EDUCATION 1.21
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Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/Formation professionnelle<br />
Unter den Begriff «Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung»<br />
fallen Massnahmen mit dem Ziel, behinderungsbedingte<br />
Nachteile von Lernenden auszugleichen. Die Bildungs- und Kulturdirektion<br />
des Kantons Bern hat 2018 entsprechende Richtlinien<br />
zur Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen verabschiedet.<br />
Diese Richtlinien bezwecken eine einheitliche Umsetzung<br />
bei qualifikationsrelevanten Leistungserhebungen. Auch<br />
Lernende mit einer Beeinträchtigung sollen ihr Potenzial ausschöpfen<br />
und sich optimal auf ihre berufliche Zukunft vorbereiten<br />
können.<br />
In der Berufsbildung betrifft dies bestimmte Anpassungen<br />
im Ausbildungsprozess und in den Qualifikationsverfahren. Andy<br />
Bula, stellvertretender Leiter der Abteilung für Informations- und<br />
Energietechnik an der Berufsfachschule Bern, koordiniert innerhalb<br />
der Abteilung die Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen.<br />
Und schildert für <strong>EDUCATION</strong> einen typischen Fall: «Die<br />
häufigste Diagnose ist wohl die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-<br />
bzw. Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt als ADHS.<br />
Weitere Fälle, die vorkommen, sind Legasthenie, Dyslexie, Asperger-Syndrom<br />
oder bestimmte Formen von Körperbehinderungen<br />
und Angststörungen.»<br />
Sind Lernende davon betroffen, können sie auf der Website<br />
der Berufsfachschule das Formular für ein Gesuch um Nachteilsausgleich<br />
herunterladen, ausfüllen und einreichen. «Dies geschieht<br />
oft noch vor dem ersten Lehrjahr. Voraussetzung dafür<br />
ist das schriftliche Attest einer anerkannten Fachstelle, etwa vom<br />
schulpsychologischen Dienst, von der kantonalen Erziehungsberatung<br />
oder von einer neuropsychologischen Praxis.»<br />
Keine inhaltlichen Anpassungen<br />
Formular und Fachbericht treffen via Klassenlehrperson bei Andy<br />
Bula ein. «Nun ist es an mir, das Gesuch zu prüfen und mit bestehenden<br />
Fällen an der gibb zu vergleichen. Dann setze ich eine<br />
schriftliche Vereinbarung auf, in der die entsprechenden Massnahmen<br />
festgelegt werden.» Die häufigsten Massnahmen – gerade<br />
bei ADHS-Fällen – sind Zeitzuschläge, die Verwendung von<br />
Nachschlagewerken oder die Erlaubnis, bei Unklarheiten nachfragen<br />
zu dürfen. Diese Massnahmen kommen sowohl im Unterricht<br />
als auch in Prüfungssituationen zur Anwendung (in der Berufsfachkunde<br />
und im allgemeinbildenden Unterricht). Inhaltlich<br />
erfolgen dabei keine Anpassungen; die Leistungen, welche die<br />
betroffenen Lernenden erbringen müssen, bleiben genau dieselben.<br />
«In der Arbeitswelt wird erwartet, dass bestimmte Handlungskompetenzen<br />
vorhanden sind», so Andy Bula. «Deshalb beziehen<br />
sich die Massnahmen zum Nachteilsausgleich nicht auf<br />
die konkreten Inhalte, sondern auf angemessene, bedarfsgerechte<br />
Unterstützung in einer Prüfungssituation.»<br />
Die Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen in den<br />
jeweiligen Lehrbetrieben ist primär professionsabhängig: «Ein<br />
Elektroinstallateur beispielsweise ist in der Berufspraxis vor allem<br />
auf Baustellen unterwegs. Muss er mal einen Arbeitsrapport verfassen,<br />
so dürfte er im Betrieb problemlos zehn Minuten länger<br />
daran arbeiten.» Die Betriebe sind in der Umsetzung grundsätzlich<br />
frei. Bewusstsein und Verständnis für Fälle von Nachteilsausgleich<br />
seien in den Lehrbetrieben zweifellos vorhanden.<br />
Nachteilsausgleichsmassnahmen im Setting von Lehrabschlussprüfungen<br />
– dem sogenannten Qualifikationsverfahren –<br />
werden anhand eines separaten Antrags geregelt, der direkt<br />
beim kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) eingereicht<br />
