Wesoly), 213–224.
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