Saargeschichten Ausgabe 1_21
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saargeschichte|n<br />
62 heft 1_<strong>21</strong><br />
magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />
der krieg, die saar und das reich<br />
zur rückkehr der monumentalgemälde anton von werners nach saarbrücken<br />
Einzelpreis 5,– EUR 17. Jahrgang
Kleine Abbildung:<br />
<strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />
Nach dem erfolgreichen Restart des Landkreis-Neunkirchen-Buches im Jahr 2017, liegt nun<br />
der zweite Band des beliebten Buches vor. In der 2. <strong>Ausgabe</strong> finden Sie einen Sonderteil<br />
zum 150-jährigen Bestehen der Kreissparkasse Neunkirchen sowie viele weitere spannende<br />
Berichte zur Geschichte und Entwicklung des Landkreises.<br />
Sie erhalten die Bände im Buchhandel oder direkt in unserem Shop: edition-schaumberg.shop<br />
Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />
288 Seiten, Festeinband, großes Format, durchgeh.farbig, ISBN 978-3-941095-47-2, 25,00 EUR<br />
Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> II – 2020<br />
288 Seiten, Ausführung wie <strong>Ausgabe</strong> I, ISBN 978-3-941095-70-0, 25,00 EUR<br />
Brunnenstraße 15 · 66646 Marpingen · Telefon 06853 502380 · info@edition-schaumberg.de<br />
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das ding aus der saargeschichte<br />
saargeschichte|n 3<br />
Einen Schönheitspreis würde man für dieses eiserne Ding aus der Saargeschichte<br />
wohl kaum vergeben. Einen Friedenspreis erst recht nicht. Denn das, was hier<br />
auf dem Raum einer kleinen Platte vereinigt ist, sorgte einst für tausendfachen<br />
Tod. Ob Kartätschenkugel, Granate oder das Geschoss eines Zündnadelgewehrs:<br />
Es braucht keine große Phantasie, um sich vorzustellen, welche Folgen es hatte,<br />
wenn diese Dinge auf Menschen trafen. Und genau das taten sie an dem Tag, der<br />
auf der gusseisernen Platte verewigt ist. Am 6. August 1870 tobte vor den Toren<br />
Saarbrückens eine der ersten Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges. Die<br />
Schlacht von Spichern, die die Region und ihr politisches Selbstverständnis so<br />
nachhaltig geprägt hat wie kaum ein anderes Kapitel der Saargeschichte.<br />
Die Verwandlung der Mordinstrumente zum Briefbeschwerer folgte einstmals<br />
natürlich nicht der Devise »Schwerter zu Pflugscharen«. Als Preußen und Franzosen<br />
im August 1870 mit schrecklichen Folgen aufeinander schossen, war der<br />
Krieg noch ein legitimes Mittel der internationalen Politik. Am Ende des neunmonatigen<br />
Waffengangs war in Frankreich das Seconde Empire untergegangen,<br />
in Deutschland das Zweiten Kaiserreich unter preußischer Führung entstanden.<br />
In der Euphorie um die Geburt des langersehnten Nationalstaats wurden die<br />
Kriegserinnerungen gerade an der Saar in unendlich vielen Facetten festgehalten<br />
und verklärt. Ein heute bestenfalls skurril wirkender Briefbeschwerer gehörte<br />
dazu ebenso wie ein monumentaler Gemäldezyklus, der zum zehnjährigen<br />
Jahrestag von Spichern 1880 im Alt-Saarbrücker Rathaus installiert wurde.<br />
Die Historienbilder des preußischen<br />
Hofmalers Anton von Werner machten<br />
das Saarbrücker Rathaus einst zu<br />
einer Ruhmeshalle des kaiserzeitlichen<br />
Deutschland und zu einer Pilgerstätte<br />
für saarländische Lokal-Patrioten.<br />
Nach fast 80-jähriger Pause kehren<br />
die Monumentalgemälde<br />
jetzt an den Ort ihrer langlebigen<br />
Verehrung zurück. Im<br />
Historischen Museum am<br />
Schlossplatz werden sie<br />
künftig eine herausragende<br />
Gelegenheit<br />
bieten, um über<br />
elementare Dinge aus<br />
Geschichte und Gegenwart<br />
zu diskutieren: über Krieg und Frieden,<br />
über Nationalismus und Internationalismus, über<br />
Frankreich, Deutschland und das Saarland. In der Titelstory<br />
dieses Heftes beginnen wir schon mal mit der Diskussion.<br />
Foto: © Fabian Barbknecht
impressum<br />
inhalt<br />
Herausgeber Edition Schaumberg, Brunnenstr. 15,<br />
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Die saargeschichte|n im Internet saargeschichten.<br />
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Saargegend e.V. und vom Landesverband der historisch-kulturellen<br />
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Redaktion Ruth Bauer, Dr. Paul Burgard,<br />
Bernhard W. Planz, Dr. Jutta Schwan<br />
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<strong>Saargeschichten</strong>)<br />
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Das Ding aus der Saargeschichte 3<br />
Werner Klär Bürgermeister ausgewiesen! 5<br />
Beamtenstreik mit Folgen<br />
Paul Burgard Der Krieg, die Saar, das Reich 12<br />
Geschichte auf 55 Quadratmetern: Zur Rückkehr der Monumentalgemälde<br />
Anton von Werners nach Saarbrücken<br />
Sabine Graf St. Wendel und Gurs –<br />
Verbindungen über Zeit und Raum hinaus 30<br />
Vom Leben und Sterben des Bildhauers und Malers Otto Freundlich in Zeiten<br />
des NS-Terrors und dem Weiterleben seiner Idee in St. Wendel<br />
Kathrin Elvers-Svamberg Welt – Bühne – Traum 40<br />
»Die Brücke« im Atelier<br />
Christel Bernard Ein seltenes Fundensemble 46<br />
Die Filterzisterne der Liebenburg nebst Einlaufstein<br />
Bernhard H. Bonkhoff Saar-Dank- und Saar-Befreiungskirche 49<br />
Die evangelische Saarpfalz im Umbruch des Jahres 1935<br />
regionalgeschichte im unterricht<br />
Eva Kell Die Jahrtausendfeier 1925 an der Saar 60<br />
»… diese wuchtige Ballung eines stählernen Willens …«<br />
oder: »Riesenparty für das Deutsche Reich«<br />
Ausstellungen + Neue Publikationen 62<br />
Ach du liebe Zeit … Die Glosse in den saargeschichte|n 64<br />
saargeschichte|n bildet … 66<br />
Hinweis zum Titelbild<br />
Ankunft König Wilhelm I. von Preußen<br />
in Saarbrücken am 9. August 1870.<br />
[(DHM, Inv. Nr. 1987/304) © Deutsches<br />
Historisches Museum, A. Psille]
ürgermeister ausgewiesen!<br />
saargeschichte|n 5<br />
Beamtenstreik mit Folgen<br />
von werner klär<br />
Der Zufall machte auf die folgende brisante historische<br />
Episode aufmerksam. Auf eine Anfrage<br />
aus Eppelborn wurde im Stadtarchiv Friedrichsthal<br />
die Personalakte von Ernst Ballke, dem<br />
ehemaligen Bürgermeister von Friedrichsthal<br />
(1915–1920), gezogen 1 , der elf Jahre in Eppelborn<br />
Bürgermeister war, sodass es einige Berührungspunkte<br />
gibt. Die Personalakte enthält neben dem<br />
Schriftverkehr über Gehaltsfortzahlungen des<br />
1920 aus dem Saargebiet ausgewiesenen Bürgermeisters<br />
auch Unterlagen, wie die Gemeinde mit<br />
diesem Problem umgegangen ist.<br />
Ernst Ballke, Jahrgang 1871, geboren in Mönchengladbach,<br />
war nach einer Ausbildung in der<br />
Kommunalverwaltung Mülheim von 1897 bis<br />
1904 Beigeordneter in Neunkirchen, von 1904<br />
bis 1915 Bürgermeister in Eppelborn, bis er am 12.<br />
Dezember 1915 zum Bürgermeister von Friedrichsthal<br />
berufen wurde. 2 In seine Amtszeit während<br />
des Ersten Weltkrieges fallen laut Schaetzing<br />
vor allem die öffentliche Lebensmittelbewirtschaftung,<br />
die Einrichtung der Milchwirtschaft,<br />
eine kommunale Schuhwerkstatt, die Solbadanlage<br />
im Rathaus, die Wohnungsbeschaffung<br />
und »Pflege des vaterländischen Gedankens«.<br />
Schaetzing bewertet die Amtszeit durchaus als<br />
positiv, nur die Auflösung der Realschule und<br />
die Nutzung des Gebäudes als Rathaus habe<br />
1 Stadtarchiv Friedrichsthal Inv. Nr. 1651/2.<br />
2 Vgl. Schaetzing, Wilhelm: Friedrichsthal-Bildstock. Eine geschichtliche<br />
Heimatkunde. Saarbrücken 1926, S. 52f.; ebenso:<br />
Die Bürgermeister von Friedrichsthal, in: Friedrichsthal<br />
1880–1980. Festbuch, hrsg. vom Heimat- und Verkehrsverein<br />
Friedrichsthal-Bildstock e.V. aus Anlass des 100-jährigen<br />
Bestehens der Gemeindeverwaltung. Juni 1980, S. 79.<br />
Dort steht noch zusätzlich, dass der französische oberste<br />
Militärbefehlshaber des Saargebietes seine Ausweisung<br />
verfügt habe. Er sei in seiner Dienstwohnung festgenommen<br />
worden und einige Tage später an der Rheinbrücke<br />
in Mannheim ins Rechtsrheinische abgeschoben worden.<br />
bei manchen Eltern keine<br />
Zustimmung erhalten. Lapidar<br />
ist auch zu lesen, dass<br />
»er in der Nacht vom 10. zum<br />
11. August von den Franzosen<br />
verhaftet und ausgewiesen«<br />
worden sei. Gründe hierfür<br />
führt der Lokalhistoriker hier<br />
nicht auf, was zu Spekulationen<br />
Anlass gab und gibt.<br />
Der Beamtenstreik im August 1920<br />
Nach dem verlorenen Krieg und dem Versailler<br />
Vertrag wurde das neugeschaffene Saargebiet<br />
für 15 Jahre einer internationalen Regierungskommission<br />
des Völkerbundes unterstellt. Nachdem<br />
am 10. Januar 1920 das Saarstatut in Kraft<br />
getreten war, übernahm am 26. Februar die Kommission<br />
die Regierung, wobei die Einwohner von<br />
politischer Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen<br />
waren. Französische Besatzungstruppen<br />
blieben im Land, viele ausländische<br />
Funktionäre, vor allem Franzosen, übernahmen<br />
Regierungsämter und Spitzenpositionen in Verwaltung<br />
und Justiz. 3 Konflikte waren so vorprogrammiert.<br />
Zu einem großen Streit kam es<br />
über die Frage der Einstellung der Beamtenschaft<br />
in den Dienst der Regierungskommission.<br />
Dabei geht es zunächst um die »Verfügung betr.<br />
die Beamten im Saargebiet« 4 vom 16. März 1920.<br />
Darin heißt es unter anderem:<br />
»§1. […] Indessen steht es jetzt schon und während<br />
eines Verlaufes von 6 Monaten vom Tage<br />
an gerechnet, an dem die Verhandlungen bezüglich<br />
der Übernahme der Beamten mit Deutschland<br />
abgeschlossen sein werden, der Regierungs-<br />
3 Vgl. Behringer, Wolfgang/ Clemens, Gabriele: Geschichte<br />
des Saarlandes. München 2009, S. 94f.<br />
4 Vgl. Amtsblatt der Regierungskommission des Saargebietes,<br />
Nr. 1 vom 17. April 1920, S. 3f.<br />
Ernst Ballke (1871–<br />
1955), Bürgermeister<br />
von Friedrichsthal<br />
1915–20. (Foto aus:<br />
Schaetzing, S.52)
Titelseite der Nr.<br />
9 des Amtsblattes<br />
der Regierungskommission<br />
des<br />
Saargebietes vom<br />
14. August 1920 aus<br />
dem Stadtarchiv<br />
Friedrichsthal, Band<br />
original mit einem<br />
Lesezeichen auf<br />
dieser Seite 51! Das<br />
Statut umfasst die<br />
Seiten 51–54. Original<br />
mit zwei Brandlöchern<br />
oben links im<br />
und über dem »Das«,<br />
Handschriftliche<br />
Notiz (rechts oben):<br />
»Geändert durch Verordnung<br />
v. 25./1.33.<br />
(Reg. Amtsbl. 1933,<br />
S.22«)<br />
Rechts: Aus Amtsblatt<br />
der Regierungskommission<br />
des Saargebietes,<br />
S. 69.<br />
kommission frei, auf ihre Dienste zu verzichten<br />
[…].« Dies sahen die Beamten mit Sorge, denn<br />
man befürchtete die Suspendierung und die Einstellung<br />
von französischer Beamten, wobei im<br />
Raume stand, Französisch als Amtssprache einzuführen.<br />
5 Gerade in den durch den Friedensvertrag<br />
abgetrennten Gebieten war die Beamtenfrage<br />
kompliziert. 6 Bereits vor Antritt der<br />
Regierungskommission war es durch die fran-<br />
5 Vgl. Eingabe der politischen Parteien des Saargebiets an<br />
den Völkerbund in der Beamtenfrage (Anfang Juli 1920)<br />
(Nr.1<strong>21</strong>), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens<br />
und des Vertrages von Versailles.<br />
Als Weißbuch von der deutschen Regierung dem<br />
Reichstag vorgelegt. Berlin 19<strong>21</strong>, S. 184f. (online abrufbar<br />
unter https://archive.org/details/dassaargebietunt-<br />
00germ/page/n6).<br />
6 Vgl. zum Folgenden Jacoby, Fritz: Die nationalsozialistische<br />
Herrschaftsübernahme an der Saar. Die innenpolitischen<br />
Probleme der Rückgliederung des Saargebietes bis<br />
1935. Saarbrücken 1973 (Veröffentlichungen der Kommission<br />
für Landesgeschichte und Volksforschung VI), S. 27–29.<br />
Zu den Ausweisungen vor 1920 vgl. Eckler, Otto: Die Ausweisungen<br />
aus dem Saargebiet, in: Vogel, Theodor: Der<br />
Saar-Befreiungskampf im Reich 1918–1925. Berlin 1935, S.<br />
<strong>21</strong>2–<strong>21</strong>4.<br />
zösische Militärverwaltung zu Ausweisungen<br />
höherer Beamter gekommen, was den Einfluss<br />
der deutschen Beamtenschaft minderte. Verschiedene<br />
Landratsämter waren so neu besetzt<br />
worden und auch in der Kommunalverwaltung<br />
gab es Ende 1920 unbesetzte Bürgermeisterstellen,<br />
etwa Ottweiler, Saarlouis, Friedrichsthal<br />
und Sulzbach.<br />
Die Einflussnahme der deutschen Reichsregierung<br />
zeigte sich unmittelbar nach Amtsantritt<br />
der Regierungskommission darin, dass<br />
man über den Reichskommissar für die Übergabe<br />
des Saargebietes von Groote in Verhandlungen<br />
über die Beamtenfrage mit dieser<br />
trat. 7 Die deutschen Beamten wurden der<br />
Regierungskommission zur Verfügung gestellt,<br />
weitere Zusagen von der Regierungskommission<br />
gemacht. Allerdings legte dann die Kommission<br />
einen Entwurf des Beamtenstatuts vor, der<br />
die vorher gemachten Zusagen nicht zu verwirklichen<br />
schien und die Gegenvorschläge<br />
der Beamtenschaft nicht berücksichtigte 8 , was<br />
schließlich zu einem Streik der Beamtenschaft<br />
führte, dem sich die saarländische Bevölkerung<br />
in einem eintägigen Sympathiestreik anschloss. 9<br />
Der Belagerungszustand war am 6. August<br />
wegen des Streiks des Eisenbahnpersonals<br />
verhängt worden 10 , Zeitungsverbote wurden<br />
7 Vgl. Bericht über die Verhandlungen zwischen dem Reichskommissar<br />
für die Übergabe des Saargebietes und der Regierungskommission<br />
für das Saargebiet über Beamtenfragen<br />
am 24. April 1920 (Nr. 109), in: Das Saargebiet unter<br />
der Herrschaft …, S. 154–158.<br />
8 Vgl. die Übersicht über die Verhandlungen in: Das Saargebiet<br />
unter der Herrschaft …, S. 154–189; dort auch die Gegenvorschläge<br />
der Beamtenschaft (Nr. 120), S. 174–182.<br />
9 Vgl. Zenner, Maria: Parteien und Politik im Saargebiet unter<br />
dem Völkerbundsregime 1920–1935. (Veröffentlichungen<br />
der Kommission für saarländische Landesgeschichte<br />
und Volksforschung III) Saarbrücken 1966, S. 60.<br />
10 Vgl. Verhängung des Belagerungszustandes im Saargebiet<br />
(Nr. 124), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …,<br />
S. 190.
saargeschichte|n 7<br />
ausgesprochen. 11 Am 14. August endete der<br />
Belagerungszustand. 12<br />
Der Beamtenstreik im August 1920 war die erste<br />
große Machtprobe zwischen der Regierungskommission<br />
und Saarbevölkerung, was allerdings<br />
in der neueren Geschichtsforschung wenig<br />
Aufmerksamkeit findet. 13 In der zeitgenössischen<br />
Literatur ist das anders. Der als »Weißbuch« von<br />
der deutschen Regierung dem Reichstag 19<strong>21</strong> vorgelegte<br />
Band mit dem Titel »Das Saargebiet unter<br />
der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens<br />
und des Vertrages von Versailles« widmet diesen<br />
Ereignissen unter Kapitel XI. (Beamtenfrage,<br />
Beamtenstreik, Massenausweisungen) mehr als<br />
ein Viertel der 362 Seiten aus der Zeit vom 16.<br />
März 1920 bis 24. Juni 19<strong>21</strong>. 14 Hugo Anschütz veröffentlichte<br />
1922 das Buch »Der Kampf der Saarbeamten<br />
unter der Völkerbundsregierung«, das<br />
sich ausgiebig mit den Ereignissen beschäftigt. 15<br />
Die Ausweisung des Bürgermeisters<br />
Über die Aktion gegen Bürgermeister Ballke gibt<br />
ein »Bericht ausgewiesener Bürgermeister« im<br />
»Weißbuch« Auskunft. In der Nacht vom 10. zum<br />
11. August wurde Ballke zusammen mit dem<br />
Bürgermeister von Sulzbach Rudolf Eymael 16 von<br />
der französischen Militärbehörde verhaftet und<br />
nach Saarbrücken gebracht. Bereits am 8. August<br />
hatten Hausdurchsuchungen stattgefunden.<br />
Zusammen mit weiteren 17 Inhaftierten wurden<br />
die Bürgermeister dann weiter nach Zweibrücken<br />
verbracht und am nächsten Morgen<br />
nach Germersheim auf die rechte Rheinseite<br />
weitertransportiert und abgeschoben. Über die<br />
Gründe der Verhaftung und Abschiebung wurde<br />
ihnen, laut Aussage der beiden Bürgermeister,<br />
keine Mitteilung gemacht. Es scheint so zu sein,<br />
dass willkürlich Personen verhaftet wurden, denn<br />
es finden sich neben den beiden Bürgermeistern,<br />
ein Amtsgerichtsrat, ein evangelischer Pfarrer,<br />
vier Lehrer, drei Kommunalbeamtensekretäre, ein<br />
Gemeindebaumeister, ein Rechtsanwalt, zwei<br />
Redakteure, ein »Cafetier« sowie drei »Privatbeamte«.<br />
17<br />
In einem »Bericht über den Verlauf des Beamtenstreiks<br />
und die Massenausweisungen« 18 ist zu<br />
lesen, dass im Zuge des Streiks auch das saarländische<br />
Regierungskommissionsmitglied Alfred<br />
von Boch sein Mandat zurückgab. 19 Die<br />
Bevölkerung habe sich ruhig verhalten, denn es<br />
11 Vgl. Zeitungsverbote im Saargebiet (Nr. 128), in: Das Saargebiet<br />
unter der Herrschaft …, S. 195f. Betroffen hiervon<br />
waren die Saarbrücker Zeitung mit ihrem Ableger Völklinger<br />
Zeitung (128a), die Landeszeitung (Nr. 128b) sowie<br />
die Saar-Zeitung (128c). Über die Vorgänge bei der Saarbrücker<br />
Zeitung berichtet ausführlich der ehemalige Redakteur<br />
Ludwig Bruch, in: 200 Jahre Saarbrücker Zeitung<br />
(1761–1961), S. 154…160.<br />
12 Vgl. Beendigung des Streiks; Aufhebung des Belagerungszustandes<br />
(14. August 1920). (Nr. 141), in Das Saargebiet<br />
unter der Herrschaft …, S. 205.<br />
13 Als neuere Arbeit ist z.B. zu nennen Becker, Frank G:<br />
»Deutsch die Saar, immerdar!« Die Saarpropaganda des<br />
Bundes der Saarvereine 1919–1935, Saarbrücken 2007<br />
(Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische<br />
Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. 40), S. 134/135.<br />
Er handelt das Thema Beamtenstreik knapp in Zusammenhang<br />
mit der Einflussnahme deutscher Stellen auf<br />
den Streik ab.<br />
14 Die Dokumentensammlung ist im Tenor naturgemäß<br />
eher gegen die Regierungskommission des Saargebietes<br />
gerichtet und betont die prodeutschen Aspekte.<br />
15 Vgl. Anschütz, Hugo: Der Kampf der Saarbeamten unter<br />
der Völkerbundsregierung. Frankfurt (Main), 1922.<br />
16 Zu Eymael vgl. Schichtel, Horst Dieter: Die Entwicklung<br />
der Kommunalverwaltung und Kommunalvertretung in<br />
Sulzbach von 1727 bis heute, in: Sulzbach/Saar mit Altenwald,<br />
Brefeld, Hühnerfeld, Neuweiler, Schnappach. Eine<br />
Stadt im Wandel der Zeiten. Hrsg. von Jüngst, Karl Ludwig/<br />
Staerk, Dieter im Auftrag der Stadt Sulzbach. Sulzbach<br />
1993. » […] es war bekannt, daß Bürgermeister Eymael<br />
im Grunde seines Herzens kein Anhänger der<br />
neuen politischen Verhältnisse war. In Zusammenhang<br />
mit dem großen Beamtenstreik im August 1920 wurde<br />
Eymael von den Franzosen aus dem Saargebiet als politisch<br />
mißliebige Person ausgewiesen.«, S. 283, mit Anmerkung<br />
102) SAS [Stadtarchiv Sulzbach] Tagebuch Eymaels,<br />
S. 12.<br />
17 Vgl. Bericht ausgewiesener Bürgermeister (Nr. 144), in:<br />
Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. <strong>21</strong>6<br />
18 Vgl. Bericht über den Verlauf des Beamtenstreiks und die<br />
Massenausweisungen (Nr. 143), in: Das Saargebiet unter<br />
der Herrschaft …, S. <strong>21</strong>3–<strong>21</strong>5. Vgl. auch Eckler, S. <strong>21</strong>4.<br />
19 Vgl. hierzu Société des Nations, Journal Officiel, Genf I,7<br />
(1920), S. 400–404. Dort wird Dr. Jakob Hector aus Saarlouis<br />
als Nachfolger von Bochs ernannt (S. 404). (online<br />
abrufbar unter https://gallica.bnf.fr/ark:/1<strong>21</strong>48/<br />
bpt6k97859916). Im Amtsblatt des Völkerbundes wird<br />
immer wieder die Selbstständigkeit der Regierungskommission<br />
betont, vgl. Zenner, S. 61–63., was dazu führte,<br />
dass »der Prozess zur eindeutigen Festlegung der Saarbevölkerung<br />
gegen die Regierungskommission rasch<br />
fort[schritt].«, Zenner, S. 63.
Aus: Das Saargebiet<br />
unter der Herrschaft<br />
des Waffenstillstandsabkommens<br />
und des Vertrages<br />
von Versailles. Als<br />
Weißbuch von der<br />
deutschen Regierung<br />
dem Reichstag vorgelegt.<br />
(Berlin 19<strong>21</strong>,<br />
S. <strong>21</strong>6)<br />
sei zu keinen Zusammenstößen mit dem Militär<br />
gekommen. Allerdings sollen einige kleine<br />
Sabotageakte an Bahn- und Telegrafeneinrichtungen<br />
erfolgt sein. Das Militär sei äußerst<br />
brutal gegen die dem Dienst ferngebliebenen<br />
Beamten vorgegangen und soll sogar in den Wäldern<br />
»eine regelrechte Jagd« nach geflüchteten<br />
Beamten veranstaltet haben. Die Wiederaufnahme<br />
der Gespräche mit der Regierungskommission<br />
seien zunächst daran gescheitert,<br />
dass man vonseiten der Kommission behauptete,<br />
»der ganze Streik sei eine von alldeutschen Elementen<br />
und Drahtziehern außerhalb des Saargebiets<br />
eingefädelte Meuterei.« Nach einigen<br />
Zugeständnissen habe die Streikleitung<br />
die Arbeitsaufnahme am 14. August wieder<br />
angeordnet. Aber das Militär habe »mit Gewalt<br />
durchgegriffen und häufig jedes Maß überschritten.«<br />
Anfänglich sei es nur gegen Beamte<br />
vorgegangen, doch dann habe man dies benutzt,<br />
»um mißliebige Elemente zu entfernen.« So hätten<br />
bereits am 8. August Haussuchungen, Verhaftungen<br />
und Ausweisungen stattgefunden:<br />
»Scheinbar wahllos wurden im ganzen Saargebiet<br />
Leute aller Stände aufgegriffen.« Dies<br />
deckt sich mit den Angaben der beiden ausgewiesenen<br />
Bürgermeister. Die Zahl der Ausgewiesenen<br />
habe annähernd 200 betragen. 20<br />
Interessant ist der Hinweis, dass die Regierungskommission<br />
von den Ausweisungen überrascht<br />
worden sei. Sie habe sie nicht gebilligt<br />
und wohl auch Schritte unternommen, sie einzuschränken.<br />
Zwischen dem Präsidenten der<br />
Regierungskommission und dem General Brissaud-Desmaillet<br />
sei es zu Auseinandersetzungen<br />
wegen der Übergriffe einzelner Militärpersonen<br />
gekommen. <strong>21</strong> Auch ist die Rede davon, dass die<br />
Massenausweisungen bei der Bevölkerung einen<br />
ungeheuren Eindruck gemacht hätten. Die Ausweisungen<br />
hätten sie »mit aller Wucht« gerührt.<br />
Von den Ausgewiesenen sei ein Teil bereits wieder<br />
zurückgekehrt. Abschließend heißt es: »Ob<br />
die Regierungskommission alle Ausweisungen<br />
als hinfällig betrachtet, ist nicht feststellbar.«<br />
So wurden auch die Bemühungen des Gemeinderates<br />
von Friedrichsthal am 25. August 1920 um<br />
die Rückkehr des Bürgermeisters abschlägig<br />
beschieden: »[…] wird mitgeteilt, dass nicht<br />
beabsichtigt wird, den während des letzten<br />
Streikes von hier rechtsrheinisch ausgewiesene<br />
Bürgermeister Ballke zurückkommen zu lassen.«,<br />
so der stellvertretende Regierungskommissar<br />
für die Abteilung des Innern Jean<br />
20 Vgl. die Liste bei Eckler, S. <strong>21</strong>6f.; dort werden 230 Personen<br />
aufgeführt, die von den Ausweisungen 1919/20 betroffen<br />
waren. Ballke taucht dort gleich zweimal auf, einmal<br />
unter B mit richtiger Schreibweise, dann auch unter H als<br />
Halke. Was die Namen der 1919 ca. 400 ausgewiesenen<br />
Bergleute betrifft, weist Eckler darauf hin, dass es nicht<br />
möglich gewesen sei, die Namen zu ermitteln.<br />
<strong>21</strong> Vgl. Société des Nations, Journal Officiel, 2/7 (19<strong>21</strong>), S. 687,<br />
( online abrufbar unter https://gallica.bnf.fr/ark:/1<strong>21</strong>48/<br />
bpt6k9782608q) was dem widerspricht, denn dort wird<br />
auf den Bericht Raults an den Völkerbund vom 18. August<br />
1920 Bezug genommen, in dem es u.a. heißt: »Au cours<br />
de la grève, des troupes de garnison mises à ma disposition<br />
pour le maintien de l’ordre m’ont prêté le plus précieux<br />
et le plus dévoué concours. Le général Brissaut-Desmaillet,<br />
commandant les troupes du Territoire de la Sarre,<br />
s’est tenu en rapports constants avec le Président de la<br />
Commission de gouvernement, plein de déférence pour<br />
ses conseils. De mon côté, je lui ai laissé complète liberté<br />
d’assurer l’ordre par les moyens à sa convenance. Il a cru<br />
devoir prendre des arrêtés d’expulsion contre une centaine<br />
de pangermanistes notoires, presque tous Allemands<br />
étrangers à la Sarre, et qu’il considérait comme susceptibles<br />
d’entretenir l’agitation … .«.
saargeschichte|n 9<br />
Morize am 27. August 1920. 22 Interessant hierbei<br />
ist der Hinweis im Beschlussbuch des Gemeinderates<br />
von Friedrichsthal, der unter Vorsitz von<br />
Bezirksvorsteher Nikolaus Schnuer tagte, dass<br />
der Gemeinderat »dem Wunsche Ausdruck<br />
[gibt], daß bei eventl. wieder vorzunehmenden<br />
Verhaftungen in der Gemeinde unter allen<br />
Umständen auch der Gemeinderat über den<br />
Leumund des Verhafteten gehört werden möge,<br />
damit nicht Unschuldige dem Denunzianten zum<br />
Opfer fallen.« 23 Die Antwort enthält auch den<br />
wichtigen Hinweis, dass die vorgenommenen<br />
Verhaftungen unter dem Belagerungszustand<br />
stattgefunden hätten, bei welchem die Entscheidung<br />
allein der Militärbehörde zukomme.<br />
Nach Aufhebung des Belagerungszustandes<br />
würden keine weiteren Verhaftungen mehr vorgenommen.<br />
Am 23. September beschließt der Gemeinderat<br />
vor Eintritt in die Tagesordnung auf einen Dringlichkeitsantrag<br />
der U.S.P. (Unabhängige Sozialistische<br />
Partei) hin, dem 1919 ausgewiesenen Steiger<br />
E. vorläufig 500 Mk. als Entschädigung zu<br />
zahlen, während das Gehalt des Bürgermeisters<br />
Ballke gesperrt bleibt bis zur Klärung des Sachverhaltes,<br />
wobei bis zur nächsten Gemeinderatssitzung<br />
geklärt werden soll, ob eine Sperrung<br />
des Gehaltes gesetzlich zulässig ist. Dies<br />
wird an den Landrat weitergeleitet. Die Sitzung<br />
am 1. Oktober beschließt dann, gegen Ballke ein<br />
Disziplinarverfahren einzuleiten. Am 28. Oktober<br />
teilt der Landrat mit, dass eine Sperrung des<br />
Gehaltes gesetzlich unzulässig sei, allerdings<br />
könne über die Einbehaltung des Gehaltes erst<br />
nach Eröffnung des Disziplinarverfahrens eine<br />
Entscheidung ergehen. Das Verfahren sei aber<br />
bis jetzt noch nicht eröffnet, sogar noch nicht<br />
einmal beantragt. Dies lässt darauf schließen,<br />
dass der Antrag aus Friedrichsthal sich verzögert<br />
hatte, denn dort sollte ein Kontrollausschuss die<br />
Sachlage klären. Am 9. November liegt ein mehrseitiges<br />
Protokoll vor. Am 24. November wird dem<br />
Landrat mitgeteilt, dass gegen Ballke »kein strafgerichtliches<br />
Verfahren wegen den Tatsachen,<br />
aufgrund deren das Disziplinarverfahren eingeleitet<br />
werden soll«, schwebt und auch ein solches<br />
nicht beantragt sei. In der Folge finden sich<br />
dann die weiteren Aktenstücke/Gutachten über<br />
die Rechtmäßigkeit von Gehaltszahlungen an<br />
ausgewiesene Beamte.<br />
Die Bemühungen um eine neue Stelle<br />
Ernst Ballke kam nicht als Bürgermeister zurück.<br />
Für die Zeit ab Ausweisung bis Jahresende 1920<br />
war die Gemeinde Friedrichsthal mit der Gehalts-<br />
Siegelabdruck des<br />
Bürgermeisteramtes<br />
Friedrichsthal<br />
mit dem durch<br />
Verordnung vom<br />
28. Juli 1920 neu<br />
geschaffenen Wappen<br />
des Saargebietes.<br />
Die Gemeinden<br />
wurden verpflichtet,<br />
dieses Wappen im<br />
Gemeindesiegel zu<br />
führen (aus: Klär,<br />
Werner: Das Wappen<br />
von Friedrichsthal, in:<br />
Friedrichsthaler Hefte<br />
1 [1981], S. 6.)<br />
22 Vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte Bürgermeister<br />
Ernst Ballke; vgl. auch Edelmann, Fritz: Unter der Verwaltung<br />
des Völkerbundes 19<strong>21</strong> bis 1925. Denkschrift über<br />
die Tätigkeit der Gemeindeverwaltung Friedrichsthal seit<br />
Uebernahme der Geschäfte durch Bürgermeister Kondruhn,<br />
in: Schaetzing, S. 73. Er berichtet, dass anstelle des<br />
ausgewiesenen Bürgermeisters der Bezirksvorsteher von<br />
Bildstock Nikolaus Schnuer vertretungsweise mit der<br />
Wahrnehmung der Dienstgeschäfte des Bürgermeisters<br />
durch den Landrat beauftragt und durch die Regierungskommission<br />
bestätigt wurde. Am 15. Februar 19<strong>21</strong><br />
wurde Paul Kondruhn zunächst kommissarisch, dann<br />
ab 23. Dezember 19<strong>21</strong> endgültig zum Bürgermeister ernannt.<br />
Siehe auch Verwaltungsbericht der Bürgermeisterei<br />
Friedrichsthal für die Jahre 19<strong>21</strong>–1924, S. 17f. mit fast<br />
identischem Wortlaut (Stadtarchiv Friedrichsthal, Inv.Nr.<br />
366 A 60, Box 3).<br />
23 Vgl. hierzu Linsmayer, Ludwig: Politische Kultur im Saargebiet<br />
1920–1932: symbolische Politik, verhinderte Demokratisierung,<br />
nationalisiertes Kulturleben in einer abgetrennten<br />
Region. St.Ingbert 1992, S. 200f, der unter der<br />
Überschrift »Politik mit anderen Mittel« die Bespitzelung<br />
und Ausgrenzung behandelt. Er betont auch, dass sich<br />
zahlreiche Gemeinderatssitzungen während der Völkerbundszeit<br />
mit den Denunziationsverdächtigungen und<br />
politisch motivierten Kündigungen beschäftigten.<br />
Französische Soldaten<br />
aus Nordafrika<br />
zu Pferd auf dem<br />
Rathausvorplatz in<br />
Friedrichsthal um<br />
1920. (Foto: Privat,<br />
Stadtarchiv<br />
Friedrichsthal)
Eine Militärkapelle,<br />
bestehend aus französischen<br />
Soldaten<br />
der nordafrikanischen<br />
Kolonien, auf dem<br />
Friedrichsthaler<br />
Marktplatz, wahrscheinlich<br />
am französischen<br />
Nationalfeiertag<br />
Anfang der<br />
1920er Jahre. (Foto:<br />
Privat. Stadtarchiv<br />
Friedrichsthal)<br />
zahlung in Vorlage getreten, was sie nun von<br />
verschiedenen amtlichen Stellen zurückhaben<br />
wollte. Ballke sollte zunächst mit der Vertretung<br />
des Bürgermeisters der Gemeinde Windesheim<br />
bei Bad Kreuznach beauftragt werden,<br />
was allerdings nicht erfolgte, da die Rheinlandkommission<br />
dagegen Einspruch erhoben hatte.<br />
24 In einem Schreiben vom 31. Januar 19<strong>21</strong> teilt<br />
er dem Friedrichsthaler Rathauschef mit, dass er<br />
»nach Kräften und ernstlich bemüht« sei, »sobald<br />
als möglich eine anderweitige gleichwertige<br />
Anstellung zu bekommen«, um »die Gemeinde<br />
von weiteren Verpflichtungen zu entlasten.« Am<br />
29. April 19<strong>21</strong> wurde Ballke zum stellvertretenden<br />
Bürgermeister von Dabringhausen ernannt,<br />
mehr als drei Jahre später, im August 1924 dann<br />
zum Bürgermeister gewählt. 25<br />
Welche Rolle Ballke beim Beamtenstreik gespielt<br />
hatte, wird aus der Personalakte nicht deutlich.<br />
Schaetzing führt »seine treu-deutsche<br />
Gesinnung« 26 als Grund für die Ausweisung an.<br />
Als Bürgermeister war er für seine Beamten und<br />
Angestellten verantwortlich, die vermutlich im<br />
August 1920 auch die Arbeit niederlegten. Daraus<br />
könnte sich ableiten lassen, dass er nun eine<br />
Persona non grata war, was aus dem Schrift-<br />
24 Vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte Ballke,<br />
handschriftliches Schreiben von Ballke an Bürgermeister<br />
Kondruhn vom 14.1.19<strong>21</strong>, in dem es um Gehaltsfortzahlung<br />
geht.<br />
25 Vgl. Wintgen, Thomas: Wermelskirchen in der Weimarer<br />
Republik, die Jahre 1918 bis 1932 im Spiegel der Lokalpresse,<br />
in: Wermelskirchen Beiträge zu unserer Geschichte,<br />
Band 6, S. 148. [Freundliche Mitteilung von Gerd. W. Gries<br />
vom Bergischen Geschichtsverein Wermelskirchen] Dabringhausen<br />
ist neben Dhünn der größte Stadtteil von<br />
Wermelskirchen in Nordrhein-Westfalen und war lange<br />
Zeit eine selbstständige Gemeinde. Ballke war dort Bürgermeister<br />
bis 1933. Er reichte Ende März 1933 »aus gesundheitlichen<br />
Gründen« (ausdrücklich nicht aus politischen<br />
Gründen) sein Pensionsgesuch ein, das im Juni<br />
genehmigt wurde. Er starb am 1.3.1955 in Dabringhausen.<br />
Schätzing (S. 53) schreibt, dass Ballke seit dem 29. April<br />
19<strong>21</strong> »Bürgermeister in Dabringhausen« ist.<br />
26 Schaetzing, S. 73.<br />
wechsel mit der Regierungskommission deutlich<br />
wird, die kategorisch seine Rückkehr ablehnte.<br />
Dass es sich nicht um ein Einzelschicksal handelte,<br />
macht die Note der deutschen Regierung an<br />
die Regierungskommission vom 31. März 19<strong>21</strong> 27<br />
deutlich, in der auf die Problematik der Ausweisungen<br />
mit Nachdruck hingewiesen wird: Die<br />
Regierungskommission habe zwar »der Mehrzahl<br />
der Ausgewiesenen schon nach wenigen<br />
Wochen die Rückkehr gestattet, jedoch warte<br />
eine nicht geringe Anzahl noch heute auf diese<br />
Erlaubnis.« Anderen sei die Rückkehr ausdrücklich<br />
verweigert worden, »ohne daß sie die genauen<br />
Gründe dafür erfahren konnten.« Die Note<br />
zweifelt dann auch an, dass die Kommission die<br />
Ausweisungen kurzer Hand aufgehoben, sondern<br />
sich eine Prüfung jedes einzelnen Falls vorbehalten<br />
habe. Sie sei also der Ansicht, dass die<br />
Ausweisungen rechtsgültig ergangen seien und<br />
diese sogar mit Aufhebung des Belagerungszustandes<br />
nicht von selbst ihre Wirksamkeit verloren<br />
hätten.<br />
Auch Ballkes späteres Bemühen um eine Stelle in<br />
der Nähe von Bad Kreuznach wurde abschlägig<br />
beschieden, weil die Rheinlandkommission<br />
Erkundigungen über ihn bei der der Regierungskommission<br />
in Saarbrücken eingezogen hatte.<br />
27 Vgl. Note der deutschen Regierung an die Regierungskommission<br />
des Saargebietes vom 31. März 19<strong>21</strong> (Nr.<br />
159), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. 240-<br />
242. Dort wird betont, dass die Ausweisungen der Rechtgrundlage<br />
entbehren, »da sie dem auch im Saargebiet<br />
geltenden Freizügigkeitsgesetz widersprechen.« (S. 241).<br />
Schon die Übertragung der vollziehenden Gewalt an<br />
einen französischen General sei nach dem Vertrag von<br />
Versailles unzulässig, da die Aufrechterhaltung der Ordnung<br />
nach ausdrücklicher Bestimmung des Vertrages<br />
nur durch eine örtliche Gendarmerie erfolgen dürfe. Vgl.<br />
auch Société des Nations, Journal Officiel 2/7 (19<strong>21</strong>), S.<br />
486–487. Dort handelt es sich um einen Bericht des chinesischen<br />
Diplomaten Vi Kyuin Wellington Koo (1887–<br />
1985), der Vertreter Chinas bei dem Völkerbund war, unter<br />
der Überschrift: PRÉTENDUES EXPULSIONS EN MASSE<br />
D’HABITANTS (Angebliche Massenausweisungen von<br />
Einwohnern). Er empfiehlt, in Fällen, in denen die Ausweisungsverfügung<br />
gegen bestimmte Personen noch<br />
in Kraft ist, eine neue Untersuchung durchzuführen, um<br />
die Zahl der ausgewiesenen Personen auf das mit der<br />
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Saarbecken<br />
zu vereinbarende Minimum zu beschränken. Das<br />
Ergebnis jeder Untersuchung, die für jede noch mit einem<br />
Einreiseverbot belegte Person einzeln durchgeführt<br />
werden soll, sollte dem Völkerbund zur Information so<br />
schnell wie möglich mitgeteilt werden.
