Fall 8: Sitzblockade - tappe-online.de
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GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 1<br />
<strong>Fall</strong> 8: <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong><br />
Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte)<br />
Wintersemester 2006/07<br />
In <strong>de</strong>r Kaserne vor <strong>de</strong>r X-Straße in M. soll – wie schon vor längerer Zeit durch die Presse be-<br />
kannt gegeben wor<strong>de</strong>n ist – am 30.5. ein Treffen hochrangiger Militärs stattfin<strong>de</strong>n, um Fra-<br />
gen eines Einsatzes <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>swehr im Rahmen eines UN-Kampfeinsatzes im Irak zu disku-<br />
tieren.<br />
Am Abend <strong>de</strong>s 29.5. treffen sich erstmals Vertreter <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nsbewegung zu einem „Ple-<br />
num“. Bis tief in die Nacht wird darüber beraten, wie man auf die Militärbesprechung reagie-<br />
ren soll. Gegen 3 Uhr wird beschlossen, die Kaserne am morgen durch eine <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong> in<br />
<strong>de</strong>r X-Straße auf Höhe <strong>de</strong>s Kasernentors für zwei Stun<strong>de</strong>n unzugänglich zu machen. Die X-<br />
Straße ist eine Sackgasse und führt nur zur Kaserne. Sie ist <strong>de</strong>ren Hauptzufahrt. Daneben gibt<br />
es nur kleinere Personen-Eingänge.<br />
Nach<strong>de</strong>m die Militärs am nächsten Morgen eingetroffen sind, setzen sich ca. 400 Demonst-<br />
ranten gegen 8.00 Uhr vor das Kasernentor. Sie lassen außer Rettungsfahrzeugen nieman<strong>de</strong>n<br />
hinein o<strong>de</strong>r heraus. Gegen 8.30 Uhr verkün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Einsatzleiter <strong>de</strong>r Polizei, die Versamm-<br />
lung sei aufgelöst, weil sie nicht angemel<strong>de</strong>t sei und <strong>de</strong>n Dienstbetrieb <strong>de</strong>r Kaserne lahm lege.<br />
Die Versammlung, an <strong>de</strong>r die Deutsche D (vermummt) und <strong>de</strong>r Angolaner A (unvermummt)<br />
teilgenommen haben, löst sich auf.<br />
Nach<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Rechtsweg erfolglos beschritten haben, erheben D und A Verfassungsbe-<br />
schwer<strong>de</strong> gegen das letztinstanzliche Urteil. Sie sind <strong>de</strong>r Meinung, die Versammlung hätte<br />
nicht aufgelöst wer<strong>de</strong>n dürfen, da <strong>de</strong>r weltweite Frie<strong>de</strong>n allen Menschen diene.<br />
Wie wird das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht über die bei<strong>de</strong>n Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n entschei-<br />
<strong>de</strong>n?
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 2<br />
Art. 8 GG<br />
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung o<strong>de</strong>r Erlaubnis friedlich und ohne<br />
Waffen zu versammeln.<br />
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz o<strong>de</strong>r auf<br />
Grund eines Gesetzes beschränkt wer<strong>de</strong>n.<br />
Auszug aus <strong>de</strong>m Versammlungsgesetz:<br />
§ 14<br />
(1) Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel o<strong>de</strong>r einen Aufzug<br />
zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stun<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>r Bekanntgabe <strong>de</strong>r zuständigen Behör<strong>de</strong><br />
unter Angabe <strong>de</strong>s Gegenstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Versammlung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Aufzuges anzumel<strong>de</strong>n.<br />
(2) In <strong>de</strong>r Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung <strong>de</strong>r Versammlung o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>s Aufzuges verantwortlich sein soll<br />
§ 15<br />
1) Die zuständige Behör<strong>de</strong> kann die Versammlung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Aufzug verbieten o<strong>de</strong>r von bestimmten<br />
Auflagen abhängig machen, wenn nach <strong>de</strong>n zur Zeit <strong>de</strong>s Erlasses <strong>de</strong>r Verfügung<br />
erkennbaren Umstän<strong>de</strong>n die öffentliche Sicherheit o<strong>de</strong>r Ordnung bei Durchführung <strong>de</strong>r<br />
Versammlung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Aufzuges unmittelbar gefähr<strong>de</strong>t ist.<br />
(2) […]<br />
(3) Sie kann eine Versammlung o<strong>de</strong>r einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemel<strong>de</strong>t sind,<br />
wenn von <strong>de</strong>n Angaben <strong>de</strong>r Anmeldung abgewichen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Auflagen zuwi<strong>de</strong>rgehan<strong>de</strong>lt<br />
wird o<strong>de</strong>r wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 o<strong>de</strong>r 2 gegeben sind.<br />
(4) Eine verbotene Veranstaltung ist aufzulösen.<br />
§ 20<br />
Das Grundrecht <strong>de</strong>s Artikels 8 <strong>de</strong>s Grundgesetzes wird durch die Bestimmungen dieses Ab-<br />
schnitts eingeschränkt.