werden muss. So kann es sein, dass auch bei einer berufspraktischen<br />
Prüfung mehr Zeit gewährt wird. «Etwa bei der<br />
schriftlichen Dokumentation, die ein angehender Informatiker im<br />
Rahmen seiner Prüfung erarbeiten und abgeben muss.» Prüfungserleichterungen<br />
oder angepasste Aufgabenstellungen sind<br />
nicht erlaubt.<br />
Massnahmen als mentaler Rettungsring<br />
Die schriftliche Vereinbarung geht von Abteilungsleiter Andy Bula<br />
zurück zur Klassenlehrperson, die das Dokument an die betroffenen<br />
Lernenden, an deren Eltern und an den Lehrbetrieb weiterreicht.<br />
Sobald die Vereinbarung von allen Beteiligten unterzeichnet<br />
ist, wird sie nach aussen kommuniziert – und tritt per sofort<br />
in Kraft.<br />
«So, wie ich es erlebe, ist die Erteilung von Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />
keine grosse Hexerei», streicht Andy Bula<br />
hervor. «Eine typische, schriftliche Prüfungssituation im allgemeinbildenden<br />
Unterricht dauert eine Stunde. Ein Grossteil der<br />
Klasse gibt die Prüfung bereits vor Ablauf dieser Zeit ab. Da stört<br />
es niemanden, wenn einzelne Lernende mit Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />
noch zehn Minuten länger arbeiten dürfen.»<br />
Auf rund 1800 Lernende der Abteilung für Informations- und<br />
Energietechnik wurden knapp 80 Gesuche für Nachteilsausgleich<br />
eingereicht und bewilligt. «Für die meisten Betroffenen stellen<br />
die vereinbarten Massnahmen einen Rettungsring dar, eine Art<br />
mentale Stütze: Sie wissen, dass sie sich im Notfall daran festhalten<br />
können. Oft machen sie aber gar keinen Gebrauch davon.<br />
Die betroffenen Lernenden wollen so sein wie die anderen auch,<br />
ohne Spezialbehandlung.»<br />
Hin und wieder melden sich Eltern bei Andy Bula, um Fragen<br />
zum konkreten Vorgehen zu stellen. «Solche Beratungsgespräche,<br />
die vor der eigentlichen Gesuchstellung erfolgen, steuern<br />
den Prozess und nehmen etwas Wind aus den Segeln. Indem ich<br />
vorinformiere, welche Nachteilsausgleichsmassnahmen an der<br />
gibb überhaupt in Betracht gezogen werden, wissen die Gesuchsteller<br />
bereits Bescheid, in welche Richtung es gehen könnte.»<br />
Auch die Lehrbetriebe seien inzwischen ausreichend gut informiert<br />
über die Vorgehensweisen. Entsprechend wirken auch sie<br />
beratend ein und können über das Vorgehen informieren. «So<br />
kommt es eigentlich nie zu Unstimmigkeiten zwischen Gesuchsteller<br />
und Institution», sagt Andy Bula. «Im Gegenteil: Es ist auch<br />
schon vorgekommen, dass Lernende mit Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />
noch während der Lehrzeit die Vereinbarung wieder<br />
aufgelöst haben.»<br />
SYNTHÈSE : COMPENSATION DES<br />
DÉSAVANTAGES DANS LES ÉCOLES<br />
PROFESSIONNELLES<br />
Andy Bula coordonne les mesures de compensation des désavantages<br />
à l’école professionnelle de Berne gibb. L’objectif est<br />
de pallier les désavantages que les élèves souffrant d’un handicap<br />
peuvent rencontrer. Le diagnostic le plus fréquent est le<br />
trouble du déficit de l’attention avec ou sans hyperactivité, plus<br />
connu sous le sigle TDAH. Les élèves qui en sont atteints<br />
peuvent télécharger un formulaire de demande de compensation<br />
des désavantages sur le site Internet de l’école professionnelle,<br />
le remplir et l’envoyer. Andy Bula examine les demandes reçues<br />
et propose les mesures adaptées : temps supplémentaire, utilisation<br />
d’ouvrages de référence, autorisation de poser des questions.<br />
Sur les quelque 1800 apprentis et apprenties que compte<br />
la section technologies de l’information et de l’énergie, près de<br />
80 demandes ont été déposées et acceptées. Pour les élèves<br />
concernés, les mesures conclues font office de soutien mental :<br />
ils savent qu’ils peuvent y recourir en cas d’urgence. Or, bien<br />
souvent, ils ne les utilisent même pas.<br />
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