saargeschichte|n 11<br />
Dies moniert die Note der deutschen Regierung<br />
vom 31. März 19<strong>21</strong> damit, dass es eine »Zuständigkeitsüberschreitung«<br />
gewesen sei, dass »die Ausweisungen<br />
nicht nur für das Saargebiet, sondern<br />
auch für das besetzte Rheinland ausgesprochen<br />
wurden.« In einer Fußnote hierzu wird deutlich,<br />
dass der Präsident der Regierungskommission<br />
im August 1920 die interalliierte Rheinlandkommission<br />
ersucht habe, »den von der<br />
Regierungskommission ausgewiesenen Individuen<br />
– ‘Agitatoren, Anarchisten, Streikstifter usw.‘<br />
– die Aufenthaltserlaubnis auch für das besetzte<br />
Gebiet zu versagen.« Die Rheinlandkommission<br />
habe allerdings den Standpunkt vertreten, dass<br />
sie sich nicht verpflichten könne, »sämtliche aus<br />
dem Saargebiet ausgewiesenen Personen nicht<br />
im besetzten Gebiet zu dulden,« sie sei aber<br />
bereit, «die einzelnen Fälle zu prüfen, und bitte<br />
deshalb die Regierungskommission, ihr eine Liste<br />
der ausgewiesenen Personen unter Angabe der<br />
Ausweisungsgründe zu gehen zu lassen.« 28<br />
Ende gut, alles gut?!<br />
In Friedrichsthal wurden dem ehemaligen<br />
Bürgermeister zwei Ehren zuteil: 1928 bittet der<br />
damalige Bürgermeister Paul Kondruhn Ballke<br />
um ein Porträtfoto, das dieser gerne in seinem<br />
Amtszimmer aufhängen möchte. Ballke<br />
kommt diesem Wunsch etwas verspätet nach.<br />
Heute hängen die Porträts der ehemaligen und<br />
des jetzigen Bürgermeisters im Treppenhaus des<br />
Rathauses und nicht mehr im Amtszimmer. Am<br />
7. Januar 1932 schreibt Kondruhn nach Dabringhausen,<br />
dass die Gemeindevertretung auf seinen<br />
Vorschlag hin, in Anerkennung der Verdienste um<br />
die Gemeinde Friedrichsthal, beschlossen habe,<br />
28 Bereits am 6. September 1920 hatte der Reichskommissar<br />
für die besetzten rheinischen Gebiete die interalliierte<br />
Rheinlandkommission ersucht, die Ausweisungsbefehle<br />
nicht auf das Gebiet ihrer Zuständigkeit<br />
auszudehnen (Nr. 152), was die Rheinlandkommission<br />
am 2. November dahingehend beantwortet, dass sie keine<br />
Überschreitung der Befugnisse des kommandierenden<br />
Generals im Saargebiet entdecken könne, »da nicht<br />
angeordnet ist, daß die Ausgewiesenen sich nicht im besetzten<br />
Gebiet niederlassen dürfen.« Allerdings hebt die<br />
Kommission »ihr unbedingtes Ausweisungsrecht aufgrund<br />
des Artikel 10 der Verordnung Nr. 3 gegenüber den<br />
aus dem Saargebiet ausgewiesenen Personen, die sich in<br />
den besetzten Gebieten niederzulassen suchen, hervor,<br />
sofern ihre Anwesenheit im besetzten Gebiet ihr als der<br />
Sicherheit der Besatzungstruppen abträglich erscheint.«<br />
(Nr. 153), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. 225–<br />
227. Vgl. auch Eckler, S. <strong>21</strong>4f.<br />
eine Straße nach seinem Namen zu benennen.<br />
Ballke bedankt sich mit Schreiben vom 11. Januar:<br />
»Wenn ich auch nur bestrebt gewesen bin, in den<br />
schweren Jahren, in welchen mir die Verwaltung<br />
des Amtes Friedrichsthal oblag, zum Wohle der<br />
Bürgerschaft von Friedrichsthal meine Pflicht<br />
zu tun, so gereicht es mit doch zur besonderen<br />
Genugtuung, diese Pflichterfüllung heute<br />
anerkannt zu sehen und in der Namensgebung<br />
eine dankbare Ehrung zu erblicken.« 29 Er werde<br />
seinen Dank bei Gelegenheit persönlich vor Ort<br />
zum Ausdruck bringen.<br />
Betrachtet man den Beamtenstreik im August<br />
1920 hinsichtlich seines Ergebnisses, so kann man<br />
sagen, dass dies für die betroffenen Beamten<br />
sehr »mager« war. Die Regierungskommission<br />
setzte ihr Statut fast unverändert durch und<br />
stellte die ihr nicht genehmen Beamten bis zum<br />
15. Dezember 1920 der deutschen Regierung zur<br />
Verfügung. Massenausweisungen und der verhängte<br />
Belagerungszustand zeigten die Machtposition<br />
der Regierungskommission nur allzu<br />
deutlich auf. 30 Dennoch kann man sagen, dass<br />
durch den Streik die Solidarität zwischen Beamten<br />
und Arbeitern wuchs und gesellschaftliche<br />
Unterschiede überbrückt wurden. Obwohl die<br />
Stellung der Regierungskommission nach dem<br />
Streik sehr stark war, hatte sich eine breite Opposition<br />
gegen sie organisiert, die im Laufe der Zeit<br />
immer wichtiger wurde. 31<br />
29 Zu beiden Ehrungen vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte<br />
Ballke.<br />
30 Vgl. Jacoby, S. 29.<br />
31 Vgl. Zenner, S. 61f.<br />
Ausschnitt aus dem<br />
amtlichen Schreiben<br />
von Jean Morize, dass<br />
Bürgermeister Ballke<br />
nicht zurückkehren<br />
darf. (Stadtarchiv<br />
Friedrichsthal)<br />
Aus dem Saargebiet<br />
1919/20 ausgewiesene<br />
Bürgermeister<br />
(nach Eckler):<br />
Ballke, Friedrichsthal<br />
Becker, Büren<br />
Blank, Ottweiler<br />
Eyloff, Ittersdorf<br />
Eymael, Sulzbach<br />
Dr. Gilles, Saarlouis<br />
John, Lisdorf<br />
Junges, Saarwellingen<br />
von Korff, Wallerfangen<br />
Dr. Mettlich, St. Wendel<br />
Dr. Pint, Merzig<br />
Rüther, Bisten<br />
Schöneberger, St. Ingbert<br />
Thiel, Merzig<br />
Wagner, Dillingen
von kurzfristigen Revitalisierungsbemühungen<br />
im Rahmen der Planungen für ein Spichernmuseum,<br />
das erst 1936 das Licht der Welt erblickte,<br />
um in den Bomben des Zweiten Weltkriegs endgültig<br />
unterzugehen. Wie lange die Strahlkraft<br />
der Monumentalgemälde in der Praxis wirkte,<br />
wie lange Einheimische und Auswärtige sie<br />
unbedingt sehen wollten, ist eine andere Frage.<br />
So lange der Spichernkult seine gesellschaftliche<br />
Funktion erfüllte, dürften die Bilder Anton von<br />
Werners vermutlich fleißig besichtigt worden<br />
sein. Die 40-Jahresfeier von Spichern 1910 und<br />
die Einweihung des Ulanendenkmals vor dem<br />
Rathaus im Jahr 1913 könnten die letzten großen<br />
Anlässe gewesen sein, bei denen die Menschen<br />
noch in Strömen in den Saarbrücker Rathaussaal<br />
pilgerten.<br />
Folgt man den Informationen aus zeitgenössischen<br />
Stadt- und Reiseführern, dann<br />
waren die Von-Werner-Bilder zumindest 40 Jahre<br />
lang eine regionale Attraktion. Sie gehörten<br />
zu den Sehenswürdigkeiten einer vor der Jahrhundertwende<br />
mit Anziehungspunkten nicht<br />
gerade gesegneten Stadtlandschaft, sie gehörten<br />
aber vor allem zum Pflichtprogramm für<br />
die Spichern- und Schlachtfeldtouristen aus<br />
Nah und Fern. Trotz der Nutzung zu amtlichen<br />
Zwecken stand der Rathaussaal fast täglich für<br />
Besichtigungen zur Verfügung, und offenbar<br />
gab es im Haus auch immer einen Mann, der<br />
mehr oder weniger fachkundig durch von Werners<br />
Bildprogramm führen konnte: Man solle<br />
dem Führer ein kleines Trinkgeld geben, heißt es<br />
am Ende der Ausführungen zum Rathauszyklus<br />
beispielsweise in Wilhelm Lichnocks Stadtführer<br />
von 1895. Obwohl also vermutlich tausende Saarländer<br />
und Touristen, unzählige Schulklassen<br />
und Veteranen den Saarbrücker Rathauszyklus<br />
besichtigt haben, gibt es bisher keine Zeugnisse<br />
von Besuchern, die darüber Auskunft geben könnten,<br />
wie die Zeitgenossen den Saal und die Bilderder<br />
krieg, die saar, das reich<br />
Geschichte auf 55 Quadratmetern: Zur Rückkehr der Monumentalgemälde<br />
Anton von Werners nach Saarbrücken<br />
von paul burgard<br />
Der Beitrag ist die Vorabpublikation<br />
eines Kapitels aus einem<br />
Buch des Autors über die Schlacht<br />
von Spichern, das in der Reihe<br />
»Echolot« des Saarländischen<br />
Lan des archivs erscheinen wird.<br />
Dort ist der Text auch mit den<br />
zugehörigen Fußnoten zu lesen.<br />
Das diesen Seiten vorangehende<br />
Kapitel über die Vorgeschichte des<br />
Zyklus beleuchtet den weiteren<br />
Kontext.<br />
Viele Orte und Namen in und um die saarländische<br />
Landeshauptstadt erinnern noch<br />
heute an den Deutsch-Französischen Krieg von<br />
1870/71. Am Anfang dieses Krieges stand die<br />
Schlacht bei Spichern, am Ende die Gründung des<br />
zweiten Deutschen Kaiserreichs. Kurze Zeit später<br />
entstand als »Geschenk des Kaisers« an Saarbrücken-St.<br />
Johann ein monumentaler Gemäldezyklus,<br />
der seit 1880 in einem eigens errichteten<br />
Anbau des Alt-Saarbrücker Rathauses hing. Die<br />
Erinnerung an den Feldzug und die besonderen<br />
Ereignisse an der Saar wurde von Anton von<br />
Werner, dem bekanntesten Historienmaler des<br />
Reichs, auf sieben großformatigen Bildern festgehalten.<br />
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren<br />
diese Bilder in der Öffentlichkeit nicht mehr zu<br />
sehen. Jetzt kehrt der Gemäldezyklus an den<br />
Saarbrücker Schlossplatz zurück. Er ist reif fürs<br />
Historische Museum und wird dort in Zukunft<br />
ziemlich viel lebendige Geschichte aus einer 150<br />
Jahre alten Vergangenheit erzählen können.<br />
Kunst Macht Geschichte<br />
Wie viele Menschen die Gemälde Anton von<br />
Werners an ihrem angestammten Platz jemals<br />
gesehen haben, ist nur noch zu vermuten. Gut<br />
sechs Jahrzehnte hing<br />
der Zyklus in dem für ihn<br />
erbauten Rathaussaal, seit<br />
der Städtevereinigung von<br />
1909 und dem Abzug der<br />
(Alt-) Saarbrücker Stadtverordneten<br />
gewissermaßen<br />
mit alleinigem Platzrecht.<br />
Allerdings währte die<br />
Hochzeit des nationalen<br />
Musentempels wohl nur<br />
bis zum Ende des Kaiserreichs.<br />
Danach begann<br />
ein langer Dornröschenschlaf,<br />
allein unterbrochen
saargeschichte|n 13<br />
Auf dem Luftbild von<br />
1927 ist der Anbau<br />
des Rathauses zu<br />
erkennen, in dem<br />
die Gemälde Anton<br />
von Werners untergebracht<br />
waren. Es<br />
ist die bisher einzig<br />
bekannte Aufnahme,<br />
die eine Gesamtansicht<br />
des Gebäudes<br />
zeigt. (Fotoarchiv<br />
LPM, LPM 8650)<br />
schau erlebten. Ob die monumentalen Gemälde<br />
ihre Wirkung wie gewünscht entfalteten. Ob<br />
und inwiefern die kunstfertige Beurkundung –<br />
so nannte von Werner seine Arbeit selbst – des<br />
nationalen Einigungskampfes sogar diejenigen<br />
beeindrucken konnte, die ihn nicht vor Ort miterlebt<br />
hatten, die Auswärtigen etwa oder die<br />
Nachgeborenen.<br />
Was war das Besondere an der Kunst des 19. Jahrhunderts,<br />
wie sie von Werner exemplarisch vertrat,<br />
warum spielte die künstlerische Repräsentation<br />
der staatstragenden Geschichte »auf<br />
einmal« eine so außergewöhnliche Rolle? Die<br />
neuere Historienmalerei in der zweiten Jahrhunderthälfte<br />
wollte dokumentieren, Ereignisse<br />
festhalten, natürlich auch beindrucken, ja überwältigen,<br />
das war ihr Selbstverständnis und ihr<br />
Daseinszweck. Jahrzehnte nach der Säkularisation<br />
hatte die Geschichte, die man dem Geist<br />
der exakten Naturwissenschaft verpflichtet sah,<br />
in mancher Hinsicht das Erbe der Religion übernommen;<br />
sie war zum Instrument der übergeordneten<br />
Sinnstiftung geworden. Staat, Nation<br />
und Volk wurden zum Telos, zur Bestimmung<br />
menschlichen Handelns erklärt, die Geschichte<br />
bezeugte mit quasi gesetzmäßiger Zwangsläufigkeit<br />
den Lauf der Dinge. Die Kunst, die nun<br />
historische Ereignisse der Gegenwart dokumentierte,<br />
die so besagtes Verständnis von Geschichte<br />
zum Ausdruck brachte, handelte nicht nur im<br />
staatlichen Auftrag, sie verkörperte in Farben<br />
und Formen vielmehr den Staatszweck. So wie<br />
die Kunstwerke früherer Jahrhunderte erst den<br />
Kirchen, dann den Palästen ihre metaphysische<br />
Legitimation eingeschrieben hatten, so besetzte<br />
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die<br />
Historienmalerei mit der durch sie verbürgten<br />
Legitimität staatlichen Handelns den öffentlichen<br />
Raum: Schulen und Universitäten, Bahnhöfe,<br />
Gerichte und Rathäuser. In den 1870er Jahren,<br />
als Anton von Werner seinen Rathauszyklus<br />
schuf, erlebte die Historienmalerei in Deutschland,<br />
extrem befeuert durch die Reichsgründung,<br />
ihren quantitativen Höhepunkt. Die gewaltigen<br />
Ereignisse der Geschichte erforderten nach zeitgenössischer<br />
Vorstellung zwangsläufig eine<br />
Auf- und Grundriss<br />
des Anbaus am Alt-<br />
Saarbrücker Rathaus.<br />
Revisionszeichnung<br />
von 1880. (StA SB,<br />
Best. Bgm Alt-SB 1141)
monumentale Kunst, deren schiere Dimensionen,<br />
deren realistische und drastische Darstellungsformen<br />
historische Momente unmittelbar und<br />
emotional nachvollziehbar machen sollten. Die<br />
Malerei wurde in jeder Hinsicht zur Staatskunst,<br />
und von Werner wurde für die neue Kaiserdynastie<br />
zum Staatsfreund Nummer Eins.<br />
Man kann davon ausgehen, dass die Besucher<br />
und Besucherinnen des Saarbrücker Rathaussaales<br />
im Jahr 1880 von Werners Bilder bereits mit<br />
offenen Augen aufnahmen. Nichts störte dabei<br />
bereits vertraute Sehgewohnheiten, wobei die<br />
mittlerweile auch in der Provinz etablierte Fotografie<br />
den »Realitätssinn« der Betrachter zusätzlich<br />
geschult haben dürfte. Selbst die im Bildprogramm<br />
enthaltenen Insiderinformationen,<br />
symbolische Botschaften oder allegorische Darstellungen<br />
waren für die meisten kein Problem,<br />
für das bürgerliche Publikum schon gar nicht.<br />
Diesem Publikum war auch die ziemlich düstere<br />
Salonatmosphäre vertraut, die es beim Betreten<br />
des neuen Rathaussaals umfing. Zehn Meter<br />
waren es vom Eingang zur gegenüberliegenden<br />
Wand, gerade einmal achteinhalb von der Wand<br />
zur Linken bis zur Fensterfront an der Schlossstraße;<br />
es gab Gründerzeitvillen und -schlösschen<br />
in Saarbrücken-St. Johann, deren »Wohnzimmer«<br />
deutlich mehr Platz boten. Die drei<br />
Fenster waren zwar fast raumhoch, aufgrund<br />
ihrer Bemalung, ihrer Ausrichtung nach Norden<br />
und der geringen Breite der Schlossstraße war ihr<br />
Beitrag zur Beleuchtung des sechseinhalb Meter<br />
hohen, annähernd bis zur Decke mit dunklem<br />
Holz getäfelten Saales dennoch bescheiden. Das<br />
fehlende Licht und das durch die unproportionale<br />
Höhe des kleinen Saals bedingte Raumgefühl<br />
wird die Blicke der Betrachter automatisch nach<br />
oben geführt haben, zu den großformatigen<br />
Bildern, vielleicht auch sofort zur kassettierten<br />
Stuckdecke mit ihren Bemalungen und Sinnsprüchen.<br />
Dies Bildnis ist zum Sterben schön<br />
Da man den Rathaussaal nicht mittig, sondern<br />
nahe der Seite gegenüber den Fenstern betrat,<br />
fiel der erste »Lichtblick« fast zwangsläufig auf<br />
die gegenüberliegende Wand, auf die Erstürmung<br />
der Spicherer Höhen, namentlich und thematisch<br />
das sinnstiftende Zentrum des gesamten Bildprogramms.<br />
Im Gegensatz zu den landläufigen<br />
Vorstellungen von einem Schlachtenbild ist<br />
von Werners Erstürmung ziemlich übersichtlich.<br />
Keine Menschenmassen, die sich durch die Weiten<br />
der Landschaft kämpfen, keine Überfülle<br />
von einzelnen Gefechtsszenen keine brennenden<br />
Häuser, keine dystopischen Kampfszenen<br />
mit bis zum letzten entschlossenen Kombattanten.<br />
Die optisch bildbestimmende Diagonale<br />
teilt Himmel und Erde, kennzeichnet den spärlich<br />
bewachsenen Abhang des Roten Berges als<br />
besonders steile Herausforderung für die Soldaten,<br />
die diesen Berg im Sturm bezwingen müssen.<br />
Statt Heerscharen von Kämpfern ist nur eine<br />
Gruppe von 25–30 Soldaten auf dem Weg nach<br />
oben zu sehen, deren Wille zum Sturmangriff in<br />
emporgereckten Gewehren und geballten Fäusten<br />
zu erkennen ist. Angetrieben werden sie von<br />
den beiden Personen, die eindeutig im Zentrum<br />
des Geschehens stehen: der Mann mit Horn,<br />
gerade im Begriff, zum Sturm zu blasen, sowie<br />
der Offizier neben ihm, unübersehbar der Chef<br />
der Truppe, der mit erhobenem Säbel und seiner<br />
energisch zum Nachrücken auffordernden Linken<br />
den Angriff mimisch vorexerziert. Der Feind<br />
ist auf dem Bild kaum zu sehen (auch das nicht<br />
unbedingt üblich für ein Schlachtgemälde) und<br />
doch sehr präsent in Form von Tod, Verwundung<br />
und Schmerz. Im Deutsch-Französischen Krieg,<br />
das wird damit deutlich gesagt, wurde anders als<br />
in früheren Zeiten aus großer Entfernung, gleichsam<br />
anonym getötet.<br />
Um Werners Erstürmung wirklich zu verstehen<br />
und dabei auch die vom Autor sicher<br />
gewünschten Emotionen zu entwickeln, war es<br />
eigentlich notwendig, den Kontext zu kennen.<br />
Das Wissen darum hatte sich in den 1870er Jahren<br />
schlagartig verbreitet, durch Augenzeugenberichte,<br />
durch zahllose Publikationen, durch<br />
Neu- und Nacherzählungen. In ihnen nahm<br />
die Anekdote um den Tod des Generals François,<br />
auf die von Werners Gemälde fokussierte,<br />
einen ziemlich prominenten Platz ein, und zwar<br />
nicht nur in den saarländischen Überlieferungen.<br />
Selbst in dem von Werner konsultierten Generalstabswerk<br />
wurde die Szene geschildert, und zwar<br />
für ein derartiges Werk ungewöhnlich detailliert.<br />
Zum moment décisif in von Werners »Aufnahme«<br />
heißt es hier: Da erreichte aber auch die 9. Kompagnie,<br />
angefeuert durch den Zuruf des Generals<br />
v. François, den Höhenrand. Der General setzte<br />
sich selbst an die Spitze und mit den Worten »Vorwärts<br />
meine braven Neununddreißiger!«, führte<br />
er mit hocherhobenem Degen, den schlagenden<br />
Tambour neben sich, die kleine Schaar dem überlegenen<br />
Feinde entgegen. Von Werner hatte die<br />
Ausgestaltung des ihm vorgegebenen Motivs<br />
also nach den »authentischen« Schilderungen<br />
der offiziellen Militärgeschichtsschreibung vorgenommen,<br />
die Realität hatte, wie bei einem<br />
Historiengemälde gefordert, Modell gestanden.
saargeschichte|n 15<br />
Nur beim Hornisten, den er aus dramaturgischen<br />
Gründen dem Trommler vorzog, erlaubte sich<br />
von Werner eine Abweichung vom »Original«;<br />
über die historischen Hintergründe wird noch<br />
zu reden sein. Ungeachtet dieser kleinen künstlerischen<br />
Korrektur an der vergangenen Wirklichkeit<br />
konnte das Gemälde bei den Betrachtern<br />
sofort Assoziationen wecken, es wirkte als Präzisierung<br />
bereits vorhandener Kopfbilder.<br />
Es lag aber nicht nur am Bekanntheitsgrad der<br />
Geschichte von General François, dass von Werner<br />
die beschriebene Szene für den Saarbrücker<br />
Rathauszyklus malte. Dahinter standen auch<br />
thematische und pragmatische Motivationen.<br />
Der Angriff auf den Roten Berg war ja quasi der<br />
eigentliche Grund dafür gewesen, dass die Ereignisse<br />
des 6. August 1870 überhaupt zu einer völlig<br />
ungeplanten Schlacht eskalierten. Weil seine<br />
Eroberung nur mit unverhältnismäßig vielen<br />
Opfern gelang, musste diese militärische Aktion<br />
danach zu der zentralen Heldentat stilisiert werden,<br />
der ein exponierter Platz im lokalen wie im<br />
nationalen Gedächtnis gebührte. Mit dem Exempel<br />
des tapfer voranschreitenden Generalmajors,<br />
dessen Heldentod in Stadt und Land rasch<br />
Berühmtheit erlangte, ließ sich der gewünschte<br />
Zusammenhang individueller und emotionaler<br />
visualisieren als durch eine anonyme Massenszene:<br />
ein guter Grund für von Werner, den<br />
ursprünglich geplanten Entwurf des Schlachtenbildes<br />
nicht weiter zu verfolgen. Zum anderen lag<br />
die individualisierend-episodische Darstellungsweise<br />
im Zug der Zeit, sie brachte »ein neues Bild<br />
des Krieges« hervor, das auch der Realität des<br />
Waffengangs vor Spichern entsprochen hat, wo<br />
viele Offiziere ähnlich wie François ihren Mannschaften<br />
quasi vorangeschritten – und gerade<br />
deshalb gefallen sind. Der dritte Grund für die<br />
Änderung des Motivs lag in den Raumverhältnissen,<br />
in dem Saal von mäßigen Dimensionen,<br />
wie ihn schon Werners Bestallung im Jahr 1875<br />
umschrieben hatte. In ihm hätte ein Schlachtenpanorama<br />
im Cinemascope-Format, das zudem<br />
nur sehr zeit- und kostenaufwändig produziert<br />
Der »Sturm auf den<br />
Spicherer Berg« mit<br />
General François im<br />
Mittelpunkt. Rechts<br />
sind die Straße von<br />
Saarbrücken nach<br />
Forbach mit den<br />
Gebäuden an der<br />
Goldenen Bremm<br />
sowie die rauchenden<br />
Schlote des de<br />
Wendel’schen Werkes<br />
in Stieringen zu<br />
erkennen. (Format:<br />
350 x 375 cm. © Historisches<br />
Museum Saar,<br />
Thomas Roessler)
Das Porträtbild Graf<br />
Moltkes, des Chefs<br />
des preußischen<br />
Generalstabs, zeigt<br />
die fotorealistische<br />
Kunstfertigkeit des<br />
Anton von Werner<br />
sehr deutlich. Neben<br />
Moltke wurden Kanzler<br />
Bismarck, Kronprinz<br />
Friedrich und<br />
Prinz Friedrich Karl<br />
als gemalte »Denkmäler«<br />
im Saarbrücker<br />
Rathauszyklus<br />
verewigt.<br />
(Format: 350x120<br />
cm. © Historisches<br />
Museum Saar, Thomas<br />
Roessler)<br />
werden konnte, kaum seine Wirkung entfalten<br />
können, es hätte vielmehr den ästhetischen<br />
Zusammenhang mit den anderen Gemälden<br />
des Saals zerstört. Ein visueller Kontext, zu dem<br />
vor allem die vier lebensgroßen Einzelfiguren<br />
gehörten, die in denkmalähnlicher Präsentation<br />
die beiden größten Gemälde ergänzten, sie<br />
zu einer Art nationalhistorischem Triptychon<br />
erweiterten.<br />
Wir können annehmen, dass die Zuordnung der<br />
vier großen Männer aus der preußischen Heldengalerie<br />
nicht zufällig so erfolgte, wie sie hier erfolgt<br />
ist. Wenn Graf Moltke und Fürst Bismarck (und<br />
nicht etwa die beiden hohenzollerischen Armeechefs)<br />
als »Schutzheilige« des Erstürmungsbildes<br />
auftraten, dann sollten damit offenbar nicht nur<br />
die Macher des geeinten Nationalstaats gezeigt,<br />
sondern auch die Bedeutung des Feldzuges<br />
gegen Frankreich für die Entstehung des Kaiserreichs<br />
untermauert werden. Dass Bismarck gerade<br />
während des Krieges mit den Militärs (und<br />
ganz besonders mit Moltke) heftig über Kreuz<br />
lag, dass Moltkes strategische Planung durch die<br />
unerwünschte Schlacht von Spichern fast über<br />
den Haufen geworfen wurde, man könnte es als<br />
ironische Fußnote der von Werner’schen Installation<br />
bezeichnen – oder eben als Versuch, auf<br />
ästhetischem Weg zu versöhnen, die Geschichte<br />
in nationaler Zielsetzung glattzubügeln. Im Grunde<br />
war im Zentrum des Gemäldes auch General<br />
François in denkmalwürdiger Positur verewigt<br />
worden. Vielleicht haben Bismarck und Moltke<br />
ein wenig dazu beigetragen, dass aus dieser<br />
ästhetischen Assoziation Jahre später skulpturale<br />
Wirklichkeit werden sollte. Zur 25-Jahr-Feier<br />
von Spichern wurde ein Denkmal in Gips entworfen,<br />
das den General in eben jener auf dem<br />
Bild zu sehenden Haltung zeigte, inklusive seines<br />
Hornisten Hasselhorst, der ebenfalls den Sprung<br />
aus dem Bild in die 3-D-Fassung auf dem Sockel<br />
schaffte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt im<br />
Jahr 1895 war klar, wie populär General François<br />
durch sein Konterfei im Rathaussaal geworden,<br />
dass er von den Saarländern als einer der ihren<br />
vereinnahmt worden war. Umgekehrt zeigte das<br />
Verrotten des niemals ausgeführten, später im<br />
Volksgarten platzierten Gipsmodells, dass auch<br />
der so wirkmächtige Spichernkult irgendwann<br />
rapide an Bedeutung verlor.<br />
Beim Entwurf für das Spichernbild hatte die<br />
preußische Landeskunstkommission moniert,<br />
dass er nicht großartig genug sei. Wohl auch deswegen,<br />
so präzisierte es von Werner später in<br />
seinen Erinnerungen, weil damit nur eine kleine<br />
Gefechtsepisode gemalt worden sei, die nicht als<br />
Glied in einer Kette bedeutungsvoller Aktionen<br />
erscheine. Dass das ursprünglich anders gedacht<br />
war und warum sich von Werner schließlich für<br />
die einzelne Episode entschied, wurde bereits thematisiert.<br />
Wie es dem Künstler gelang, den Sturm<br />
trotzdem großartiger zu machen, zeigt sich beim<br />
Vergleich des Entwurfs von 1877 mit der Ausführung<br />
im Rathaussaal. Zum einen wurde das<br />
Geschehen dramaturgisch effektvoll verdichtet,<br />
durch das Einsetzen vorher nicht vorhandener<br />
Figuren. Besonders auffällig dabei die beiden
saargeschichte|n 17<br />
Soldaten im mittleren Vordergrund, wobei man<br />
von dem einen fast nur Rücken und Gepäck sieht,<br />
damit belegend, mit welcher physischen Last der<br />
Aufstieg zu bewältigen war. Noch wichtiger war<br />
aber der andere Kamerad, der gerade von einer<br />
(tödlichen?) Kugel getroffen wurde, dessen Sturz<br />
nur durch die Hilfe des Hintermanns abgefangen<br />
wird. Direkt unter General François situiert,<br />
lag der assoziative Sprung vom getroffenen<br />
Infanteristen zum bevorstehenden Tod des Heerführers<br />
natürlich nahe, das ist in der Literatur zu<br />
diesem Bild oft zur Sprache gekommen. Etwas<br />
subtiler sind die »tödlichen« Hinweise, die am<br />
Baum über dem General zu sehen sind: frisch<br />
gebrochene Äste, die auf das anhaltende Feuer<br />
hinweisen, unter dem die nach oben stürmende<br />
Truppe beständig stand. Insgesamt ist in die<br />
Gefechtsszene im Vergleich zum Entwurf deutlich<br />
mehr Bewegung gekommen, angefangen<br />
von der noch drängender den Sturm nach oben<br />
fordernden Körperhaltung des Generals über<br />
die bewegten, verdrehten Soldatenkörper mit<br />
vor Anstrengung oder Schmerz gezeichneten<br />
Gesichtern (die vorher nicht zu sehen waren) bis<br />
zu den aufgepflanzten Bajonetten, die jetzt viel<br />
energischer in den Himmel überm Roten Berg<br />
ragen. Und oben, zum Gipfel hin, wo die Franzosen<br />
in ihren Schützengräben den Feind erwarten,<br />
haben sich Nebelwände aus Pulverdampf<br />
gebildet; viele Beteiligte der Schlacht erzählen<br />
davon, wie sehr die Sicht durch das permanente<br />
Gewehr- und Geschützfeuer beeinträchtigt<br />
war. Ganz folgerichtig hat sich in der Endfassung<br />
des Bildes auch die Zahl der toten Krieger vermehrt,<br />
zwei von ihnen ragen jetzt mit ihren leblosen<br />
Körpern am unteren Rand fast aus dem<br />
Bild heraus. Wie sehr sich Anton von Werner bei<br />
all dem um Realitätstreue bemühte, zeigen nicht<br />
nur die deutlich individualisierten Gesichtszüge<br />
der namentlich bekannten Kämpfer, ihre Uniformen,<br />
Gepäckstücke und Waffen; man könnte das<br />
Dreyse-Zündnadelgewehr mit der präzisen Vorlage<br />
von Werners fast nachbauen. Auch das Terrain<br />
ist buchstäblich »der Natur nachgebildet«,<br />
wie Landschaftsskizzen belegen, die von Werner<br />
anlässlich seines Besuchs an der Saar 1876<br />
vom Abhang und vom Talgrund Richtung Stieringen<br />
angefertigt hatte. Allein die Begrünung des<br />
Hangs am Roten Berg ist für den trockenheißen<br />
August 1870 dann doch viel zu saftig ausgefallen,<br />
aber vielleicht waren diese klimatischen Details<br />
knapp zehn Jahre später, bei der Ausführung des<br />
Bildes, bereits in Vergessenheit geraten.<br />
Man mag von Werners nicht ganz freiwillige Änderungen<br />
am Spichern-Bild als Ausschmückung<br />
historischer Fakten mit theatralischen Effekten<br />
begreifen, die dem Sensationsbedürfnis des Publikums<br />
entgegenkamen. Vielleicht entspricht<br />
diese Perspektivierung aber auch eher (kunsthistorischer)<br />
Konvention bei der Interpretation<br />
solcher und ähnlicher Historien- oder Schlachtengemälde<br />
als den Rezeptionsgewohnheiten der<br />
Betrachter von 1880. Immerhin hatte die von vielen<br />
Zeitgenossen persönlich beobachtete Realität<br />
der Schlacht von Spichern wesentlich »theatralischere«<br />
Effekte zu bieten als sie von Werner auf<br />
seinem Bild überhaupt visualisieren konnte und<br />
wollte. Außerdem war die Präsenz des Todes und<br />
des Sterbens, auch des gewalthaften Sterbens, in<br />
der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts<br />
sogar in der alltäglichen Erfahrungswelt ungleich<br />
normaler als heute, also per se weniger sensationell.<br />
Die von Werner in die Ausführung eingebrachte<br />
dramatische Steigerung dürfte also<br />
tatsächlich mehr von den Forderungen der Kritik<br />
und der quasi »politischen« Verpflichtung<br />
zur Realitätstreue motiviert worden sein als von<br />
antizipierter bürgerlicher Sensationsgier. Indes<br />
schuf die fast photorealistische Darstellung<br />
eines historischen Moments der Schlacht von<br />
Spichern schon durch die Art ihrer Präsentation<br />
eine theatralische Situation, in der der Betrachter<br />
die gezeigte Situation unmittelbar und emotional<br />
nacherleben konnte. Und dennoch: Wenn<br />
es damals schon Erhebungen zur Verweildauer<br />
der Besucher vor den einzelnen Bildern gegeben<br />
hätte, dann hätte sehr wahrscheinlich das<br />
Gemälde mit General François ohnehin nicht den<br />
Spitzenplatz eingenommen. Zumindest nicht<br />
bei den Besuchern des Rathaussaals, die aus<br />
der Region kamen. Die hätten nämlich nach der<br />
Betrachtung des Sturmbildes eine Drehung um<br />
90 Grad nach links gemacht, um sich dann quasi<br />
heimisch zu fühlen.<br />
Er kam und siegte, wie Werner es sah<br />
Dort, an der Wand neben dem Eingang, hing<br />
das größte Gemälde im Zyklus, eine besonders<br />
realitätsnahe Darstellung, die dem staunenden<br />
Betrachter auf fünf mal dreieinhalb Metern eine<br />
künstlerische Ansicht aus dem Hier und Jetzt<br />
zu zeigen schien. Hier, weil das Bild mit seinem<br />
Motiv von der Alten Brücke nur wenige hundert<br />
Meter vom Rathaussaal entfernt situiert war,<br />
Jetzt insofern als viele der auf von Werners Panorama<br />
verewigten Bürger und Bürgerinnen 1880,<br />
bei der Eröffnung des Rathaussaals, noch immer<br />
zu den bekannten und lebenden Gesichtern der<br />
Stadt gehörten. Dem Einzug Seiner Majestät am<br />
9. August 1870 konnte man weder thematisch
noch stilistisch ansehen, dass es in seiner Entstehungsgeschichte<br />
das umstrittenste Bild des<br />
Rathauszyklus gewesen war. Vor allem die bereits<br />
erwähnte Saarbrücker Ablehnung kann man<br />
ohne das Wissen um die Vorgeschichte kaum<br />
verstehen, waren doch die Stadt und ihre Bürger<br />
hier von einem Meister seines Fachs eigentlich<br />
glänzend in Szene gesetzt. Obwohl selbstverständlich<br />
der König und sein Gefolge optisch<br />
wie thematisch im Zentrum des monumentalen<br />
Werks standen, gewannen auch die Stadt und<br />
ihre Bewohner eine Prominenz, wie sie ihnen bis<br />
dahin weder auf künstlerischem noch auf kulturpolitischem<br />
Wege zuteilgeworden war. Saarbrücken-St.<br />
Johann durfte sich durch die Arbeit<br />
Anton von Werners geadelt fühlen – und war es<br />