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 3<br />
<strong>Fall</strong> 8 - Lösungsvorschlag<br />
Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n von D und A haben Erfolg, wenn sie zulässig und begrün<strong>de</strong>t<br />
sind.<br />
A. Zulässigkeit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n<br />
I. Zuständigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG)<br />
II. Beteiligtenfähigkeit (§ 90 I BVerfGG)<br />
III. Beschwer<strong>de</strong>gegenstand (§ 90 I BVerfGG)<br />
IV. Beschwer<strong>de</strong>befugnis (§ 90 I BVerfGG)<br />
V. Rechtswegerschöpfung + ggf. Subsidiarität (§ 90 II BVerfGG)<br />
VI. Form und Frist (§§ 23, 92f. BVerfGG)<br />
Anmerkung: Die Zulässigkeit wur<strong>de</strong> für bei<strong>de</strong>n Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n zusammen geprüft.<br />
Bei <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r Begrün<strong>de</strong>theit war dann aber getrennt zu prüfen (Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r D, Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A, s.u.). Einzugehen war im Rahmen <strong>de</strong>r Zulässigkeit insbeson<strong>de</strong>re<br />
auf folgen<strong>de</strong> Punkte:<br />
I. Beschwer<strong>de</strong>gegenstand (§ 90 Abs. 1 BVerfGG)<br />
Akt(e) <strong>de</strong>r öffentlichen Gewalt: Beschwer<strong>de</strong>gegenstand war hier laut Sachverhalt das letztinstanzliche<br />
Urteil, also ein „Akt“ <strong>de</strong>r Judikative, mithin ein Akt <strong>de</strong>r öffentlichen Gewalt. Beachte:<br />
Ein Akt <strong>de</strong>r öffentlichen Gewalt ist auch die Auflösungsanordnung <strong>de</strong>r Polizei, eine VB wäre<br />
aber mangels Rechtswegserschöpfung unzulässig.<br />
II. Beschwer<strong>de</strong>befugnis (§ 90 Abs. 1 BVerfGG)<br />
A und D müssten gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG behaupten können, dass sie in ihren<br />
Grundrechten verletzt wor<strong>de</strong>n sind. Das setzt die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung,<br />
sowie eine unmittelbare, gegenwärtige und eigene Beschwer bei<strong>de</strong>r voraus.<br />
1. Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r D<br />
D könnte in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt sein. Die Vermummung<br />
macht ihre Demonstrationsteilnahme zumin<strong>de</strong>st nicht offensichtlich unfriedlich.<br />
2. Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A<br />
a) Kann sich A auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen? Es han<strong>de</strong>lt sich um ein Bürger-, nicht um<br />
ein Menschenrecht! Unmittelbar also nicht. 1<br />
b) Zum Teil wird vertreten, dass sich Auslän<strong>de</strong>r bei Deutschengrundrechten zumin<strong>de</strong>st<br />
auf <strong>de</strong>n Menschenrechtskern <strong>de</strong>s Freiheitsrechtes berufen können. Dieser Menschen-<br />
1 Allerdings ist die Demonstrationsfreiheit von Auslän<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik einfachgesetzlich durch Art. 11 EMRK ge-<br />
schützt.
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Henning Tappe S. 4<br />
wür<strong>de</strong>gehalt kommt gem. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 GG auch Auslän<strong>de</strong>rn zugute. Eine Beeinträchtigung<br />
<strong>de</strong>s Menschenwür<strong>de</strong>gehalts <strong>de</strong>s Demonstrationsgrundrechtes ist hier<br />
jedoch nicht ersichtlich – (so dass eine Stellungnahme zu dieser Auffassung hier nicht<br />
erfor<strong>de</strong>rlich ist).<br />
c) BVerfG: Im Bereich <strong>de</strong>r Freiheitsgrundrechte, die nur Deutschen zustehen, wer<strong>de</strong>n<br />
Auslän<strong>de</strong>r über Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.<br />
d) Gegenauffassung: Das umgeht die Begrenzung <strong>de</strong>r Deutschengrundrechte.<br />
Dagegen: Diese Auffassung wür<strong>de</strong> Auslän<strong>de</strong>r in weiten Bereichen (etwa Art. 12<br />
Abs. 1 GG!) rechtlos stellen. Zu<strong>de</strong>m erlauben die weiten Schranken <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 1<br />
GG, die Freiheit <strong>de</strong>r Auslän<strong>de</strong>r im Bereich <strong>de</strong>s Art. 2 Abs. 1 GG weitergehend zu beschränken<br />
als die <strong>de</strong>r Deutschen im Bereich <strong>de</strong>r Bürgerrechte.<br />
A könnte also in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sein.<br />
→ Danach sind bei<strong>de</strong> Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n zulässig.<br />
B. Begrün<strong>de</strong>theit <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong>n<br />
I. Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r D<br />
Obersatz:<br />
Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s D ist begrün<strong>de</strong>t, wenn er zumin<strong>de</strong>st in einem seiner Grundrechte<br />
