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Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/Formation professionnelle<br />

Unter den Begriff «Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung»<br />

fallen Massnahmen mit dem Ziel, behinderungsbedingte<br />

Nachteile von Lernenden auszugleichen. Die Bildungs- und Kulturdirektion<br />

des Kantons Bern hat 2018 entsprechende Richtlinien<br />

zur Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen verabschiedet.<br />

Diese Richtlinien bezwecken eine einheitliche Umsetzung<br />

bei qualifikationsrelevanten Leistungserhebungen. Auch<br />

Lernende mit einer Beeinträchtigung sollen ihr Potenzial ausschöpfen<br />

und sich optimal auf ihre berufliche Zukunft vorbereiten<br />

können.<br />

In der Berufsbildung betrifft dies bestimmte Anpassungen<br />

im Ausbildungsprozess und in den Qualifikationsverfahren. Andy<br />

Bula, stellvertretender Leiter der Abteilung für Informations- und<br />

Energietechnik an der Berufsfachschule Bern, koordiniert innerhalb<br />

der Abteilung die Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen.<br />

Und schildert für <strong>EDUCATION</strong> einen typischen Fall: «Die<br />

häufigste Diagnose ist wohl die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-<br />

bzw. Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt als ADHS.<br />

Weitere Fälle, die vorkommen, sind Legasthenie, Dyslexie, Asperger-Syndrom<br />

oder bestimmte Formen von Körperbehinderungen<br />

und Angststörungen.»<br />

Sind Lernende davon betroffen, können sie auf der Website<br />

der Berufsfachschule das Formular für ein Gesuch um Nachteilsausgleich<br />

herunterladen, ausfüllen und einreichen. «Dies geschieht<br />

oft noch vor dem ersten Lehrjahr. Voraussetzung dafür<br />

ist das schriftliche Attest einer anerkannten Fachstelle, etwa vom<br />

schulpsychologischen Dienst, von der kantonalen Erziehungsberatung<br />

oder von einer neuropsychologischen Praxis.»<br />

Keine inhaltlichen Anpassungen<br />

Formular und Fachbericht treffen via Klassenlehrperson bei Andy<br />

Bula ein. «Nun ist es an mir, das Gesuch zu prüfen und mit bestehenden<br />

Fällen an der gibb zu vergleichen. Dann setze ich eine<br />

schriftliche Vereinbarung auf, in der die entsprechenden Massnahmen<br />

festgelegt werden.» Die häufigsten Massnahmen – gerade<br />

bei ADHS-Fällen – sind Zeitzuschläge, die Verwendung von<br />

Nachschlagewerken oder die Erlaubnis, bei Unklarheiten nachfragen<br />

zu dürfen. Diese Massnahmen kommen sowohl im Unterricht<br />

als auch in Prüfungssituationen zur Anwendung (in der Berufsfachkunde<br />

und im allgemeinbildenden Unterricht). Inhaltlich<br />

erfolgen dabei keine Anpassungen; die Leistungen, welche die<br />

betroffenen Lernenden erbringen müssen, bleiben genau dieselben.<br />

«In der Arbeitswelt wird erwartet, dass bestimmte Handlungskompetenzen<br />

vorhanden sind», so Andy Bula. «Deshalb beziehen<br />

sich die Massnahmen zum Nachteilsausgleich nicht auf<br />

die konkreten Inhalte, sondern auf angemessene, bedarfsgerechte<br />

Unterstützung in einer Prüfungssituation.»<br />

Die Gewährung von Nachteilsausgleichsmassnahmen in den<br />

jeweiligen Lehrbetrieben ist primär professionsabhängig: «Ein<br />

Elektroinstallateur beispielsweise ist in der Berufspraxis vor allem<br />

auf Baustellen unterwegs. Muss er mal einen Arbeitsrapport verfassen,<br />

so dürfte er im Betrieb problemlos zehn Minuten länger<br />

daran arbeiten.» Die Betriebe sind in der Umsetzung grundsätzlich<br />

frei. Bewusstsein und Verständnis für Fälle von Nachteilsausgleich<br />

seien in den Lehrbetrieben zweifellos vorhanden.<br />

Nachteilsausgleichsmassnahmen im Setting von Lehrabschlussprüfungen<br />

– dem sogenannten Qualifikationsverfahren –<br />

werden anhand eines separaten Antrags geregelt, der direkt<br />

beim kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) eingereicht<br />

werden muss. So kann es sein, dass auch bei einer berufspraktischen<br />

Prüfung mehr Zeit gewährt wird. «Etwa bei der<br />

schriftlichen Dokumentation, die ein angehender Informatiker im<br />

Rahmen seiner Prüfung erarbeiten und abgeben muss.» Prüfungserleichterungen<br />