trotz der vorherigen Bedenken gegen das Bild<br />
vermutlich auch.<br />
Wenn man die Ankunft einer königlichen Persönlichkeit<br />
in den Saarstädten bebildern wollte, dann<br />
war die Alte Brücke seit undenklichen Zeiten eine<br />
gute Motivwahl. Mit Karl V. hatte das Bauwerk<br />
bereits einen kaiserlichen Stammvater, und seit<br />
dem 16. Jahrhundert hatten etliche mehr oder<br />
weniger bedeutende Herrscher die Saar hier passiert,<br />
nicht zuletzt auch Napoleon Bonaparte, der<br />
Begründer der französischen Kaiserwürde, der zu<br />
Beginn des Jahrhunderts an dieser Stelle durch<br />
Saarbrücker Ehrenpforten reiten durfte. Schon<br />
deswegen schien es nicht verkehrt, Wilhelm I.<br />
am selben Ort auftreten zu lassen, auf seinem<br />
Weg zum Feldzug nach Frankreich, wo er nach<br />
dem preußisch-deutschen Selbstverständnis die<br />
imperiale Krone zurückeroberte. Schon lange vor<br />
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die<br />
Alte Brücke zu einem Symbol der Verständigung<br />
zwischen den ehemaligen Erbfeinden geworden<br />
war, hatte sie also eine deutsch-französische<br />
Geschichte, die allerdings weniger freundschaftlich<br />
ausfiel als nach 1945. Im August 1870 war die<br />
Saarüberquerung vier Tage lang sogar die heftig<br />
beschossene Demarkationslinie zwischen Frankreich<br />
und Preußen gewesen, ein gefährlicher Ort,<br />
von dessen Bewehrung auf St. Johanner Seite<br />
noch die randständigen Sandsäcke auf Anton<br />
von Werners Gemälde zeugen. Die »reale Fiktion«<br />
der Ankunft Seiner Majestät hatte schließlich am<br />
9. August, nur drei Tage nach der Schlacht von<br />
Spichern stattgefunden.<br />
Auch wenn sich der von Werner inszenierte Empfang<br />
faktisch nicht ereignet hat, hätte er an diesem<br />
Ort und in dieser Form mit großer Plausibilität<br />
stattfinden können. Denn der König und<br />
oberste Kriegsherr war mit großem Gefolge an<br />
jenem 9. August wirklich von der Mainzer Straße<br />
gekommen, musste über den St. Johanner<br />
Markt zur Brücke und über die Saar fahren, um<br />
sein Saarbrücker Quartier in der Friedrichstraße<br />
zu erreichen. Der von Werner gewählte Ort der<br />
Begegnung des Königszugs mit den Bürgern der<br />
Doppelstadt hatte als Brückenplatz damals einen<br />
eigenen Namen, er war der letztmögliche Ort<br />
auf St. Johanner Terrain, auch insofern eine gute<br />
Wahl, als ja beiden Städten für ihr Engagement<br />
in den Kriegstagen auf künstlerische Weise Reverenz<br />
erwiesen werden sollte. Mehr noch als alles<br />
andere war die Alte Brücke seit Jahrhunderten<br />
Symbol der Verbindung zwischen den beiden<br />
Saarstädten, sie war nicht zuletzt deswegen zeitübergreifend<br />
eines der am häufigsten gewählten<br />
Motive in der gemeinsamen Stadtgeschichte.<br />
Und überwiegend wurde dabei von den Bildproduzenten<br />
der Standpunkt eingenommen, den<br />
auch Werner bezogen hatte, also von St. Johann<br />
Richtung (Alt-)Saarbrücken, was lange Zeit ästhetisch<br />
reizvoller war als die umgekehrte Perspektive,<br />
zumal so der mittelalterliche Ursprung<br />
des Gemeinwesens beleuchtet werden konnte.<br />
Im Fall des Ankunftbildes kam noch ein weiterer<br />
gewichtiger Grund dazu: Der Blick fiel damit<br />
auf jene Seite der preußischen Doppelstadt, auf<br />
der die Franzosen einige Tage lang die uneingeschränkte<br />
Herrschaft hatten, auf deren Höhen<br />
sie ihre Besatzungslager eingerichtet hatten, der<br />
einzige deutsche Ort, wie es später so oft hieß,<br />
der während des Krieges in Feindeshand war.<br />
Diesen Ort als Hintergrund für die Huldigung<br />
Wilhelm des Siegreichen zu illustrieren, war im<br />
Sinne nationaler Heldengeschichte sicher nicht<br />
die schlechteste Idee.<br />
Anton von Werner hat seinen Empfang genau<br />
in dem Moment stattfinden lassen, in dem die<br />
königliche Kutsche die Auffahrt zur Alten Brücke<br />
nimmt. Pferde und Sattelreiter des Vierspänners<br />
befinden sich bereits auf der Brücke, auf der<br />
dichtgedrängtes Publikum zu sehen ist, das mit<br />
erhobenen Tüchern oder Hüten winkt, dergestalt<br />
dem Kriegsherren sein Hurra ausbringend. Im<br />
Hintergrund der Jubelszene, jenseits der unsichtbaren<br />
Saar, sind Häuser und Dächer Saarbrückens<br />
zu erkennen, die Bebauung am Schlossberg mit<br />
dem charakteristischen Turm der Schlosskirche,<br />
davor die Häuser am Saarufer Diese Häuserzeile<br />
endet rechts zwischen den Bäumen mit<br />
einem Gebäude, von dem man nur den aufgesetzten<br />
Rundturm sieht, der in der Silhouette<br />
Saarbrückens jedoch einzigartig und deswegen<br />
jederzeit identifizierbar war. Es war das Haus des<br />
Kaufmanns Friedrich Quien, in dem der künftige<br />
Kaiser in seinen Saarbrücker Tagen Quar-
saargeschichte|n 19<br />
tier nahm, gewissermaßen unmittelbar nach<br />
der auf dem Gemälde gezeigten Ankunft. Von<br />
Werner hat sich bei der Darstellung der Stadtlandschaft<br />
sehr um Detailtreue und Präzision<br />
bemüht. Vom Straßenpflaster und dem Brückengeländer<br />
bis zu den Laternen und den Bäumen<br />
war alles so in den 1870er Jahren vorzufinden,<br />
wie man anhand zeitgenössischer Fotografien<br />
nachvollziehen kann. Und natürlich sind auch die<br />
gezeigten Menschen mit ihrem Habit den realistischen<br />
Anforderungen eines Historiengemäldes<br />
der Gründerzeit gerecht geworden.<br />
Der Bildvordergrund ist fast wie eine Bühne<br />
aufgebaut, auf der der Empfang Seiner Majestät<br />
dargeboten werden kann. Die Personengruppen<br />
links und rechts sind nicht einfach eine<br />
Ergänzung der Jubelschar. Sie sind so positioniert,<br />
dass sie fast wie ein Vorhang wirken, genau so<br />
weit auseinandergezogen, dass sie das eigentliche<br />
Geschehen im Zentrum freigeben. Anders<br />
als die jubelnde, gesichtslose Menge sind hier<br />
alle Personen individuell gezeichnet. Ernsthaft<br />
und kollektiv auf die Königskutsche fokussiert,<br />
leiten sie den Blick des Bildbetrachters zwangsläufig<br />
auf den Bereich der Leinwand, auf den<br />
es ganz besonders ankommt. Auffällig sind die<br />
unterschiedlichen Profilierungen der Menschen<br />
auf beiden Seiten. Während zur Linken Handwerker<br />
und (verwundete) Soldaten die Szene<br />
beherrschen, dominiert rechts offenbar das »bessere«<br />
bürgerliche Publikum, besonders akzentuiert<br />
durch die modischen Roben der jungen<br />
Damen im Zentrum. Die Präsenz des Krieges ist<br />
in diesem Saarbrücken zwar noch greifbar, das<br />
gute Ende aber bereits absehbar: Barrikaden aus<br />
Fässern und Säcken sind zur Seite geräumt, die<br />
Verwundeten sind versorgt und können die Nähe<br />
ihres Königs erleben.<br />
Neben den beschriebenen Flügelgruppen ist<br />
rund um die Kutsche eine weitere Gruppe Saarbrücker<br />
Bürger auszumachen, die schon durch<br />
ihre Bekleidung mit Frack und Zylinder als städtische<br />
Honoratioren zu identifizieren sind. Auf<br />
einen von ihnen – und nicht etwa, wie es verschiedentlich<br />
hieß: auf die Verletzten – zeigt der<br />
Monarch mit leicht vorgebeugtem Oberkörper.<br />
Der angezeigte Herr mit gezücktem Zylinder ist<br />
niemand anderes als Friedrich Quien, neben seinem<br />
Zivilberuf als Kaufmann wichtiger Saarbrücker<br />
Stadtverordneter und Beigeordneter,<br />
Wilhelms Quartiergeber, bei dem der hohe Gast<br />
zwischen dem 9. und 11. August 1870 nächtigen<br />
sollte. Dass Quien und nicht der links neben<br />
ihm stehende Bürgermeister Carl Schmidtborn<br />
den Preußenkönig empfängt, hat einerseits mit<br />
der königlichen Übernachtung in Quiens Haus<br />
zu tun, könnte aber auch eine Anspielung auf<br />
Wilhelms Empfang als Kaiser am Saarbrücken<br />
Hauptbahnhof im März 1871, also bei einer tatsächlich<br />
stattgefundenen Begegnung, gewesen<br />
sein. Damals nämlich war es Quien, der als Saarbrücker<br />
Beigeordneter vor den versammelten<br />
Bürgermeistern der rheinischen Städte Kaiser<br />
Wilhelm begrüßte, und eben dieses Motiv war es<br />
ja auch gewesen, das die Saarländer ursprünglich<br />
statt des dann von Werner realisierten gemalt<br />
Von der »Ankunft Seiner<br />
Majestät in Saarbrücken«<br />
sind bisher<br />
nur Schwarz-weiß-<br />
Aufnahmen bekannt<br />
Das Original wird<br />
demnächst im HMS<br />
restauriert. Mit einer<br />
bemalten Fläche von<br />
350 x 515 cm ist es das<br />
größte Gemälde im<br />
Saarbrücker Rathauszyklus.<br />
(Foto: Universität<br />
der Künste<br />
Berlin, Universitätsarchiv)
Das »who-is-who« von 1870:<br />
1. König Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen<br />
2. Paul Armand von Loucadou (Flügeladjudant)<br />
3. Johann Wirtz (Polizeikommissar)<br />
4. Leibjäger Schulz<br />
5. Johann Adam Kipper (Brandmeister)<br />
6. Waisenvater Johann Riemer<br />
7. Sophie Alwine Küpper<br />
8. Stephanie Küpper<br />
9. Johanna Schlachter<br />
10. Anton von Werner (vermutlich)<br />
11. Gottfried Schirmer (Superintendent)<br />
haben wollten. Quien gegenüber, auf der anderen<br />
Seite der Kutsche, steht ein weiterer Frackund<br />
Zylinderträger, der fast den Eindruck erweckt,<br />
als würde er das feierliche Empfangszeremoniell<br />
überwachen. Dieser optisch am nächsten zum<br />
König platzierte Saarbrücker ist der Superintendent<br />
und Pfarrer an der Ludwigskirche,<br />
Gottfried Schirmer, der damals wohl wichtigste<br />
Protestant der Region. Seine zentrale Platzierung<br />
unmittelbar neben der Königskutsche verdankte<br />
er weniger seinem regen geistlichen Engagement<br />
während der Saarbrücker Kriegstage, als<br />
Prediger in der Kirche, als Seelsorger bei Kranken<br />
und Verwundeten, als Verteidiger des gerechten<br />
Krieges oder auch als Laudator des neuen Reichs.<br />
Schirmers unangefochtener Spitzenplatz war<br />
vielmehr die künstlerische Übersetzung einer<br />
religionspolitischen Botschaft von epochaler<br />
Bedeutung. Wilhelm I. war nämlich der erste<br />
protestantische Herrscher auf einem deutschen<br />
Kaiserthron und das neue Reich ein Staat unter<br />
preußisch-protestantischer Dominanz. Eine Botschaft,<br />
die im noch weitgehend evangelischen<br />
Saarbrücken gerne gehört wurde, ganz anders<br />
als in weiten Teilen der wachsenden katholischen<br />
Bevölkerung des Saarlands.<br />
12. Friedrich Quien (Kaufmann)<br />
13. Bürgermeister Carl Schmidborn<br />
14. Friedrich Christian Böcking (Advokat-Anwalt)<br />
15. Eduard Karcher (Fabrikant)<br />
16. Ferdinand Reith (Dienstmann)<br />
17. Carl Benzel (Kreis- und Kommunalbaumeister)<br />
18. Katharina Weisgerber (Schulze Kathrin)<br />
19. Gustav Johnen (Eisenbahnsekretär)<br />
20. Christian Nagel (Schmied)<br />
<strong>21</strong>. Friedrich Ziegler (Metzger)<br />
22. Philipp Simon (Kürschner)<br />
23. Bäcker Fritz<br />
Saarbrücker Wimmelbild, anno 1870<br />
Dank der oft namentlich gekennzeichneten<br />
Porträtstudien, die Werner im Vorfeld gemacht<br />
hatte, und einiger anderer Hilfsmittel lassen sich<br />
nicht nur die zentralen Figuren des Ankunftbildes,<br />
sondern fast alle mit individuellen Gesichtern<br />
dargestellte Personen identifizieren. Bei den<br />
Abgebildeten handelte es sich, wie kaum anders<br />
zu erwarten, vor allem um die besseren Saarbrücker<br />
Kreise, aber auch um einige nicht zu<br />
den Honoratioren gehörende ehrbare Bürger<br />
der Doppelstadt, die in aller Regel in irgendeiner<br />
Weise mit den Ereignissen des August 1870<br />
in Zusammenhang zu bringen sind. Außerdem<br />
belegt die Liste dieser Persönlichkeiten, dass die<br />
allermeisten von ihnen aus (Alt-) Saarbrücken<br />
stammten, während St. Johann nur wenige Mitbürger<br />
auf von Werners Gemälde unterbringen<br />
konnte. Bei der damals herrschenden Konkurrenz<br />
zwischen den Stadtschwestern ist stark anzunehmen,<br />
dass dies Anlass zu einigen ernsthaften<br />
Gesprächen über die jeweiligen Verdienste fürs<br />
Vaterland gegeben haben dürfte, ein potenzieller<br />
Konfliktstoff, der sich noch zehn Jahre später<br />
als virulent erweisen sollte. Aber immerhin war<br />
ja der linksseitige Teil des heutigen Saarbrücken<br />
auch stärker von den Kriegsläuften der August-
saargeschichte|n <strong>21</strong><br />
tage betroffen (zumindest, was die Anwesenheit<br />
der Franzosen betraf), und nicht zuletzt waren<br />
es die Alt-Saarbrücker, die den Bau des Ratssaals<br />
finanzierten, in dem der von Werner’sche Zyklus<br />
zur Aufstellung kam.<br />
Der Mann, der von städtischer Seite für den<br />
Anbau am Rathaus verantwortlich war, ist ebenfalls<br />
auf von Werners Bild verewigt worden. Es ist<br />
der Kreis- und Kommunalbaumeister Carl Benzel,<br />
dessen markanten Kopf man über Bürgermeister<br />
Schmidtborn, links neben der Laterne, herausragen<br />
sieht. Als Baumeister und Stadtverordneter<br />
gehörte Benzel ebenfalls zum inneren Zirkel der<br />
Saarbrücker Macht, hatte außerdem seine eigene<br />
aufregende Geschichte aus den Besatzungstagen<br />
zu bieten, als das Haus seiner Familie in<br />
der Talstraße am 2. August zu den am heftigsten<br />
unter Feuer stehenden gehört hatte. Zwischen<br />
Benzel, Schmidtborn und Quien schaut ein<br />
schnauzbärtiges Gesicht in Richtung des Monarchen,<br />
das in dieser Position unmittelbar vor<br />
der Kutsche natürlich auch einem bedeutenden<br />
Mann aus den Saarstädten gehören musste. Der<br />
Advocat-Anwalt Friedrich Christian Böcking, dessen<br />
Bruder das Neunkircher Eisenwerk vor dem<br />
Eintritt Carl Ferdinand Stumms geleitet hatte,<br />
gehörte als Justizrat und Mitglied einer weitverzweigten<br />
Familie zu den Saarbrücker Notabeln.<br />
Er war bereits im ersten Kapitel der Tage von Spichern<br />
als derjenige hervorgetreten, der bei der<br />
Bekanntgabe der französischen Kriegsabsichten<br />
am 15. Juli im Garten des damals neuen Kasinos,<br />
des heutigen Landtagsgebäudes, das erste<br />
Hoch auf den preußischen König und das Hurra<br />
auf den kommenden Krieg angestimmt hatte.<br />
Die auffälligste Figur unter den Honoratioren<br />
neben der Königskutsche ist sicher der Herr mit<br />
Karl-Marx-Bart und Brille, links von der Kutschenlampe<br />
stehend. Eduard Karcher, Unternehmer,<br />
Fabrikbesitzer, Eisenindustrieller und Politiker,<br />
gehörte nicht nur dem Saarbrücker Stadtrat,<br />
sondern als Mitglied der Fortschrittspartei auch<br />
dem Preußischen Abgeordnetenhaus an. Noch<br />
wenige Tage vor Kriegsbeginn findet sich angesichts<br />
der anstehenden Abgeordnetenwahlen in<br />
der SZ ein von ihm und seinen Kollegen unterzeichneter<br />
Aufruf für eine Wahlversammlung,<br />
anberaumt ausgerechnet für den 16. Juli, den<br />
ersten »inoffiziellen« Saarbrücker Kriegstag. Als<br />
Quartiermeister hatte er in der Folgezeit dann<br />
aber zunächst andere schwierige Aufgaben zu<br />
lösen; als Patriot – er war Mitbegründer des<br />
Saarbrücker Nationalvereins – hat er trotz seiner<br />
Gegnerschaft zu Bismarck das neue Kaiserreich<br />
ebenso freudig begrüßt wie seine Standesgenossen.<br />
Wie nahe sich die bessere Gesellschaft und<br />
das einfache Volk in Saarbrücken sein konnten,<br />
beweist zumindest auf diesem Bild der Mann<br />
links neben Eduard Karcher. Der Herr mit Schirmmütze<br />
und Reitstiefeln war der Dienstmann Ferdinand<br />
Reith, der in der damaligen Hintergasse,<br />
unweit des Saarbrücker Schlossplatzes wohnte.<br />
Am 6. August 1870 tat er genau das, was er hier<br />
auch auf von Werners Bild tut: Er war bei den Verbandsplätzen<br />
am Schlachtfeld von Spichern mit<br />
der Versorgung der Verwundeten beschäftigt.<br />
Sein Blick geht wie der der mehr oder weniger<br />
lädierten Soldaten selbstverständlich in Richtung<br />
Königskutsche, das verbindet die Krankenträger<br />
und Versehrten mit den dahinter stehenden<br />
Handwerkern zu einer abgrenzbaren Personengruppe.<br />
Der vordere der verletzten Soldaten, in<br />
Decke gewickelt und mit Krücken in den Händen,<br />
ist einer der zahlreichen saarländischen Helden<br />
bei der Schlacht um den Roten Berg. Gustav Johnen<br />
hieß er, war im Zivilberuf Eisenbahnbetriebssekretär<br />
und wohnte passenderweise in der Saarbrücker<br />
Eisenbahnstraße. Der Schmied Christian<br />
Nagel und der Metzger Friedrich Ziegler, die hinter<br />
der Verletztenbank stehen und aufmerksam<br />
den Empfang des Königs betrachten, sind zwei<br />
von wenigen Figuren auf dem Gemälde, die mit<br />
Ganzkörperporträt auftreten können, durch<br />
ihr Erscheinungsbild im Vordergrund nahezu<br />
unübersehbar. Womit sie sich in den Tagen von<br />
Spichern besonders verdient gemacht haben<br />
oder was sonst ihre Ausnahmestellung auf von<br />
Werners Bild rechtfertigte, ist nicht bekannt. Am<br />
Schlossberg und in der Friedrichstraße wohnend,<br />
also dort, wo es nach dem 2. August einige Turbulenzen<br />
gab, haben sie sich möglicherweise bereits<br />
in den Tagen vor dem 6. August um das Wohl und<br />
Wehe der preußischen Soldaten gekümmert oder<br />
als Handwerker bei der Versorgung von Truppen<br />
und Bevölkerung für die Überbrückung kritischer<br />
Engpässe gesorgt. Namentlich erwähnt wird in<br />
den Saarbrücker Erinnerungen an die Kriegszeit<br />
auf jeden Fall jener Herr, der hinter Friedrich Ziegler,<br />
unmittelbar vor dem Eckpfeiler der Brückenbrüstung<br />
zu sehen ist: Der Kürschner Philipp<br />
Simon hatte ein Geschäft an der Alten Brücke,<br />
aus dem er zum Beispiel während des Gefechts<br />
am 2. August heraustrat, um die preußischen vor<br />
den französischen Soldaten zu warnen. Nicht<br />
ohne Probleme lässt sich die Identität des Mannes<br />
klären, dessen Gesicht unmittelbar rechts<br />
neben dem von Simon zu sehen ist. Obwohl er<br />
auf Anton von Werners Entwurf als »Bäcker Fritz«
eindeutig bezeichnet ist, fehlt doch der Nachweis<br />
einer Saarbrücker Person dieses Berufs und<br />
Nachnamens in den verfügbaren Unterlagen.<br />
Weil der »Bäcker Fritz« aber in der Handwerker-<br />
Gruppe platziert wurde und Bäcker während der<br />
kritischen Augusttage 1870 eine wichtige Rolle<br />
gespielt hatten, möchte man hier für einen der<br />
drei Saarbrücker Bäcker plädieren, die den Vornamen<br />
Friedrich trugen und – wie die meisten<br />
Menschen auf dem Gemälde – am oder nicht<br />
weit entfernt vom Schlossberg wohnten.<br />
Bei der bürgerlichen Zuschauergruppe auf der<br />
rechten Seite fällt auf den ersten Blick auf, wie<br />
weiblich sie besetzt ist. Das war in der ersten<br />
Fassung des Bildes noch wesentlich eindeutiger,<br />
bevor der Korrekturpinsel dafür zu sorgen hatte,<br />
dass Frauen verschwanden oder in den Hintergrund<br />
gedrängt wurden, so wie das in der politischen<br />
Öffentlichkeit des Kaiserreichs nun mal<br />
üblich war. Dennoch konnten einige Damen gut<br />
sichtbar ihre Position behaupten, vor allem die<br />
beiden mit fast identischen Tournürenkleidern<br />
hervorgehobenen Personen, die dergestalt wie<br />
zweieiige Zwillingsschwestern daherkommen.<br />
In der Tat handelte es sich bei den beiden<br />
Abgebildeten um Schwestern, um die zwei Töchter<br />
des St. Johanner Kreisphysikus und Sanitätsrats<br />
Dr. Friedrich Wilhelm Küpper, der seit dem 6.<br />
August wie seine vielen Kollegen im Dauereinsatz<br />
war. Mit großer Sicherheit haben sich die 25-jährige<br />
Stephanie (links) und ihre sieben Jahre jüngere<br />
Schwester Sophie Alwine nach geschlagener<br />
Schlacht ebenfalls im wohltätig-pflegerischen<br />
Bereich hervorgetan. Schwester Stephanie stand<br />
sogar auf der Liste der 51 Damen aus Saarbrücken-<br />
St. Johann, die 1874 von Kaiser Wilhelm mit dem<br />
Verdienstkreuz für Frauen und Jungfrauen ausgezeichnet<br />
wurden. Die gleiche Ehrung erfuhr<br />
Frau Johanna Schlachter, deren Gesicht im Profil<br />
noch gerade so an den rechten Bildrand passte.<br />
Frau Kommerzienrat wohnte nur ein paar Schritte<br />
von dem Ort entfernt, an dem von Werner sie<br />
auf Leinwand gebracht hatte, in der Villa Schlachter<br />
(aus der später die Kablé-Schule wurde), in der<br />
von Werner möglicherweise 1876 die Skizzen von<br />
der Alten Brücke und dem Saarbrücker Saarufer<br />
gemacht hat. Es ist mehr als naheliegend, dass<br />
sich Frau Schlachter und die Schwestern Küpper<br />
im Vaterländischen Frauenverein ihrer Städte<br />
engagiert haben, deren Vorsitzende Ida Röchling<br />
und Ida Schmidt zwar nicht in von Werners<br />
Gemäldegalerie aufgenommen wurden, dafür<br />
aber auf Medaillons auf der Eingangstür zum<br />
Rathaussaal ein dauerhaftes Andenken erhielten.<br />
Zur Frauengruppe beim Königsempfang gehörten<br />
thematisch und ikonographisch einige Männer,<br />
manche von ihnen sind in früheren Entwürfen<br />
»Frauen gewesen«. Direkt über dem Hut<br />
von Fräulein Küpper schaut ein weißhaariger<br />
Mann leicht nach oben aus der Menschenmenge<br />
in Richtung der königlichen Kutsche. Hier handelt<br />
es sich um den Saarbrücker Waisenvater Johann<br />
Riemer, der von Werner gemeinsam mit seiner<br />
Frau abkonterfeit worden war, jetzt aber hier<br />
allein seinen Platz als städtischer Wohltäter einnahm.<br />
Links von Riemer, in der ersten Reihe dieser<br />
Gruppe, steht ein weiterer Saarbrücker Stadtverordneter,<br />
der ein gerade in Kriegszeiten wichtiges<br />
Amt verwaltete. Johann Adam Knipper war<br />
nämlich nicht nur Maurermeister, sondern auch<br />
Stadtverordneter und Oberbrandmeister, ein<br />
Job, der ihm vor allem in den Tagen und Nächten<br />
der Bombardierungen bei Löscharbeiten einige<br />
außerplanmäßige Arbeitsstunden eingebrockt<br />
hatte. Schließlich ist sogar der Herr in Pickelhaube,<br />
der sich vor Knipper direkt neben der Kutsche<br />
postiert hat, kein Mann aus dem Tross des<br />
Königs, sondern ein besonderer St. Johanner Bürger.<br />
Er hieß Hermann Wirtz, war Polizeikommissar<br />
der Stadt St. Johann, wohnte in der Marktstraße<br />
300 (damals wurden die Nummern aller Häuser<br />
der Kommune noch durchgezählt) und hatte hier,<br />
am Ausgang St. Johanns nach Saarbrücken, für<br />
die ordnungsgemäße Durchführung des Empfangs<br />
zu sorgen. In dieser Eigenschaft achtet er<br />
in der auf dem Bild festgehaltenen Szene darauf,<br />
dass das zur Kutsche eilende Blumenkind erst<br />
nach der offiziellen Begrüßung durch die Stadtväter<br />
sein Gebinde übergibt. Der Kommissar war<br />
übrigens Mitglied des Historischen Vereins für<br />
die Saargegend und hielt in dieser Eigenschaft<br />
nach dem Krieg Vorträge über die Ereignisse von<br />
Spichern, unter anderem zum Frontbesuch Kaiser<br />
Napoleons und seines Sohnes am 2. August<br />
am nachmaligen Lulustein. Last not least die beiden<br />
jungen Männer im Vordergrund, von denen<br />
der Jüngere den beinverletzten Soldaten stützt.<br />
Auch ihr Erscheinen auf der Bühne des Historiengemäldes<br />
soll wahrscheinlich an bestimmte Episoden<br />
während der Augusttage 1870 erinnern,<br />
nämlich an die eifrige Beteiligung der Gymnasiasten<br />
am Kriegsgeschehen, nicht zuletzt<br />
an deren Unterstützung beim Bergen der Verwundeten.<br />
Die Tatsache, dass der spätere Von-<br />
Werner-Schüler Carl Röchling den Akademiedirektor<br />
bei dessen Besuchen an der Saar in die<br />
Interna des örtlichen Geschehens einweihte und<br />
noch als Schüler bereits selbst solche und ähn-
saargeschichte|n 23<br />
liche Kriegserlebnisse gezeichnet hatte, machen<br />
diesen Zusammenhang noch wahrscheinlicher.<br />
Bleiben zum Schluss der von Werner’schen Tabula<br />
personae noch die Figuren aus dem Tross des<br />
Preußenkönigs. Wenn man bedenkt, dass Wilhelm<br />
am 9. August von insgesamt 900 Personen<br />
begleitet wurde, dann ist das, was wir auf dem<br />
Gemälde zu sehen bekommen, wahrhaftig nur<br />
eine sehr, sehr kleine Auswahl. Tatsächlich sind<br />
es gerade einmal fünf Personen, die auf von Werners<br />
Bild neben dem Preußenkönig das große<br />
Gefolge vertreten müssen. In der Kutsche, an der<br />
Seite des Monarchen, ist Paul Armand von Loucadou<br />
zu sehen, seit 1866 Wilhelms dienstleistender<br />
Flügeladjutant, der im Generalstab den Feldzug<br />
nach Frankreich mitmachte. In erhöhter Position<br />
hinter der Kutsche, vermutlich auf dem entsprechenden<br />
Platz für königliche Wachen postiert,<br />
ist ein Mann mit Schirmmütze dargestellt,<br />
der in seiner augenfällig präsentierten Form<br />
eigentlich auch eine besondere Stellung im preußischen<br />
Tross innegehabt haben sollte. Es handelt<br />
sich bei ihm aber nicht um eine herausragende<br />
Militärpersönlichkeit, sondern um den Leibjäger<br />
Wilhelms I., der seinen König im Moment der<br />
»Aufnahme« ganz genau beobachtet. Dass dieser<br />
Herr Schulz, der auf dem Entwurf von 1878 nicht<br />
ganz so exponiert porträtiert wird, auf dem Saarbrücker<br />
Rathausbild in jeder Hinsicht so nahe am<br />
König gezeigt wird, verstärkt vor allem die Rolle<br />
Wilhelms in von Werners Komposition: Nicht die<br />
Großen des neuen Kaiserreichs, nicht die Moltkes,<br />
und Bismarcks, nicht einmal die Hohenzollernprinzen<br />
oder andere hochadlige Heeresführer des<br />
Feldzugs folgen dem König, sondern eine bestenfalls<br />
zweitrangige Person seines besonderen Vertrauens.<br />
Am Ende des sichtbaren Königszuges sind weitere<br />
drei Militärs zu erkennen, deren Köpfe unter dem<br />
rechten Baum über die Zuschauermenge hinausragen,<br />
die also ganz offenkundig zu Pferd unterwegs<br />
sind. Während der letzte Herr rechts mit<br />
Pickelhaube und individuellem Gesicht potentielle<br />
Bildbetrachter anschaut (und schon deswegen<br />
eine besondere, leider mir unbekannte Identität<br />
gehabt haben muss), geben die beiden sich<br />
anschauenden Männer mit den außergewöhnlichen<br />
Kopfbedeckungen sehr wahrscheinlich<br />
einen Hinweis auf ein besonderes Kapitel der<br />
Saarbrücker Kriegstage. Auch diese beiden waren<br />
bereits auf dem Entwurfsbild von 1878 zu sehen,<br />
hier noch wesentlich deutlicher als Abschluss des<br />
königlichen Zuges reitend. Während der rechte<br />
der beiden hochrangigen Soldaten schon da die<br />
Tschapka, die charakteristische Kopfbedeckung<br />
der Ulanen, trug, war sein Gegenüber im Entwurf<br />
noch mit einer normalen Schirmmütze<br />
behütet. In der endgültigen Fassung lässt von<br />
Werner den Ulanen, hinter dem man im Saarbrücker<br />
Kontext am sinnvollsten Oberst von Pestel<br />
als Standortkommandeur sehen sollte, mit<br />
der gleichen Pose auftreten wie beim Entwurf. Er<br />
tippt beim Anblick seines Kollegen ganz offenkundig<br />
mit dem Zeigefinger der rechten Hand an<br />
seine Tschapka und gibt damit wohl einen Hinweis<br />
auf den ungewöhnlichen Helm, den sein<br />
Gegenüber auf dieser Endfassung des Gemäldes<br />
trägt: eine Art Dreispitz, der nur schwerlich unter<br />
den Kopfbedeckungen zu finden sein dürfte, mit<br />
denen die preußisch-deutschen Truppen in diesem<br />
Krieg kämpften. Man kann sich hinter dieser<br />
mimischen Kommunikation eigentlich kaum<br />
etwas anderes vorstellen als den Hinweis auf<br />
jenes karnevaleske Theater, jene einfallsreichen<br />
Verkleidungsstücke, mit denen die Ulanen während<br />
der sogenannten Saarbrücker Vorpostenzeit<br />
die lauernden Franzosen über die wahre Stärke<br />
der preußischen Truppen zu täuschen und damit<br />
aufzuhalten versuchten.<br />
Katharina geht, Victoria kommt<br />
Von Werners Ankunft Seiner Majestät war im<br />
ersten Anlauf wie die Erstürmung der Spicherer<br />
Höhen und die fünf anderen Gemälde für den<br />
Rathauszyklus bei der preußischen Landeskunstkommission<br />
durchgefallen. Wie der Erstürmung<br />
fehle auch der Ankunft das Monumentale, außerdem<br />
sei speziell dieses Bild zu genrehaft. Obwohl<br />
von Werner diese Kritik noch viele Jahre später<br />
in zum Teil deutlichen Worten als irrelevant<br />
abkanzelte, ist sie beim Blick auf das Entwurfsbild<br />
nicht ganz von der Hand zu weisen. Und tatsächlich<br />
hat der Akademiedirektor hier genau<br />
wie beim Spichernbild letztlich mehr geändert,<br />
als er selbst zugab, mehr, als man auf den ersten<br />
Blick noch heute zu sehen vermeint, so viel jedenfalls,<br />
dass er damit den Wünschen der Kommission<br />
entgegengekommen war. Bis heute ist das<br />
farbige, »impressionistischere« Entwurfsbild in<br />
der Öffentlichkeit bekannter als die viele Jahrzehnte<br />
den Augen eben dieser Öffentlichkeit entzogene<br />
endgültige Fassung. Dennoch lässt schon<br />
der Vergleich des Entwurfs mit der Schwarzweiß-Fotografie<br />
aus alten Rathaustagen deutlich<br />
erkennen, wie viel Arbeit von Werner noch in<br />
die Realisierung des gewünschten Monumentalbildes<br />
investieren musste. Denn diese Änderungen<br />
beschränkten sich keineswegs auf die Verbannung<br />
der bildprägenden Figur von Schultze<br />
Kathrin aus dem Vorder- in den Hintergrund,
Das »volkstümlichere«<br />
Entwurfsbild<br />
von 1877 hängt heute<br />
als »Ankunft König<br />
Wilhelm I. von Preußen<br />
in Saarbrücken<br />
am 9. August 1870«<br />
im Deutschen Historischen<br />
Museum in<br />
Berlin. Schultze Kathrin,<br />
die Saarbrücker<br />
Heldin der Schlacht<br />
von Spichern, spielt<br />
im Vordergrund eine<br />
herausragende Rolle.<br />
(Format: 120 x 70 cm.<br />
© Deutsches Historisches<br />
Museum / A.<br />
Psille)<br />
betrafen viel mehr Details, als bisher in den meisten<br />
einschlägigen Publikationen aufgeführt wurden.<br />
Als zu genrehaft (eine im Kern leicht missverständliche<br />
Kritik, entwickelte sich die Historienmalerei<br />
einschließlich der ihr eigenen Realistik<br />
doch aus der Genremalerei) dürfte der Kommission<br />
vor allem der fast schon pittoreske Charakter<br />
einer Straßenszene vorgekommen sein, als die<br />
von Werners Entwurf daherkam: im Vordergrund<br />
eine Frau mit Schürze und Marktkorb, an deren<br />
Kittel zwei Kinder hängen, mittendrin ein neugieriger,<br />
barfüßiger Straßenjunge, daneben Pferde<br />
und Handwerker, eine eher gemütlich-bieder<br />
wirkende Häuserfront mit Kirche im Hintergrund,<br />
vorne viel leerer Platz fürs Straßenpflaster; in all<br />
dem drohte die zentrale Handlung des Bildes fast<br />
zur Nebensache zu werden. Von Werner musste<br />
es also zuvörderst um eine dramaturgische<br />
Zuspitzung gehen, die er einerseits, ähnlich wie<br />
bei der Erstürmung, durch eine Verdichtung<br />
der Menschenmenge, andererseits aber auch<br />
durch kleine effektive Verschiebungen von Bildelementen<br />
und nicht zuletzt durch ein perspektivisches<br />
Abkippen des gesamten Motivs erreichte.<br />
Die Menschenmenge wirkte danach viel imposanter,<br />
unmittelbarer auch, der Betrachter wird<br />