verletzt ist. Dies wäre dann <strong>de</strong>r <strong>Fall</strong>, wenn ein Eingriff in <strong>de</strong>n Schutzbereich eines<br />
Grundrechts vorliegt und dieser nicht gerechtfertigt ist.<br />
Die Grundrechte <strong>de</strong>r D aus Art. 8 Abs. 1 o<strong>de</strong>r Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (Freiheit <strong>de</strong>r Meinungsäußerung)<br />
könnten verletzt sein.<br />
1. Art. 8 Abs. 1 Satz 1 GG - Versammlungsfreiheit<br />
a) Schutzbereich<br />
persönlich? [+]<br />
sachlich?<br />
aa) Liegt eine Versammlung vor?<br />
Def.: Eine Versammlung liegt vor, wenn sich mehrere Menschen zur Verfolgung eines gemeinsamen<br />
Zwecks an einem Ort treffen. Kennzeichen für eine Versammlung ist, dass sie<br />
„Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“ ist.<br />
→ keine bloßen Menschenansammlungen o<strong>de</strong>r Volksbelustigungen/Menschenauflauf (innere<br />
Verbindung erfor<strong>de</strong>rlich)<br />
Teilhabe an <strong>de</strong>r öffentlichen Meinungsbildung erfor<strong>de</strong>rlich? → Love Para<strong>de</strong>?<br />
(BVerfG: [-], da unterhalten<strong>de</strong> und kommerzielle Veranstaltung)
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 5<br />
Auf die Frage, ob dabei irgen<strong>de</strong>in Zweck ausreicht, o<strong>de</strong>r ob es sich um die Bildung o<strong>de</strong>r Äußerung<br />
einer Meinung o<strong>de</strong>r gar um eine öffentliche Angelegenheit han<strong>de</strong>ln muss, kommt es<br />
nicht an, wenn – wie hier – auch nach <strong>de</strong>r engsten Auffassung eine Versammlung vorliegt.<br />
Aber: Art. 8 Abs. 1: „friedlich und ohne Waffen“ = Zurücknahme <strong>de</strong>s Schutzbereichs<br />
Ob auch <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong>n friedliche Versammlungen sind, erscheint problematisch:<br />
Zum Teil wird angenommen (etwa Maunz/Dürig), dass insoweit schon keine Versammlung vorliege:<br />
Wer gezielt <strong>de</strong>n Willen an<strong>de</strong>rer beugen will, versammelt sich nicht. Nur Zusammenkünfte<br />
mit <strong>de</strong>m Hauptzweck <strong>de</strong>r Meinungsäußerung, die unabwendbar Verkehrsbehin<strong>de</strong>rungen<br />
nach sich ziehen, können danach unter die verfassungsrechtlich garantierte Teilnahme an<br />
kollektiver geistiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzung fallen.<br />
In<strong>de</strong>s verengt eine solche Auslegung <strong>de</strong>r „Versammlung“ <strong>de</strong>n Demonstrationsbegriff unzulässig<br />
auf bestimmte Formen geistiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzung. Darüber hinaus beraubt sie Demonstranten<br />
<strong>de</strong>r Möglichkeit, durch ihr Erscheinen auf sich aufmerksam zu machen. Unauffällige<br />
Diskussionsveranstaltungen sind – auch in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit – nicht geeignet, irgen<strong>de</strong>inen<br />
Demonstrationseffekt zu erzeugen. Es kann hier danach nicht fraglich sein, ob eine<br />
Demonstration vorliegt, diskutiert wer<strong>de</strong>n muss vielmehr, ob diese Art <strong>de</strong>s Auf-sichaufmerksam-Machens<br />
noch „friedlich“ ist.<br />
bb) Friedlich?<br />
Zum Teil wer<strong>de</strong>n sog. „<strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong>n“ stets als „unfriedlich“ eingestuft (etwa alte Rspr. <strong>de</strong>s<br />
BGH 3 ). Argumente dafür sind die Rechtswidrigkeit <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung Dritter, wobei diese<br />
Rechtswidrigkeit und damit die Unfriedlichkeit <strong>de</strong>r <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong> aus <strong>de</strong>m (inzwischen teilweise<br />
überholten) strafrechtlichen Gewaltbegriff (vgl. Nötigung) abgeleitet wur<strong>de</strong>.<br />
o<strong>de</strong>r: unfriedlich dann, wenn die Teilnehmer mehr tun, als Dritten die Möglichkeit zur<br />
Kommunikation zu schaffen, wenn Dritten die Kommunikation also aufgedrängt wird.<br />
(h.M.): Unfriedlichkeit nur bei aufrührerischem o<strong>de</strong>r gewalttätigem Verlauf (vgl. insoweit<br />
auch §§ 5 Nr. 3, 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG, zum einfachen Recht als Auslegungsmaßstab s. aber<br />
noch unten).<br />
Für die letztgenannte Auffassung spricht:<br />
➪ dass <strong>de</strong>r (strafrechtliche) Gewaltbegriff <strong>de</strong>r Läpple-Entscheidung (BGHSt 23, 46: „psychischer<br />
Zwang“) schon strafrechtlich verfehlt (und ein Verstoß gegen das Analogieverbot) ist<br />
(vgl. BVerfGE 104, 92).<br />
➪ dass bei Auslegung grundgesetzlicher Bestimmungen nicht ohne weiteres auf Vorschriften<br />
<strong>de</strong>s einfachen Rechts zurückgegriffen wer<strong>de</strong>n kann (Normenhierarchie!, insbeson<strong>de</strong>re be-<br />
3<br />
U.a. BGHSt 23, S. 46 [57] – Läpple (= <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong> vor Straßenbahn).