oder angepasste Aufgabenstellungen sind<br />

nicht erlaubt.<br />

Massnahmen als mentaler Rettungsring<br />

Die schriftliche Vereinbarung geht von Abteilungsleiter Andy Bula<br />

zurück zur Klassenlehrperson, die das Dokument an die betroffenen<br />

Lernenden, an deren Eltern und an den Lehrbetrieb weiterreicht.<br />

Sobald die Vereinbarung von allen Beteiligten unterzeichnet<br />

ist, wird sie nach aussen kommuniziert – und tritt per sofort<br />

in Kraft.<br />

«So, wie ich es erlebe, ist die Erteilung von Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />

keine grosse Hexerei», streicht Andy Bula<br />

hervor. «Eine typische, schriftliche Prüfungssituation im allgemeinbildenden<br />

Unterricht dauert eine Stunde. Ein Grossteil der<br />

Klasse gibt die Prüfung bereits vor Ablauf dieser Zeit ab. Da stört<br />

es niemanden, wenn einzelne Lernende mit Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />

noch zehn Minuten länger arbeiten dürfen.»<br />

Auf rund 1800 Lernende der Abteilung für Informations- und<br />

Energietechnik wurden knapp 80 Gesuche für Nachteilsausgleich<br />

eingereicht und bewilligt. «Für die meisten Betroffenen stellen<br />

die vereinbarten Massnahmen einen Rettungsring dar, eine Art<br />

mentale Stütze: Sie wissen, dass sie sich im Notfall daran festhalten<br />

können. Oft machen sie aber gar keinen Gebrauch davon.<br />

Die betroffenen Lernenden wollen so sein wie die anderen auch,<br />

ohne Spezialbehandlung.»<br />

Hin und wieder melden sich Eltern bei Andy Bula, um Fragen<br />

zum konkreten Vorgehen zu stellen. «Solche Beratungsgespräche,<br />

die vor der eigentlichen Gesuchstellung erfolgen, steuern<br />

den Prozess und nehmen etwas Wind aus den Segeln. Indem ich<br />

vorinformiere, welche Nachteilsausgleichsmassnahmen an der<br />

gibb überhaupt in Betracht gezogen werden, wissen die Gesuchsteller<br />

bereits Bescheid, in welche Richtung es gehen könnte.»<br />

Auch die Lehrbetriebe seien inzwischen ausreichend gut informiert<br />

über die Vorgehensweisen. Entsprechend wirken auch sie<br />

beratend ein und können über das Vorgehen informieren. «So<br />

kommt es eigentlich nie zu Unstimmigkeiten zwischen Gesuchsteller<br />

und Institution», sagt Andy Bula. «Im Gegenteil: Es ist auch<br />

schon vorgekommen, dass Lernende mit Nachteilsausgleichsmassnahmen<br />

noch während der Lehrzeit die Vereinbarung wieder<br />

aufgelöst haben.»<br />

SYNTHÈSE : COMPENSATION DES<br />

DÉSAVANTAGES DANS LES ÉCOLES<br />

PROFESSIONNELLES<br />

Andy Bula coordonne les mesures de compensation des désavantages<br />

à l’école professionnelle de Berne gibb. L’objectif est<br />

de pallier les désavantages que les élèves souffrant d’un handicap<br />

peuvent rencontrer. Le diagnostic le plus fréquent est le<br />

trouble du déficit de l’attention avec ou sans hyperactivité, plus<br />

connu sous le sigle TDAH. Les élèves qui en sont atteints<br />

peuvent télécharger un formulaire de demande de compensation<br />

des désavantages sur le site Internet de l’école professionnelle,<br />

le remplir et l’envoyer. Andy Bula examine les demandes reçues<br />

et propose les mesures adaptées : temps supplémentaire, utilisation<br />

d’ouvrages de référence, autorisation de poser des questions.<br />

Sur les quelque 1800 apprentis et apprenties que compte<br />

la section technologies de l’information et de l’énergie, près de<br />

80 demandes ont été déposées et acceptées. Pour les élèves<br />

concernés, les mesures conclues font office de soutien mental :<br />

ils savent qu’ils peuvent y recourir en cas d’urgence. Or, bien<br />

souvent, ils ne les utilisent même pas.<br />

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