stärker ins Bild hineingezogen. Von der Saarbrücker<br />
»Skyline« sind fast nur noch die Dächer<br />
übrig geblieben, das auffälligste Gebäude ist<br />
zwischen den Bäumen fast verschwunden, nur<br />
noch in seinem signifikanten Rest erkennbar.<br />
Die Augen der Betrachter sind ohne die Aussicht<br />
aufs jenseitige Saarbrücken nicht mehr verführt,<br />
in die Ferne zu schweifen, sondern können sich<br />
auf das Zentrum des Bildes, die Königskutsche,<br />
konzentrieren. Diesem Zweck dient auch die Verschiebung<br />
der Bäume im Hintergrund, die den<br />
eigentlichen Empfang des Königs nun quasi<br />
zusätzlich markieren. Auf der anderen Seite, im<br />
unmittelbaren Vordergrund, wurden aus ähnlichen<br />
Gründen jene Frau und ihr »Anhang«<br />
getilgt, die geeignet waren, dem König buchstäblich<br />
die Schau zu stehlen. Die Schultze Kathrin<br />
und »ihre« Kinder mussten zwar nominell aus<br />
sozial-distinktiven Aspekten verschwinden, doch<br />
wie es sich bei dem dann realisierten Ersatz zeigte,<br />
ging es auch hier vor allem um eine zusätzliche<br />
Fokussierung auf Kaiser (bzw. noch König),<br />
Krieg und Reich. Der Gymnasiast mit »seinem«<br />
Verletzten bezeugt das ebenso eindrucksvoll wie<br />
der kleine Schlachtenbummler mit Säbel und<br />
Reichsfahne und vor allem das im Anmarsch auf<br />
die Kutsche befindliche Blumenmädchen. Mit<br />
diesem Mädchen wurde vermutlich ein weiteres<br />
Mal auf diesem Bild eine historische Szene aus<br />
den Augusttagen zitiert, hatte nach der Überlieferung<br />
doch Friedrich Quiens Enkeltochter<br />
dem König vor dem Haus des Kaufmanns einen<br />
Rosenstrauch überreicht.<br />
Man kann noch einige weitere Veränderungen<br />
zwischen dem Entwurf und der Endfassung<br />
benennen. Die nach vorne gebrachten Sandsäcke<br />
und das aufgerissene Pflaster, die den Leerraum
saargeschichte|n 25<br />
vor der Kutsche verkürzen und die Erinnerungen<br />
an die dramatischen Kampfszenen um die Alte<br />
Brücke verstärken. Das Verschwinden des Schildes<br />
an der Brücke, dessen Hand mit ausgestrecktem<br />
Zeigefinger – ein verbreitetes zeitgenössisches<br />
Piktogramm für besondere Hinweise – genau<br />
auf die Villa Quien gerichtet war. Die Rochade<br />
von einigen charakteristischen Köpfen wie dem<br />
des Bärtigen von der rechten Brückenseite hinter<br />
den Brückenpfeiler links, ein Mann, der Ähnlichkeiten<br />
mit dem allerdings viel jüngeren St.<br />
Arnualer Förster Bergmann besaß, dem wackeren<br />
»Scout« der Preußen vor den Gefechten. Die<br />
von rechts ins Bild wehende Reichsfahne, die nun<br />
viel steifer im Wind steht als auf dem Entwurf<br />
von 1878, auch das wohl ein Zugeständnis an<br />
den noch schneidigeren Zug, den sich die preußische<br />
Kommission gewünscht hatte. Dafür sind<br />
viele der (auch preußischen) Fahnen, die in der<br />
ersten Fassung die Saarbrücker Häuser schmückten,<br />
dem Perspektivwechsel zum Opfer gefallen.<br />
Schließlich und vor allem sei noch auf ein Gesicht<br />
hingewiesen, dass sich in der Menschenmenge<br />
rechts ziemlich gut versteckt hat, etwas unterhalb<br />
des rechten Baumstamms, zwischen den<br />
Köpfen der Küpper-Damen taucht es ziemlich<br />
unvermittelt auf. Weil dieses Gesicht an diesem<br />
Ort schlechterdings niemand zuzuordnen ist<br />
und uns seine Augen anders als alle anderen Blicke<br />
des Bildes unmittelbar, ja frontal anschauen,<br />
kann es sich dabei nur um einen handeln: Es ist<br />
Anton von Werner selbst, der sich unter den Saarbrücker<br />
Bürgerinnen eingeschlichen hat, ganz in<br />
der Tradition alter Meister, mit denen er sich in<br />
jenen Jahren ja auch in seinem Selbstporträt verglich.<br />
Das Saarbrücker »Wimmelbild« war schwerlich<br />
dazu geeignet, beim schlichten Betrachten<br />
vaterländisches Pathos oder nationale Hochgefühle<br />
hervorzurufen, sofern diese Emotionen<br />
beim Betrachter nicht ohnehin immer vorhanden<br />
waren. Dagegen dürften viele Besucher aus Stadt<br />
und Land hier abwechslungsreiche Momente<br />
des Suchens und Entdeckens erlebt haben, was<br />
die Liebe zu den Gemälden und ihren nationalen<br />
Botschaften auf Umwegen dann doch befördert<br />
haben kann. Außerdem werden sich einige einheimische<br />
Bürger vermutlich öfter dazu veranlasst<br />
gesehen haben, sich gerade vor dem<br />
Ankunft-Bild stolz im imaginären monarchischen<br />
Glanz zu sonnen.<br />
Im Vergleich zu diesen eher subkutanen »Verführungskünsten«<br />
der Ankunft ging es beim<br />
letzten Monumentalbild des Rathaussaales viel<br />
direkter, übersichtlicher, pathetischer und feierlicher<br />
zu. Nur sechs Figuren brauchte von Werner<br />
hier, um das neue Reich der Deutschen zu verklären<br />
und den historischen Akt der Vereinigung<br />
zur Nation in goldenes Licht zu tauchen. Aus<br />
sphärischen Höhen kommt Victoria angeschwebt,<br />
bringt den Siegeslorbeer und die Reichskrone für<br />
die nord- und süddeutschen »Stämme«, die das<br />
Kaiserreich im Kampf gegen Frankreich errungen<br />
haben. Im Mittelpunkt des Bildes steht eindeutig<br />
der Händedruck zwischen Nord und Süd, dessen<br />
Bedeutung schon dadurch offenbar wird, dass auf<br />
exakt der gleichen, vertikalen Mittelachse des Bildes<br />
die Reichskrone an Victorias ausgestrecktem<br />
Arm platziert ist, bereit zum Krönungsakt. Nicht<br />
einem der Kriegsfürsten, soll das heißen, sondern<br />
ihrer Vereinigung gebührt die Kaiserwürde.<br />
Am Boden sitzt ein junger Mann, der seinen<br />
Arm offenkundig mit letzter Kraft nach den verbundenen<br />
Händen von Nord und Süd ausstreckt,<br />
in der vermutbaren Absicht, den Bund für das<br />
neue Deutsche Reich zu segnen, ähnlich wie ein<br />
Priester einen Ehebund für die Ewigkeit heiligt.<br />
Da der Mann nur mit einem Lendentuch bekleidet<br />
ist und seine halb geschlossenen Augen einen<br />
bereits verlöschenden Blick signalisieren, scheint<br />
es sich hier um ein reines Opfer zu handeln. Ein<br />
Opfer jenes Einigungskrieges, der gerade erfolgreich<br />
beendet wurde, ein Opfer, das augenscheinlich<br />
dokumentiert, welchen überirdischen Sinn der<br />
Tod fürs Vaterland gehabt haben soll. Unmittelbar<br />
neben der Sitzfläche des »Opferlamms« kommt<br />
der starke Arm eines Mannes zum Vorschein, von<br />
dem sonst nur der Ansatz seines Panzerhemdes<br />
zu sehen ist, nichts mehr, der Rest des Körpers ist<br />
unter dem Tuch der germanischen Krieger verborgen.<br />
Aus dem Nichts und offenbar am Boden<br />
liegend greift der Unbekannte nach einem zwischen<br />
den deutschen Füßen liegenden Stab. Er<br />
gehört zu einem Feldzeichen, dessen Identität<br />
bei einem Blick auf das fast am Bildrand liegende<br />
Bruchstück deutlich wird. Ein N im Lorbeerkranz<br />
unter einem goldenen Adler, der aigle de drapeau<br />
und die Krönungsinsignien Napoleon Bonapartes,<br />
des Begründers des französischen Kaisertums:<br />
Das Empire français liegt am Boden, im<br />
Staub, mehrfach gebrochen zu Füßen der deutschen<br />
Sieger, auf die die imperiale Würde damit<br />
übergeht. Diese Botschaft des Bildes ist mehr<br />
als deutlich, auch wenn sie nur am Rande eingespielt<br />
wird. Es ist das einzige Mal, dass der französische<br />
Erbfeind in von Werners Rathauszyklus
Die »Victoria« firmierte<br />
ursprünglich<br />
als »Die Vereinigung<br />
von Nord- und Süddeutschland«,<br />
was<br />
ihre zentrale Aussage<br />
korrekter umschrieb.<br />
Das Gemälde befand<br />
sich bereits anfangs<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
in einem ruinösen<br />
Zustand und wurde<br />
1903 von Anton von<br />
Werner komplett<br />
übermalt. (Format:<br />
350 x 245 cm. © Historisches<br />
Museum Saar,<br />
Thomas Roessler)<br />
zumindest andeutungsweise vorkommt, durchaus<br />
ungewöhnlich bei einer Gemäldegalerie, die<br />
ja den deutsch-französischen Krieg vor den Toren<br />
Saarbrückens dokumentieren sollte.<br />
Eine Nebenrolle spielt der blondgelockte Schildknappe,<br />
der am rechten Rand neben seinem<br />
germanischen Herren zu sehen ist. Der Reichsadler<br />
auf dem von ihm betreuten Schild zeigt<br />
aber, für wen dieser Herr gekämpft hat und<br />
wofür er jetzt die Schwurhand erhebt. Dass er<br />
das mit links tut, ist natürlich kein Hinweis auf<br />
die Leichtigkeit der Übung, sondern alleine der<br />
Tatsache geschuldet, dass er die Rechte zur Verbindung<br />
mit seinem deutschen Waffenbruder<br />
braucht. Welche allegorische Figur welchen Part<br />
in diesem Vereinigungswerk übernommen hat,<br />
ist nicht ganz einfach zu klären. Sofern von Werner<br />
eine eindeutige Zuordnung des Nord- und<br />
des Südgermanen überhaupt intendiert hatte<br />
und er die historische Vorlage von 1870 wörtlich,<br />
eigentlich bildlich interpretierte, müsste die Rolle<br />
der Südstaaten eher dem Mann mit dem Flügelhelm<br />
zufallen. Er ist sichtlich jünger als sein<br />
Gegenüber, und es waren nun einmal die bisher<br />
eigenstaatlichen Süddeutschen, die de facto<br />
(wenn auch nicht de jure) dem Norddeutschen<br />
Bund beitraten. Die Jugend und die Schwurhand<br />
würden also für den Krieger rechts als Verbildlichung<br />
der Neuen im Bunde sprechen. Gleichwohl<br />
ist die politische Ikonographie des Bildes<br />
nicht so eindeutig, dass sie diese Sichtweise ganz<br />
sicher unterstützen würde. Denn der ältere Krieger<br />
links, der nach der eben definierten Logik den<br />
Norden, will sagen Preußen, präsentieren könnte,<br />
ist beim gemeinsamen Schwur nicht in schwarzweiß<br />
oder schwarz-weiß-rot, sondern in blauweiß<br />
gehüllt, die Farbkombination der Fahne, auf<br />
die er seinen Eid ablegt. Blau-weiß waren und<br />
sind aber bekanntlich die bayerischen Farben,<br />
das ebenso berühmte Preußisch-Blau kommt<br />
dagegen wesentlich dunkler daher. Ebenso ambivalent<br />
wie das Farbenspiel sind der Löwe und das<br />
Eichenlaub auf dem Helm des älteren Kriegers;<br />
das waren Symbole, die sowohl in der preußischen<br />
wie in der bayerischen Herrschaftsikonographie<br />
ihren Platz hatten. Nicht auszuschließen,<br />
dass Anton von Werner bewusst die symbolischen<br />
Grenzen der politischen Hemisphären verwischt<br />
hat, um die Symbiose von Nord und Süd<br />
noch unauflöslicher zu gestalten.<br />
Schließlich sollte man die Möglichkeiten nicht<br />
außer Acht lassen, die das freie Spiel mit der historischen<br />
Phantasie erbrachten. Zum Historismus<br />
gehörten die Antikenrezeption, die Orientierung<br />
an Stoffen einer mythischen Vergangenheit,<br />
das Vergnügen, die Ereignisse der Gegenwart in<br />
eine scheinbar archaische Zeit der Vorväter zu<br />
transportieren. In den sogenannten lebenden<br />
Bildern, einer Art »Szenenfoto« mit historisch<br />
gewandeten Darstellern, konnte man solche auf<br />
uns heute meist komisch wirkenden Zeitsprünge<br />
ebenso inszenieren wie auf den Darstellungen der<br />
Historienmaler. Wenn die Geschichte als objektive<br />
Lehrmeisterin der Gegenwart anerkannt war,<br />
dann schien es durchaus opportun, den Beweis<br />
für die besondere Identität, Wahrhaftigkeit und<br />
Größe der eigenen Nation in einer lange vergangenen<br />
Zeit zu suchen. Es ist dies vor allem<br />
ein Beleg für den neuen Reichsnationalismus<br />
der 1870er Jahre: In den mythischen Urzeiten<br />
des eigenen Volkes begann jene preußisch-deutsche<br />
Mission, die jetzt mit der nationalen Einigung<br />
vollendet wurde. Auch das ist ein Grund<br />
für die Germanophilie der Gründerzeit, für das<br />
Ausschlachten von nordischen Mythen und die<br />
geistigen Brücken, die aus der Epoche der Hochindustrialisierung<br />
in die Sagenwelt der Nibelungen<br />
gebaut wurden. Viele Künste und Künstler<br />
bauten mit an einem Bild der allgegenwärtigen<br />
Vergangenheit, die das eigene Volk und die<br />
Nation zu einer ewigwährenden Wahrheit stilisierte:<br />
die Literatur, die Malerei, die Musik, ein<br />
Richard Wagner, dessen Opern man fast wie<br />
eine romantisch-historisierende Intonierung<br />
der Gründerzeit hören konnte, dessen Bühnenbilder<br />
unzählige Germanen wiederauferstehen<br />
ließen. Wenn die Saarbrücker also die gerade erst<br />
geschehene Vereinigung ihrer Nation von Anton<br />
von Werner in germanischen Gewändern serviert<br />
bekamen, dann war das für sie ein politisch plausibles<br />
und ästhetisch vertrautes Erlebnis. Zumal<br />
dies auch dem Ton in der Tagespresse entsprach,<br />
die in den Jahren der Reichsgründung immer von<br />
der Vereinigung der deutschen Stämme schrieb.<br />
Bekanntlich war die Vereinigung von Nord und<br />
Süd zum Deutschen Reich allerdings nicht ganz<br />
so unproblematisch, wie es der feste Händedruck<br />
über dem in gemeinsamem Kampf niedergerungenen<br />
Erbfeind auf von Werners Victoria<br />
suggerieren konnte. Immerhin hatten die Süddeutschen<br />
nebst einigen weiteren Mittelstaaten<br />
wenige Jahre zuvor, beim Bruderkrieg von 1866,<br />
auf der Seite von Preußens Feinden gestanden.<br />
Immerhin wurden in der Öffentlichkeit sogar<br />
noch nach der französischen Kriegserklärung im<br />
Juli 1870 nervöse Debatten darüber geführt, ob<br />
sich die »Partikularisten« im Süden tatsächlich<br />
für einen gesamtdeutschen Kampf an der Seite<br />
Preußens entscheiden oder Neutralität wahren<br />
würden (und manche befürchteten gar noch
saargeschichte|n 27
Schlimmeres). Zwar wurde der Bündnisfall rasch<br />
vollzogen, sorgte der Krieg dann in der Tat für<br />
zuvor kaum möglich gehaltene nationale Euphorie<br />
in den Südstaaten, zwar war die Begeisterung<br />
für das neue Reich nach dessen Gründung selbst<br />
in den Königreichen Württemberg und Bayern<br />
unübersehbar. Die antipreußischen Ressentiments<br />
blieben nichts desto trotz bestehen, vor<br />
allem der Argwohn gegenüber einer borussischen<br />
Hegemonie im neuen Staatsverbund. Um<br />
ihn zu überwinden und die Kaiserkrone für Preußen<br />
zu sichern, musste Bismarck erneut mit<br />
»sanftem« Druck nachhelfen, er musste Bayern<br />
mit dem Zugeständnis von Sonderrechten und<br />
erheblichen finanziellen Beträgen regelrecht<br />
kaufen: Das von Ludwig II. gebaute Schloss Neuschwanstein<br />
zeugt noch heute von dieser Situation,<br />
nicht ohne Komik, weil auf diesem Weg ein<br />
urbayerisches Heiligtum mit preußischem Geld<br />
errichtet werden konnte. Natürlich waren die<br />
alten Rivalitäten auch in der saarländischen Provinz<br />
nicht vergessen. Sie waren vielmehr gerade<br />
unter den jetzt zunehmend national-liberalen<br />
Saarbrücker Honoratioren noch in lebendiger<br />
Erinnerung, also unter solchen Männern, wie sie<br />
auf dem von-Werner-Bild zu sehen sind. Und die<br />
Animositäten waren angesichts der nahen preußisch-bayerischen<br />
Grenze sogar sehr gegenwärtig:<br />
Als die preußischen Vorposten in den<br />
ersten Kriegstagen im bayerischen Bliesgau operierten,<br />
berichteten sie von vielen Dorfbewohnern,<br />
die den Franzosen freundlicher gesinnt gewesen<br />
wären als ihnen. Das gegenseitige Misstrauen<br />
blieb noch lange über die Reichsgründung hinweg<br />
erhalten, unter den Vorzeichen des in den<br />
1870ern stattfindenden Kulturkampfs sogar mit<br />
neuer Intensität. Unter solchen Umständen<br />
könnte so mancher Besucher im Saarbrücker Rathaussaal<br />
den im Zeichen der Victoria vollzogenen<br />
Handschlag noch 1880 mit durchaus gemischten<br />
Gefühlen betrachtet haben.<br />
Ein Monument für Nationalismus und<br />
Bellizismus?<br />
Die zeitgenössischen Ambivalenzen beim Zugang<br />
zur Victoria lassen erahnen, wie schwierig es ist,<br />
Bedeutung und Wirkung des Saarbrücker Rathauszyklus<br />
angemessen zu bestimmen. Die<br />
ästhetische Kraft und die gesellschaftliche Relevanz<br />
eines Gemäldes erschöpfen sich ja niemals<br />
allein im Wollen des Künstlers oder in den politischen<br />
Absichten des Auftraggebers. So wie sich<br />
die Vorstellungen von Kunst, von Stil und Ästhetik<br />
oder den Gebrauchsweisen der Kunst, beständig<br />
verändert haben, so wandeln sich auch die Botschaften,<br />
die die Kunstwerke für ihr Publikum<br />
haben. Um ein oft vorkommendes Missverständnis<br />
beim Betrachten von Kunst aus »politisch<br />
kontaminierten« Epochen vorab zu benennen:<br />
Die Vorstellungen, dass die Gemälde Anton von<br />
Werners immer noch die Erbsünden der Gründerzeit<br />
virulent in sich tragen, dass Nationalismus,<br />
Militarismus oder Frankophobie (und zwar in der<br />
gleichen Konnotation, die man heute mit ihnen<br />
verbindet) wie in einer hermetischen Zeitkapsel<br />
den Weg über 140 Jahre zu uns gefunden haben<br />
und deswegen noch im Jahr 20<strong>21</strong> nur mit »kritischer«<br />
Vorsicht zu beobachten sind – diese Vorstellungen<br />
sind dann doch ein ganzes Stück zu<br />
naiv, um wahr sein zu können. Das Problem liegt<br />
bei solchen Vorstellungen, plakativ ausgedrückt,<br />
nicht in den Gemälden, sondern in den Köpfen,<br />
die sie betrachten.<br />
Womöglich wird sogar die propagandistische<br />
Wirkung, die von diesen Kunstwerken in ihrer Zeit<br />
ausgehen konnte, generell überschätzt. Wobei<br />
es keineswegs am nötigen Zuspruch fehlte. Im<br />
Gegenteil, die Menschen wollten solche Gemälde<br />
sehen. Man weiß von Ausstellungen in vielen<br />
Städten, dass die zahllosen realistischen Bilder<br />
aus den Schlachten des Deutsch-Französischen<br />
Krieges zeitweise Zuschauermagneten waren.<br />
Aber gingen die Menschen, die 1880 die Panoramen<br />
oder Monumentalgemälde anschauten, als<br />
neugierige und politisch indifferente Besucher<br />
ins »Museum« und kamen, überspitzt formuliert,<br />
als glühende Nationalisten oder Bellizisten wieder<br />
heraus? Wohl kaum. Denn es bedurfte natürlich<br />
viel mehr als nur eines volkspädagogischen<br />
Impulses, damit aus den Bildern von Kaiser, Reich<br />
und Nation gesellschaftliche Handlungsmuster<br />
entstehen konnten. Es bedurfte entsprechender<br />
Sozialisationsinstanzen (Elternhaus, Schule, Militär,<br />
Arbeitsplatz), Medien (Denkmäler, Zeitungen,<br />
Bildpublikationen) und vor allem kollektiver<br />
Erlebnisse (allen voran der Krieg selbst und<br />
die an ihn gebundenen Feiern und Rituale der<br />
Erinnerung), um jenen »Gläubigen« zu formen,<br />
der seine Nation und deren Feinde im Kunstwerk<br />
erkennen und emotional verarbeiten konnte.<br />
Erst nach vielen Geschichtsstunden fingen<br />
die Augen der Schüler vor der Victoria so richtig<br />
an zu Leuchten, die Erstürmung der Spicherer<br />
Höhen wurde erst durch die leibhaftigen Kriegserinnerungen<br />
von Veteranen und Augenzeugen<br />
zu einem rauschhaften Erlebnis (oder aber zu<br />
einer Zitterpartie), erst durch die zunehmende<br />
Mythologisierung des Kaisers und die Realität<br />
der örtlichen »Helden« gewann die Ankunft seiner<br />
Majestät ihre besondere Aura. Die Rezeption
saargeschichte|n 29<br />
der Gemälde entfaltete ihre Wirkung im Rahmen<br />
einer viel breiteren kulturellen Praxis. Schon deshalb<br />
war es sehr sinnvoll, den Rathaussaal in ein<br />
umfassendes touristisches Erlebnisprogramm zu<br />
integrieren, in dem die geschichtsträchtigen Orte<br />
in der »Frontstadt« Saarbrücken ebenso sinnlich<br />
erfahrbar wurden wie die Schlachtfelder von Spichern.<br />
Man sollte solche komplexen Zusammenhänge<br />
und langwierigen Prozesse der Wirkungsgeschichte<br />
im Kopf behalten, bevor man den<br />
Saarbrücker Rathauszyklus zu einer außergewöhnlichen<br />
Ikone des Nationalismus sowie<br />
der Glorifizierung von Kaiser und Krieg erklärt.<br />
Eine Historisierung des Nationalismus der 1870er<br />
Jahre (statt einer nicht hinterfragten Identifikation<br />
mit seiner heutigen Lesart) tut genauso<br />
not wie eine Einordnung des Bildprogramms in<br />
vergleichbare zeitgenössische Werke und in den<br />
Rahmen von Werners eigenem Œuvre während<br />
der Gründerzeit. Auch wenn diese kunst-historische<br />
Untersuchung hier im Einzelnen nicht<br />
geleistet werden kann, sprechen doch einige<br />
Indizien dafür, die propagandistische Botschaft<br />
der Bilder nicht zu hoch zu taxieren. Obwohl<br />
von Werner in den 1870ern fraglos der oberste<br />
malende »Bildungsbeauftragte« des kaiserzeitlichen<br />
Systems wurde, der sich als »pflichtbewußer<br />
Reichsherold«, wie es einmal polemisch<br />
gesagt wurde, »wie viele andere nicht scheute,<br />
siegestrunken auf die Stufe der Kultursoldaten<br />
herabzusteigen«, hielt sich seine martialische<br />
Begeisterung für das im Kampf errungene<br />
Reich auf den Saarbrücker Bildern doch sehr in<br />
Grenzen. Wenn eine unterschwellige Botschaft<br />
die drei Monumentalgemälde verband, dann<br />
war es der bildliche Appell an die Einheit<br />
der Nation, an einen standesübergreifenden<br />
Nationalismus auch, der die<br />
leise Erinnerung an seine demokratischen<br />
Ursprünge nicht verloren hatte, der bis<br />
zu einem gewissen Grade noch in jenem<br />
national-liberalen Geist lebte, der bis 1870<br />
herrschte und dem sich von Werner selbst<br />
bis dahin verbunden gefühlt hatte.<br />
Bei der Erstürmung der Spicherer Höhen<br />
ging es nicht um einen strahlenden Sieger<br />
des Kampfes gegen die Franzosen, sondern<br />
um den Helden, der sichtbar als primus inter<br />
pares ins Gefecht zog und sein Leben fürs<br />
Vaterland opferte, der am Ort seines Heldentods<br />
auch deshalb volkstümlich werden konnte.<br />
Auf der Ankunft Seiner Majestät standen<br />
zwar die städtischen Honoratioren im Zentrum<br />
und damit am nächsten zum König. Im<br />
Volk, das dem künftigen Kaiser zujubelte, ihm<br />
naherückte, waren aber alle Stände, Klassen und<br />
Geschlechter vertreten, vor allem in von Werners<br />
erstem Entwurf, in dem er – ähnlich wie<br />
bei der ersten Kaiserproklamation – die Nation<br />
auf eine möglichst breite gesellschaftliche<br />
Basis stellte. Es war die Einheit von Kaiser und<br />
dem im Volk verkörperten Reich, die hier zelebriert<br />
wurde, wobei die Bedeutung des Kaiserhauses<br />
durch die Rahmung des Ankunftsbildes<br />
mit den Hohenzollernprinzen erheblich verstärkt<br />
wurde. Schließlich stand sogar auf der Victoria,<br />
die den Sieg über Frankreich als Wiedergeburt<br />
eines deutschen Imperiums feierte, im Zentrum<br />
nicht die Erniedrigung des Erbfeinds, sondern<br />
die Verbrüderung der deutschen »Stämme«. Die<br />
Erfahrung der hier verbildlichten Waffenbrüderschaft<br />
war das entscheidende Moment beim<br />
Vollzug der Einheit des Kaiserreichs. Als von Werners<br />
Victoria 20 Jahre nach der Eröffnung des<br />
Saarbrücker Ratssaals zum Motiv einer Briefmarke<br />
der Reichspost wurde, fand der Händedruck<br />
mit dem Segen der Siegesgöttin zwischen<br />
Alpenpanorama und Meeresstrand statt, ohne<br />
jede Spur des geschlagenen Frankreich. Seid<br />
einig, einig, einig, stand auf einer Banderole unter<br />
den Waffenbrüdern, die mit dieser Botschaft ins<br />
ganze weite Reich verschickt wurde. Vielleicht<br />
war der Appell zur Einheit der neuen Nation<br />
auch das, was von Werner in seinen Saarbrücker<br />
Bildern an die Adresse der zuvor nicht immer<br />
preußenfreundlichen Saarländer zum Ausdruck<br />
bringen wollte – verbunden mit vielen persönlichen<br />
»Komplimenten« für die im August 1870<br />
gebrachten Opfer.
st.wendel und gurs – verbindungen<br />
über zeit und raum hinaus<br />
Vom Leben und Sterben des Bildhauers und Malers Otto Freundlich<br />
in Zeiten des NS-Terrors und dem Weiterleben seiner Idee in St. Wendel<br />
von sabine graf<br />
Der St. Wendeler<br />
Künstler Leo Kornbrust<br />
folgte der Idee<br />
von Otto Freundlich<br />
und begründete<br />
1979 die in St. Wendel<br />
beginnende »Straße<br />
der Skulpturen«.<br />
Am 22. Oktober 1940 wurden auf Veranlassung<br />
des Gauleiters »Saarpfalz«, Josef Bürckel und<br />
des Gauleiters von Baden, Robert Wagner, 6.500<br />
Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und<br />
dem Saarland in das Internierungslager Gurs in<br />
den Pyrenäen verschleppt. Im Saarland wurden<br />
145 Jüdinnen und Juden von der sogenannten<br />
»Wagner-Bürckel-Aktion« erfasst. Aus dem heutigen<br />
Kreis St. Wendel bzw. aus St. Wendel und<br />
Tholey wurden 17 Menschen nach Gurs verbracht<br />
und zwei Jahre später über Drancy nach Auschwitz<br />
deportiert und ermordet. Aus Anlass des 80.<br />
Jahrestages erinnert eine von der Gedenk- und<br />
Bildungsstätte »Haus der Wannsee-Konferenz«<br />
erarbeitete Ausstellung »Gurs 1940. Deportation<br />
und Ermordung südwestdeutscher Jüdinnen<br />
und Juden« an die Ereignisse vom Oktober 1940.<br />
Die Ausstellung sollte am 80. Jahrestag , dem<br />
22. Oktober 2020 in St. Wendel, Saarbrücken<br />
und Rehlingen-Siersburg sowie in den anderen<br />
Landkreisen eröffnet werden. Die Corona-<br />
Situation bedingte, dass die aus 26 Wandtafeln<br />
bestehende Ausstellung nun am 8. April 20<strong>21</strong>,<br />
dem jüdischen Gedenktag Yom HaShoah zeitgleich<br />
in allen Landkreisen sowie im Regionalverband<br />
Saarbrücken eröffnet wird.<br />
Eine weitere Spur der Erinnerung führt von St.<br />
Wendel nach Gurs. Als der St. Wendeler Bildhauer<br />
Leo Kornbrust 1978 daran ging, die Skulpturen,<br />
die seit 1970/1971 bei Bildhauersymposien auf<br />
der Baltersweiler Höhe entstanden waren, mit<br />
der 1979 offiziell eingeweihten Skulpturenstraße<br />
zu vereinigen, entdeckte er, dass diesen Plan rund<br />
30 Jahre zuvor ein anderer schon gefasst hatte.<br />
Der Maler und Bildhauer Otto Freundlich hatte<br />
um das Jahr 1936 die Idee zweier durch Europa<br />
verlaufender Skulpturenstraßen<br />
entwickelt. Daraufhin widmete Leo<br />
Kornbrust die Symposien und die<br />
1979 daraus erwachsene »Straße<br />
der Skulpturen« in St. Wendel dem<br />
von Gurs über Drancy nach Sobibor<br />
deportierten und dort ermordeten<br />
Otto Freundlich. Seit 1988 erinnert<br />
zudem auf dem Fruchtmarkt von<br />
St. Wendel eine von Leo Kornbrust<br />
geschaffene Pyramide an Leben<br />
und Sterben von Otto Freundlich<br />
und seiner für die Skulpturenstraße<br />
St. Wendel so bedeutende Idee. Das<br />
erste Steinbildhauer-Symposion,<br />
aus dem sich dieses europaweit<br />
ausgreifende Kunstprojekt entwickelt<br />
hat, jährt sich in 20<strong>21</strong> zum<br />
50. Mal.<br />
Leo Kornbrust beließ es nach dem<br />
Abschluss der Skulpturenstraße in<br />
St. Wendel nicht dabei, sondern griff<br />
im Jahr 2001 den Plan Freundlichs
erneut auf und machte sich daran, diesen umzusetzen.<br />
Dieser hatte zwei Straßen, eine von Norden<br />
nach Süden zu Ehren von Paul Cézanne und<br />
Vincent van Gogh, eine »voie de la fraternité«, und<br />
die zweite von Paris nach Moskau, durch Frankreich,<br />
Deutschland, Polen und Russland geplant.<br />
Diese von Westen nach Osten verlaufende Straße<br />
sollte den Namen »voie de la solidarité en souvenir<br />
de la libération« tragen. Am Schnittpunkt der<br />
beiden Straßen, in Auvers-sur-Oise, hat er den<br />
»Leuchtturm der sieben Künste« vorgesehen.«<br />
Es blieb für Freundlich eine Idee in einer Zeit,<br />
in der sich Grenzen ausdehnten, jedoch nicht<br />
um Herrschaftsbereiche aufzuheben, und die<br />
Begegnung der Menschen zu fördern, sondern<br />
um diejenigen, die als Gegner und Feinde ausgemacht<br />
oder aufgrund ihrer Religion oder<br />
»Rasse« als »Volksschädlinge« denunziert wurden,<br />
daraus zu vertreiben. NS-Deutschland hatte<br />
mit militärischer Macht, dem Pakt mit anderen<br />
Staaten und der Politik des Appeasements zuerst<br />
seinen Herrschaftsraum nach Westen und nach<br />
1941 nach Osten in Europa ausgedehnt. Zugleich<br />
wurde der für die vom Nationalsozialismus zu<br />
Gegnern und Feinden erklärte Raum enger. In<br />
Frankreich, wo Otto Freundlich lebte, war es am<br />
Ende ein Verschlag in Gestalt eines Kriechbodens<br />
unter dem Dach eines Bauernhauses gewesen,<br />
in dem man ihn schließlich verhaftete, von Gurs<br />
aus deportierte und in Sobibor ermordete. In dieser<br />
Zeit, genauer: »1936 formulierte Otto Freundlich<br />
seine Idee einer völkerverbindenden Straße.<br />
1936 haben es die politischen Ereignisse nicht zu<br />
einer Realisation kommen lassen.« Das ist angesichts<br />
des im besetzten wie nach dem 10. November<br />
1942 auch im ehemals unbesetzten Teil Frankreichs<br />
obwaltenden des NS-Terrors, dem Otto<br />
Freundlich als in Frankreich lebender deutscher<br />
Jude ausgesetzt war, eine zurückhaltende und<br />
geradezu moderate Formulierung.<br />
Von der künstlerischen Wahlheimat zum Ort des<br />
Exils: Otto Freundlich in Paris<br />
Der 1878 in Slupsk/Pommern im heutigen Polen<br />
geborene Künstler kam 1908 zum ersten Mal<br />
nach Paris. Es blieb auch im Folgejahr nur bei<br />
einem mehrwöchigen Aufenthalt, wenn auch<br />
in dem Atelierhaus »Bateau-Lavoir«, wo neben<br />
anderen Künstlern der Zeit Pablo Picasso sein<br />
Atelier hatte. Aus dieser Zeit rührt die Bekanntschaft<br />
mit dem Jahrhundertkünstler, den er zu<br />
dessen 50. Geburtstag 1931 mit einem Por trät<br />
würdigte. Nach Stationen in München, Berlin und<br />
Aufenthalten in Hamburg meldete sich Freundlich,<br />
wie so viele Künstler seiner Generation, als<br />
Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und wurde<br />
aufgrund einer Verwundung als Sanitätssoldat<br />
eingesetzt. Die 1920er Jahre waren auch im<br />
Schaffen Freundlichs von der ausschließlich verbal<br />
radikal beschworenen Verbindung von Kunst<br />
und Kommunismus, Dada, Novemberrevolution<br />
und den Hoffnungen auf eine grundlegende<br />
Veränderung in Kunst und Gesellschaft geprägt.<br />
Dahinter stand die Hoffnung auf Umwälzung<br />
in der und durch die Kunst. Es sollte eine neue<br />
Kunst für neue Menschen einer neuen Gemeinschaft<br />
entstehen, von Solidarität, Gleichheit und<br />
Brüderlichkeit bestimmt. Otto Freundlich erwies<br />
sich damit als Mann und Künstler seiner Zeit, der<br />
sich als Avantgarde in Kunst und Gesellschaft<br />
verstand. Politisch war er insofern, als er seinen<br />
Platz »an der Seite des revolutionären Proletariats«<br />
sah. Aber er war ungeachtet aller verbalen<br />
Entschlossenheit kein Macht- oder Parteipolitiker<br />
im Dienst der Kommunistischen Partei. Der von<br />
ihm so bezeichnete »kosmische Kommunismus«<br />
war eher von Beethovens Neunter im Sinne eines<br />
weltumspannenden Humanismus bestimmt als<br />
von Stalin:<br />
»Wir müssen Seite an Seite des revolutionären<br />
Proletariats kämpfen. Was wir gedacht und<br />
geschaffen haben, ist ohne Wert für den gegenwärtigen<br />
Kampf. Dennoch ist es nicht wertlos.