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 6<br />
stün<strong>de</strong> dann die Gefahr, dass <strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n „Umweg“ <strong>de</strong>s einfachen Rechts die grundrechtlichen<br />
Schutzbereiche beschnitten wer<strong>de</strong>n könnten)<br />
➪ systematische Erwägungen: die Unfriedlichkeit muss bei Art. 8 GG schon mit <strong>de</strong>r Bewaffnung<br />
gleichwertig sein, wenn sie wie diese behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
➪ dass wegen <strong>de</strong>r überragen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Versammlungsfreiheit für die <strong>de</strong>mokratische<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung das Demonstrationsrecht nicht zu eng beschnitten wer<strong>de</strong>n sollte.<br />
Im konkreten <strong>Fall</strong> ist auch darauf einzugehen, dass die X-Straße zwar die Hauptzufahrt <strong>de</strong>r<br />
Kaserne ist, dass aber weitere Personen-Eingänge bestehen. Die beabsichtigte Blocka<strong>de</strong> hätte<br />
also für zwei Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Fahrzeugverkehr, nicht aber <strong>de</strong>n Personenverkehr abgeschnitten.<br />
Das mag strafrechtlich als „Gewalt“ eingestuft wer<strong>de</strong>n. „Gewalttätig“ im Sinne <strong>de</strong>s Versammlungsrechtes<br />
ist das nicht. Ob durch <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong>n Nötigungen (§ 240 StGB) begangen wer<strong>de</strong>n,<br />
hängt danach zunächst von <strong>de</strong>r Intensität <strong>de</strong>r Blocka<strong>de</strong> und von ihrer Dauer ab. Solche<br />
Straftaten (o<strong>de</strong>r auch Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang <strong>de</strong>r Demonstration – z.B.<br />
Vermummung, dazu unten) können im Rahmen <strong>de</strong>r Ausübung <strong>de</strong>s Ermessens <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong><br />
darüber berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, ob eine Versammlung nach <strong>de</strong>m Versammlungsgesetz aufgelöst<br />
wer<strong>de</strong>n soll o<strong>de</strong>r nicht. Den Schutzbereich <strong>de</strong>s Art. 8 Abs. 1 GG verlassen solche <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong>n<br />
danach aber noch nicht.<br />
Häufig bietet es sich an, bei Auslegungsfragen bezüglich <strong>de</strong>s Schutzbereichs von<br />
Art. 8 Abs. 1 GG, aber auch bei <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r Rechtfertigung eines Eingriffs in <strong>de</strong>n<br />
Schutzbereich auf die wichtige Funktion <strong>de</strong>s Grundrechts in <strong>de</strong>r parlamentarischen Demokratie<br />
einzugehen (wenn auch im Rahmen einer Klausur nicht zu „ausufernd“). Im Rahmen<br />
<strong>de</strong>s Systems <strong>de</strong>r indirekten/parlamentarischen Demokratie sind die Möglichkeiten <strong>de</strong>s Bürgers<br />
zur direkten politischen Einflussnahme (also nicht nur über die Wahl <strong>de</strong>r Volksvertreter)<br />
sehr beschränkt. Eine direkte Teilhabe an <strong>de</strong>r öffentlichen Meinungsbildung wird insoweit vor<br />
allem durch die Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1., 1. Alt. GG) ermöglicht<br />
und geschützt.<br />
Es kommt hier also darauf an, welcher Auffassung sich <strong>de</strong>r Bearbeiter anschließt. Im <strong>Fall</strong> <strong>de</strong>r<br />
Meinungen 1 bis 3 ist die Vb. <strong>de</strong>r D an dieser Stelle unbegrün<strong>de</strong>t, nach Meinung 4 ist weiter<br />
zu prüfen:<br />
cc) unbewaffnet?<br />
� hier: Auch dann, wenn danach die Versammlung hier insgesamt als friedlich einzustufen<br />
ist, schützt Art. 8 I GG doch nur die Versammlungsteilnahme ihrerseits friedlicher und unbewaffneter<br />
Teilnehmer. D war aber vermummt. Möglicherweise war er insoweit schon als<br />
„bewaffnet“ anzusehen.
