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lgbb_02_2020

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gibt sich, dass Latein in Zukunft nicht mehr nur

„als Zugang zum antiken Rom“, sondern „als

Zugang zu einem wesentlichen Teil der europäischen

Tradition“ zu begründen ist (a.a.O. 73).

Konkrete Beispiele stellte Fuhrmann in verschiedenen

Veröffentlichungen vor.

Europa als Thema des

Lateinunterrichts

Den Europa-Bezug des altsprachlichen Unterrichts

hat FRIEDRICH MAIER intensiv vertreten

und auch in Schul-Textausgaben konkretisiert.

Caesar könne als „Baumeister Europas“ verstanden

werden, ohne dass „das Bedenkliche“ an

seinem Vorgehen „ausgeblendet“ werden müsse

(Maier 1985: 38). Viele der von Ovid gestalteten

Episoden „haben in die europäische Kultur- und

Geistesgeschichte hineingewirkt“ (ib. 166). Im

antiken Mythos werde „gewissermaßen das kollektive

Bewusstsein des abendländisch-europäischen

Menschen fassbar“ (ib. 167). An bestimmten

Texten lasse sich zeigen, dass in Rom eine

„Herrschaftsideologie“ begründet wurde, „die

fast eineinhalb Jahrtausende die Geschichte Europas

bestimmte. Sie hat zu allen Zeiten Anerkennung,

aber auch Kritik gefunden“ (ib. 231). Maier

betonte die Wichtigkeit der Einbeziehung von

Rezeptionsdokumenten in den Lateinunterricht

4 Erwähnt sei hier, dass, seitdem die wissenschaftlichen

Hausarbeiten im Staatsexamen auch im Bereich der

Fachdidaktik geschrieben werden durften, Themen

bearbeitet wurden wie die beiden folgenden: „Die

Legenda aurea des Jacobus de Voragine – Fachwissenschaftliche

und fachdidaktische Grundlagen ihrer Lektüre

im heutigen Lateinunterricht“ (2006). – „Erasmus von

Rotterdam als Schulautor im heutigen Lateinunterricht –

Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen

der Erasmus-Lektüre nach den «Curricularen Vorgaben

für die gymnasiale Oberstufe der Berliner Schule»

(2006).”

und stellt eine Fülle von Möglichkeiten hierzu vor.

Name und Begriff

„Die Rezeption der Antike, in welcher Form auch

Europas

immer“, gewinne „im Kulturraum Europas und

darüber hinaus zunehmend an Bedeutung“ (ib.

267). Durch diese Bestrebungen kam es zu einer

ganz erheblichen Schwerpunktverlagerung in den

Lehrplänen. Ging es in den früheren Lehrplänen

noch ausschließlich oder hauptsächlich um eine

„Begegnung mit dem Römertum“(Rahmenpläne

A V 11, Berlin 1968), indem „Werke römischer

Schriftsteller im Original gelesen“ werden sollten,

so wurde nunmehr (z.B. im „Rahmenlehrplan

für Latein in der Sekundarstufe I“, Berlin 2006:

9) ausdrücklich betont, dass das Lateinische

einen eigenen Zugang zur Vergangenheit der

griechisch-römischen Antike „und den folgenden

Epochen“ eröffnet: „Das Fach spannt durch

die Berücksichtigung lateinischer Literatur aus

Altertum, Mittelalter und Neuzeit eine Brücke

zwischen Antike und Moderne und trägt so entscheidend

dazu bei, einerseits ein Bewusstsein

europäischer Identität, andererseits einen vorurteilsfreien

Umgang mit fremden Kulturkreisen zu

schaffen.“

PETER GOCHT (1932–2009), Oberschulrat am damaligen

Wissenschaftlichen Landesprüfungsamt

in Berlin (West), zuständig für die Staatsexamina

im Fach Latein, hob auf einer Tagung im Oktober

1987 über die Ausbildung der Lateinlehrer in Berlin

„eine sehr einschneidende Veränderung“ der

Prüfungsordnung hervor: Demnach konnte ein

Student bereits seit 1982 „zumindest 50% seiner

Prüfung mit nachantikem Latein bestreiten. Das

bedeutet also mit einem Latein, das bis in das Jahr

1987 reicht. Diese sehr gravierende Veränderung

hat bis heute allerdings“, so stellte Gocht damals

fest, „wenig erkennbare Konsequenzen gehabt.“

Aus dem, was Gocht des Weiteren ausführte, sei

aber „klar, dass ein Studium auf diesem unerhört

erweiterten Feld einen ganz anderen Charakter

haben muss als das ganzheitliche Studium, das

auf die römische Literatur bezogen ist.“ (Gocht:

37) 4

Der altsprachliche Unterricht ist auch der geeignete

Ort, in dem Herkunft und Geschichte

des Namens „Europa“ erörtert werden können.