Ausstellung<br />
»Gurs 1940. Deportation und<br />
Ermordung südwestdeutscher<br />
Jüdinnen und Juden.«<br />
Die Ausstellung besteht aus 28 Wandtafeln<br />
im Format DIN A1. Die Landeszentrale für politische<br />
Bildung des Saarlandes stellt jeweils<br />
eine Ausführung der Ausstellung allen saarländischen<br />
Aber es fehlt die mithelfende<br />
Landeskreisen sowie dem Regio-<br />
Kraft der Menschen, der<br />
nalverband Saarbrücken kostenlos und zum Genossen. Warum sollten<br />
dauerhaften Verbleib zur Verfügung. sie nicht bereit sein, das<br />
Die Ausstellung kann von Schulen, Vereinen Schwierige zu verstehen,<br />
oder Initiativen des jeweiligen Landkreises<br />
bzw. des Regionalverbandes Saarbrücken<br />
ausgeliehen werden.<br />
Die Ausstellung eröffnet unter den geltenden<br />
Hygieneregeln am 8. April 20<strong>21</strong>:<br />
• in der VHS im Regionalverband Saarbrücken<br />
im Alten Rathaus, Schlossplatz 2<br />
• im Stadtarchiv Homburg/Saar, Kaiserstraße<br />
41<br />
• in der Evangelischen Stadtkirche St. Wendel,<br />
Beethovenstraße 1<br />
wenn sie wissen, dass es für<br />
sie gedacht und geschaffen<br />
wurde? Aber zuerst müssen<br />
sie das wissen, dass<br />
wir uns den harten Pflichten<br />
revolutionärer Solidarität<br />
nicht entziehen und sie<br />
mit Freude erfüllen wollen.<br />
(...) Wir müssen dazu bereit<br />
sein, diese künstlerische Entwicklung,<br />
der wir uns ausschließlich<br />
ein ganzes Leben<br />
Weitere Ausstellungen sind vorgesehen lang widmeten und die uns<br />
• im Hochwald-Gymnasium, Wadern Boykott und Armut eintrug,<br />
• im Landratsamt Saarlouis, Saarlouis<br />
• in der Gemeinschaftsschule Lothar-Kahn-<br />
Schule, Rehlingen-Siersburg<br />
• in der Gemeinschaftsschule Mühlbachschule,<br />
Schiffweiler<br />
als abgeschlossen zu<br />
betrachten«, schreibt Otto<br />
Freundlich in eigener Sache<br />
in »Bekenntnisse eines revolutionären<br />
Malers«<br />
Das heißt, wovon Otto<br />
Die Ausstellung ist zudem digital verfügbar Freundlich pathetisch und<br />
unter www.gurs1940.de.<br />
gewiss auch mit großer<br />
Informationen zum Lager Gurs und die dort<br />
internierten Saarländer*innen auch unter<br />
Überzeugung sprach, hatte<br />
wenig mit dem Kommunismus<br />
https://gurs.saarland sowie in der auf der<br />
stalinscher Prägung<br />
dort angeschlossenen Datenbank.<br />
zu tun, der die Säuberung<br />
der Partei von einstigen<br />
Genossen vorantrieb, die er<br />
zu Gegnern erklärt, inhaftiert und hingerichtet<br />
hatte. Wie manch’ anderer seiner Künstlerkollegen<br />
stellte sich Distanz zum eher idealistisch,<br />
denn realistisch gesehenen Kommunismus<br />
aufgrund der Schauprozesse in Moskau und dem<br />
Umgang Stalins mit den aus dem Spanischen<br />
Bürgerkrieg zurückgekommen Genossen ein, der<br />
jedem Anflug eines romantischen bzw. »kosmischen<br />
Kommunismus« abhold war. Den gab es<br />
ohnehin nur als Vorstellung und festen Überzeugung<br />
des Künstlers von einer anderen, besseren<br />
Welt.<br />
Pablo Picasso war für ihn das Vorbild des »neuen<br />
Menschen« Karl Marxscher Prägung, sprich frei<br />
und sich sowie der Natur nicht entfremdeten<br />
Menschen, wie er in seinem Porträt Picassos<br />
aus Anlass dessen 50. Geburtstag feststellt. Das<br />
»Freiheitsbedürfnis Picassos« galt ihm dabei als<br />
»Grundvoraussetzung für jede künstlerische Veränderung,<br />
eine Erkenntnis, die er mittels seiner<br />
Überzeugung, im Kunstwerk ein Gleichnis zu<br />
sehen, auf die angestrebten Veränderungen im<br />
gesellschaftlich-politischen Bereich überträgt.«<br />
Die Realität war und ist, insbesondere in totalitären<br />
Systemen wie dem als Rettung betrachteten<br />
Kommunismus, freilich eine andere.<br />
Otto Freundlich stellte seine Kunst in den Dienst<br />
der Idee von einer gerechten, solidarischen<br />
Gesellschaft. Er wandte sich der Welt zu, anstatt<br />
fern davon in einem Elfenbeinturm zu verharren.<br />
Das zeichnet ihn aus. Auch, dass er selbstbewusst<br />
dies mittels seiner Bildsprache tat, anstatt vordergründig<br />
mit seiner Kunst Propaganda zu machen.<br />
Für ihn ging es um den neuen Menschen, der solidarisch<br />
und friedfertig sein sollte. Dass er dafür<br />
eine neue Bildsprache nutzte, ist daher nur folgerichtig.<br />
Doch seine Kunst, die abstrakt und gegenstandslos<br />
oder um der aktuellen Bezeichnung<br />
die Ehre zu geben: »gegenstandsfrei« war, hatte<br />
wenig mit der Staatskunst im Kommunismus<br />
und einem plakativen Realismus zu tun, der<br />
zum Dogma erhoben wurde. In Dikaturen ist die<br />
künstlerische Freiheit kein schützenswertes Gut.<br />
Im Gegenteil, der Kommunismus hätte ihn als<br />
»Formalist« geschmäht und seine Kunst verboten.<br />
Auch hier hätte ihn nur das Exil erwartet, um sich<br />
und seine Kunst zu retten. Doch diese Erfahrung<br />
blieb ihm erspart. Die nationalsozialistische Diktatur<br />
hatte ihn bereits als Künstler verfemt. 14<br />
Arbeiten Freundlichs wurden aus deutschen<br />
Museen entfernt und zerstört. Zwei seiner Plastiken,<br />
»Der neue Mensch« (1912) und »Kleiner<br />
Kopf« (1916) wurden in der die Kunst der Moderne<br />
und die ihr verbundenen Künstler diffamierenden<br />
Wanderausstellung »Entartete Kunst« im<br />
Jahr 1937 gezeigt.<br />
Es waren gerade Freundlichs Kopfplastiken, in<br />
denen sich seine Vorstellung von Abstraktion als<br />
Akt der Befreiung hin zu einem von Solidarität<br />
geprägten Kollektiv ins Werk setzten und seine<br />
dafür unabdingbare Vorstellung eines neuen<br />
Menschen zeigten.<br />
Doch seine Kopf-Skulptur sollte zum von den<br />
Nationalsozialisten geschändeten und verhöhnten<br />
Symbol werden. Die Plastik »Der neue<br />
Mensch« wurde in verzerrter Darstellung auf<br />
das Titelblatt des Ausstellungskataloges gesetzt.<br />
Aus seiner Wahlheimat Frankreich war nach 1933<br />
ein Exil geworden. Auf die Verfemung als Künstler<br />
sollte zwei Jahre später die Internierung und<br />
danach die Verfolgung und die Vernichtung des<br />
Menschen Otto Freundlich folgen. Und dies sogar<br />
mit Billigung des Landes, in das er geflohen war:<br />
Frankreich.
saargeschichte|n 33<br />
Vom Wahlfranzosen zum »feindlichen Ausländer«,<br />
vom »Unerwünschten« zum Opfer des<br />
NS-Terrors<br />
In Otto Freundlichs Leben und Sterben spiegelt<br />
sich die Politik gegen Jüdinnen und Juden in<br />
Frankreich nach Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />
und in Folge dessen der Besetzung Frankreich<br />
durch NS-Deutschland.<br />
1925 war Freundlich nach Paris zurückgekehrt.<br />
Frankreich wurde fortan zu seinem Lebensmittelpunkt.<br />
Er hielt sich nun dauerhaft in Paris<br />
und an anderen Orten in Frankreich auf. Er lebte<br />
zuerst in verschiedenen Hotels und nach 1931 in<br />
Wohnungen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die bildende<br />
Künstlerin Jeanne Kosnick-Kloss zu seiner<br />
Lebensgefährtin.<br />
1936 bezog er ein Atelier in der 38, rue Denfert-<br />
Rochereau (heute: rue, Henri Barbusse). Dort<br />
hatte er seine private Kunstakademie »Le Mur«<br />
eröffnet. In dieser Zeit entstand auch der Text<br />
»Sculptures-Montagnes«, die das Projekt des<br />
Leuchtturms der sieben Künste (1943) vorwegnahm<br />
und die Idee einer Skulpturenstraße skizzierte.<br />
Im selben Jahr, als seine Werke aus Museen<br />
in Deutschland entfernt und seine Arbeit in der<br />
Ausstellung »Entartete Kunst« geschmäht wurden,<br />
bat er Sonia und Robert Delaunay darum,<br />
ihm einige ihrer Arbeiten für eine in Zürich<br />
geplante Tombola zu überlassen. Deren Erlös<br />
sollte den in Konzentrationslagern Inhaftierten<br />
zukommen. 1938 wurde er Mitglied des Freien<br />
Deutschen Künstlerbundes in Paris, der von ins<br />
Exil nach Paris getriebenen Künstlern gegründet<br />
worden war und der sich gegen die nationalsozialistische<br />
Kulturpolitik richtete.<br />
Otto Freundlich geriet, obzwar künstlerisch<br />
anerkannt, immer stärker in Existenznot. Als die<br />
Pariser Galerie Jeanne Bucher-Myrbor ihm zu seinem<br />
60. Geburtstag eine Ausstellung ausrichtete,<br />
riefen in Frankreich lebende und für die Kunst der<br />
Moderne maßgebende Künstlerinnen und Künstler,<br />
darunter Picasso, Braque, Léger, Kandinsky,<br />
Kokoschka, Sophie und Hans Arp sowie Sonia und<br />
Robert Delaunay und viele andere zum Kauf einer<br />
Arbeit Freundlichs auf. Mit dem auf diesem Weg<br />
zusammengetragenen Geld konnte die Gouache<br />
»Hommage aux peuples aux couleur« – eine Vorstudie<br />
für das gleichnamige Mosaik – erworben<br />
und dem Museum Jeu de Paume überlassen werden.<br />
Freundlich schickte daraufhin eine Dankadresse<br />
an den Direktor des Museums und dankte<br />
dabei Frankreich, der Kulturnation, der er seit<br />
seiner Jugend verbunden war. Aber es rettete ihn<br />
nicht, als der Zweite Weltkrieg ausbrach.<br />
Die Folgen daraus waren für diejenigen ein<br />
Schock, die vor und erst recht nach 1933 in Frankreich<br />
Zuflucht gesucht, gefunden und sich mit<br />
dem Gastland identifiziert hatten. So glaubte<br />
sich etwa Hans Fittko, der Ehemann von Lisa Fittko<br />
bei Ausbruch des Krieges in Frankreich, wo er,<br />
seine Frau, seine Familie und andere vom NS-Terror<br />
ins Exil nach Paris Vertriebene sich aufhielten,<br />
auf der Seite des Landes, das ihn aufgenommen<br />
hatte. Doch dieses sah nach Kriegsausbruch<br />
in den Emigranten aus Deutschland nur noch<br />
»Feindliche Ausländer«:<br />
»Egal, unser Feind ist das Hitlerregime. Wir<br />
gehören zu denen, die es bekämpfen. Wir müssen<br />
mitkämpfen.« (...) Zwei Tage später, unmittelbar<br />
nach der Kriegserklärung Frankreichs und<br />
Englands an Deutschland, erschienen an allen<br />
Mauern die großen roten Plakate: »Feindliche<br />
Ausländer. Männer bis zu 65 Jahren hatten sich<br />
unverzüglich im Stade Colombe einzufinden<br />
zwecks Einlieferung in Camps de Concentration.<br />
Die feindlichen Ausländer, das waren unsere<br />
Männer. Alle, die aus Deutschland und Österreich<br />
stammten: Juden, politische Emigranten, ›Reichsdeutsche‹,<br />
Nazis oder Nicht-Nazis.«<br />
Diese Situation rührte daher, dass Gegner oder<br />
Verfolgte des Nationalsozialismus, die sich nach<br />
Frankreich gerettet hatten, nachdem Frankreich<br />
zusammen mit England Deutschland am<br />
3. September 1939 den Krieg erklärte hatte, nun<br />
»Staatsbürger eines Feindstaates« waren.<br />
Daher entsprach es auch internationaler<br />
Gepflogenheit, die wehrfähigen Männer des<br />
Kriegsgegners zu internieren, einerseits aus<br />
Furcht vor Spionage und Sabotage im eigenen<br />
Land, andererseits, um zu verhindern, dass sie<br />
in ihr Land zurückkehrten, um von dort aus am<br />
Krieg teilzunehmen.<br />
Davon waren alle deutschen oder deutschstämmigen<br />
Männer zwischen 17 und 56 Jahren<br />
sowie ab Mai 1940 alle Männer bis zum 65.<br />
Lebensjahr betroffen. Diese Regelung traf auch<br />
den damals 61-jährigen Otto Freundlich. Er<br />
Porträt des Otto<br />
Freundlich.
wurde bald nach Kriegsbeginn als »feindlicher<br />
Ausländer« von der französischen Polizei verhaftet<br />
und am 15. September für zwei Wochen im<br />
Stade Colombe in Paris interniert. Danach wurde<br />
er nach Blois im Département Loir-et-Cher und<br />
von dort nach Francillon-par-Villebarou verlegt.<br />
Seine Lebensgefährtin schickte ihm Farben, seine<br />
Pariser Galeristinnen Berthe Weill und Marie Cuttoli<br />
setzten sich für ihn ein. Sie bezeugten seine<br />
Verbundenheit mit seiner Wahlheimat. Sie scheiterten<br />
jedoch mit ihrem Werben um seine Freilassung.<br />
Im Januar 1940 wurde er in ein anderes<br />
Lager in Marolles im selben Département und<br />
daraufhin nach Fossé verlegt. Von dort brachte<br />
man ihn nach Cepoy im Départment Loiret, wo<br />
er Anfang Februar 1940 entlassen wurde.<br />
In Paris stellte er unmittelbar danach einen<br />
Antrag auf Einbürgerung. Bereits 1934 hatte<br />
Freundlich, mit Unterstützung von Georges<br />
Braque, einen Antrag auf Naturalisation (Einbürgerung)<br />
gestellt. Damals konnte er die<br />
dafür anfallenden Gebühren von 1.400 Francs<br />
nicht aufbringen. Er hatte stattdessen eines<br />
seiner Bilder als Bezahlung angeboten, was<br />
jedoch abgelehnt worden war. Die Chance, dass<br />
er nach Kriegseintritt, der Besetzung eines Teiles<br />
von Frankreich durch NS-Deutschland und<br />
der eingesetzten Vichy-Regierung nun erfolgreich<br />
sein würde, war nicht gegeben. Zumal<br />
bereits die in Frankreich vorhandene Rechte für<br />
die Aufhebung der seit den 1920er Jahren erfolgten<br />
Einbürgerungen eingetreten war.<br />
Die französische Judenpolitik nach 1940 richtete<br />
sich, was Internierung und Deportation<br />
betraf, vor allem gegen deutsche und ausländische<br />
Juden. Darin unterschied sie sich von<br />
dem Vorgehen der Nationalsozialisten: »Ging<br />
es in Deutschland unmittelbar um die Ausschaltung<br />
jüdischer Bürger, so verfolgte der französische<br />
Gesetzgeber seine Ziele zunächst über<br />
den Umweg der Nationalität, ein Phänomen,<br />
das sich wie ein roter Faden durch die gesamte<br />
Judenpolitik des Vichy-Regimes gegen die deutsche<br />
Besatzung durchzieht: insgesamt ist das<br />
Moment der Fremdenfeindlichkeit stärker ausgeprägt<br />
als das des Antisemitismus, was auch<br />
durch die weitere Judenpolitik der Vichy-Regierung<br />
zum Ausdruck kommt.« Demgemäß unterschied<br />
die Vichy-Regierung zwischen Juden mit<br />
französischem und nicht-französischem Pass.<br />
Das galt vor allem für diejenigen im von Deutschland<br />
damals noch nicht besetzten Teil Frankreichs,<br />
dem Einflussbereich der mit Deutschland kollaborierenden<br />
Regierung unter Marshall Petain:<br />
»Anfangs entschieden sich die französischen
saargeschichte|n 35<br />
Machthaber dafür, die Juden mit französischem<br />
Pass zu schützen. (…) Auf nicht-französische<br />
Juden nahm die Vichy-Regierung keine Rücksicht;<br />
sie konnten deportiert werden. Im Laufe der Zeit<br />
entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit<br />
zwischen der Vichy-Regierung und dem deutschen<br />
Deportationsapparat. Nach statistischen<br />
Angaben wurden ca. 24.500 französische und<br />
etwa 56.500 der ausländischen oder staatenlosen<br />
Juden deportiert.«<br />
Das am 4. Oktober 1940 von der Vichy-Regierung<br />
erlassene Gesetz zur Internierung und Auslieferung<br />
nichtfranzösischer Juden in Kriegszeiten<br />
vollzog diese Haltung. Als französischer<br />
Jude hätte Freundlich wenigstens eine kleine<br />
Chance gehabt, den Internierungen und den Razzien<br />
der französischen Polizei, bei der nach ausländischen,<br />
vor allem deutschen Juden gesucht<br />
wurde, bis 1942 zu entgehen.<br />
Im Mai 1940 wurde Freundlich daher nach dem<br />
Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich erneut<br />
in Paris, diesmal im Stadion Buffalo interniert,<br />
ganz so wie viele andere in Paris im Exil lebende<br />
Deutsche:<br />
»Die Deutschen überfielen Holland, Belgien,<br />
Luxemburg. Die großen roten Plakate erschienen<br />
wieder an den Mauern. Alle aus Deutschland<br />
stammenden Männer, die während des Winters<br />
aus irgendwelchen Gründen aus den Lagern entlassen<br />
worden waren, mussten sich wieder melden.<br />
Mein Bruder Hans (...) wurde mitten in der<br />
Nacht von Zuhause abgeholt und in das Pariser<br />
Stadion Buffalo gebracht.«<br />
Dieses Schicksal teilte er mit vielen seiner<br />
Künstlerkollegen, die wie er nach Paris geflohen<br />
waren, so auch mit dem Schriftsteller Franz Pfemfert,<br />
dessen Ehefrau darüber verzweifelte: »Franz<br />
Pfemfert, Frankreichs treuer alter Freund, eingesperrt<br />
in einem französischen Lager! Als feindlicher<br />
Ausländer.« Aus Paris wurde Freundlich mit<br />
den anderen in Paris Internierten nach Bassens<br />
im Département Gironde verbracht. Als er am 20.<br />
Juni freikam, floh er sofort in die unbesetzte Zone<br />
im Süden Frankreichs in einem Zug mit dem Ziel<br />
Perpignan. In dem Dorf Saint-Paul-de-Fenouillet<br />
kam er in dem Hotel Le Galamus unter, überwacht<br />
von der örtlichen Polizei. Er erwog die Ausreise<br />
nach USA, konnte jedoch dafür die Kosten<br />
nicht aufbringen, da auch seine Gefährtin Jeanne<br />
Kosnick-Kloss zu ihm geflohen war. Im Jahr darauf<br />
versuchte er es im Oktober 1941 erneut, in<br />
die USA auszureisen, weswegen er dort lebende<br />
Freunde um Hilfe bat. Er scheiterte wiederum.<br />
Selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte er<br />
kaum noch ein Ausreisevisum erhalten können.<br />
Bis Mai 1941 wurde noch die Auswanderung von<br />
deutschen Jüdinnen und Juden aus Deutschland<br />
gefördert, was zur Folge hatte, dass die in Gurs<br />
internierten Jüdinnen und Juden keine Ausreisevisa<br />
mehr erhielten, obschon ihre in den USA<br />
lebenden Angehörigen die Kosten für Visum und<br />
Überfahrt tragen wollten. Die vorhandenen Visa<br />
waren für die aus Deutschland ausreisenden<br />
Jüdinnen und Juden vorgesehen. Zudem wurde<br />
es seit dem Kriegseintritt der USA schwieriger für<br />
deutsche Juden, ein Einreisevisum in die USA zu<br />
erhalten. Auch war die Durchreise durch Spanien<br />
unmöglich geworden, so dass nun der Weg in die<br />
Freiheit über Casablanca führte. Hinzu kam noch,<br />
dass durch das am 25. November 1941 erlassene<br />
»Reichsbürgergesetz« die in Südfrankreich versteckten<br />
oder in Lagern internierten Jüdinnen<br />
und Juden aus Deutschland ihre Staatsbürgerschaft<br />
verloren.<br />
In Vorbereitung der Wannsee-Konferenz, die<br />
bereits für Anfang Dezember 1941 geplant, am 20.<br />
Januar 1942 stattfand, verfügte ein Schnellbrief<br />
von Adolf Eichmann an das Auswärtige Amt am<br />
19. November 1941, dass die Auswanderung von
Jüdinnen und Juden aus den von Deutschland<br />
besetzten Gebieten verboten wurde. In Deutschland<br />
war Jüdinnen und Juden bereits aufgrund<br />
eines Erlasses der Reichssicherheitshauptamtes<br />
vom 23. Oktober 1941 die Ausreise für die Dauer<br />
des Krieges verboten.<br />
Als Otto Freundlich im Jahr 1941 seine »Biographische<br />
Notiz« in seiner Zuflucht in Saint-<br />
Paul-de-Fenouillet verfasst, endet er mit dem<br />
Hinweis, dass er 1939 und 1940 sein Atelier »Le<br />
Mur« in Paris habe verlassen müssen. Dabei fällt<br />
auf, dass er auf sein Pariser Atelier im Präsens -<br />
»befindet sich« – verweist. Es scheint, als ob er die<br />
Hoffnung hatte, dorthin wieder zurückkehren zu<br />
können. Auch in dem kleinen Dort Saint-Paulde-Fenouillet<br />
versuchen er und Jeanne Kosnick-<br />
Kloss weiterhin künstlerisch zu arbeiten. Dafür<br />
baten sie ihre Freunde, ihnen Pinsel und Farben<br />
zuzuschicken. Doch das künstlerische (Weiter)Arbeiten<br />
geschah unter mittlerweile sich<br />
zuspitzenden Bedingungen für das Leben<br />
von jüdischen Deutschen in Frankreich, insbesondere<br />
in der unbesetzten Zone. Die<br />
Razzien gegen ausländische Juden in Paris<br />
am 16./17. Juli 1942, die daraufhin im Pariser<br />
Radstadion »Velodrome d’Hiver« (Vel d’Hiv)<br />
interniert wurden, waren ein »Warnsignal für<br />
die Juden in der unbesetzten Zone«. Denn vier<br />
Wochen später wurde den Regionalpräfekten<br />
telegrafisch mitgeteilt, dass die Kriterien für<br />
Verhaftungen bzw. Abschiebungen deutlich<br />
eingeschränkt wurden. Das bedeutete, dass<br />
die französische Polizei staatenlose und ausländische<br />
Juden an ihren jeweiligen Wohnorten<br />
verhaften konnte, was ab dem 26.<br />
August 1942 erfolgte.<br />
In dieser Zeit soll Freundlich laut den biografischen<br />
Angaben von Joachim Heusinger<br />
zu Waldegg ein Gesuch an den Präfekten des<br />
Départments Pyrénées-Orientales gerichtet<br />
haben. Das genaue Anliegen wurde nicht<br />
mitgeteilt. Ungeachtet worum Otto Freundlich<br />
den Präfekten bat – vermutlich ihn nicht<br />
mehr zu verfolgen – war es aufgrund der anderslautenden<br />
Direktiven der Vichy-Regierung ein<br />
hoffnungsloses Unterfangen, wie Lisa Fittko resigniert,<br />
jedoch ohne Frankreich dafür die Schuld<br />
zu geben, feststellte:<br />
»Frankreich, unser Gastland, war uns zur Falle<br />
geworden. Frankreich musste sich ergeben; Der<br />
Waffenstillstandsvertrag – der Schandvertrag –<br />
gab die Emigranten aus Deutschland ihrer ehemaligen<br />
Heimat preis.«<br />
Nach der Besetzung der ehemals »freien« Zone<br />
im Süden Frankreichs durch Deutschland am<br />
10. November 1942 verschärfte sich die Lage für<br />
Otto Freundlich abermals. Er floh in das höher<br />
gelegene Dorf Saint-Martin-de-Fenouillet. Dort<br />
fand er in einem Kriechboden unter dem Dach<br />
eines Bauernhauses eine Zuflucht. In diesem<br />
Verschlag arbeitete er weiter. In den frühen<br />
1980er Jahren entdeckte die Kunsthistorikerin<br />
Rita Wilde gans in einem Ofen seine versteckten<br />
Pinsel und Farben.
saargeschichte|n 37<br />
Dort wurde Otto Freundlich am <strong>21</strong>. Februar 1943<br />
aufgrund der Denunziation eines Nachbarn von<br />
zwei Feldgendarmen verhaftet und von Perpignan<br />
in das Lager Gurs gebracht. Nach einem<br />
Anschlag auf zwei deutsche Offiziere mussten<br />
als »Sühnemaßnahme« 2.000 Jüdinnen und<br />
Juden aus der vormals unbesetzten Zone verhaftet<br />
werden. Dazu zählten nicht nur in Arbeitstrupps<br />
abgeordnete Juden und Internierte aus<br />
dem Lager Nexon, sondern auch isoliert lebende<br />
Juden wie Otto Freundlich. Das Lager Gurs war für<br />
»die im Südwesten der freien Zone Verhafteten«<br />
zum Sammellager geworden. Die Belegzahlen<br />
waren am 28. Februar 1943 auf 2.775 Personen<br />
angestiegen, obwohl am Vortag ein Transport<br />
mit 975 Juden von Gurs nach Drancy abging, dem<br />
auch Otto Freundlich angehörte.<br />
Wenige Monate zuvor waren dort im Vergleich<br />
zu dem Jahr 1940 »nur« noch 719 Personen interniert<br />
gewesen. Diese verhältnismäßig geringe<br />
Belegung war die Folge der Deportationen über<br />
Drancy nach Auschwitz im August und September<br />
1942. Davon waren auch die meisten der Jüdinnen<br />
und Juden aus dem Saarland, der Pfalz und<br />
Baden betroffen, die in Folge der sogenannten<br />
»Wagner-Bürckel-Aktion« am 22. Oktober 1940 in<br />
das Internierungslager Gurs verschleppt worden<br />
waren. Sie gilt als erste große Deportation vor<br />
den Deportationen in die Vernichtungslager in<br />
Osteuropa in Folge der Wannsee-Konferenz vom<br />
20. Januar 1942.<br />
In Frankreich galten die ausländischen Internierten<br />
als »Unerwünschte/Indésirables«. Deren<br />
Kreis erweiterte sich nach Kriegsbeginn und<br />
noch einmal ab Mai 1940 nach dem Einmarsch<br />
der Wehrmacht in Frankreich. Nun kamen Menschen<br />
in das Lager, die aus Deutschland geflohen<br />
waren und von dort zurück in den Tod geschickt<br />
wurden. Darunter waren auch Saarländerinnen<br />
und Saarländer, die nach 1935 nach Luxemburg,<br />
in die Niederlande, nach Belgien und Frankreich<br />
emigriert waren und von dort in das Lager Gurs<br />
verbracht wurden. Otto Freundlich gehörte zu<br />
denen, die verhältnismäßig spät »geraffelt« wurden:<br />
»Unter den vielen Frauen und Männern, die<br />
draußen in der sogenannten Freiheit ‘geraffelt’<br />
worden waren und im Sammelilot in Gurs eingesperrt<br />
hinter doppeltem Stacheldraht und<br />
bewacht von SS-Milizen saßen, fand ich immer<br />
wieder Bekannte.« »Raffeln« ist eine Ableitung<br />
des französischen Wortes für »Razzia« und in<br />
einem »Ilot«, dem französischen Wort für »Insel«<br />
festgehalten wurden. Ein »Ilot« im Lager Gurs<br />
bestand aus 25–27 Baracken.<br />
Otto Freundlich verbrachte höchstens sechs und<br />
mindestens vier Tage in Gurs, bevor er mit 975<br />
Juden in einem Transport nach Drancy und von<br />
dort mit weiteren Menschen in einem 1003 Personen<br />
zählenden Transport am 4. März in das<br />
Vernichtungslager Sobibor gebracht wurde. Darunter<br />
befanden sich 268 Deutsche. Nach Ankunft<br />
am 10. März in Chelm wurden 40 Männer selektiert<br />
und in das KZ Majdanek-Lublin verbracht.<br />
Otto Freundlich befand sich nicht darunter. In<br />
Sobibor wurden keine Namenslisten geführt.<br />
Daher ist es wahrscheinlich, dass er dort bald<br />
nach seiner Ankunft ermordet wurde. Das ist<br />
nur eine Annahme, denn es ist ebenfalls möglich,<br />
dass er, geschwächt von den erlittenen Strapazen<br />
in seinem Versteck, der Haft in Gurs und<br />
Drancy sowie aufgrund des mehrtägigen Transports<br />
in einem Viehwaggon auf dem Weg in das<br />
Vernichtungslager verstorben war. Ein genaues<br />
Todesdatum lässt sich daher nicht angeben.<br />
Die Dokumente: Interniertenkarte, Verhaftungsprotokoll,<br />
Steckbrief und Bittbrief<br />
Im Departementsarchiv in Pau sind sowohl die<br />
Interniertenkartei des Lagers Gurs als auch die<br />
zu den Internierten angelegten Akten (Dossiers)<br />
verwahrt.<br />
Es existiert eine Karte für Otto Freundlich in der<br />
Interniertenkartei. Sie verzeichnet seinen Nachund<br />
Vornamen sowie sein Geburtsdatum, den<br />
10. Juli 1878, und mit »all« für »allemagne« seine<br />
Nationalität. Alle weiteren Angaben wie Beruf,<br />
Name der Eltern, Ankunftstag im Lager, Aufenthaltsort,<br />
Guthaben und Wertgegenstände<br />
sowie »Rasse« fehlen. Lediglich der Tag seiner<br />
Deportation mit dem Convoi am 27. Februar<br />
1943 ist vermerkt. Die unvollständig gebliebene<br />
Karte legt nahe, dass die in diesem Zeitraum verhafteten<br />
und in Gurs Internierten nur kurze Zeit<br />
im Lager bleiben sollten. Sonst wäre die Karte korrekt<br />
ausgefüllt worden. Die fehlenden Angaben<br />
verweisen auf die in diesem Zeitraum veränderte<br />
Funktion des Lagers Gurs als Sammellager für<br />
Jüdinnen und Juden, die von dort aus in die Vernichtungslager<br />
deportiert wurden. Ein längerer<br />
Aufenthalt, der eine ausgefüllte Interniertenkarte<br />
verlangt hätte, war nicht vorgesehen, denn zu<br />
diesem Zeitpunkt war Gurs zum Sammel- und<br />
Durchgangslager geworden.<br />
Das zu Otto Freundlich im Departementsarchiv<br />
Pau vorhandene Dossier verzeichnet drei Schriftstücke:<br />
Das Verhaftungsprotokoll, eine Personenbeschreibung<br />
des Verhafteten sowie in Bittbrief<br />
von Jeanne Kosnick-Kloss an den Präfekten des<br />
Département Pyrénées-Orientales und ein kur-
zes Adressanschreiben, das mit den drei Schriftstücken<br />
von der Präfektur an den Leiter des Lagers<br />
Gurs für dessen Ablage zum Verbleib geschickt<br />
wurde.<br />
Das Festnahmeprotokoll weist den <strong>21</strong>. Februar<br />
um 8.15 Uhr als Zeitpunkt aus, an dem zwei Feldgendarme<br />
namens Delpech und Cousseau Otto<br />
Freundlich in seinem Versteck in Saint-Paul-de-<br />
Fenouillet festnahmen und damit den am 20. Februar<br />
1943 ausgestellten Haftbefehl vollstreckten.<br />
In der Literatur zu Freundlich wird der 23. Februar<br />
1943 genannt, was sich daher als nicht zutreffend<br />
erweist. Aus dem Protokoll geht hervor, dass<br />
Freundlich als »sujet israëlite« bezeichnet wurde,<br />
was als Grund für seine Festnahme galt. Der Vorgang<br />
wurde dabei im Diktum der Kollaboration<br />
– erst Nachname, dann Vorname – als »l’arrestation<br />
de l’israëlite Freundlich, Otto« bezeichnet.<br />
Das Protokoll vermeldet als wörtliches Zitat in der<br />
Schrift Freundlichs Angaben zu Alter, Geburtsdatum,<br />
Herkunft, Name der Eltern, Familienstand<br />
und Nationalität. Im Weiteren heißt es, dass<br />
er diese Angaben durchgelesen, bestätigt und<br />
geschrieben habe.<br />
Es wurde ihm erklärt, dass er im Namen des<br />
Gesetzes verhaftet sei und man ihn nach Perpignan<br />
begleite. Er hatte einen Ausweis bei sich, der<br />
am 23. Februar 1942 auf seinen Namen von der<br />
Präfektur Pyrénées-Orientale ausgestellt worden<br />
war. In seiner Geldbörse wurden zum Zeitpunkt<br />
der Festnahme 100 Francs sichergestellt, die man<br />
ihm zu seiner freien Verfügung überließ.<br />
Die Festnahme begleitet eine Personenbeschreibung,<br />
die frei von antisemitischen und<br />
rassistischen Zuschreibungen ist, was seine Physiognomie<br />
betraf. Bei einer Größe von 1,69 Meter<br />
sei er von mittlerer Statur, mit braunen Augen,<br />
ergrautem Haar, und was Stirn, Nase und Mund<br />
betreffe, durchschnittlich gebaut. Jedoch hatten<br />
die Wochen in dem Verschlag unterm Dach<br />
Spuren in seiner Erscheinung hinterlassen. Diese<br />
wurde als »completement raté«, völlig daneben<br />
oder wohl eher als »komplett heruntergekommen«<br />
beschrieben. Otto Freundlich trug<br />
eine beige Schiebermütze, mahagonifarbene<br />
Schuhe und einen schwarzen Mantel mit grauen<br />
Streifen. Es handelte sich dabei um die Kleidung,<br />
die er auch auf Fotografien aus den Vorjahren<br />
getragen hatte. Mehr war ihm neben seinen Malutensilien<br />
nicht mehr geblieben. Zuvor hatte er<br />
noch seiner Lebensgefährtin das Modell seines<br />
»Leuchtturms der sieben Künste« überlassen.<br />
Ihr blieb es nun überlassen, ihren Lebensgefährten<br />
aus dem Lager Gurs zu befreien. Es<br />
war jedoch ein aussichtsloses Unterfangen, so<br />
wie es bereits im Vorjahr gewesen war, als Otto<br />
Freundlich noch selbst ein Gesuch an den Präfekten<br />
gestellt hatte, denn der Präfekt des Départements<br />
Pyrénées-Orientale war ebenso verantwortlich<br />
für das Lager Gurs wie auch für die<br />
Festnahme ausländischer Juden und deren Internierung<br />
in Gurs. Jeanne Kossnick-Kloss richtete<br />
am 24. Februar, drei Tage nach der Festnahme von<br />
Otto Freundlich, ein Schreiben an den Präfekten.<br />
Daraus geht hervor, dass er von Saint-Martin-de-<br />
Fenouillet zuerst nach Perpignan und von dort<br />
nach Gurs verbracht worden war.<br />
Sie nannte darin seine Herkunft und sein Alter,<br />
das auf seine Konstitution – »n’est pas solide« –<br />
Einfluss habe. So höre er nicht mehr gut. Der Brief<br />
war im Folgenden darauf angelegt, die politischen<br />
Aktivitäten Freundlichs, der sich als Künstler<br />
zur Revolution des Proletariats bekannte, an<br />
dessen Seite er stand, notwendig klein zu reden,<br />
wenn nicht komplett zu ignorieren.<br />
Freundlich wurde von ihr als ganz für seine Kunst<br />
lebender Künstler geschildert, der sich für Politik<br />
nicht interessiere, ja ihr gleichgültig gegenüber<br />
stehe und sofern er politisch handele, dann als<br />
Altruist den Menschen zugewandt und im Grunde<br />
harmlos. Sie erwähnte seine Bekanntschaft<br />
mit Picasso und das Atelier Freundlichs in Paris.<br />
Genau besehen, traf ihre Schilderung auf den<br />
politischen Otto Freundlich der 1920er und frühen<br />
1930er Jahre zu: Politik, das war ein Gefühl<br />
der Solidarität und der Brüderlichkeit. Das hatte,<br />
ungeachtet der rotgefärbten Rhetorik wenig<br />
mit Parteikommunismus zu tun. Freundlichs<br />
Kommunismus war ein »kosmischer«, der wenig<br />
mit der Realität zu tun hatte. Jeanne Kosnick-<br />
Kloss beschrieb in ihren Worten genau diesen<br />
Umstand. Zugleich versuchte sie die Verbundenheit<br />
Freundlichs mit Frankreich hervorzuheben. Er<br />
habe sich um die Einbürgerung bemüht, jedoch<br />
habe dies der Kriegsbeginn verhindert. Sie schilderte<br />
dessen Internierung durch ein Land, dem<br />
er immer mit Respekt und Zuneigung begegnet<br />
sei. Sie bat daher den Präfekten um die Freilassung<br />
Freundlichs, der nichts Verbotenes getan<br />
oder sich jemals gegen Frankreich, das ihn aufgenommen<br />
habe, schlecht verhalten habe.<br />
Dem Verhaftungsgrund begegnete sie mit dem<br />
Hinweis, dass Otto Freundlich kein praktizierender<br />
Jude oder überhaupt religiös sei und dessen<br />
Familie zum Protestantismus konvertiert sei. Eindringlich<br />
batt sie daher für ihn, der »ein großes<br />
Kind« sei und für sich um Gnade und Erbarmen.<br />
Auch stehe er einen Aufenthalt in einem<br />
Konzentrationslager nicht durch, da er medizinische<br />
Versorgung brauche. Angst und Sorge
saargeschichte|n 39<br />
bestimmten diesen Brief, den Jeanne Kosnick-<br />
Kloss an den Präfekten richtete. Der Schriftvergleich<br />
von Unterschrift und Brieftext legt nahe,<br />
dass sie den Brief nicht selbst geschrieben hat,<br />
sondern, dass eine Muttersprachler*in ihn für sie<br />
aufgesetzt hatte. Er bleibt ein Zeugnis für eine<br />
große Verzweiflung über den Verlust jeglicher<br />
Sicherheit in einem Land, das man zu seiner<br />
Wahlheimat gemacht hatte, und von dem man<br />
kaum glauben konnte, dass es einen nun verriet.<br />
Diese Hoffnung wollte sich Jeanne Kosnick-Kloss,<br />
ebenso wie auch Lisa Fittko nicht nehmen lassen.<br />
Doch die Bitte von Jeanne Kosnick-Kloss wurde<br />
nicht erhört. Otto Freundlich blieb im Ilot 18, wie<br />
am Rand des Schreibens vermerkt ist. Von Gurs<br />
wurde er am 27. Februar 1943 nach Drancy verbracht.<br />
Im Lager Gurs hielt er sich, sofern er von<br />
Perpignan noch am selben Tag nach Gurs verlegt<br />
wurde, frühestens ab <strong>21</strong>. Februar auf. Es war eine<br />
knappe Woche, ein Aufschub, bevor man ihn verschleppte<br />
und ermordete.<br />
Ein letztes Dokument findet sich im Dossier<br />
über Freundlich in Pau. Es ist das Deckblatt einer<br />
abgestempelt am 18. März 1943. Diese wurde von<br />
der Präfektur dem Leiter des Lager Gurs für dessen<br />
Gebrauch geschickt. Sie enthielt das Schreiben<br />
Jeanne Kosnick-Kloss’ an den Präfekten und<br />
das Festnahmeprotokoll. Der Name Otto Freundlich<br />
war darauf handschriftlich vermerkt wie<br />
auch das Datum seiner Deportation aus Gurs und<br />
die lapidare Anordnung, was mit diesen Schriftstücken<br />
zu tun sei: »a classer«, für die Ablage. Zu<br />
diesem Zeitpunkt war Otto Freundlich seit mehr<br />
als einer Woche tot. Etwas mehr als zwei Wochen,<br />
nachdem man ihn in seinem Versteck verhaftet<br />
hatte, war er nach Tagen der Qualen eines Transportes<br />
über viele Tausend Kilometer in einem<br />
Vernichtungslager ermordet worden.<br />
Nur wenige Wochen später begann sich die<br />
Situation in der ehemals unbesetzten Zone zu<br />
ändern, in die Otto Freundlich drei Jahre zuvor<br />
geflohen war. Die allmählich sich abzeichnende<br />
Niederlage Deutschlands an der Front im Osten,<br />
insbesondere in Stalingrad, die Landung der<br />
Allierten in Nordafrika und die Einführung des<br />
verpflichtenden Arbeitsdienstes für junge Franzosen<br />
veränderten das Klima in der Bevölkerung<br />
wie auch in der für die Verfolgung zuständigen<br />
Polizei- und Gendarmerie. Vielleicht hätte in<br />
einer solchen Situation der Nachbar, der Otto<br />
Freundlich denunziert und ihn damit in den Tod<br />
geschickt hatte, es unterlassen. Wer weiß.<br />
Nachleben und Weiterleben der Idee<br />
»Wir haben eine Aufgabe. Unsere Aufgabe ist<br />
jetzt, aus dieser Falle zu entkommen«, hatte Lisa<br />
Fittko für sich beschlossen und hatte anderen<br />
geholfen, dass sie ihren Verfolgern entkamen<br />
und auf einen anderen Kontinent fliehen konnten.<br />
Otto Freundlich war dies nicht möglich<br />
gewesen. Seine Ehefrau trug seine Idee von Europa<br />
im Zeichen von Brüderlichkeit und Solidarität<br />
querenden Skulpturenstraße in den 1950er Jahren<br />
weiter. In Auvers-sur-Oise, dem Begräbnisort<br />
von Vincent van Gogh, sollten sich die beiden<br />
Straßen kreuzen. Dort sollte der »Leuchtturm der<br />
sieben Künste« entstehen, gedacht als eine Art<br />
Kunstzentrum und Gedenkstätte. Dass daraus<br />
schließlich viele Jahre später doch eine Europa<br />
durchziehende Straße der Skulpturen entstand,<br />
ist dem St. Wendeler Bildhauer Leo Kornbrust,<br />
seinen Bildhauerkolleginnen und -kollegen, Mitstreiterinnen<br />
und Mitstreitern zu verdanken.<br />
Als man in St. Wendel Bildhauersymposien veranstaltete,<br />
entdeckten die Künstler, dass die Idee<br />
einer europaweiten Skulpturenstraße bereits ein<br />
anderer viele Jahrzehnte zuvor entwickelt hatte:<br />
Der Bildhauer und Maler Otto Freundlich. Darauf<br />
verweist Leo Kornbrust: »Und da haben wir das<br />
Symposion sofort ihm gewidmet. Gedanken, die<br />
wir heute haben, hatte er schon ‘26 (sic!) gedacht.<br />
An dieser Idee ändert sich nichts.« So wurde<br />
Freundlichs Idee weitergetragen, ganz so wie er<br />
es einmal formuliert hatte: »Das Werk des Künstlers<br />
ist eine Summe konstruktiver Akte. Künstlerische<br />
Kultur war und ist immer dasselbe: Vorbereitung<br />
für die Zukunft.«<br />
Die Ironie im Leben Freundlichs liegt darin, dass<br />
er, der Grenzen überwinden wollte, an denen des<br />
Nationalismus und Rassismus gescheitert ist.<br />
Kunst bietet jedoch immer auch die Möglichkeit,<br />
dies zu ignorieren. Sie lässt der Utopie Raum. Sie<br />
feiert den Mythos unter Ausblendung der Realität.<br />
Kunst erweist sich dann als blinder Spiegel<br />
der Realität. Oder ist die Kunst doch ein Teleskop,<br />
mit dem man in eine ferne Zukunft schauen<br />
kann? Wie es um Freundlich und seine Idee<br />
bestellt ist, dass Kunst die Menschen und Länder<br />
zu verbinden vermag? Schaut man auf dessen<br />
von Verfolgung und Vernichtung geschundenes<br />
Künstlerleben, war ihm diese Idee ein Zeichen der<br />
Hoffnung.<br />
Mein besonderer Dank gilt Roland Paul für die<br />
Bereitstellung des Quellenmaterials aus den Archives<br />
Départementale Pau.