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 7<br />
� „Passive Bewaffnung“: Bei bloßen Schutzgegenstän<strong>de</strong>n (Helme, Gasmasken) wird diskutiert,<br />
ob solche „passive“ Bewaffnung nicht schon <strong>de</strong>n Schutzbereich <strong>de</strong>s Art. 8 I GG ausschließt.<br />
5<br />
M.E. han<strong>de</strong>lt es sich aber bei diesen bloßen Schutzgegenstän<strong>de</strong>n schon nicht um Waffen,<br />
also auch nicht um Schutz-„waffen“. Je<strong>de</strong>nfalls aber fällt die bloße Vermummung<br />
auch nicht unter <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Schutzgegenstän<strong>de</strong>. Vermummung soll nicht vor körperlichen<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen, son<strong>de</strong>rn lediglich vor I<strong>de</strong>ntifizierung schützen. Mangels<br />
eines notwendigen Bezuges zu gewalttätiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzung kann Vermummung<br />
nicht als Bewaffnung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG gewertet wer<strong>de</strong>n. Auch kann von<br />
<strong>de</strong>r Vermummung auf eine unfriedliche Gesinnung nicht mit <strong>de</strong>m erfor<strong>de</strong>rlichen<br />
Grad von Wahrscheinlichkeit geschlossen wer<strong>de</strong>n 6<br />
→ die Demonstrationsteilnahme <strong>de</strong>r D wird durch Art. 8 I GG geschützt.<br />
b) Eingriff?<br />
Das letztinstanzliche Urteil, dass die Urteile <strong>de</strong>r Vorinstanzen und damit auch die Auflösungsverfügung<br />
bestätigt, ist ein klassischer Eingriff in diesen Schutzbereich.<br />
c) Eingriffsrechtfertigung?<br />
Übersicht: Prüfung <strong>de</strong>r Rechtfertigung eines Eingriffs bei <strong>de</strong>r „Urteils-VB“<br />
Frage: Ist <strong>de</strong>r Eingriff in das Grundrecht gerechtfertigt?<br />
� (+), wenn das GR eingeschränkt wer<strong>de</strong>n darf und sowohl das einschränken<strong>de</strong> Gesetz als auch seine Anwendung<br />
im Einzelfall verfassungsmäßig sind<br />
1. Schranke<br />
� Verfügt das Grundrecht über eine Einschränkungsmöglichkeit?<br />
• Einfacher Gesetzesvorbehalt<br />
• Qualifizierter Gesetzesvorbehalt<br />
• Kein Gesetzesvorbehalt, aber kollidieren<strong>de</strong>s Verfassungsrecht<br />
2. Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s Gesetzes<br />
a) Formelle VerfM<br />
b) Materielle VerfM<br />
aa) Ggf. beson<strong>de</strong>re Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r jeweiligen Schranke<br />
bb) „Schranken-Schranken“<br />
- Ggf. Art. 19 Abs. 1, 2 GG<br />
- Ggf. Bestimmtheitsgebot (Art. 20 III GG)<br />
- Verhältnismäßigkeit (Art. 20 III GG)<br />
3. Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s Einzelaktes<br />
Insbeson<strong>de</strong>re Verhältnismäßigkeit<br />
5 Dagegen: Kunig in: v.Münch/Kunig, Art. 8 Rn. 26 a.E.<br />
6 vgl. Kunig a.a.O., Rn. 25 und 35.