Auch außerhalb der Altertumswissenschaft ist

der Mythos von der Königstochter Europa allgemein

bekannt, die von Zeus in der Gestalt eines

Stieres aus Phönizien nach Kreta entführt wurde

(bei Ovid, met. 2,833–875; 3,1–2; 6,103–107).

Diese Szene wurde schon in der Antike auf Vasenbildern,

Wandgemälden und Münzen dargestellt

und ist auch heute in den Medien, besonders

in Karikatur und Satire präsent. Sie hat vor

allem in der Geschichte der europäischen Malerei

ihren Platz (z.B. Tizian, Rembrandt, Tiepolo). Die

Etymologie des Namens ist umstritten. Vielleicht

kommt er vom semitischen Wort ereb (Dunkel,

Abend); auch das griechische ἔρεβος bezeichnet

das Dunkel oder die Unterwelt. Demnach würde

der Name ursprünglich „Land der untergehenden

Sonne“ bedeuten, d.h. „Abendland“.

THEODOR HEUSS, der erste Bundespräsident der

Bundesrepublik Deutschland, sagte 1950 in einer

Rede bei einer Schuleinweihungsfeier: „Es gibt drei

Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang

genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen,

das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland

geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss

sie als Einheit sehen.“ (Heuss 1956: 32) Der Name

der mythischen Frauengestalt findet sich schon bei

Hesiod (theog. 357) und Herodot (1,2 und öfter),

als Name für ein Gebiet bei Herodot sehr oft, aber

noch ohne exakte Begrenzung auf den heute so

genannten Erdteil. Man kann allerdings feststellen,

dass die Antike noch „ohne einen Europagedanken

ausgekommen ist: Die Welt der Griechen und

Römer war mediterran“ (Fuhrmann 1995: 40). Der

politische Begriff von Europa setzt sich erst viel

später durch: nach dem Sieg über die Araber bei

Poitier im Jahr 732, nach Karl dem Großen, Otto

I., Friedrich II. dem Staufer. Erst nach dem Fall Konstantinopels

(1453) appellierte Enea Silvio Piccolomini

(der spätere Papst Pius II.) an ganz Europa,

indem er zur Abwehr der Türken aufrief. Europa

war für ihn „eine Vielheit und eine Einheit zugleich“

(Fuhrmann 1995: 41), eine Formel, die übrigens

dem heutigen lateinischen Motto der Europäischen

Union entspricht: In varietate concordia.

Gegenwartsbezüge

Der altsprachliche Unterricht bietet in Bezug auf

Europa zahlreiche Gegenwartsbezüge. Es beginnt

schon im lateinischen Anfangsunterricht

aller Lehrgangsformen, dass auf die Geschichte

der lateinischen und der griechischen Schrift

hingewiesen wird. „Das Lateinische ist in vieler

Hinsicht die erfolgreichste und produktivste Kultursprache

der Welt. Die Geschichte des Lateinischen

und der lateinischen Schriftkultur bietet

einige Superlative“, die der Sprachwissenschaftler

Haarmann ausführlich darstellt (HARALD HAAR-

MANN 2001: 239–245). Im Unterricht wird die

Verwandtschaft mit den romanischen Sprachen

und mit der englischen Sprache an zahlreichen

konkreten Beispielen thematisiert. Viele Fremdund

Fachwörter im Deutschen und in anderen

Sprachen sind dem lateinischen und griechischen

Wortschatz entnommen. So wird ein Gefühl für

die Verwandtschaft der europäischen Kulturen

angebahnt. Nicht nur in Europa, auch in ‘Lateinamerika’

werden Spanisch und Portugiesisch

gesprochen. Wenn die neulateinische Literatur in

den Unterricht einbezogen wird, kann das den

Schülern einen konkreten und bleibenden Eindruck

von der historisch begründeten Zusammengehörigkeit

der europäischen Völker und Kulturen

vermitteln. Schon das Lesebuch von ALFONS

FITZEK (1968) bot z.B. Textabschnitte aus der

Querela pacis von Erasmus von Rotterdam, aus

der Utopia von Thomas Morus, aus der Didactica

magna des Comenius und weitere für den Unterricht

ausgewählte Textstellen von Pietro Bembo,

Luther, Andreas Vesalius, William Harvey, Hugo

Grotius, Descartes, Spinoza und Leibniz.

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LGBB 02 / 2020 · JAHRGANG LXIV

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