welt – bühne – traum<br />
Die Brücke im »Atelier«<br />
von kathrin elvers-svamberg<br />
Mit Ernst Ludwig Kirchners monumentaler<br />
Atelierszene Badende im Raum besitzt das Saarlandmuseum<br />
eines der Haupt- und Schlüsselwerke<br />
des deutschen Expressionismus. Thema<br />
des Bildes ist Kirchners Dresdner Wohnatelier der<br />
Jahre 1909–11. Hier ließ das Künstlerkollektiv der<br />
frühen »Brücke«-Jahre einen Kosmos erstehen,<br />
der sich als radikaler Gegenentwurf zu den konservativen<br />
Idealen der wilhelminisch geprägten<br />
Gesellschaft verstand.<br />
Die unkonventionelle Atmosphäre dieses Raumes,<br />
seine exotisierende Ausgestaltung, die<br />
hier zelebrierten Zusammenkünfte mit Modellen,<br />
Freund*innen und Sammler*innen wurden<br />
in zahllosen Gemälden, Zeichnungen und Fotografien<br />
verbildlicht. Das Atelier ist nicht nur<br />
Ort der ästhetischen Auseinandersetzung mit<br />
dem eigenen Werk, es ist zugleich ein Biotop, in<br />
dem die »Brücke« neue Lebensformen und neue<br />
Inhalte der Kunst zu verwirklichen suchte. Der<br />
Arbeitsraum wird zum »Gesamtkunstwerk« und<br />
zur Bühne für die Erschaffung einer von künstlerischer<br />
Energie durchwirkten Lebenswelt, die<br />
das Ideal eines ursprünglichen, »unverfälschten«<br />
Daseins propagiert.<br />
Zentrale Themen sind der nackte, von zivilisatorischen<br />
Zwängen befreite Körper und die<br />
Ernst Ludwig Kirchner,<br />
Badende im<br />
Raum, 1909–1910 /<br />
nach 1926.<br />
(Saarlandmuseum<br />
– Moderne Galerie<br />
Saarbrücken, Stiftung<br />
Saarländi scher<br />
Kulturbesitz<br />
Foto: André Mailänder,<br />
Stiftung Saarländischer<br />
Kulturbesitz)
Aneignung von Motiven der ozeanischen und<br />
afrikanischen Kunst. Damit einher geht die<br />
Inszenierung der vermeintlichen »Natürlichkeit«<br />
von Frauen, Kindern und People of Color. Die Ausstellung<br />
nimmt so nicht nur den Reichtum der<br />
künstlerischen Neuerungen der frühen »Brücke«-<br />
Jahre in den Blick, sie beleuchtet auch deren problematische<br />
Facetten: den fragwürdigen Umgang<br />
mit dem weiblichen und kindlichen Akt ebenso<br />
wie die Repräsentation außereuropäischer<br />
Menschenbilder vor dem Hintergrund der rassistischen<br />
Kategorien des kaiserzeitlichen<br />
Kolonialismus.<br />
Einen weiteren Schwerpunkt des Projekts bilden<br />
die maltechnische Analyse und konservatorische<br />
Sicherung von Badende im Raum. Voraussetzungen<br />
und Perspektiven der umfassenden<br />
Restaurierungsmaßnahme werden in einer eigenen<br />
Sektion der Ausstellung präsentiert.<br />
Die »Brücke«<br />
Am 7. Juni 1905 gründeten die Architekturstudenten<br />
Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich<br />
Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden die<br />
Künstlergruppe (KG) »Brücke«. 1906 trat Max<br />
Pechstein der Gemeinschaft bei. Kurzzeitig zählten<br />
ferner Emil Nolde und Kees van Dongen zum<br />
Kollektiv, in späteren Jahren u.a. auch Otto Mueller<br />
und Cuno Amiet. Im Jahr 1913 löste die »Brücke«<br />
sich auf.<br />
Der einprägsame Name der Gruppe erlaubte eine<br />
Vielzahl von Assoziationen und unterstrich den<br />
programmatischen Willen der jungen Künstler,<br />
die konservativen Normen des akademischen<br />
Kunstbetriebs zu überwinden und zu neuen<br />
Ufern aufzubrechen. In ihrem 1906 publizierten<br />
Manifest heißt es: »Mit dem Glauben an Entwicklung,<br />
an eine neue Generation der Schaffenden<br />
wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend<br />
zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt,<br />
wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen<br />
gegenüber den wohlangesessenen, älteren<br />
Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar<br />
und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen<br />
drängt.«<br />
Die »Brücke« war dabei nicht nur ein idealistischer<br />
Freundesbund, sondern zugleich ein strategisch<br />
agierender Interessenverband: Man organisierte<br />
und bestückte gemeinsam Ausstellungen,<br />
gab Publikationen heraus, warb neue Mitglieder<br />
(»aktive«, gleichgesinnte Künstler sowie »passive«,<br />
beitragszahlende Fördernde und Sammler*innen)<br />
und betrieb eine europaweite Vernetzung<br />
mit der progressiven Kunstszene jener<br />
Zeit.<br />
Lebensraum Atelier<br />
Die gemeinsame Arbeit im Atelier gehörte seit<br />
Gründung der »Brücke« zu den Fundamenten<br />
ihres künstlerischen Selbstverständnisses. Für<br />
die jungen Autodidakten war das Atelier ein<br />
Ort gemeinschaftlichen Erlebens und wechselseitiger<br />
Inspiration.<br />
Zur maßgeblichen Heimstatt ihres Schaffens<br />
wurde ab November 1909 Kirchners Wohnung im<br />
Erdgeschoss des Mietshauses Berliner Straße 80<br />
im Arbeiterbezirk Friedrichstadt. In diesen überschaubaren<br />
Räumlichkeiten kamen die Künstler<br />
mit ihren Modellen, Freund*innen und Partnerinnen<br />
zusammen, um in buchstäblich engem Miteinander<br />
die Entfremdung zwischen Kunst und<br />
Leben aufzuheben. Auch die Ausgestaltung des<br />
Ateliers und die hier ins Werk gesetzten Aktivitäten<br />
stehen für den antibürgerlichen Lebensentwurf<br />
und den kollektiv empfundenen Wunsch,<br />
das Ideal eines freien schöpferischen Tuns zu verwirklichen.<br />
Die Einrichtungen dieser besonderen Räume<br />
fertigten die Künstler nach eigenen Entwürfen:<br />
Möbel, Textilien und Hausrat wurden eigenhändig<br />
gezimmert, bemalt und geschnitzt. Dabei<br />
galten ihnen Artefakte aus außereuropäischen<br />
Kulturkreisen als wichtige und vorbildhafte<br />
Inspirationsquelle. Die Formensprache der ozeanischen<br />
oder afrikanischen »Naturvölker« beeinflusste<br />
die Gestaltung der Räume und Möbel<br />
ebenso wie die Zeugnisse der indischen oder<br />
japanischen Kunst. Insbesondere Darstellungen<br />
erotischen Inhalts faszinierten die »Brücke«-<br />
Ernst Ludwig Kirchner,<br />
Drei nackte Mädchen<br />
im Raum, 1909,<br />
(Privatsammlung,<br />
Dauerleihgabe an das<br />
Museum Pfalzgalerie<br />
Kaiserslautern [mpk]<br />
Foto: A. Kusch)
des utopischen Orts der Einheit von Natur und<br />
Mensch, die sie bei den »Naturvölkern« oder in<br />
der unbedarften Daseinsfreude des Kindes verwirklicht<br />
sahen. Als dieses Arkadien und zugleich<br />
als Quellpunkt ihrer Kunst inszenierten sie das<br />
Atelier in unzähligen Werken.<br />
Ernst Ludwig Kirchner,<br />
Akt auf blauem<br />
Grund, 1911, Buchheim.<br />
(Museum der<br />
Phantasie, Bernried<br />
am Starnberger See<br />
Foto: Nikolaus Steglich,<br />
Starnberg)<br />
Akteure: Archaische Liebespaare zierten Wandbehänge,<br />
Sitzgelegenheiten, Paravents oder<br />
Türrahmen und standen sinnfällig für die Gleichsetzung<br />
von sexueller und schöpferischer Energie<br />
an diesem Ort.<br />
So schufen die Künstler sich ein Interieur, in dem<br />
alle kulturellen Kräfte und Traditionen vertreten<br />
waren, auf die sie sich berufen wollten. Das Atelier<br />
war nicht nur Werkstatt, Refugium und Gesamtkunstwerk<br />
in einem, sondern auch ein Sinnbild<br />
Akt<br />
Der menschliche Körper galt den »Brücke«-<br />
Künstlern von Anbeginn als das grundlegende<br />
Thema aller bildenden Kunst. So kommen dem<br />
Aktstudium und der Bildgattung des Aktes<br />
in ihrem Schaffen besonderes Gewicht zu. In<br />
dem Bestreben, eine gesteigerte Vitalität und<br />
Unmittelbarkeit des Ausdrucks zu erreichen,<br />
lehnten sie indes die Arbeit mit herkömmlichen<br />
Berufsmodellen und deren Standardposen ab.<br />
Stattdessen beanspruchten sie ihre Freund*innen<br />
und Lebensgefährtinnen als Modelle.<br />
Ihr Interesse galt vor allem dem beiläufigen,<br />
absichtslosen Agieren der Dargestellten und<br />
ihrem ungezwungenen Miteinander. Aus diesem<br />
Grund arbeiteten die Künstler ab 1909 auch<br />
mit minderjährigen Modellen, deren kindlichursprüngliche<br />
Bewegungsfreude ihrer Programmatik<br />
am direktesten entsprach. Kunst und reales<br />
Leben sollten sich im Szenario des Wohnateliers<br />
verbinden – und hieraus neue Impulse für das<br />
kreative Schaffen entstehen. Auch das freizügige<br />
Verhalten der Maler selbst und ihre aktive Teilnahme<br />
an den Ereignissen im Atelier eröffnete<br />
der Praxis des Aktstudiums neue Perspektiven:<br />
Von der statischen, distanzierten Beobachtung<br />
eines posierenden Modells fand man nun zum<br />
bewegten, spontan erfassten (Gruppen-)Akt in<br />
szenischem Rahmen.<br />
Ausgangspunkt hierfür war der von den »Brücke«-Akteuren<br />
ab 1905 praktizierte »Viertelstundenakt«:<br />
Die Zeichnenden wechselten nach<br />
wenigen Minuten ihre Position oder ließen das<br />
Modell eine neue Haltung einnehmen, um die<br />
immer raschere und konzentriertere Wiedergabe<br />
der wesentlichen formalen Zusammenhänge zu<br />
trainieren. Beliebt war das Skizzieren etwa mit<br />
Zimmermannsbleistift, Rohrfeder oder Wachskreide<br />
– Zeichenmedien, welche das spontane<br />
Seherlebnis in expressiven Linien pointiert verdichten.<br />
Max Pechstein, Liegender Rückenakt, 1911.<br />
(Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren,<br />
© Pechstein / Hamburg-Tökendorf. Foto: Peter Hinschläger)
saargeschichte|n 43<br />
Das Atelier als Bühne<br />
Zu den markantesten Ausstattungselementen<br />
des »Brücke«-Ateliers zählte der in Batiktechnik<br />
gestaltete Medaillon-Vorhang, den Kirchner am<br />
Übergang von Vorraum und Hauptraum in der<br />
Berliner Straße 80 installiert hatte. Vorbild für<br />
die figürlichen Bildfelder waren erotische Darstellungen<br />
aus dem indischen Höhlentempel<br />
von Ajanta. Ein vergleichbares Textil fand sich<br />
auch in Heckels Arbeitsräumen jener Jahre. Als<br />
klassisches Bühnenrequisit ist der bemalte Vorhang<br />
ein direkter Verweis auf die Bedeutung<br />
des Ateliers als Bühne. Der Arbeitsraum war für<br />
die »Brücke«-Künstler immer auch ein Ort von<br />
Spiel, Schau und Darbietung – hier setzten sie<br />
ihren alternativen Lebens- und Kunstbegriff<br />
»in Szene«. Als begeisterte Besucher von Theater-<br />
und Varietéaufführungen faszinierte sie die<br />
Dynamik und Rhythmik des Bühnengeschehens.<br />
Insbesondere der freie, ekstatische Ausdruckstanz<br />
wirkte äußerst inspirierend auf ihr Schaffen<br />
– nicht zuletzt, weil sie mit Vorliebe auch Tänzerinnen<br />
als Modelle engagierten.<br />
Ihrer Ausbildung nach Architekten, waren die<br />
»Brücke«-Künstler gleichwohl Generalisten:<br />
Maler, Grafiker, Bildhauer, Fotografen, Kunsthandwerker,<br />
Raumgestalter… Umso weniger<br />
überrascht es, dass sie ihre ganzheitlich durchgestalteten<br />
Interieurs auch als szenischen Raum,<br />
als vitalen Bestandteil ihrer Kunstpraxis verstanden.<br />
Die im Grunde sehr schlichte Architektur<br />
von Kirchners enger Parterrewohnung<br />
erscheint stets untrennbar verwoben mit dem<br />
extravaganten Mobiliar, den figürlichen Wandbildern,<br />
Spiegeln, Gemälden und »Exotika«. Als<br />
stimmungsgeladenes »Environment« tritt der<br />
Raum so in Dialog mit den Bildfiguren. In vielen<br />
Werken verschwimmen dabei die Realitätsgrenzen:<br />
Den seltsam belebten Möbeln und Dekorationen<br />
wächst scheinbar eine magisch-rituelle<br />
Dimension zu. Gleich Idolen oder Fetischen treten<br />
sie als Gegenspieler der dargestellten Modelle<br />
auf. Und auch die Modelle legen auf dieser<br />
Bühne ihre klassische passive Rolle ab und interagieren<br />
aktiv mit den Malern. Dabei scheinen<br />
die Gezeigten sich ihrer Bedeutung und Funk-<br />
dittgen<br />
Wegbereiter<br />
seit 1897.<br />
dittgen Bauunternehmen GmbH<br />
Saarbrücker Straße 99 | D-66839 Schmelz | Telefon 06887/307-0 | www.dittgen.de<br />
Telefax 06887/307-199
Max Pechstein, Inder<br />
und Frauenakt, 1910.<br />
(Sammlung Hinterfeldt<br />
© Pechstein /<br />
Hamburg-Tökendorf)<br />
Erich Heckel, Sitzender<br />
junger Mann,<br />
um 1910, Saarlandmuseum<br />
– Moderne<br />
Galerie Saarbrücken.<br />
(Stiftung Saarländischer<br />
Kulturbesitz,<br />
Foto: Raphael<br />
Maaß / Stiftung Saarländischer<br />
Kulturbesitz,<br />
© VG Bild-<br />
Kunst, Bonn 2020)<br />
tion als »Darsteller« bewusst, sie posieren, tanzen<br />
oder »thronen« und richten ihren bildauswärts<br />
gewandten Blick nicht selten direkt auf die<br />
Betrachter*innen.<br />
»Völkerschauen«<br />
Seit den 1870er Jahren fanden in zahlreichen<br />
Städten Europas sogenannte »Völkerschauen«<br />
statt. Vielfach von Zoo-Mogulen wie Carl Hagenbeck<br />
oder den Gebrüdern Marquardt organisiert,<br />
stellten diese Darbietungen Menschen aus<br />
außereuropäischen Kulturkreisen in zoologischen<br />
Gärten zur Schau. In umzäunten Arealen hatten<br />
sie über mehrere Wochen hinweg<br />
einem zahlenden Publikum<br />
»authentische« Bräuche, Jagdszenen,<br />
kultische Tänze oder<br />
handwerkliche Aktivitäten ihrer<br />
Heimat vorzuführen. Vor Ort<br />
gefertigte Artefakte wurden oft<br />
in angeschlossenen Bazaren feilgeboten.<br />
Diese Menschenzoos, wenngleich<br />
von ihren Veranstaltern<br />
als »Bildungserlebnis« tituliert,<br />
waren zu keiner Zeit darauf ausgelegt,<br />
ein adäquates Bild von<br />
der Lebenswirklichkeit und den<br />
Traditionen der kolonialisierten<br />
Bevölkerung Afrikas oder Ozeaniens<br />
zu zeichnen. Vielmehr<br />
reproduzierten diese Schaustellungen<br />
zuweilen geraubter oder mit falschen<br />
Versprechungen nach Europa gelockter Menschen<br />
ein von Klischees, Ignoranz und Vorurteilen<br />
durchzogenes Bild von den »Exoten«. Im Vordergrund<br />
stand das unterhaltsame Spektakel für ein<br />
westliches Massenpublikum, stand die Schaffung<br />
von Fantasiebildern des »Fremden« und »Primitiven«.<br />
Zumal im Lichte der kolonialpolitischen<br />
Propaganda des Kaiserreichs waren diese Projektionen<br />
grundlegend rassistisch geprägt.<br />
In Dresden war im Frühjahr 1909 die Schau Das<br />
Sudanesendorf zu sehen und im Folgejahr ( –<br />
teilweise unter Mitwirkung derselben »Darsteller*innen«<br />
– ) Das afrikanische Dorf. Neue<br />
Sittenbilder aus Afrika, darunter ein Hochzeitsfest<br />
in Zentralafrika. Kirchner besuchte diese Darbietungen<br />
und skizzierte vor Ort.<br />
Auch Zirkusunternehmen wie der Dresdner Cirkus<br />
Sarrasani ermöglichten zu jener Zeit die<br />
Begegnung mit dem »Fremden«. Der Truppe des<br />
Cirkus Schumann, der 1909 und 1910 in Dresden<br />
gastierte, gehörten die Schwarzen Artisten Sam,<br />
Milly und Nelly an, die Kirchner und Heckel in privatem<br />
Kontakt als Modelle gewannen und die sie<br />
in ihren Ateliers prominent inszenierten.<br />
Exotismen<br />
Auf der Suche nach neuen Ausdrucksdimensionen<br />
wandten sich die »Brücke«-Künstler<br />
ab etwa 1909 verstärkt den Zeugnissen und<br />
Lebensweisen außereuropäischer Völker und<br />
Kulturen zu. Anschauungsmaterial boten die<br />
ethnologischen Sammlungen der großen Völkerkundemuseen<br />
in Dresden und Berlin. Gegründet<br />
in engem Zusammenhang mit den Kolonialinteressen<br />
Deutschlands, fanden diese dicht
estückten Häuser ebenso großen Zuspruch wie<br />
die auflagenstarken ethnographischen Fachzeitschriften<br />
jener Jahre (die auch die »Brücke« studierte).<br />
In der Begegnung mit den Kunstäußerungen der<br />
indigenen Völker bestaunte das europäische Publikum<br />
jenes »Fremde« und »Wilde«, in dem sich<br />
der vermeintliche »Urzustand« des Menschen<br />
manifestierte. Mit den ästhetischen Normen<br />
eines zivilisierten Abendlandes war die Kunst<br />
der »Primitiven« offensichtlich nicht kompatibel.<br />
Gerade deshalb begeisterten sich die »Brücke«-Akteure<br />
für Formwesen und Bildwelten<br />
dieser fernen Kulturen: In ihren Augen verkörperten<br />
sie jene »Ursprünglichkeit« und jenen<br />
Ausdruck anarchischer Vitalität und Naturverbundenheit,<br />
den sie in ihrem eigenen Schaffen zu<br />
erreichen suchten. Entstehungszusammenhang,<br />
Bedeutung und kulturelle Einbettung der fremden<br />
»Exotika« spielten für die Betrachter*innen<br />
jener Epoche jedoch kaum eine Rolle. Auch in den<br />
Kunst- und Lebenswelten des »Brücke«-Ateliers<br />
treffen wir auf eine unreflektierte Aneignung<br />
der unterschiedlichsten völkerkundlichen Eindrücke<br />
und Objekte. Diese inspirierten zum einen<br />
die Formgebung der selbstgeschnitzten und<br />
-gemalten Ausstattung, bewirkten zum anderen<br />
aber auch markante Veränderungen in Stil und<br />
Figurenauffassung der Künstler.<br />
Ebenso nährt die Begegnung mit dem idealisierten<br />
»Fremden« das Verlangen nach zwanglosen,<br />
enthemmten Lebensformen in der Ateliergemeinschaft.<br />
Die Arbeit mit den Schwarzen<br />
Modellen Milly, Nelly und Sam ist fraglos auch<br />
vor dieser Folie zu sehen. Das »fremde« Leben<br />
kannte auch die »Brücke« nur aus Zirkus und<br />
Völkerschau – und auch ihr Schaffen trug unausweichlich<br />
zur Weiterverbreitung ethnischer und<br />
rassistischer Stereotype bei.<br />
Die nachträgliche Übermalung birgt indes tiefgreifende<br />
konservatorische Probleme. Kirchner<br />
hatte im Zuge der Überarbeitung nicht nur auf<br />
der Vorderseite zusätzlich Farbe aufgebracht,<br />
sondern auch die Rückseite der Leinwand<br />
angestrichen. Hierdurch ist zusammen mit der<br />
vorderseitigen Grundierung und den mehreren<br />
Malschichten der Darstellung ein vielschichtiges,<br />
schwer zu behandelndes und zu sicherndes<br />
Materialgefüge entstanden. Die genauere Untersuchung<br />
der beiden sich überlagernden Fassungen<br />
und die Festigung der Farbschichten<br />
stellt schon länger ein wichtiges Forschungsvorhaben<br />
dar, dessen Umsetzung im Rahmen dieser<br />
Sonderschau in Angriff genommen wurde.<br />
Ernst Ludwig Kirchner,<br />
Akt auf Hocker<br />
(Kamerun) – Kauernde<br />
Dodo, ca. 1910.<br />
(Galerie Ludorff,<br />
Düsseldorf. Foto:<br />
Achim Kukulies,<br />
Düsseldorf)<br />
Badende im Raum unter die Lupe genommen<br />
Ernst Ludwig Kirchners 1960 für die Sammlung<br />
des Saarlandmuseums erworbene Gemälde<br />
Badende im Raum (1909–10/nach 1926) gewährt<br />
intimen Einblick in den Kosmos der frühen »Brücke«-Ateliers.<br />
Zugleich steht es exemplarisch<br />
für die – auch konservatorisch relevante – Problematik<br />
der nachträglichen Umgestaltung von<br />
Schlüsselwerken durch den Künstler.<br />
Ursprünglich 1909–10 in Dresden gemalt, ist das<br />
Gemälde in seiner heutigen Fassung wie viele von<br />
Kirchners Vorkriegsbildern Ergebnis einer großflächigen<br />
Überarbeitung aus den 1920er Jahren.<br />
Bisherige Untersuchungen zeigen, dass die erste<br />
Fassung noch an zahlreichen Stellen sichtbar ist.<br />
Badende im Raum unter die Lupe genommen erhellt zum einen<br />
die komplexe Entstehungsgeschichte des Kunstwerks. Andererseits<br />
vermittelt die Präsentation einen Einblick in die Methoden<br />
und Grundlagen der konservatorischen Untersuchung<br />
und zeigt Perspektiven seiner weiteren Bearbeitung auf. Die<br />
Besucher*innen sind eingeladen, in Ernst Ludwig Kirchners<br />
wechselnde Lebens- und Bildwelten einzutauchen. Zugleich<br />
gewährt das Projekt erstmals einen umfassenden Blick hinter<br />
die Kulissen der Restaurierungswerkstatt und stellt die Arbeit<br />
der Restauratorinnen am Saarlandmuseum vor.
ein seltenes fundensemble<br />
Die Filterzisterne der Liebenburg nebst Einlaufstein<br />
von christel bernard<br />
Blick in den Zisternenschacht<br />
während<br />
der Freilegung. (Foto<br />
Landesdenkmalamt<br />
Saarland)<br />
Als 1972–74 Freilegungsarbeiten auf der Ruine<br />
der Liebenburg erfolgten, fand man nicht allein<br />
Überreste verschiedener Baulichkeiten, sondern<br />
man stieß auch auf relativ gut erhaltene<br />
Relikte der einstigen Wasserbevorratung, deren<br />
ausgefeilte technische Details auf Burgen oft<br />
im Verborgenen bleiben. Dabei war es von entscheidender<br />
Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit<br />
einer solchen Anlage, auch in Notzeiten<br />
über Trinkwasser zu verfügen.<br />
Der tägliche Wasserbedarf einer Burg sollte nicht<br />
unterschätzt werden; er wurde nicht allein durch<br />
die Menschen, sondern vor allem die Nutztiere<br />
innerhalb der Befestigung bestimmt. Während<br />
man in Friedenszeiten mit Eseln oder Pferden täglich<br />
frisches Wasser zur Burg transportierte, entfiel<br />
diese Versorgungsmöglichkeit etwa im Falle<br />
einer Belagerung. Gab es keine Quelle und keinen<br />
Brunnen innerhalb einer Burg, boten sich Zisternen<br />
als Reservoir an, und zwar entweder in Form<br />
einfacher Tankzisternen oder als Filterzisternen.<br />
Meistens hieb man für diese Wasserspeicher Gruben<br />
aus, die mit einer Tonschicht abgedichtet und<br />
zusätzlich mit Steinplatten ausgekleidet wurden.<br />
Wenn jedoch der Untergrund die Eintiefung einer<br />
genügend großen Grube nicht zuließ, legte man<br />
das Reservoir teilweise oberirdisch an. Auch auf<br />
der Liebenburg entschied man sich für eine teilweise<br />
obertägige Anlage der Zisterne, indem man<br />
die Filterzisterne nur partiell im anstehenden<br />
Fels eintiefte, einem Trachyandesit (Tholeyit),<br />
der sich schlecht bearbeiten ließ. 1 Das darüberhinaus<br />
notwendige Fassungsvermögen stellte<br />
man durch eine Aufmauerung her. Im Bericht der<br />
Staatlichen Denkmalpflege von 1975 findet man<br />
folgende kurze Beschreibung des Befunds: »Die<br />
völlig verschüttete Turmruine wurde freigelegt<br />
und ausgeräumt. Es war ein Rundturm mit sorgfältiger<br />
Sandsteinquaderung, in den in späterer<br />
Zeit ein Brunnen eingebaut worden war. Da die<br />
Liebenburg nach den archivalischen Unterlagen<br />
zu keiner Zeit einen Brunnen mit Grundwasser<br />
hatte, ist es wahrscheinlich, daß der untere Teil<br />
des Kellers zumindest zeitweilig als Zisterne verwendet<br />
worden ist.« 2 Heute steht die damalige<br />
Interpretation der vorgefundenen Mauern als<br />
Turmrest infrage; Achim Zeune spricht den Baubefund<br />
als »niedrigen Zisternenrundbau (1976/77<br />
zu einem Aussichtsturm aufgebaut)« an. 3<br />
Fotografien, die während der Freilegung aufgenommen<br />
wurden, lassen einige Rückschlüsse<br />
auf den Befund zu. Sie zeigen im unteren Bereich<br />
eine Mauerschale aus sorgfältig gearbeiteten<br />
Glattquadern, von denen mindestens fünf Lagen<br />
1 Mitteilung des Mineralogen Gerhard Müller: »So sehr<br />
auch das Gestein zersetzt werden kann, so ist es, falls<br />
noch frisch angetroffen, sehr zäh und ausgesprochen<br />
schlecht zu bearbeiten, vor allem wenn es noch im Verband<br />
eingespannt ist.«<br />
2 22. Bericht der Staatlichen Denkmalpflege im Saarland<br />
1975, 15.<br />
3 Achim Zeune, Die Baugeschichte der Liebenburg. Infotafel<br />
auf der Burgruine, Stand 2020.
saargeschichte|n 47<br />
zu erkennen sind, während oberhalb davon Bruchsteinmauerwerk<br />
folgt (Abb. 1). Der zylindrisch<br />
aufgemauerte Schöpfschacht – 1975 als Brunnen<br />
bezeichnet – besteht ebenfalls aus Glattquadern<br />
mit konkaver Innenseite, deren Außenseiten grob<br />
gebrochen sind. 4 Den größten Anteil des Raumvolumens<br />
hatte ursprünglich ein Filterkörper eingenommen;<br />
ob er zum Zeitpunkt der Freilegung<br />
noch vorhanden war, ist unbekannt. Üblicherweise<br />
bestand er aus Sand und Schotter und<br />
wurde an der Oberfläche durch einen Belag,<br />
häufig aus Steinplatten, gegen Verschmutzung<br />
abgedeckt (Abb. 2). Niederschlagswasser wurde<br />
wahrscheinlich vom Dach des unmittelbar<br />
anschließenden großen Gebäudes 5 sowie den<br />
Dachflächen benachbarter Bauten durch Rinnen<br />
und Röhren zu dem Einlaufstein auf dem Filterkörper<br />
geleitet. Das eingeleitete Wasser durchsickerte<br />
zunächst diesen Filter, bevor es sich am<br />
Grund der Zisterne sammelte. Solch ein Filter<br />
funktionierte dabei nicht nur mechanisch, indem<br />
er Partikel aussiebte: Durch die Mikroorganismen,<br />
die ihn besiedelten, hatte er auch eine biologisch<br />
reinigende Wirkung, die im Zersetzen und Binden<br />
verschiedener Inhaltsstoffe des Wassers bestand.<br />
Den Vorteil der Filterzisterne gegenüber der einfachen<br />
Tankzisterne beschrieb ein unbekannter<br />
Verfasser 1567: »[…] mit sand dadurch sich das<br />
4 Leider blieb unbeobachtet, ob die Anlage mehrere Bauphasen<br />
aufwies und in welchem Umfang die Filterzisterne<br />
zu Beginn der damaligen Freilegung noch intakt war.<br />
Eine Abdichtung der Wände ist auf den Fotografien nicht<br />
erkennbar.<br />
5 Zeune a. a. O.: Bau über dem großen Keller.<br />
wasser reinigt und purgirt<br />
angefüllt […] und bleibt das<br />
wasser frisch und gut darinnen.«<br />
6 Das gereinigte Wasser<br />
konnte anschließend<br />
aus dem zentralen Schacht<br />
geschöpft werden.<br />
Auf der Liebenburg barg man<br />
zudem einen durchbohrten<br />
Werkstein, bei dem es sich<br />
zweifellos um den Einlaufstein<br />
der oben genannten<br />
Filterzisterne handelt (Abb.<br />
3–5). Dieser Sandstein ist in<br />
Form eines runden Beckens<br />
auf einem kurzen achteckigen<br />
Sockel gearbeitet<br />
und insgesamt 40 cm hoch,<br />
wobei das Becken etwa die<br />
Hälfte der Höhe einnimmt.<br />
Sein Rand hat ca. 49 cm Durchmesser. Eine quadratische<br />
Aussparung mit ca. 16 cm Seitenlänge<br />
und 2 cm Tiefe auf dem Grund des Beckens<br />
weist Rostspuren auf; sie zeugen von einem ehemals<br />
eingelegten, eisernen Gitter oberhalb der<br />
7,5 cm weiten Abflussöffnung, das grobe Partikel<br />
zurückhalten sollte. Der<br />
sorgfältig<br />
geglättete, achteckige Sockel trägt noch geringe<br />
Reste einer Kalktünche; demnach war der Stein<br />
vermutlich so aufgestellt, dass er in Gänze sichtbar<br />
blieb.<br />
6 Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Auszug aus einem Schreiben<br />
vom 20.6.1567 an Erzherzog Ferdinand II., Transkription<br />
der Deutschen Burgenvereinigung, Mappe Hohkönigsburg,<br />
zitiert nach René Kill 2012, <strong>21</strong>9.<br />
Filterzisterne<br />
der Liebenburg,<br />
Rekonstruktionsvorschlag<br />
zur Funktionsweise.<br />
In welcher Art<br />
der Boden und die<br />
Wände abgedichtet<br />
waren und wie<br />
das aufgehende<br />
Zisternengebäude<br />
gestaltet war, ist<br />
nicht bekannt.<br />
Der Einlaufstein der<br />
Filterzisterne besteht<br />
aus einem Becken auf<br />
achteckigem Sockel.<br />
Auf dem Beckengrund<br />
war ein Gitter eingelegt.