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 8<br />
aa) Schrankenvorbehalt:<br />
Art. 8 II GG; einfachrechtlich konkretisiert durch §§ 14 I, 15 I, III VersG für Auflösungen.<br />
bb) Verfassungsmäßigkeit <strong>de</strong>s VersG<br />
(1.) Formelle Verfassungsmäßigkeit:<br />
Keine Be<strong>de</strong>nken ersichtlich.<br />
(2.) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
(a) Zunächst ist <strong>de</strong>n Voraussetzungen <strong>de</strong>s Zitiergebots, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, Genügte getan,<br />
vgl. § 20 VersG.<br />
(b) Das Versammlungsgesetz schränkt das Recht, sich „ohne Anmeldung o<strong>de</strong>r Erlaubnis [...]<br />
zu versammeln“, dadurch ein, dass § 14 Abs. 1 VersG eine Anmeldung verlangt und § 15<br />
Abs. 3 VersG im <strong>Fall</strong>e einer fehlen<strong>de</strong>n Anmeldung die Auflösung einer Versammlung erlaubt.<br />
Es fragt sich, ob diese Beschränkung mit <strong>de</strong>r Freiheitsgarantie <strong>de</strong>s Art. 8 Abs. 1 GG<br />
vereinbar ist (Verbot einer generellen Anmel<strong>de</strong>- und Erlaubnispflicht als spezielle Schranken-<br />
Schranke <strong>de</strong>s Art. 8 GG). Dazu das BVerfG:<br />
„Die Regelung <strong>de</strong>s Versammlungsgesetzes über die Pflicht zur Anmeldung von Veranstaltungen<br />
unter freiem Himmel und über die Voraussetzungen für <strong>de</strong>ren Auflösung<br />
o<strong>de</strong>r Verbot (§§ 14, 15) genügt <strong>de</strong>n verfassungsrechtlichen Anfor<strong>de</strong>rungen, wenn bei<br />
Ihrer Auslegung und Anwendung berücksichtigt wird, dass […] die Anmel<strong>de</strong>pflicht bei<br />
Spontan<strong>de</strong>monstrationen nicht eingreift und ihre Verletzung nicht schematisch zur<br />
Auflösung o<strong>de</strong>r zum Verbot berechtigt, […]“ 7<br />
Die §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 3 VersG wer<strong>de</strong>n also (gegenüber ihrem Wortlaut) verfassungskonform<br />
einschränkend ausgelegt. In dieser einschränken<strong>de</strong>n Auslegung ist das Versammlungsgesetz<br />
(insoweit) verfassungsmäßig.<br />
(Fraglich ist aber, ob eine solche „verfassungskonforme Auslegung“ <strong>de</strong>s Versammlungsgesetzes möglich ist, weil<br />
<strong>de</strong>r klare Wortlaut <strong>de</strong>s Gesetzes dieses Auslegungsergebnis eigentlich ausschließt. Dann wären §§ 14, 15 VersG<br />
konsequenterweise verfassungswidrig.)<br />
(c) Nach § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG kann eine Versammlung wegen einer unmittelbaren<br />
Gefährdung <strong>de</strong>r öffentlichen Sicherheit und Ordnung aufgelöst wer<strong>de</strong>n. Ob <strong>de</strong>r Begriff<br />
<strong>de</strong>r „öffentlichen Sicherheit“, insbeson<strong>de</strong>re aber <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „öffentlichen Ordnung“ mit <strong>de</strong>m<br />
Verfassungsgebot hinreichen<strong>de</strong>r Bestimmtheit <strong>de</strong>r Ermächtigungsgrundlage vereinbar ist, ist<br />
umstritten 9 .<br />
7 BVerfGE 69, S. 315, 2. Leitsatz; im Einzelnen: S. 349 ff.<br />
9 Vgl. etwa Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 1988, Rn. 98
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 9<br />
Nach BVerfG 10 liegt ein Verfassungsverstoß durch diese gesetzliche Regelung dann nicht vor,<br />
wenn<br />
„Auflösung und Verbot nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung<br />
<strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus<br />
erkennbaren Umstän<strong>de</strong>n herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen […].“<br />
Die Begriffe <strong>de</strong>r öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind nach h. M. durch Rspr. und Lit.<br />
so weit präzisiert, dass sie <strong>de</strong>m verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügen.<br />
Die §§ 14, 15 VersG sind also verfassungsgemäß (bei § 14 Abs. 1 VersG a.A. vertretbar).<br />
cc) Verfassungsmäßige Anwendung dieser Ermächtigungsgrundlage<br />
Polizei und Verwaltungsgerichte könnten die §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1, 3 VersG im vorliegen<strong>de</strong>n<br />
<strong>Fall</strong> verfassungswidrig ausgelegt und angewen<strong>de</strong>t haben. Möglicherweise haben sie bei <strong>de</strong>r<br />
Auslegung <strong>de</strong>r Vorschriften die Grundrechte das Grundrecht <strong>de</strong>s D aus Art. 8 GG nicht hinreichend<br />
