DGZ-Weihnachtsbeilage 2020
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WEIHNACHTSGESCHICHTE<br />
Unser erster Christbaum<br />
Eine Weihnachtsgeschichte von Peter Rosegger, nacherzählt von Käte Röhring<br />
Peter hatte Weihnachtsferien.<br />
Wochenlang hatte er sich schon<br />
auf die Heimat gefreut. Als der<br />
Tag kam, schneite es so viel, dass die<br />
Eisenbahn nicht weiterfahren konnte.<br />
Peter stieg aus und ging zu Fuß.<br />
Er musste noch sechs Stunden laufen,<br />
sein Elternhaus lag oben auf einem<br />
Berg. Er musste durch den Bergwald<br />
hinaufgehen. Zur Abenddämmerung<br />
kam er dann endlich<br />
glücklich und froh beim alten Haus<br />
an. Er ging hinein, die Stube war<br />
klein, niedrig, dunkel und warm.<br />
Die Stadthäuser waren alle sehr<br />
groß, das Waldbauernhaus im Vergleich<br />
sehr klein.<br />
Diese Geschichte ist schon viele<br />
Jahre alt. In den Dörfern gab es<br />
noch kein elektrisches Licht und<br />
die Menschen kannten noch keinen<br />
Christbaum. Auf dem offenen<br />
Stein-Herd brannte das Feuer. Auf<br />
dem Tisch wurde eine Kerze angezündet.<br />
Peters Mutter war sehr<br />
froh und sagte: „Wie schön, dass<br />
du endlich zu Hause bist. Du warst<br />
sehr lange fort.“<br />
Peter wollte Doktor werden, weshalb<br />
er in der Stadt zur Schule gehen<br />
musste. Peters kleiner Bruder hieß<br />
Nickel, er sah blass aus. „Nickel hustet<br />
schon den halben Winter durch.<br />
Darum muss er im Haus bleiben. Weil er<br />
nicht an die frische Luft kommt, sieht er<br />
so fahl aus“, sagte die Mutter.<br />
In der Nacht vor Heiligabend schlief<br />
Peter wenig und dachte nach. In der<br />
Stadt kauften einige Familien einen<br />
Tannenbaum. Daran wurden kleine<br />
Kerzen gesteckt. Unter dem Baum wurden<br />
dann kleine Geschenke gelegt und<br />
bis Heiligabend brannten die Kerzen,<br />
das war so ein schöner Anblick. Daher<br />
wollte Peter morgen zum ersten Mal<br />
einen Christbaum aus dem Wald holen.<br />
Kerzen hatte er schon mitgebracht. Er<br />
wollte sehr früh aufstehen, bevor seine<br />
Mutter in der Küche aktiv war. Heimlich<br />
stand er am nächsten Morgen<br />
auf und zog sich an. Leise ging er zur<br />
Hintertür hinaus, draußen war dichter<br />
Winternebel. Das war gut, denn keiner<br />
konnte ihn sehen, wie er in den Wald<br />
ging. Er suchte einen schönen Tannenbaum<br />
aus, machte den Christbaum auf<br />
zwei kleinen dicken Holzstücken in der<br />
Scheune fest und versteckte ihn.<br />
Dann war es Heiligabend. Die Mägde<br />
und Knechte, die auf dem Bauernhof<br />
halfen, waren in den Ställen, um das<br />
Vieh zu füttern. Im Anschluss wollten<br />
sie sich waschen und ihre Sonntagskleider<br />
anziehen. Die Mutter hatte noch viel<br />
für das Mahl zum Weihnachtsfest zu<br />
kochen. Der Vater ging mit dem kleinen<br />
Nickel zu den Tieren im Stall. Sie schauten<br />
nach, ob alle Tiere auch genug Futter<br />
hatten. In diesem Moment konnte Peter<br />
den Christbaum schnell aus der Scheune<br />
holen und ihn in die Stube bringen. Keiner<br />
hatte ihn gesehen oder bemerkt. Er<br />
stellte den Baum auf den Tisch, machte<br />
die Kerzen fest und zündete sie an. Die<br />
Tür ging auf. Peter versteckte sich schnell<br />
hinter dem Ofen.<br />
„Was ist denn das“, sagte der Vater.<br />
Der kleine Nickel konnte nichts<br />
sagen. Seine großen runden Augen<br />
aber strahlten vor Staunen wie<br />
die Christbaumkerzen. Der Vater<br />
fragte leise: „Mutter, hast du das<br />
gemacht?“ Aber auch die Mutter<br />
konnte nicht antworten. So etwas<br />
Schönes hatte sie noch nie gesehen.<br />
Bald kamen die Knechte und<br />
Mägde vorbei. Alle waren freudig<br />
erschrocken über so einen schönen<br />
Baum. Ein Junge aus dem Tal<br />
glaubte, dass Engel vom Himmel<br />
den Christbaum gebracht haben.<br />
Sie schauten und kamen aus dem<br />
Staunen nicht mehr heraus. Es war<br />
wie ein Wunder.<br />
Die Mutter suchte mit den Augen<br />
in der Stube herum: „Wo ist denn<br />
Peter?“ Da kam er aus seinem Versteck<br />
heraus. Er fasste den kleinen<br />
Nickel an den Händen und ging<br />
mit ihm bis vor den Tisch. Der Kleine<br />
fürchtet sich, aber Peter sagte:<br />
„Du darfst keine Angst haben, Bruder!<br />
Schau, das liebe Christkind hat dir<br />
einen Christbaum gebracht. Der gehört<br />
dir.“ Da lachte der Kleine vor Freude<br />
und faltete seine Hände wie in der<br />
Kirche.<br />
Peter hat in den folgenden Jahren noch<br />
oft den Christbaum aufgestellt, prächtig<br />
geschmückt und schöne Geschenke<br />
für junge und alte Menschen daruntergelegt.<br />
Aber solche große Freude wie<br />
bei seinem kleinen Bruder Nickel hatte<br />
er nie wiedergesehen.<br />
Quelle: <strong>DGZ</strong> 12 | 1970<br />
<strong>Weihnachtsbeilage</strong><br />
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