Der Einlaufstein der<br />
Filterzisterne.<br />
Zeichnung des Einlaufsteins<br />
als Schnitt<br />
und Draufsicht. Höhe<br />
40 cm, oberer Durchmesser<br />
49 cm, Durchmesser<br />
der Durchbohrung<br />
7,5 cm (Abb.<br />
2–5 Bernard)<br />
Filterzisternen<br />
legte man<br />
ab dem Hochmittelalter<br />
auf Burgen<br />
im deutschsprachigen Raum an. Außer in der<br />
Schweiz, Deutschland, Österreich und Südtirol<br />
kommen sie im Elsass und einem Teil Lothringens<br />
vor, das nach dem derzeitigen Forschungsstand<br />
bis auf wenige Ausnahmen die westliche Grenze<br />
des Verbreitungsgebiets darstellt. Ihre Häufigkeit<br />
innerhalb des o.g. Raums ist recht unterschiedlich,<br />
wobei zwei Regionen mit zahlreichen<br />
Filterzisternen hervorzuheben sind: ein Teil der<br />
nördlichen Schweiz und das Elsass mit einer Ausdehnung<br />
bis in die angrenzende Pfalz. René Kill<br />
dokumentierte in seiner umfassenden Untersuchung<br />
auf 45 Burgen im Osten Frankreichs<br />
insgesamt 54 Filterzisternen. 7 Die meisten dieser<br />
Burgen liegen in den Nordvogesen zwischen<br />
Saverne und dem Pfälzer Bergland. Auf weitere<br />
neun ehemalige Filterzisternen konnte er nur<br />
indirekt aufgrund des Vorhandenseins von Elementen<br />
zur Wassereinleitung schließen. Einlaufsteine<br />
sowie die zuleitenden Rinnen und Röhren<br />
sind selten überliefert, was höchstwahrscheinlich<br />
darin begründet ist, dass diese Objekte später<br />
an anderer Stelle weiter verwendet wurden.<br />
Dementsprechend lückenhaft ist der Forschungsstand.<br />
Die Recherche nach vergleichbaren Fundobjekten<br />
von Filterzisternen anderer Burgen<br />
in Deutschland erbrachte einen rechteckigen<br />
Zulaufstein der Zisterne von Burg Rheingrafenstein<br />
und einen achteckigen Stein der Zisterne der<br />
Kyrburg, beide an der Nahe gelegen, einen rechteckigen<br />
Einlaufstein auf Burg Nanstein in der<br />
Westpfalz sowie den Fund eines Einlaufsteins in<br />
Form eines runden Beckens von der Zisterne der<br />
Burg Wildenberg im Odenwald. 8<br />
Vor diesem Hintergrund hat der Einlaufstein von<br />
der Liebenburg einen besonderen wissenschaftlichen<br />
Wert für die Burgenforschung, soweit es<br />
die Wasserversorgung betrifft. Aufgrund seiner<br />
schwachen Bindigkeit erleidet der Sandstein<br />
einen kontinuierlichen Substanzverlust. Hoffentlich<br />
gelingt es, ihn durch eine Konservierung vor<br />
dem weiteren Zerfall zu bewahren und für die<br />
Nachwelt zu retten.<br />
Literatur:<br />
Frontinus-Gesellschaft [Hg.]: Wasser auf Burgen im Mittelalter.<br />
Geschichte der Wasserversorgung 7, Mainz 2007.<br />
G. Ulrich Grossmann: Gewöhnliche und ungewöhnliche<br />
Wege zur Wasserversorgung von Burgen. Mitteilungen<br />
der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters<br />
und der Neuzeit, Bd. <strong>21</strong>. Paderborn 2009. Online: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/mitt-dgamn/article/<br />
view/17304 [Abruf vom 11.1.20<strong>21</strong>]<br />
Nina Günster: Von Brunnen, Eseln und anderem: Wasserversorgung<br />
auf Höhenbugen am Beispiel des Karstgebietes<br />
Nördliche Frankenalb. Veröffentlichungen der Deutschen<br />
Burgenvereinigung, Reihe A: Forschungen, Band 16, Braubach<br />
2013.<br />
René Kill: L‘approvisionnement en eau des châteaux forts<br />
de montagne alsaciens. Publications du Centre de Recherches<br />
Archéologiques Médiévales de Saverne, Saverne 2012.<br />
7 Kill 2012, 184–185.<br />
8 Mein Dank für freundliche Mitteilungen zum Thema gilt<br />
Reinhard Friedrich, Klaus Grewe, Holger Groenwald, René<br />
Kill, Stefan Köhl, Gerhard Müller, Stefan Ulrich, Uwe Welz<br />
und Achim Zeune.
saar-dank- und saar-befreiungskirche<br />
saargeschichte|n 49<br />
Die evangelische Saarpfalz im Umbruch des Jahres 1935<br />
von bernhard h. bonkhoff<br />
Nur noch eine kleine Minderheit in der<br />
Bevölkerung in Homburg, Bexbach oder St. Ingbert<br />
weiß, dass die evangelischen Christen im<br />
Saarpfalzkreis Glieder der Evangelischen Kirche<br />
der Pfalz sind. Man fühlt sich nicht als Pfälzer,<br />
sondern als Saarländer, und Speyer ist weit. Dass<br />
dies so ist, hat historische Gründe. Beide Kirchen,<br />
die protestantische und die katholische, haben<br />
sich nach 1919 und nach 1945 nicht angepasst,<br />
als Frankreich ein Saargebiet bzw. ein Saarland<br />
einrichtete. 1 Und darum gehört die Saarpfalz<br />
weiterhin zur Pfälzischen Landeskirche bzw. zum<br />
Bistum Speyer. Hier gelten weiterhin die im Wiener<br />
Kongress 1814/15 festgelegten Grenzen. Und<br />
damit es noch komplizierter wird: Der Homburger<br />
Stadtteil Einöd gehört zum Dekanat Zweibrücken,<br />
ebenso der gesamte Bliesgau bis St. Ingbert.<br />
Aber die St. Ingberter Stadtteile Hassel und<br />
Rohrbach (auch Niederwürzbach) gehören zum<br />
Dekanat Homburg. Der Zweibrücker Stadtteil<br />
Mörsbach gehört kirchlich ebenfalls nach Homburg.<br />
Die Hälfte des Dekanats Homburg liegt in<br />
der Pfalz, bis nach Breitenbach, Miesenbach und<br />
Kindsbach, von Landstuhl bis Kirchenarnbach,<br />
Wiesbach und Großbundenbach. Warum: Folgen<br />
der bayerischen Verwaltungsgrenzen von 1816.<br />
Und der (große) Rest des Saarlandes gehört zur<br />
Ev. Kirche im Rheinland bzw. zum Bistum Trier.<br />
schen und zur pfälzischen Republik führte und<br />
der 1924 mit der Erstürmung des Bezirksamts Pirmasens<br />
blutig niedergeschlagen und deren Präsident<br />
Franz Josef Heinz gen. Heinz-Orbis (1884-<br />
1924) in Speyer ermordet wurde.<br />
Bereits im Mai 1919 bestellte General Charles<br />
Mangin Pfarrer Hermann Risch 3 aus St. Ingbert<br />
und den Homburger Dekan Ernst D‘ Alleux<br />
4 (genannt »Alex«) nach Saarbrücken ein,<br />
zusammen mit Stadtpfarrer Hermann Jung, und<br />
winkte mit Ämtern und Titeln in der geplanten Ev.<br />
Kirche an der Saar. Der Limbacher Pfarrer Ziegler 5<br />
sollte sogar saarländischer Kultusminister werden.<br />
Aber die drei Saarpfarrer blieben standhaft<br />
und erklärten, man müsse mit der Bildung einer<br />
eigenen Saarkirche bis zur im Versailler Vertrag<br />
für 1935 angesetzten Saar-Abstimmung warten.<br />
Als Pensionär hat 1935 Ernst d‘Alleux diese Verhandlungen<br />
6 veröffentlicht. Sein Bericht endet:<br />
»Nun sind wir frei. Am 13. Januar 1935 hat die<br />
Befreiungsstunde geschlagen. Nun haben wir<br />
wieder einen Präsidenten. Das ist kein Ausländer,<br />
es ist unser herrlicher Führer und Reichskanzler<br />
Adolf Hitler. […] Es gibt im Saargebiet evangelische<br />
Gemeinden, die den höchsten Hundertsatz<br />
deutscher Stimmen aufgebracht haben. [...] Da<br />
ist keiner zurückgeblieben, auch nicht einer.« 7<br />
Vortrag vor dem<br />
Historischen Verein<br />
Homburg und der<br />
Volkshochschule<br />
Homburg am 18.<br />
Oktober 2017 im<br />
Siebenpfeiffer-Haus<br />
Homburg, ergänzt<br />
um den kritischen<br />
Apparat.<br />
Französische Separatismusversuche<br />
Zweimal hat Frankreich versucht, eine Ev. Kirche<br />
an der Saar und ein Saar-Bistum einzurichten. 2<br />
Der Versuch war Bestandteil der Neutralisierung<br />
des linken Rheinufers, denn der Rhein sollte die<br />
neue Ostgrenze Frankreichs werden. Das war ein<br />
Stück französischer Separatismus, der zur rheini-<br />
1 Vgl. Bernhard H. Bonkhoff, Geschichte der Vereinigten<br />
Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz<br />
1918–1978, St. Ingbert 2016.<br />
2 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 3 f. und S. 177.<br />
3 Vgl. Georg Biundo, Die evangelischen Geistlichen der Pfalz<br />
seit der Reformation, Neustadt / Aisch 1968, Nr. 4370.<br />
4 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 58.<br />
5 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 6092.<br />
6 Vgl. Ernst d’Alleux, Die »Saarpfalz«, ihre Herkunft, Entstehung<br />
und das nationale Ringen ihrer evangelischen Gemeinden,<br />
in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte 11<br />
(1935), S. 1–13.<br />
7 Ebd., S. 1.
von Dekan d‘Alleux, Theodor Risch 11 , war von<br />
1926 bis 1940 protestantischer Pfarrer von Blieskastel.<br />
Am Turm seiner Kirche hing noch beim<br />
Einmarsch der Amerikaner ein übergroßes, mit<br />
Glühbirnen besetztes Hakenkreuz, wie die Kirche<br />
in Beeden und in Rohrbach ein eindeutiges<br />
Bekenntnis des pfälzischen und saarpfälzischen<br />
Protestantismus zum Nationalsozialismus. Aber<br />
im Städtchen fand sich keine ausreichend lange<br />
Leiter und wohl auch kein mutiger Mann, der dieses<br />
nun peinlich gewordene Bekenntniszeichen<br />
abmontiert hätte. Es war dann ein amerikanischer<br />
Soldat, der hinaufstieg und das beleuchtbare<br />
Hakenkreuz als Souvenir mit in die US-<br />
Staaten nahm. 12 Aber wir haben ein Foto des<br />
politischen Bekenntnisses am ev. Kirchturm von<br />
Blieskastel. 13<br />
Grundsteinlegung der<br />
Saar-Dank-Kirche in<br />
Rohrbach: Hinter dem<br />
Rundfunkmikrophon<br />
Ortspfarrer Heinrich<br />
Oberlinger, mit dem<br />
Amtskreuz Landesbischof<br />
Ludwig Diehl<br />
(Sammlung Bonkhoff).<br />
Landesbischof Ludwig<br />
Diehl (rechts) und<br />
Ortspfarrer Heinrich<br />
Oberlinger (links) bei<br />
der Grundsteinlegung<br />
(Sammlung Bonkhoff).<br />
Rechts: Die Saar-<br />
Dank-Kirche nach<br />
Vollendung (Abb.:<br />
Jörg Rauber)<br />
Und weiter: »Mimbach, die Bliesgemeinde, hatte<br />
restlos für Deutschland gestimmt.« 8<br />
Aber 1935 wurde politisch der alte Zustand nicht<br />
wieder hergestellt, dass der pfälzische Teil des<br />
Saargebietes zur Pfalz, dem achten Regierungsbezirk<br />
des Freistaats Bayern, und der Westteil des<br />
Landes zur preußischen Rheinprovinz zurückgegliedert<br />
worden wäre, denn mit dem »Heim<br />
ins Reich« kam nicht nur das Deutsche Reich, sondern<br />
ebenso der Nationalsozialismus des Gauleiters<br />
Josef Bürckel – wegen seiner Trinkfestigkeit<br />
»Bierleiter Gaukel« genannt – und die braune<br />
pfälzische Beamtenschaft überfluteten das<br />
Land der Saar-Befreiung. Hier hat das bis heute<br />
bekannte Sprichwort: »Uff die Bääm, die Pälzer<br />
kumme!« seinen Sitz im Leben. Und hier, im Saarpfalzkreis,<br />
kam es zu zwei politisch motivierten<br />
Kirchenneubauten: 1935 die »Saar-Befreiungskirche«<br />
in Beeden 9 und 1937 die »Saar-Dank-Kirche«<br />
in Rohrbach 10 , deren Baugenehmigung die<br />
Unterschrift Hitlers trägt. Der Schwiegersohn<br />
8 Ebd., S. 12.<br />
9 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 415 f.; ders., Die<br />
Kirchen im Saar-Pfalz-Kreis, Saarbrücken 1987, S. 56–58.<br />
10 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 416; ders., Kirchen<br />
[wie Anm. 10], S. <strong>21</strong>5 f.<br />
11 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 4373.<br />
12 Private Niederschrift des von 1947–1965 in Blieskastel als<br />
Pfarrer tätigen Werner Ernst Linz, vgl. Biundo, Die evangelischen<br />
Geistlichen [wie Anm. 4], Nr. 3166.<br />
13 Vom Verfasser 2015 entdeckt. Das Stadtarchiv Blieskastel<br />
erhielt einen Abzug.
saargeschichte|n 51<br />
Was sind die Ursachen für diese einseitige politische<br />
Orientierung des pfälzischen und speziell<br />
des saarpfälzischen Protestantismus?<br />
Die drängende Soziale Frage<br />
Erste und wichtigste Ursache hierfür ist die<br />
Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts. 14 Bergleute<br />
und Hüttenarbeiter hatten gefährliche, schwere<br />
Berufe. In den Schlafhäusern und Gasthäusern<br />
wurde Politik gemacht. Carl Ferdinand Freiherr<br />
von Stumm-Halberg, der »Scheich von Saarabien«,<br />
war bewusst und entschieden evangelisch<br />
und suchte auf seine Art die Soziale Frage zu lösen,<br />
indem er tief in das Privatleben seiner Arbeiter<br />
eingriff, zum Beispiel Eheschließungen vor dem<br />
24. Lebensjahr und Mischehen verbot. Die evangelischen<br />
Pfarrer der Industriegemeinden der<br />
Saargegend und der Westpfalz sammelten sich<br />
zur preußisch-pfälzischen Pastoralkonferenz,<br />
deren Zeitschrift »Der Arbeiterbote« in Homburg<br />
gedruckt wurde. 15 Die Innere Mission,<br />
getragen von den Stadtmissionen, entfaltete<br />
ihre Tätigkeit, zusammen mit den Speyerer und<br />
den Kreuznacher Diakonissen. Der Stellvertreter<br />
von Gauleiter Bürckel, »Landeshauptmann«<br />
Ernst Leyser (1896–1973) 16 ist aus der Homburger<br />
Stadtmission hervorgegangen. In den 1960er<br />
Jahren war er in Bergzabern wieder Presbyter<br />
und Bezirkssynodaler und bald auch Mitglied der<br />
pfälzischen Landessynode.<br />
Seit den 1830er Jahren war die protestantische<br />
Kirche Deutschlands im Innern deutlich geteilt<br />
zwischen links und rechts, zwischen liberal und<br />
konservativ, großbürgerlich und althergebracht<br />
(die sog. »Positive Union«). Das Engagement für<br />
die kleinen Leute, die Mühseligen und Beladenen,<br />
14 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 171–183.<br />
15 Vgl. Roland Paul, Die evangelischen Arbeitervereine der<br />
Pfalz, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte 70<br />
(2003), S. 109–122.<br />
16 Robert Hansel, Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde<br />
Bad Bergzabern, Zweibrücken 1993, S. 675f.;<br />
Franz Maier, Biographisches Organisationshandbuch der<br />
NSDAP, Mainz 2007, S. 331–338.<br />
die Verlierer und Entrechteten, war<br />
wichtigster Programmpunkt der altgläubigen<br />
Richtung. Homburg war wie<br />
Zweibrücken ein eindeutig mit konservativen<br />
Dekanen besetzter Kirchenbezirk.<br />
Kirchenparteien sichern sich Einfluss<br />
Als 1843 Philipp Jakob Siebenpfeiffers Parteigänger<br />
Dekan Carl Gottfried Weber 17 seine<br />
Stelle in Homburg aufgab, wurde 1844 mit Friedrich<br />
Scholler 18 ein Vertreter der Erweckungsbewegung<br />
Dekan in Homburg. Diese Serie sollte<br />
sich ungebrochen bis 1939 mit Jakob Ludwig Göppel<br />
19 , Erhard Wündisch 20 , Ludwig Ritter <strong>21</strong> , Johann<br />
Philipp Rettig 22 , Wilhelm Henn 23 , Ludwig Mettel 24 ,<br />
17 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 5745.<br />
18 Ebd., Nr. 4875.<br />
19 Ebd., Nr. 1642.<br />
20 Ebd., Nr. 6047.<br />
<strong>21</strong> Ebd., Nr. 4388.<br />
22 Ebd., Nr. 4287.<br />
23 Ebd., Nr. 2054.<br />
24 Ebd., Nr. 3443.<br />
Die 1935 als Saar-<br />
Befreiungskirche<br />
eingeweihte Protestantische<br />
Kirche in<br />
Beeden mit seitlich<br />
angebautem<br />
Gemeindesaal, Aufnahme<br />
1965 (Sammlung<br />
Bonkhoff).<br />
Abb. 5 »Glaubensbekenntnisse«<br />
in<br />
Blieskastel um 1935:<br />
An einem Hausgiebel<br />
ist zu lesen: »Deutsch<br />
sollen unsere Kinder<br />
sein, drum setzen<br />
wir uns für Deutschland<br />
ein.« Und am<br />
Turm der Protestantischen<br />
Kirche prangt<br />
ein großes, nachts<br />
erleuchtetes Hakenkreuz<br />
als politischideologisches<br />
Bekenntnis der evangelischen<br />
Kirche. Das<br />
Protokollbuch des<br />
Presbyteriums verzeichnet<br />
zur Montage<br />
dieses Symbols<br />
keinen Beschluss<br />
(Sammlung Bonkhoff).
Das von Friederich<br />
Larouette entworfene<br />
Evangelische<br />
Gemeindehaus<br />
gegenüber dem<br />
Schwesternhaus:<br />
Im Erdgeschoss der<br />
Ev. Gemeindedienst,<br />
das Büro der Kirchengemeinde,<br />
die Nähschule,<br />
die Kochschule<br />
und die Toiletten. Im<br />
1. Obergeschoss der<br />
Gemeindesaal, der<br />
durch eine Faltwand<br />
halbiert werden<br />
konnte. Im 2. Obergeschoss<br />
die Pfarrwohnung<br />
des 3. Pfarrers,<br />
der 1936 seinen<br />
Sitz in Erbach bekam,<br />
im Dachgeschoss<br />
die Wohnung des<br />
Kirchendieners. Das<br />
Gemeindehaus wurde<br />
1925 eingeweiht<br />
und 1982 abgerissen<br />
(Sammlung Bonkhoff).<br />
Drescher 25 , Ernst d‘Alleux 26 und Friedrich Karl<br />
Albrecht 27 fortsetzen. Auch die Stelle des Stadtpfarrers<br />
war mit Männern der gleichen Richtung<br />
besetzt. Da aber mit der Kirchenverfassung<br />
von 1920 bei größeren Kirchengemeinden stark<br />
auf einen Ausgleich 28 zwischen links und rechts,<br />
positiv und liberal gesehen wurde, kam 1928 bei<br />
der Errichtung der Pfarrstelle III in Homburg mit<br />
Kurt Foell 29 (1890–1950) ein entschiedener Vertreter<br />
des pfälzischen Protestantenvereins in die<br />
Stadt. Er bezog die große neue Pfarrwohnung mit<br />
Zentralheizung im 1925 fertiggestellten prächtigen<br />
Gemeindehaus gegenüber dem 1899 eingeweihten<br />
Schwesternhaus 30 , das noch heute<br />
den Ev. Kindergarten beherbergt. Darin war nicht<br />
nur der Ev. Gemeinde- und Sozialdienst und die<br />
Kirchendienerwohnung untergebracht, sondern<br />
auch ein vornehmer Gemeindesaal, eine Nähschule<br />
und Kochschule, auch alle Gemeindegruppen,<br />
Kinder- und Jugendgruppen, die Pfadfindergruppe<br />
der Bekennenden Kirche und der<br />
Mädchen-Bibelkreis, der Kirchenchor mit über<br />
achtzig Sängerinnen und Sängern und die Tagungen<br />
der Bezirkssynoden. Damals war Homburg<br />
eine von regem evangelischen Leben erfüllte<br />
Gemeinde, die in rascher Folge dafür sorgte, dass<br />
die Außenorte durch den gleichen Stararchitekten<br />
Friedrich Larouette 31 aus Frankenthal<br />
25 Ebd., Nr. 1013.<br />
26 Ebd., Nr. 58.<br />
27 Ebd., Nr. 46.<br />
28 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 10–30.<br />
29 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 1373.<br />
30 Ecke Schwesternhausstraße/ Lagerstraße.<br />
31 Vgl. Friedrich Larouette, Die Rheinpfalz und ihre Bauten.<br />
Festschrift des Pfälzischen Architekten- und Ingenieurvereins,<br />
Berlin-Halensee 1928. Abb. des Gemeindehauses,<br />
vgl. Bernhard H. Bonkhoff, Bild-Atlas zur pfälzischen Kirchengeschichte,<br />
Speyer/ Regensburg 2000, S. 536: Christuskirche<br />
Bruchhof-Sanddorf.<br />
eigene Kirchen bekamen: 1928 Bruchhof-Sanddorf<br />
32 und 1931 Erbach-Reiskirchen 33 . Übrigens:<br />
Die katholische Kirchengemeinde besaß ein noch<br />
größeres Gruppen- und Verbindungs-Gemeindeleben,<br />
das sich – ganz anders als bei den Protestanten<br />
– vom NS-System abgrenzte und in Gefahr<br />
begab.<br />
Bei dem Stichwort Kurt Foell kann der Verfasser<br />
direkt auf familiäre Überlieferungen<br />
zurückgreifen, denn seine Mutter war Klassenkameradin<br />
der Tochter Ruth Foell. Sie – bis zu<br />
ihrem Tod in Homburg Gemeindehelferin – und<br />
ihre Freundin verkehrten häufig in der Familie.<br />
Dort war der Herr Stadtpfarrer ein lockerer,<br />
fröhlicher Familienvater. Im Schulunterricht und<br />
auf der Kanzel war Foell bigottisch und weinerlich,<br />
voller Verklemmungen und Verrenkungen,<br />
um sich an den in der damaligen Zeit herrschenden<br />
Pastoralstil anzugleichen und um dem vermuteten<br />
Umgangston in der protestantischen<br />
Kirchengemeinde Homburg zu entsprechen.<br />
Von 1919 bis 1927 war er Pfarrer in Walsheim<br />
an der Blies gewesen, jenem Außenposten des<br />
pfälzischen Protestantismus an der lothringischen<br />
Grenze, wo Arbeitslosigkeit, Grenzland-<br />
Depression und ein drückender Katholizismus<br />
den Alltag der Menschen bestimmten. Zu Foells<br />
Gemeindebezirk gehörte Beeden, wo die Protestanten<br />
schon seit der Kaiserzeit daran dachten,<br />
eine eigene Kirche zu errichten. Die Saar-<br />
Befreiungskirche Beeden von 1935 ist das Werk<br />
von Kurt Foell. In der Kirchenzeitung »Union« des<br />
pfälzischen Protestantenvereins ist seine Einweihungspredigt<br />
abgedruckt 34 , und das große<br />
Wandbild auf der Stirnseite über der mächtigen<br />
Kanzel in der Mitte ist – in mehreren Fotos<br />
abgebildet – die Saar-Befreiung des Landauer<br />
Malers Hermann Sauten. 35 Das Motiv hatte der<br />
Ortspfarrer wie folgt überschrieben: »Freiheit<br />
und Kraft im Aufblick zu Gott.« Zwei Männer blicken<br />
auf zu den Lichtstrahlen, die von der Taube<br />
des Heiligen Geistes im Wolkenband über der<br />
Kanzel ausgehen: links der saarländische Arbeiter<br />
mit nacktem Oberkörper; die Kette, die seine<br />
Hände fesselten, ist durchtrennt. Auf der andern<br />
Seite der Saar-Befreier in silberner Rüstung;<br />
32 Vgl. Bonkhoff, Kirchen [wie Anm. 10], S. 97 f.<br />
33 Vgl. Bonkhoff, Kirchen [wie Anm. 10], S. 109.<br />
34 Vgl. Kurt Foell, Befreiungskirche! Predigt bei der Weihefeier<br />
der Befreiungskirche Beeden am 29. Sept. 1935, in:<br />
Union 74 (1935), S. 537<br />
35 Abbildungen bei Bonkhoff, Bild-Atlas [ wie Anm.32], S.<br />
563 f.
saargeschichte|n 53<br />
Links: Der befreite<br />
Saarländer auf der<br />
Altarwand der 1935<br />
eingeweihten Saar-<br />
Befreiungskirche in<br />
Beden (Sammlung<br />
Bonkhoff).<br />
Rechts: Der Saar-<br />
Befreier auf der<br />
Altarwand in Beeden<br />
(Sammlung Bonkhoff).<br />
seine Hände halten das Schwert, das die Fesseln<br />
zerschlagen hat. Auch ohne einen schwarzen<br />
Schnäuzer erkannte jeder gleich, wer das sein<br />
sollte. In der Einweihungspredigt 36 hieß es dazu:<br />
»Ein ohnmächtig Deutschland unterschrieb den<br />
Versailler Vertrag! Nie vergessen, wodurch wir<br />
siegten: das neue, unter Adolf Hitler geeinte Reich<br />
holte das Saargebiet zurück! Daran soll allezeit<br />
diese Befreiungskirche erinnern. Nie wird euch<br />
das Reich entrissen, wenn ihr einig seid und treu?<br />
Deß zum Gedächtnis haben wir eine Befreiungskirche<br />
errichtet [...]. Und um auch Gott unsern<br />
Dank darzubringen, daß er uns in unserm Führer<br />
den Mann sandte, der ein starkes Deutschland<br />
schuf und damit die Fremdstaaten zur Achtung<br />
vor den Verträgen zwang. Eine Befreiungskirche<br />
haben wir gebaut, um zum Ausdruck zu bringen,<br />
daß die evang. Kirche wie im Saarbefreiungskampf<br />
treu zum deutschen Reiche stehen und<br />
alle politischen Diffamierungsversuche Lügen<br />
strafen wird. Eine Befreiungskirche haben wir<br />
heute geweiht, weil wir der festen Zuversicht<br />
sind, daß unser deutsches Volk die religiösen<br />
Kräfte des Christentums nicht entbehren kann,<br />
wenn es auch in Zukunft frei und stark bleiben<br />
will. Deutsches Volk und christliche Kirche<br />
gehören zusammen!”<br />
Die Biblische Grundlage dieser »Predigt« sollte<br />
2. Tim. 2,8 sein: »Halte im Gedächtnis Jesum<br />
Christ!« Die drei Glocken der neuen Kirche waren<br />
zudem eine Stiftung von Reichskirchenminister<br />
36 In dem Sammelband »Protestanten ohne Protest«, Speyer/<br />
Leipzig 2016, wird das Bild des Saar-Befreiers Hitler<br />
als Abbildung des heilige Mauritius identifiziert!<br />
Hanns Kerrl 37 . Auf der großen Glocke ist noch<br />
heute zu lesen:<br />
»bestehet in der freiheit. gal. 5, v. 1. freiheit.<br />
gegossen im jahr der saarbefreiung 1935«<br />
Sie blieb bei der Glockenabnahme von 1942<br />
wegen ihrer politischen Inschrift erhalten, genau<br />
wie die 1935 für die protestantische Kirche von<br />
Wolfersheim gegossene Glocke. 38 Wie Kurt Foell<br />
waren etliche der härtesten Deutschen Christen<br />
der Pfalz, z.B. Emil Lind 39 in Speyer, Dekan Karl<br />
Emrich 40 in Ludwigshafen oder der Breitfurter<br />
Nationalkirchler Wilhelm Gruber 41 mit seiner Freilichtbühne<br />
dem kirchlichen Liberalismus zuzurechnen.<br />
Sie waren Vertreter einer Genie-Christologie,<br />
bei der Jesus Christus nur eine besondere<br />
Größe an Persönlichkeit war, nicht anders als<br />
etwa Luther und Goethe, Barbarossa und Wilhelm<br />
II., und jetzt eben der »Führer”. Dagegen<br />
war für den konservativ ausgerichteten Teil des<br />
37 Auch die übrigen Glocken der Pfalz mit politischen Inschriften<br />
aus der NS-Zeit wurden bei der Glockenbeschlagnahmung<br />
von 1942 nicht abgenommen; vgl.<br />
Bernhard H. Bonkhoff, Pfälzisches Glockenbuch, Kaiserslautern<br />
2008, S. 125–128.<br />
38 Abb. vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S. 565.<br />
39 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 3156; siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />
S. 86–90 u.ö.<br />
40 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 1119, siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />
S. 136–138 u.ö.<br />
41 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 1759 siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />
S. 81. 90 u.ö.
In der Turmhalle der<br />
Saar-Dank-Kirche in<br />
Rohrbach steht das<br />
Denkmal. Das die<br />
Parole von 1935 versinnbildlicht:<br />
Deutsche<br />
Mutter: Heim<br />
zu Dir! (Sammlung<br />
Bonkhoff).<br />
Protestantismus der »Sozialismus der Tat«, gerade<br />
auch im Bereich des »roten Gauleiters« Bürckel,<br />
ein wichtiger Anknüpfungspunkt an den<br />
Nationalsozialismus.<br />
Lebendige, blühende Kirchengemeinden<br />
Die saarpfälzischen Gemeinden, gerade die in<br />
der Diaspora von St. Ingbert und am Höcherberg,<br />
waren für die Protestantische Kirche der<br />
Pfalz lange der aktivste Teil. So konnten Kirchenchor<br />
und Instrumentalkreis der ev. Gemeinde<br />
Höchen um 1930 die Johannespassion von Bach<br />
aufführen, ganz ohne Hilfe von außen, wie es der<br />
von 1930 bis 1937 dort wirkende spätere Homburger<br />
Pfarrer Karl Bruch 42 berichtete. Ein Kronzeuge<br />
dieses evangelischen Lebens ist übrigens der von<br />
1926 bis 1929 in Homburg tätige spätere Kirchenpräsident<br />
Theo Schaller, der Mitbegründer und<br />
Dozent der Heimvolkshochschule Diemerstein,<br />
der während des Zweiten Weltkriegs in Bexbach<br />
und Erbach den Pfarrdienst versah. Seine Lebenserinnerungen<br />
43 gewähren genauen Einblick in<br />
das kirchliche und politische Leben der Saarpfalz<br />
und dessen stark nationale Ausrichtung.<br />
Er sang mit seiner Homburger Jugendgruppe<br />
das »Saarlied« von Hans Maria Lux: »Ihr Himmel<br />
hört: Jung Saarvolk schwört: Laßt es uns in<br />
42 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 614.<br />
43 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />
Nr. 4634, siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S.<br />
242; Theodor Schaller, Erinnerungen. Unveröffentlichtes<br />
Manuskript, abgeschlossen 1987, im Besitz des Verfassers.<br />
Die gedruckte Version (siehe: Klaus Bümlein/ Ulrich A.<br />
Uzen (Hg.), Theo Schaller Erinnerungen, Speyer 2014) ist<br />
eine stark gekürzte Version.<br />
den Himmel schrein: Wir wollen niemals Knechte<br />
sein!« Er, wie viele Pfarrer der jüngeren Generation,<br />
gehörte damals der Bekennenden Kirche<br />
an. Und wenn er aus dieser Zeit erzählte, öffnete<br />
er seine Brieftasche und holte seinen Mitgliedsausweis,<br />
die Rote Karte 44 heraus, die er immer bei<br />
sich trug. Und einmal sagte er zu mir, dass solche<br />
Karten wohl eines Tages in der Gegenwartskirche<br />
wieder nötig sein könnten. Inzwischen versucht<br />
die pfälzische Kirche, ihre Vergangenheit im Dritten<br />
Reich aufzuarbeiten. 45 Aber da entstehen<br />
auch Märchen: So hielt eine Kunsthistorikerin<br />
den Saarbefreier auf der Altarwand in Beeden<br />
für eine Darstellung des heiligen Mauritius mit<br />
negroiden Zügen, einen stillen Protest gegen das<br />
arische Herrenmenschentum der NS-Ideologie. 46<br />
Die einst so starke Stimme des saarpfälzischen<br />
Protestantismus ist heutzutage recht schwach<br />
geworden.<br />
Als 1939 der letzte aus der altgläubigen Reihe der<br />
Homburger Dekane, Dekan Friedrich Karl Albrecht,<br />
abtrat, ernannte die Speyerer Kirchenregierung<br />
den gleichermaßen dem Liberalismus wie dem<br />
Nationalsozialismus verpflichteten Stadtpfarrer<br />
Kurt Foell zu seinem Nachfolger. 1950, bald nach<br />
der Wiedereinweihung der am Schluss des Zweiten<br />
Weltkriegs stark beschädigten Stadtkirche,<br />
verstarb er. Direkt nach Kriegsende musste er<br />
anordnen, das allegorische Wandbild zur Saarbefreiung<br />
in der Kirche von Beeden zu beseitigen. 47<br />
Auch er musste lernen, dass die Kirche nicht politischen<br />
Strömungen, gerade modernen Ideologien<br />
und dem zu dienen hat, was gerade »in«<br />
ist, sondern von ihrem Herrn und Meister Jesus<br />
Christus nur einen einzigen Auftrag hat: Gehet<br />
hin und lehret alle Völker, tauft sie und lehrt sie<br />
zu halten alles, was ich euch befohlen habe!<br />
44 Abb. vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S. 557, Text<br />
siehe Bernhard H. Bonkhoff, Quellen und Texte zur pfälzischen<br />
Kirchengeschichte, Speyer/ Regensburg 2005, S.<br />
1169 f.<br />
45 Vgl. Hanns-Christoph Picker u.a.: Protestanten ohne. Protest.<br />
Die Evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus,<br />
Speyer/ Leipzig 2016.<br />
46 Das Bild der Saar-Befreiung wurde direkt nach dem Ende<br />
der NS-Diktatur entfernt, nicht erst bei der Kirchenrenovierung<br />
der 1970er Jahre.<br />
47 In der Saar-Dank-Kirche in Rohrbach ist die Plastik des<br />
saarländischen Ehepaars in der Eingangshalle noch immer<br />
erhalten, vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S.<br />
567.