berücksichtigt.<br />
(1.) Verstoß gegen die Anmel<strong>de</strong>pflicht<br />
Es könnte eine Spontan<strong>de</strong>monstration vorliegen, bei <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r o.g. verfassungskonform<br />
einschränken<strong>de</strong>n Auslegung <strong>de</strong>r §§ 14, 15 VersG eine Auflösung wegen fehlen<strong>de</strong>r Anmeldung<br />
unzulässig ist. Spontan<strong>de</strong>monstration ist eine Versammlung, die sich aus aktuellem<br />
Anlass augenblicklich 11 , „ungeplant und ohne Veranstalter“ 12 bil<strong>de</strong>t, bei <strong>de</strong>r also eine vorherige<br />
Anmeldung nicht möglich ist.<br />
Von einer solchen „Spontanversammlung“ wird noch die „Eilversammlung“ unterschie<strong>de</strong>n, die (im<br />
Gegensatz zur Spontanversammlung) zwar geplant ist und einen Veranstalter hat, die aber ohne Gefährdung<br />
<strong>de</strong>s Demonstrationszwecks nicht unter Einhaltung <strong>de</strong>r Frist <strong>de</strong>s § 14 VersG angemel<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Hier verlangt das Gericht zwar eine Anmeldung, die aber nicht an die 48-Stun<strong>de</strong>n-<br />
Frist <strong>de</strong>s § 14 VersG gebun<strong>de</strong>n ist. 13 Solche Versammlungen sind danach anzumel<strong>de</strong>n, sobald die<br />
Möglichkeit dazu besteht.<br />
Tatsächlich war hier um 3.00 Uhr Nachts eine Anmeldung <strong>de</strong>r fünf Stun<strong>de</strong>n später beginnen<strong>de</strong>n<br />
Demonstration kaum möglich, je<strong>de</strong>nfalls aber nicht sinnvoll. Frühestens bei Beginn<br />
<strong>de</strong>r Demonstration um 8.00 Uhr wäre danach die Anmeldung möglich gewesen. Allerdings<br />
ließe sich hier eventuell auch vertreten, dass zwischen 3 und 8 Uhr eine Anmeldung bei <strong>de</strong>r<br />
Polizei möglich gewesen wäre. Nach <strong>de</strong>r Rechtsprechung zur „Eilversammlung“ hinge dann<br />
die Pflicht zur Anmeldung davon ab, ob die Demonstration hier geplant war und einen Veranstalter<br />
hatte. M. E. ist hier ein solcher Veranstalter nicht ersichtlich. Auch dürfte eine „Pla-<br />
10 BVerfGE 69, 315 [352 f.]<br />
11 BVerfGE 69, S. 315 [350]<br />
12 BVerfG, BayVbl. 1992, S. 209 [210])<br />
13 BVerfG, ebd.
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 10<br />
nungsphase“ vom Abend <strong>de</strong>s 29.5. bis zum 30.5., 3 Uhr morgens, aus einer spontanen noch<br />
keine Eilversammlung machen.<br />
Dabei kann hier m. E. auch nicht darauf abgestellt wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r Grund für die Demonstration,<br />
das Treffen <strong>de</strong>r Militärs, „schon vor langer Zeit durch die Presse bekannt gegeben<br />
wor<strong>de</strong>n ist“. Denn Demonstranten kann (ohne übermäßige Beschränkung ihres Demonstrationsrechts)<br />
nicht vorgeschrieben wer<strong>de</strong>n, ihre Demonstrationsabsicht so rechtzeitig zu fassen,<br />
dass die Anmel<strong>de</strong>frist gewahrt wird. Spontan<strong>de</strong>monstrationen setzen eben die Möglichkeit zu<br />
spontaner Willensbildung voraus.<br />
Es lag also eine Spontanversammlung vor. Die fehlen<strong>de</strong> Anmeldung rechtfertigt hier also<br />
nicht die Auflösung.<br />
(2.) Unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung<br />
Die Auflösung wur<strong>de</strong> auch damit begrün<strong>de</strong>t, dass die Demonstration <strong>de</strong>n Dienstbetrieb <strong>de</strong>r<br />
Kaserne lahm lege. (§ 15 Abs. 3, 3. <strong>Fall</strong> i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG). Nach <strong>de</strong>r oben zitierten<br />
Rspr. <strong>de</strong>s BVerfG darf hier eine Auflösung aber nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter<br />
strikter Wahrung <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus<br />
erkennbaren Umstän<strong>de</strong>n herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen […].“<br />
Die öffentliche Sicherheit könnte hier durch eine strafbare Nötigung, durch Ordnungswidrigkeiten<br />
(Vermummung) o<strong>de</strong>r durch die vorübergehen<strong>de</strong> Beeinträchtigung <strong>de</strong>s Kasernenbetriebes<br />
gefähr<strong>de</strong>t sein. Da die Personen-Ausgänge hier nicht blockiert wur<strong>de</strong>n, beschränkt sich<br />
die Behin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r persönlichen Bewegungsfreiheit <strong>de</strong>rjenigen, die in die Kaserne hinein<br />
