Journalistische Verantwortung in der digitalen Gesellschaft
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n JOURNALISMUS
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen:
„Wir brauchen die redaktionelle
Gesellschaft“ *
Von Thilo Komma-Pöllath
Noch nie gab es soviel Desinformation,
Verschwörungstheorien
und Lügen wie zu Zeiten
von Corona. Zeitgleich tobt mit
der „Cancel Culture“ in den USA
ein Kulturkampf, der die offene
Debatte in der liberalen Gesellschaft
bedroht sieht. Wie müssen
Qualitätsjournalismus und digitale
Plattformen Debatten führen, um
den großen Herausforderungen
der Zeit – Corona, Rassismus, Klimawandel
– gerecht zu werden? Ein Skype-
Gespräch mit Prof. Dr. Bern hard Pörksen,
51, von der Univer sität Tübingen, einem der
führenden Medienwissenschaftler des Landes,
über die neue Rolle des Journalismus‘
in Zeiten der Krise.
Herr Prof. Pörksen, virologisch hat
Deutschland die Corona-Pandemie bisher
gut bewältigt, das sagen die Experten. Und
journalistisch?
Es gab unterschiedliche Phasen. Zu Beginn
der Schock des Lockdowns, da hat der
Journalismus im Wesentlichen verkündet,
was situativ geboten war. Ende März gab es
* Erstveröffentlichung: Journalist, No. 9, Sept. 2020
von Seiten der Politik eine versuchte Diskurstabuisierung
nach dem Motto: „Bloß
keine Exit-Debatte!“ Das habe ich für einen
Fehler gehalten, weil niemand zu diesem
Zeitpunkt ernsthaft eine solche Debatte
Die Corona-Krise war und
ist auch ein gigantisches
publizistisches Experiment
gefordert hat, außer einige versprengte
AfD-Politiker aus der dritten Reihe. Und
weil die Kommunikation der Regierenden
eine eigentümliche Zukunftslücke erkennen
ließ: Was wird? Diese Frage hat viele
Menschen völlig zu Recht umgetrieben.
Hier hat aus meiner Sicht der politische
Journalismus nicht entschieden genug auf
eine solche Debatte gedrängt.
Selbst Claus Kleber hat selbstkritisch moniert,
dass man zu Beginn der Krise „in Ton
und Stil“ zu sehr Regierungsfernsehen gewesen
sei.
Dass es im Moment der diffusen Gefahr ein
hohes Maß an Verlautbarung gibt, halte
ich für unvermeidlich. Dafür gab es in der
Folge eine verstärkte Auseinandersetzung
mit den Lockerungsstrategien. Die Corona-
Krise war und ist auch ein gigantisches publizistisches
Experiment: Wie debattiert
man in dem Bewusstsein, dass wir erst im
Rückblick ganz genau wissen werden, welche
Strategie die bessere war, die schottische,
die südkoreanische, die taiwanesische
oder die deutsche? Das ist eine neue
Situation: Regierungseffizienz und Regierungsversagen,
publizistische Qualität
und haltlose Fehleinschätzungen – all das
lässt sich eines Tages empirisch beurteilen.
Meine eigene Zwischenbilanz, Stand heute:
Journalistisch betrachtet gab es, mit Ausnahme
dieser Phase Ende März, viele glänzende
Erklärstücke, die angemessen vorsichtige
Erörterung, auch Selbstkritik und
eben kein Übermaß an Konformität. In der
Summe ist diese neue Herausforderung an
Berichterstattung gut geglückt.
Öffentlich-rechtliches
Radio / Fernsehen
Zeitungen /
Zeitschriften
Privates
Radio / Fernsehen
Soziale Medien
Videoportale
(YouTube …)
Informationsquellen für Politik
Erwachsene ab 14 Jahren
Haben sich die großen Zeitungsverlage,
das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der
Krise ein Stück Glaubwürdigkeit zurückerobern
können oder haben sie weiter, angesichts
des Übermaßes an Desinformation,
an Bedeutung verloren?
Es gab eine Zweiteilung der Medienwelt.
Auf der einen Seite eine deutliche Mehrheit,
die sich verstärkt den klassischen Medien
zugewandt hat, den Qualitätszeitungen,
ARD/ZDF, den Podcasts des NDR. Das
erleben wir oft im Krisenfall, den Rückgriff
auf klassische, seriöse Informationsquellen.
Und dann gab es bis zu 30 Prozent der
Bevölkerung, die sogenannte alternative
Medien konsumierten, immer in Gefahr, in
ein verschwörungstheoretisches Milieu abzudriften.
20 Prozent glauben gar an eine
bewusste Täuschung der Öffentlichkeit
durch Politik und Medien, die die Gefahren
gezielt übertreiben würden. Ich selbst
58% 24% 83%
24% 44%
8% 16%
5% 8%
4% 8%
am ehesten
an zweiter Stelle
(Mediennutzung online / offline. Summen können rundungsbedingt abweichen.)
68%
24%
13%
12%
Quelle: www.ard-zdf-massenkommunikation.de; Langzeitstudie Massenkommunikation 2020
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