o<strong>de</strong>r aus ihr herauswollen, darauf, kein Fahrzeug benutzen zu können. Diese Behin<strong>de</strong>rung<br />
sollte auch nur für zwei Stun<strong>de</strong>n andauern.<br />
Zwar ist die Bewegungsfreiheit <strong>de</strong>r Kasernenbenutzer ein gegenüber <strong>de</strong>r Demonstrationsfreiheit<br />
gleichrangiges Rechtsgut, sie wird m.E. hier aber weit weniger eingeschränkt als die Demonstrationsfreiheit<br />
durch eine Auflösung. Auch dafür, dass <strong>de</strong>r Kasernenbetrieb hier eine<br />
Benutzung <strong>de</strong>s Kasernentores innerhalb <strong>de</strong>r zwei Stun<strong>de</strong>n unabdingbar erfor<strong>de</strong>rt, gibt es keine<br />
Anhaltspunkte. Das durch das Vermummungsverbot geschützte Aufklärungsinteresse <strong>de</strong>r<br />
Polizei ist kein gegenüber <strong>de</strong>r Demonstrationsfreiheit gleichwertiges Rechtsgut. Einzelne<br />
Vermummte könnten sonst je<strong>de</strong> Demonstration zur Auflösung bringen.<br />
Daher ist die Auflösung hier unverhältnismäßig (a.A. vertretbar).<br />
Das gegenteilige Ergebnis lässt sich evtl. unter Berufung auf die mit <strong>de</strong>r <strong>Sitzblocka<strong>de</strong></strong> verbun<strong>de</strong>ne<br />
Nötigung und <strong>de</strong>m Hinweis darauf begrün<strong>de</strong>n, dass das Demonstrationsrecht nicht vorsätzlich<br />
zu Lasten <strong>de</strong>r Freiheit Dritter ausgeübt wer<strong>de</strong>n dürfe.<br />
Nach <strong>de</strong>r hier vertretenen Auffassung verletzt die Auflösung <strong>de</strong>r Versammlung und die gerichtliche<br />
Bestätigung <strong>de</strong>r Auflösungsanordnung die Demonstrationsfreiheit <strong>de</strong>r D.
GrundR AG 19.01.2007<br />
Henning Tappe S. 11<br />
2. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG - Freiheit zur Meinungsäußerung<br />
Gleichzeitig könnte damit auch eine Verletzung <strong>de</strong>s Grundrechtes <strong>de</strong>r A aus Art. 5 Abs. 1<br />
Satz 1 GG verbun<strong>de</strong>n sein. Hier ist jedoch fraglich, ob <strong>de</strong>r Schutzbereich <strong>de</strong>s Art. 5 I 1 bei<br />
Meinungskundgabe durch Demonstrationen neben <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Art. 8 I GG zur Anwendung<br />
kommt (Problem <strong>de</strong>r Grundrechtskonkurrenz).<br />
Sieht man als geschütztes Rechtsgut <strong>de</strong>r Versammlungsfreiheit nur „versammlungsspezifische<br />
Tätigkeiten“ an 14 , muss für die mit <strong>de</strong>r Demonstration notwenig verknüpfte kollektive Meinungsäußerung<br />
Art. 5 I, II GG als speziellere Regelung herangezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
M. E. liegt es aber näher, durch Art. 8 G nicht nur <strong>de</strong>n äußerlichen Vorgang <strong>de</strong>r Versammlung,<br />
son<strong>de</strong>rn auch ihren eigentlichen Zweck zu schützen - und das ist bei Demonstrationen<br />
die Meinungskundgabe. Alles an<strong>de</strong>re könnte zu Verkürzungen <strong>de</strong>s Schutzbereichs <strong>de</strong>s Art. 8<br />
GG führen. Versteht man Art. 8 I GG 15 als „Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe“,<br />
dann ist das Demonstrationsrecht das umfassen<strong>de</strong>re und zugleich speziellere Freiheitsrecht<br />
für die Meinungskundgabe durch eine Versammlung. Danach ist Art. 5 I GG neben Art. 8 I<br />
GG hier nicht mehr anzuwen<strong>de</strong>n.<br />
Die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r D ist also aus Art. 8 Abs. 1 GG begrün<strong>de</strong>t.<br />
II) Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s A<br />
Auch das aus Art. 2 Abs. 1 GG folgen<strong>de</strong> Recht <strong>de</strong>s A, zu <strong>de</strong>monstrieren, wird durch §§ 14,<br />
15 VersG beschränkt.<br />
Da jedoch die Auflösungsanordnung insgesamt - wie gezeigt - nicht auf die verfassungskonform<br />
ausgelegten §§ 14, 15 VersG gestützt wer<strong>de</strong>n kann, ist die Auflösungsanordnung (und<br />
ihre gerichtliche Bestätigung) nicht Bestandteil <strong>de</strong>r Verfassungsmäßigen Ordnung. Sie verletzt<br />
daher das Grundrecht <strong>de</strong>s A aus Art. 2 Abs. 1 GG.<br />
Auch seine Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> ist daher begrün<strong>de</strong>t.<br />
14<br />
So Jarass/Pieroth, GG, Art. 8 Rn. 4<br />
15<br />
Vgl. BVerfGE 69, 315 [345] und Kunig in v. Münch/Kunig, 4. Aufl. 1992, Art. 8 GG Rn. 37