mon trésor.<br />
europas schatz im saarland<br />
saargeschichte|n 55<br />
von armin leidinger<br />
Mit »Mon Trésor. Europas Schatz im Saarland«<br />
richtet das Weltkulturerbe Völklinger Hütte den<br />
Blick programmatisch auf die europäische Kernregion<br />
um sie herum. Herausragende Objekte<br />
der Archäologie, Technik, Kulturgeschichte und<br />
Kunst vom Saarkarbon bis heute, aber auch überraschende<br />
Funde verdeutlichen die kulturelle und<br />
humane Dimension dieser multinationalen Weltgegend.<br />
Der Titel »Mon Trésor« ist dabei wörtlich<br />
zu nehmen. Denn: Jeder Schatz ist zuallererst privater<br />
Natur, auch wenn er später zu nationalem<br />
Kulturgut wird. »Mon Trésor« wählt damit einen<br />
persönlichen, subjektiven Ansatz. »Mein Schatz«,<br />
das kann ein Gegenstand sein, ebenso aber ein<br />
Baum, Tier oder Mensch. Für die BesucherInnen<br />
stellt sich damit die Frage: Was ist überhaupt<br />
ein Schatz? Was ist wann warum bedeutend?<br />
Und was ist mir persönlich wirklich wichtig?<br />
»Am Beispiel der Schätze der SaarLorLux-Region<br />
werden in dieser Ausstellung exemplarisch universelle<br />
Fragen für jeden von uns verhandelt«,<br />
konstatiert Dr. Ralf Beil, Generaldirektor des<br />
Weltkulturerbes Völklinger Hütte.<br />
Schatzkammer Europas<br />
»Mon Trésor« ist eine Ausstellung der gesamten<br />
Großregion. Weder Kelten noch Römer kannten<br />
ein festumrissenes »Saarland«, die Grenzziehung<br />
hat sich über Jahrhunderte hinweg<br />
immer wieder verändert.<br />
Verbunden sind das heutige Saarland, Lothringen<br />
und Luxemburg insbesondere durch die<br />
gemeinsame Industriekultur. Das Erz in Lothringen,<br />
die Kohle an der Saar, das war die Ausgangssituation<br />
bei der Gründung der Völklinger Hütte,<br />
die auch im weiteren Verlauf ihrer Geschichte<br />
prägend blieb. Von der europäischen Dimension<br />
der Großregion zeugen in »Mon Trésor« Keramiken<br />
aus Sarreguemines, Schmuckpreziosen aus<br />
dem Musée Lalique oder etwa die Rekonstruktion<br />
des Luxemburger Weltdokumentenerbes,<br />
der bahnbrechenden Fotoausstellung »Family of<br />
Man«. Ort der Ausstellung ist die auratische<br />
Gebläsehalle: Sie ist das größte Exponat der<br />
Schau.<br />
»Mon Trésor« ist eine veritable Wunderkammer<br />
der Gegenwart, eine Schatzhalle der Geschichte<br />
und Geschichten aus der Mitte Europas«, so<br />
Generaldirektor Dr. Ralf Beil.<br />
Ein neuer Schauplatz für Ausstellungen<br />
Die Gebläsehalle der Völklinger Hütte präsentiert<br />
sich anlässlich von »Mon Trésor« erstmals seit<br />
zwanzig Jahren wieder in ihrer originalen Substanz.<br />
Nahezu alle Stellwände wurden abgebaut,<br />
Das Plakat zur Ausstellung<br />
zeigt ein<br />
Detail der Gebläsemaschine<br />
10 aus der<br />
Gebläsehalle, fotografiert<br />
von Franz<br />
Mörscher 1999/2000,<br />
digital bearbeitet von<br />
der Glas AG.<br />
[Copyright Foto: ©<br />
Weltkulturerbe Völklinger<br />
Hütte / Glas AG<br />
/ Franz Mörscher]
Dillinger Triptychon<br />
Mit dem »Dillinger<br />
Triptychon« besitzt<br />
die Pfarrgemeinde<br />
Hl. Sakrament in<br />
Dillingen/Saar eines<br />
der wichtigsten<br />
historischen Kunstwerke<br />
des Saarlands.<br />
Das dreiteilige, aus<br />
einem Mittelstück<br />
und zwei schmalen<br />
Flügeln bestehende<br />
Gemäldeensemble<br />
stellt Szenen aus<br />
der Weihnachtsgeschichte<br />
dar. Es<br />
stammt ursprünglich<br />
aus der Kapelle des<br />
Alten Schlosses<br />
in Dillingen. Als<br />
Geschenk soll es in<br />
den Besitz der Pfarrei<br />
Dillingen gekommen<br />
und Anfang des 20.<br />
Jahrhunderts in Vergessenheit<br />
geraten<br />
sein. Erst in den<br />
1950er-Jahren wurde<br />
das Triptychon stark<br />
beschädigt wieder<br />
aufgefunden und restauriert.<br />
Nach aktuellem<br />
Forschungsstand<br />
könnte es aus dem<br />
Umkreis des flämischen<br />
Malers Pieter<br />
Coecke van Aelst<br />
(1502–1550) stammen.<br />
[1. Hälfte des 16. Jahrhunderts.<br />
Öl auf Holz<br />
Mitteltafel 88 x 56<br />
cm, Breite der Seitentafeln<br />
26 cm<br />
Kath. Kirchengemeinde<br />
Hl. Sakrament<br />
Dillingen<br />
Copyright Foto: ©<br />
Weltkulturerbe Völklinger<br />
Hütte / Tom<br />
Gundelwein]<br />
so dass sich ein gänzlich neuer Blick auf die weltweit<br />
einmaligen Gebläsemaschinen und eine<br />
neue Form der Ausstellungsinszenierung ergibt.<br />
Im Vordergrund steht nun die Arbeit mit der vorhandenen<br />
Industriearchitektur: Schächte werden<br />
für Objektinszenierungen genutzt, Emporen für<br />
Räume im Raum. Die Gebläsehalle ist bei »Mon<br />
Trésor« doppelt bedeutsam: Sie ist nicht nur eine<br />
hochauratische Schatzkammer, sondern offenbart<br />
sich selbst mitsamt ihrer historischen Einrichtung<br />
und Gestaltung als außergewöhnlicher<br />
Schatz des Saarlandes von weltweiter Bedeutung.<br />
Im Echoraum der Geschichte(n)<br />
»Lieber Vater, wir müssen fort. Alois Bernhard<br />
Johannes Gruß u. K. Kätchen«. In Saarbrücken-<br />
Burbach wird Familie Peitz bereits am 1. September<br />
1939 evakuiert, dem Tag des deutschen Überfalls<br />
auf Polen. Morgens kommt die Aufforderung<br />
zum Packen und bereits nachmittags geht es los<br />
nach Thüringen. Der Vater, Nikolaus Peitz, Schlosser<br />
auf der Burbacher Hütte, muss arbeiten. Zum<br />
Abschied schreibt Alois (sieben Jahre) dem Vater<br />
einen Zettel. Auch Bernhard (11) und Johannes<br />
(4) setzen ihren Namen darunter, zum Schluss<br />
die Mutter »Kätchen«, mit abgekürztem »Gruß<br />
und Kuss«. Ihre Jüngste, Katharina (1) hat sie auf<br />
dem Arm. Im thüringischen Eichsfeld werden die<br />
»Saarfranzosen« getrennt: Mutter Peitz kommt<br />
mit den beiden Kleinsten zu einem Bauern, die<br />
beiden größeren Jungs zu einem anderen. Am<br />
Zweiten Weihnachtsfeiertag 1939 ist die Familie<br />
wieder vereint: beim Vater in Braunschweig, der<br />
zu den Dornier Werken dienstverpflichtet worden<br />
ist. Der Zettel zum Abschied aber hat sich<br />
über all die Jahre bis heute erhalten, der Vater hat<br />
ihn sein Leben lang aufbewahrt: Das kleine Stück<br />
Papier ist zum Schatz geworden.<br />
»Mon Trésor« erzählt die Geschichte(n) einer<br />
Region und zeigt zugleich Schätze wie das Dillinger<br />
Triptychon, die Entwürfe Gerhard Richters<br />
für die Fenster der Abteikirche in Tholey oder die<br />
Glaskunst aus Lothringen. Die Ausstellung behält<br />
dabei stets ihren assoziativen Charakter. Der<br />
Abschiedsbrief von Alois Peitz liegt neben dem<br />
Ring eines Kindes aus der Römerzeit, der ebenfalls<br />
von Gefahr und Flucht erzählt. Die BesucherInnen<br />
wandern durch einen Echoraum der<br />
Geschichte(n).<br />
»In »Mon Trésor« geben die Geschichten den Takt<br />
vor. Sie berichten von dem, was die Menschen<br />
in der Region geleistet haben, und verleiten uns<br />
zum Wundern und Reflektieren. Wer bereit ist,<br />
sich dem zu öffnen, was die archäologischen<br />
Funde und vergilbten Fotoalben, die privaten<br />
Besitztümer und Schatzkarten des Mittelalters<br />
mitzuteilen haben, ganz zu schweigen von den<br />
nur scheinbar verstummten Maschinen in der<br />
Gebläsehalle, wird sich unweigerlich bei dem<br />
Gedanken ertappen, dass viele von ihnen auch<br />
von seiner eigenen Geschichte erzählen«, sagt<br />
Kurator Frank Krämer.<br />
Das Staunen lernen<br />
»Wir möchten unsere BesucherInnen im schönsten<br />
Sinne des Wortes zum Staunen bringen.<br />
Kunst beginnt nicht erst in zwei Metern Entfernung<br />
in einem Rahmen oder hinter Vitrinenglas.<br />
Wir suchen andere Wege der Inszenierung<br />
und verbinden die Objekte bestenfalls wieder mit<br />
den Geschichten, die zu ihnen gehören«, sagt Ralf
saargeschichte|n 57<br />
Beil, Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger<br />
Hütte.<br />
In einem Treppenabgang, wo eigentlich ein<br />
Keltengrab inszeniert werden sollte, fand sich ein<br />
Arbeiterspind, der seit der Schließung des Werks<br />
1986 nicht mehr geöffnet wurde. Nun ist er ein<br />
Memorial für den Arbeiter, der dort seine Schuhe<br />
und seine Schraubenschlüssel untergebracht<br />
hat, in einer Holzkiste für Handgranaten.<br />
Die BesucherInnen schauen hinab in ein Merowinger-Grab:<br />
Warum liegen in diesem Grab<br />
geköpfte Pferde? Sie werfen einen exklusiven<br />
Blick in das Interieur der »Olympic«, das nahezu<br />
baugleiche Schwesterschiff der »Titanic«. Beide<br />
Schiffe wurden vom Maschinenraum bis zur ersten<br />
Klasse mit Bodenfliesen aus dem Hause Villeroy<br />
& Boch (mit Sitz in Mettlach) ausgestattet.<br />
Die kostbare Innenausstattung der Olympic aus<br />
Eiche wurde versteigert. Und so kamen Wände<br />
des Gymnastiksaals und des Treppenhauses der<br />
ersten Klasse in die Schatzkammer eines saarländischen<br />
Sammlers. Es gibt nichts, was dem<br />
Original der Titanic näher käme. Sogar der mehr<br />
als sechs Meter hohe Gollenstein, der größte<br />
Menhir Mitteleuropas, steht jetzt in monumentaler<br />
Größe in der Gebläsehalle der Völklinger<br />
Hütte.<br />
Le Boulevard<br />
Die Industriekultur der Region ist grenzübergreifend, »Mon Trésor« zeigt dieses<br />
gemeinsame Erbe. Neben der Keramik von Villeroy & Boch aus Mettlach für den Oceanliner<br />
»Olympic« sind so auch Fayencen aus Saargemünd, Glaskunst aus Lothringen<br />
und Jugendstilschmuck aus dem Musée Lalique im Elsass zu sehen. Ohne Frage zählen<br />
sie zu den wichtigen Schätzen der Europaregion.<br />
Die Produktion von Keramikfliesen erlebte im 19. Jahrhundert in ganz Frankreich<br />
einen neuen Aufschwung, denn neue Techniken ermöglichten die Herstellung großer<br />
Mengen zu erschwinglichen Preisen. In Saargemünd begann man um 1880 mit<br />
der Herstellung von Fliesen, an denen die Kundschaft sofort Gefallen fand. Zahlreiche<br />
Kunsthandwerker schufen einfallsreiche Motive für die Produktionsstätten in Saargemünd<br />
sowie für die beiden Tochterfabriken. Die Steingutmanufaktur in Saargemünd<br />
hatte ihr goldenes Zeitalter um 1900. Ihre Keramikfresken schmückten Hausfassaden,<br />
Speisesäle und Badezimmer; sie dienten als hygienische Wandverkleidung,<br />
zu Dekorations- oder Reklamezwecken. Die schönsten Arbeiten wurden auf großen<br />
Ausstellungen gezeigt und trugen das Können der Keramiker aus Saargemünd in die<br />
ganze Welt.<br />
Das wandfüllende Keramikfresko »Le Boulevard« gehört zu den bekanntesten Werken.<br />
Es besteht aus <strong>21</strong>6 Fliesen. Das Motiv stammt von Théophile Steinlen (nicht zuletzt<br />
bekannt durch seine Plakatkunst für das Pariser Kabarett »Le Chat Noir«). Großbürger<br />
in steifen Posen treffen auf fröhliche Zeitungsverkäufer und Blumenmädchen – ein<br />
sinnfälliges Abbild der gesellschaftlichen Unterschiede jener Zeit.<br />
[Faïencerie de Sarreguemines. Dekoratives Keramikfresko aus feiner Fayence. Nach<br />
einem Plakat von Théophile Steinlen Höhe 230 cm x Breite 350 cm.<br />
Fabrikmarke »Sarreguemines – Paris«, um 1902. Musées de Sarreguemines<br />
Copyright Foto : © Musées de Sarreguemines]
Der Geislauterner Dampfwagen<br />
Die erste Lokomotive in Deutschland, der »Adler« fuhr bekanntlich zwischen Nürnberg<br />
und Fürth. Um ein Haar aber wäre der Geislauterner Dampfwagen die erste Eisenbahn<br />
in Deutschland geworden. Er zählt zu den halben Dutzend weniger erfolgreichen Eisenbahnprojekten<br />
vor Nürnberg-Fürth in Deutschland. Gedacht war er für den Kohlentransport<br />
im Saarrevier. 1819 kam die Lokomotive in Einzelteilen im Geislauterner Eisenwerk<br />
an. Der Zusammenbau gelang zwar und der Dampfwagen ist sogar gefahren. Für seine<br />
Bestimmung, Kohlen zu transportieren, war er aber ungeeignet. Allein sein schieres<br />
Gewicht, der Dampfkessel war aus Gusseisen, machte das unmöglich.<br />
Die »Völklinger Mythenjäger«, eine Gruppe von Stadthistorikern, die den Geschichten<br />
um die Stadt Völklingen nachspüren, haben den Dampfwagen vor einigen Jahren im<br />
Wasserhochbehälter der Völklinger Hütte rekonstruiert. Initiator des Projekts war Hendrik<br />
Kersten, im Hauptberuf Projektleiter am Weltkulturerbe Völklinger Hütte und seit<br />
Jahren eine treibende Kraft der Mythenjäger. Von Völklingen kam das Modell in die<br />
Dauerausstellung des »DB Museum Nürnberg«, dem ältesten Eisenbahnmuseum der<br />
Welt. Für einige Monate ist die Rekonstruktion des Dampfwagens wieder am Ort seiner<br />
Entstehung zu sehen, im Weltkulturerbe Völklinger Hütte in der Ausstellung »Mon<br />
Trésor – Europas Schatz im Saarland«.<br />
[Der Geislauterner Dampfwagen, 1819 (Nachbau 2014). Holz mit Farbfassung, Höhe 350<br />
cm. DB Museum, Nürnberg (Dauerleihgabe Völklinger Mythenjäger). Copyright Foto: ©<br />
Völklinger Mythenjäger]<br />
Was ist ein Schatz?<br />
Unser Aufruf zu »Mon Trésor«<br />
Was ist ein Schatz? Ein archäologisches Objekt,<br />
das einen hohen Geldwert besitzt? Oder ist es<br />
das Werk Otto Steinerts, der von Saarbrücken aus<br />
der internationalen Stilrichtung der »Subjektiven<br />
Fotografie« ihren Namen gab? Mit Sicherheit ist<br />
es die sogenannte Sackarbeit, saarländisch »Saggarwed«.<br />
Gemeint sind die Objekte, die die oft<br />
äußerst talentierten Handwerker der Völklinger<br />
Hütte aus Rohren, Stahl oder Messingblech herstellten<br />
– Dinge, die sie in ihrer Arbeitstasche,<br />
dem »Schaffsagg«, heimlich mit nach Hause<br />
nahmen. Der Ehering aus Messing oder das Spielzeugpferd<br />
aus Rohr und Stahlblech stehen in keinem<br />
Buch der Kunstgeschichte. Und doch sind<br />
gerade sie die heimlichen Stars der Ausstellung,<br />
die den Betrachter auf<br />
sich selbst zurückführen:<br />
Was ist eigentlich »Dein<br />
Schatz«?<br />
Genau diese Frage hat<br />
die Völklinger Hütte<br />
den BewohnerInnen der<br />
Großregion gestellt. Und<br />
zahlreiche Menschen<br />
haben ein Foto Ihres<br />
Schatzes und einen kurzen<br />
Text nach Völklingen<br />
gesendet. Ein Koffer voller<br />
Feldpost, Erinnerungen<br />
an den Vater, der im Krieg<br />
geblieben ist, und den man nie kennengelernt hat,<br />
ein Gedicht in Mundart, Schuhe, die über Generationen<br />
weitergegeben wurden, eine Lego-Figur,<br />
die nur einmal im Jahr, an Weihnachten, hervorgeholt<br />
wird, ein Foto von 1988 aus der Gebläsehalle<br />
mit Handabdrücken auf einer Kreide-Tafel,<br />
die einst den Schichtbetrieb regelte, eine Brosche<br />
aus saarländischer Kohle, geschnitzt von einem<br />
russischen Kriegsgefangenen, sowie die Hunde,<br />
Katzen, Männer, Frauen, Kinder, die man liebt und<br />
die der größte Schatz sind. An mehreren Stellen<br />
der Ausstellung kann man diese Fotos und Texte<br />
studieren und vielleicht ein wenig in sein eigenes<br />
Leben hineinhorchen.<br />
Eugen Tigiser hat ein Foto vom Hochzeitstag<br />
seiner Tochter beigesteuert: Das Bild hat er aufgenommen,<br />
als sie mit Mundschutz und Tränen<br />
in den Augen ihren Bruder umarmte. Ein kostbarer<br />
Moment, in dem sich unsere Corona-Zeit<br />
verdichtet.<br />
Eine exemplarische Kooperation über die Grenzen<br />
hinweg<br />
Bei Vorlage einer Eintrittskarte unserer französischen<br />
und luxemburgischen Kooperationspartner<br />
wie dem Musée de la faïence de Sarreguemines,<br />
dem Musée du cristal Saint-Louis, dem Musée<br />
Lalique, dem Musée municipal Au fil du Papier de<br />
Pont-à-Mousson und der Ausstellung „The Family<br />
of Man“ im Schloss Clervaux erhalten Sie im<br />
Weltkulturerbe Völklinger Hütte freien Eintritt in<br />
die Ausstellung „Mon Trésor. Europas Schatz im<br />
Saarland“. Umgekehrt gewähren auch die französischen<br />
und luxemburgischen Kooperationspartner<br />
freien Eintritt bei Vorlage der Mon-Trésor-Eintrittskarte.
saargeschichte|n 59<br />
Spielzeugpferd<br />
Sackarbeit, »Saggarwed«, sind Schätze, die die oft äußerst<br />
talentierten Handwerker der Völklinger Hütte aus Rohren,<br />
Stahlblech oder Messingblech herstellten – Dinge, die sie in<br />
ihrer Arbeitstasche, dem »Schaffsagg«, heimlich mit nach<br />
Hause nahmen. Der Ehering aus Messingblech oder das<br />
Spielzeugpferd aus Rohr und Stahlblech stehen in keinem<br />
Buch der Kunstgeschichte. Und doch sind gerade sie die<br />
heimlichen Stars der Ausstellung, die den Betrachter auf sich<br />
selbst zurückführen: Was ist eigentlich »Ihr Schatz«?<br />
[Rohr, Stahlblech, Holz, Faser. 1946. 40 x 30 x 13,5 cm<br />
Museum für dörfliche Alltagskultur – Museum des Saarländischen<br />
Aberglaubens. Copyright Foto: Weltkulturerbe<br />
Völklinger Hütte/Hans-Georg Merkel]<br />
André Link<br />
Michel aus der Biergass<br />
Roman<br />
»Michel aus der Biergass« beschreibt das Leben des Michel Ney,<br />
der im Januar 1769 in bescheidenen Verhältnissen in der Saarlouiser<br />
Bierstraße zur Welt kam. Nach einer Ausbildung zum<br />
Schreiber bei der Staatsanwaltschaft trat er als »Gemeiner«<br />
in das Régiment Colonel Général hussards ein. Ney machte<br />
Karriere und arbeitete sich unter Napoleon I. bis in die höchste<br />
militärische Führungsebene. Anlässlich seiner Kaiserkrönung<br />
ernannte ihn Napoleon zum Marschall des Empire. Den Namen<br />
Ney verbindet man unmittelbar mit der Schlacht von Elchingen,<br />
mit dem Russlandfeldzug Napoleons, der Ney den Titel<br />
»Fürst von der Moskwa« einbrachte, mit Großgörschen, aber<br />
auch mit Waterloo.<br />
André Link richtet in seinem Roman den Fokus jedoch mehr<br />
auf das private Leben des Michel Ney als auf seine militärischen<br />
Erfolge. Ney gilt als Inbegriff von Tapferkeit und Mut,<br />
aber auch von Aufrichtigkeit und Gerad linigkeit.<br />
Er wurde unter Ludwig XVIII. wegen Hochverrats zum Tode<br />
verurteilt und im Dezember 1815 in Paris hingerichtet.<br />
André Link _ Michel aus der Biergass _ Roman<br />
<strong>21</strong>2 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-941095-77-9<br />
15,00 EUR.<br />
Im Buchhandel oder edition-schaumberg.shop
egionalgeschichte im unterricht<br />
die jahrtausendfeier 1925 an der saar<br />
»… diese wuchtige Ballung eines stählernen Willens …« [Saarbrücker Zeitung vom 23. 6. 1925]<br />
oder: »Riesenparty für das Deutsche Reich« [Saarländischer Rundfunk vom 16. 6. 2020]<br />
von eva kell<br />
Zeitgenössischer Hintergrund: Infolge des Ersten<br />
Weltkriegs wurden im Rheinland alliierte<br />
Besatzungstruppen aus Frankreich, dem Vereinigten<br />
Königreich, Belgien und anfänglich auch<br />
aus den USA stationiert (siehe Friedensvertrag<br />
von Versailles). Dagegen demonstrierten die<br />
unter Völkerbundverwaltung stehenden Saarländer<br />
den festen Willen, sich wieder Deutschland<br />
anzuschließen. Daher wurde dort die Feier<br />
zur nationalistischen Großdemonstration gegen<br />
die Abtrennung vom Deutschen Reich.<br />
Geschichtlicher Hintergrund: Im Jahr 925 unterwarf<br />
sich der lothringische Herzog Giselbert<br />
dem ostfränkischen König. Lothringen wurde<br />
damit als fünftes Stammesherzogtum dem Ostfränkischen<br />
Reich (dem späteren Heiligen Römischen<br />
Reich) eingliedert.<br />
Didaktische Hinweise: Die Quellen eignen sich<br />
im problemorientierten oder multiperspektivischen<br />
Geschichtsunterricht, um die politische<br />
Einstellung der Saarbevölkerung vor dem Einfluss<br />
der NS-Propaganda auszuloten und die<br />
Maßnahmen, aber auch die Hilflosigkeit der<br />
Regierungskommission des Völkerbundes sowie<br />
die einseitige Berichterstattung von Tagesmedien<br />
und sogenannten Erinnerungsmedien, die damals<br />
weit verbreitet waren. Zugleich bieten sie einen<br />
Einblick in die damalige politische Festkultur –<br />
und Organisation, wovon vor allem Fotos Zeugnis<br />
ablegen.<br />
Aufgaben:<br />
1. Analysiere Inhalt/politische Aussage und die<br />
entsprechende Sprache/Wortwahl in Q 1.<br />
2. Stelle die unterschiedlichen politischen Auffassungen<br />
im Vorfeld der Begehung der<br />
Tausendjahrfeier mittels Q 2 dar.<br />
3. Eine Fotostrecke der SZ zeigt, wie damals<br />
gefeiert wurde. Beschreibe anhand der Bilder<br />
die Festelemente und überlege, wie man<br />
heute eine Feier für ganz Deutschland oder für<br />
ein Jubiläum des Saarlandes gestalten würde.<br />
Dazu kannst du zum Beispiel die Feier zu 30<br />
Jahren Wiedervereinigung heranziehen.<br />
[https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/dossiers/saarhundert/saarhundert_1925_rheinische_jahrtausendfeier_100.<br />
html]<br />
Q1: Saarbrücker Zeitung, Ausschnitt: Zur Jahrtausenfeier der<br />
Rheinlande, 23. Juni 1925
saargeschichte|n 61<br />
Q 2: Jahrtausendfeier der Rheinlande im Saargebiet vom 18.<br />
bis <strong>21</strong>. Juni 1925<br />
Es war verständlich, daß die ersten Anregungen<br />
hierzu von den großen Verbänden der Turner,<br />
Sportler und Sänger ausgehen mußten, denn<br />
nur wenn die ganze Veranstaltung von vornherein<br />
frei von jeder politischen Einmischung<br />
war, konnte es erreicht werden, sie zu einer großen<br />
allgemeinen Volksfeier zu machen. Da waren<br />
die vorgenannten unpolitischen Verbände die<br />
gegebenen Führer. In einer unverbindlichen Aussprache<br />
zwischen dem Vorsitzenden des Verbandes<br />
zur Förderung der Leibesübungen in der<br />
Stadt Saarbrücken und dem Vorsitzenden des<br />
Saar-Sängerbundes wurden die ersten Schritte<br />
zur Verwirklichung des Plans unternommen.<br />
[…] Doch kaum waren die Ortsausschüsse<br />
in Tätigkeit getreten, als auch schon die<br />
Regierungskommission, mit deren Gegenarbeit<br />
der Hauptausschuß von vornherein<br />
rechnete, ihre erste Verfügung herausgab,<br />
wonach allen Beamten, Lehrern usw. in staatlichen<br />
Diensten die Mitwirkung wie auch die<br />
Teilnahme an der Jahrtausendfeier untersagt<br />
wurde.<br />
[…] Mittlerweile hatte der Hauptausschuß<br />
erfahren, daß auch schon das tschechoslowakische<br />
Mitglied der Regierungskommission,<br />
Kultusminister Bezenskn, einen<br />
Ukas erlassen hatte, wonach in den Schulen<br />
keinerlei Schulfeiern oder auch nur Hinweise<br />
auf die bevorstehende Jahrtausendfeier<br />
gemacht werden dürfen.<br />
[…] Den verschiedenen Verfügungen der<br />
Regierungskommission, über die an anderer<br />
Stelle eingehend geschrieben, stand der einmütige<br />
und mächtige Wille der Bevölkerung,<br />
die große Feier in Ruhe und Besonnenheit<br />
würdig und wuchtig zu begehen, gegenüber.<br />
[…] Die kommunistische Partei aber rief ihren<br />
gesamten Anhang zu einem „Roten Tag“ in<br />
Saarbrücken am <strong>21</strong>. Junizusammen. Aus den<br />
Ankündigungsplakaten aber war ihre Absicht<br />
ersichtlich. „Gegendemonstration gegen den<br />
nationalistischen Jahrtausendfeierrummel.“<br />
Die mit ihr im treuen Bündnis im Kampf gegen<br />
das Deutschtum stehende Regierungskom-mission<br />
hatte natürlich diese Veranstaltung gerne<br />
genehmigt, dagegen glaubte sie aber, die große<br />
Feier der Bevölkerung in der Stadt Saarbrücken<br />
durch ein Verbot unterbinden zu können.<br />
Auszug aus: Rheinische Jahrtausend-Feier im Saargebiet 1925;<br />
hrsg. und verlegt als Erinnerungsbuch durch den Hauptausschuss<br />
für die Jahrtausendfeier im Saargebiet; Saarbrücken/<br />
Völklingen 1925 o.S.
ausstellungen + + + ausstellungen<br />
Zurzeit sind aufgrund der bundesweiten Einschränkungen<br />
sämtliche Museen geschlossen.<br />
Bitte informieren Sie sich über die entsprechenden<br />
Internetseiten oder über die Tagespresse<br />
über die weitere Entwicklung und mögliche<br />
Änderungen.<br />
Monumente des Krieges. Der Saarbrücker Rathauszyklus<br />
Anton von Werners und unser Bild<br />
vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71<br />
Saarbrücken, Historisches Museum Saar, Schlossplatz 15<br />
Bis 31. Oktober 20<strong>21</strong><br />
Anton von Werner (1843–1915) war einer der bedeutendsten Historienmaler<br />
des Deutschen Kaiserreiches. Als Freund des preußischen Kronprinzen<br />
hatte er starken Einfluss auf die Kulturpolitik des Landes. Zu seinen bekanntesten<br />
Arbeiten gehören das Mosaik im Sockel der Berliner Siegessäule<br />
und »Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches« (1885).<br />
In Saarbrücken gestaltete der Künstler den Innenausbau des Alt-Saarbrücker<br />
Rathaussaales, ein Anbau hinter dem Rathaus, am heutigen Nanteser<br />
Platz. Anton von Werner schuf einen monumentalen Zyklus aus sieben Gemälden,<br />
die auf den Deutsch-Französischen Krieg und die Gründung des<br />
Deutschen Reiches verweisen. 1880 wurde der im Zweiten Weltkrieg zerstörte<br />
Saal als nationales Denkmal eröffnet.<br />
Nachdem sich der Rathauszyklus jahrelang in Privatbesitz befand, bietet<br />
sich nun die Gelegenheit einer öffentlichen Präsentation. Das Historische<br />
Museum Saar bereitet eine Ausstellung zu den Gemälden, rund um<br />
die Themen Krieg und Nation und mediale Rezeption vor. Neben der Historienmalerei<br />
und den Schlachtenpanoramen wird auch die damals gerade<br />
aufkommende Fotografie betrachtet sowie die Frage nach der Realität<br />
des modernen Krieges gestellt. Ein Ziel der Ausstellung wird es sein, die<br />
Bildsprache der Kunstwerke zu entlarven und die nationale Verklärung kritisch<br />
unter die Lupe zu nehmen. Mit Bezug auf die Deutsch-Französische<br />
Freundschaft werden gegenwartsrelevante Themen wie die gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen eines übersteigerten Nationalismus (im <strong>21</strong>. Jahrhundert)<br />
aufgegriffen.<br />
Welt – Bühne – Traum – Die BRÜCKE im Atelier<br />
Saarbrücken, Saarlandmuseum, Moderne Galerie,<br />
Bismarckstr. 11–15. Bis 5. April 20<strong>21</strong><br />
In der Ausstellung »WELT – BÜHNE – TRAUM. Die ›Brücke‹ im Atelier« werden<br />
in der Modernen Galerie rund 100 Werke der Künstler Ernst Ludwig<br />
Kirchner, Erich Heckel, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff präsentiert.<br />
Im Zentrum der Gemälde- und Grafikschau steht ein Haupt- und Schlüsselwerk<br />
des deutschen Expressionismus: Ernst Ludwig Kirchners monumentale<br />
Atelierszene Badende im Raum (1909/nach 1926) aus dem Eigenbesitz<br />
der Modernen Galerie.<br />
Sabine Groß – SHOW TIME. Eine Archäologie der<br />
Zukunft<br />
Saarbrücken, Saarlandmuseum, Museum für Vor- und Frühgeschichte,<br />
Schlossplatz 16. Bis 7. November 20<strong>21</strong><br />
In dieser Ausstellung von Sabine Groß im Saarbrücker Museum für Vor-<br />
und Frühgeschichte treffen erstmals archäologische Fundstücke und Zeitgenössische<br />
Kunst aufeinander. Wir begegnen Objekten, die imstande sind,<br />
zeitliche Grenzen zu überschreiten und zueinander in eine Beziehung zu<br />
treten, die unsere Wahrnehmung verändert. Die Berliner Künstlerin hat<br />
sich seit vielen Jahren auf diese Auseinandersetzung spezialisiert. Dabei<br />
betreibt sie eine „Archäologie der Zukunft“. in der sie wichtige Werke aus<br />
der jüngsten Kunstgeschichte – von Marcel Duchamp bis Donald Judd – als<br />
zukünftige Ausgrabungsstücke inszeniert.<br />
Über alle Grenzen im Netz<br />
Marlene Dietrich. Die Diva. Ihre Haltung. Und die<br />
Nazis<br />
Wanderausstellung der Gedenkhalle Oberhausen<br />
Saarbrücken, Stiftung Demokratie Saarland, Europaallee 18<br />
Ab 25. Januar 20<strong>21</strong> bis 27. April 20<strong>21</strong><br />
Marlene Dietrich (1901-1992) war der erste deutsche Weltstar. Wer kennt<br />
sie nicht als Lola Lola aus dem Filmklassiker „Der blaue Engel“ oder hat<br />
nicht schon einmal „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ gehört?<br />
Bis heute verbinden sich mit ihr viele schillernde Bilder und partiell sehr<br />
gegensätzliche Vorstellungen: Sexsymbol und Mutter, Schauspielerin und<br />
Sängerin, Ehefrau und Geliebte, Kunstfigur und Stilikone, Weltstar und<br />
Diva.<br />
Die Ausstellung folgt dem Lebensweg Marlene Dietrichs von Deutschland<br />
in die USA, zu den Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs bis zurück in Nachkriegsdeutschland<br />
und weiter nach Polen, Israel und schließlich Paris, wo<br />
sie 1992 starb.<br />
Anhand zahlreicher Dokumente, Fotografien und unbekannter Filmsequenzen<br />
wird nachgezeichnet, für welche Haltung diese auf vielfältige<br />
Weise faszinierende Frau stand. Über 60 Lebensjahre lässt sich ein roter<br />
Faden spannen, dem in dieser Ausführlichkeit bislang noch nicht nachgegangen<br />
wurde.<br />
Die Wanderausstellung der Gedenkhalle Oberhausen wird unterstützt von<br />
der Marlene Dietrich Collection Berlin.<br />
Hinweis: Eine vorherige schriftliche Anmeldung per E-Mail ist erforderlich.<br />
Es dürfen maximal zwei Personen die Ausstellung gleichzeitig besuchen.<br />
+49 681 906260; Internet: http://www.stiftung-demokratie-saarland.de<br />
Entdecken Sie die Museen im Saarland und überregional auch vom<br />
Wohnzimmer aus und nutzen Sie die digitalen Angebote vom virtuellen<br />
Muse umsrundgang über Online-Ausstellungen bis hin zu digitalen Mitmach-Angeboten<br />
für Groß und Klein. Die meisten großen Museen haben<br />
interessante digitale Angebote erarbeitet – bis hin zu Museumsrundgängen<br />
auf Plattformen wie YouTube oder Live-Videos auf Instagram.<br />
https://artsandculture.google.com/partner/staatskanzlei-saarland?hl=de<br />
https://www.kulturbesitz.de/botticellidigital.html<br />
https://bruecke.modernegalerie.org/<br />
https://artsandculture.google.com/search?=VölklingerHütte<br />
https://www.museumsportal-rlp.de/digitale-angebote<br />
http://www.kaiser2020.de/<br />
https://digitalekunsthalle.zdf.de/index.html<br />
https://digital.deutsches-museum.de/<br />
https://www.museum-barberini.de/de/mediathek/3360/digital-durchdie-ausstellung
neue publikationen<br />
saargeschichte|n 63<br />
Neue Publikationen<br />
Lokale Geschichte<br />
Kessler, Albrecht / Schmitt, Roland: Die Flurnamen Eschringens mit<br />
einem Exkurs zu den lokalen Straßennamen, (Eschringer Hefte 10), hg. von<br />
der Geschichtswerkstatt Eschringen/vhs halberg, Saarbrücken-Eschringen<br />
2020, 62 Seiten, illustriert, bestellbar bei http://shop.eschringen.de.<br />
Sänger, Rainer: Büschfelder Heimatbuch Nr. 4, herausgegeben vom Verein<br />
der Heimat- und Geschichtsfreunde Büschfeld (Büschfeld 2020), 336<br />
Seiten, illustriert.<br />
Schneider, Ralf: Das Residenzschloss zu Ottweiler, 290 Seiten, illustriert,<br />
Eigenverlag, bestellbar unter schlossbaukunst@arcor.de<br />
Saarland allgemein<br />
Beil, Ralf / Krämer, Frank (Hg.): Mon Trésor. Europas Schatz im Saarland,<br />
(Berlin 2020), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 352 Seiten, illustriert,<br />
ISBN 978-3-96912-013-2.<br />
Bonkhoff, Bernhard H.: Kultur, Konfession, Region. Gesammelte Aufsätze<br />
zur Kirchen- und Landesgeschichte von Pfalz- und Elsass-Lothringen, (St.<br />
Ingbert 20<strong>21</strong>), 709 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-95602-225-8.<br />
Hoffmann, Hans-Joachim: Verwirrende Wege. Ottweiler 1918/19 -1956. Entstehung,<br />
Zerschlagung und Neuaufbau demokratischer Strukturen, (Ottweiler<br />
2020), 602 Seiten, ISBN 978-3-00-067119-7.<br />
Matzerath, Simon / v. Büren, Guido (Hg.): Steinerne Macht. Burgen,<br />
Festungen, Schlösser in Lothringen, Luxemburg und im Saarland, (Regensburg<br />
2020), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 680 Seiten, illustriert,<br />
ISBN 978-3-7954-3387-1.<br />
Mueller, Susanne: Frankreich im Saarland – La France en Sarre, (Frankfurt<br />
a.M. 2020), <strong>21</strong>6 Seiten, zweisprachig, ISBN 978-3-939044-51-2.<br />
Simon, Frederik: Seelsorge als Milieumanagement. Dechant Dr. Johann<br />
Ludger Schlich und der Katholizismus an der Saar zwischen 1913 und 1935,<br />
(Münster 2020), Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte<br />
144, 541 Seiten, ISBN 978-402-15956-9.<br />
Vogel, Christian / Abel, Christina u.a. (Hg.): Frankenreich – Testamente<br />
– Landesgeschichte: Festschrift für Brigitte Kasten zum 65. Geburtstag,<br />
(Saarbrücken 2020), 681 Seiten, illustriert, Reihe Veröffentlichungen der<br />
Kommission für Saarl. Landesgeschichte 53, ISBN 978-3-939150-14-5.<br />
Weiler, Helmut: Chronik der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius<br />
Wolfersweiler, (Saarbrücken-Dudweiler 2020), 95 Seiten, illustriert, Förderverein<br />
Lichtblick der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius Wolfersweiler<br />
e.V..<br />
Über die Grenze<br />
Biller, Thomas: Die Hohkönigsburg im Mittelalter: Geschichte und neue<br />
Bauforschung, (Ostfildern 2020), 316 Seiten, illustriert, Pläne, Reihe Veröffentlichung<br />
des Alemannischen Instituts Nr. 87, ISBN 978-3-7995-1453-8.<br />
Biller, Thomas (Hg.): Burgenlandschaft Mittelrhein – Burg und Verkehr<br />
in Europa: Denkmalpflege und Forschung im UNESCO-Weltkulturerbe: Vorträge<br />
der 25. Jahrestagung der Wartburg-Gesellschaft in Boppard am Rhein,<br />
25.-28. Mai 2017, (Petersberg 2020), 280 Seiten, illustriert, Reihe Forschungen<br />
zu Burgen und Schlössern, Bd. 20, ISBN 978-3-7319-1016-9.<br />
Diehl, Wolfgang: Kämpferische Westmark: zur Kulturpolitik und Bildenden<br />
Kunst während des Dritten Reichs in den Gauen Pfalz, Saarpfalz und<br />
Westmark, (Neustadt an der Weinstraße 2020), Stiftung zur Förderung der<br />
Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, Abhandlungen zur Geschichte<br />
der Pfalz, Bd. 20, 651 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-94<strong>21</strong>89-23-1.<br />
Geiger, Roland: Schiedsmänner, Hebammen und die Spanische Grippe:<br />
Vorträge des Seminars „Vertiefende Familienforschung“ im Oktober 2020,<br />
(St. Wendel 2020), 144 Seiten, illustriert, Konferenzschrift.<br />
Leyen, Wolfram von der / Legrum, Kurt: 200 Jahre Fürsten von der<br />
Leyen in Waal (1820-2020), (Waal 2020), 31 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-<br />
00-065045-1.<br />
Ludwig, Daniel: Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften<br />
des fränkischen Frühmittelalters: vergleichende Untersuchung der Regionen<br />
Baiern, Alemannien und Lotharingien, (Ostfildern 2020), Besitz und Beziehungen<br />
Bd. 2, 404 Seiten, Diss. Universität des Saarlandes, ISBN 978-3-<br />
7995-9401-1.<br />
Meyer, Markus: Kampf um Grundrechte und Reichsverfassung: die Revolution<br />
1848/49 in der Pfalz, (Neustadt an der Weinstraße 2020), Stiftung<br />
zur Förderung der Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, Abhandlungen<br />
zur Geschichte der Pfalz, Bd. <strong>21</strong>, Diss. Universität Eichstätt-Ingolstadt,<br />
374 Seiten, ISBN 978-3-94<strong>21</strong>89-28-6.<br />
Meyer-Landrut, Nikolaus: Frankreich. Betrachtungen zu Geschichte<br />
und Gegenwart, (Saarbrücken 2020), 179 Seiten, m. e. Vorwort von Wolfgang<br />
Schäuble, ISBN 978-3-9822386-0-9.<br />
Pölking, Hermann / Sackarnd, Linn: Der Bruderkrieg. Deutsche und<br />
Franzosen 1870/71, (Freiburg, Basel, Wien 2020), 686 Seiten, illustriert, Online-Ressource<br />
ISBN 978-3-451-81963-6, ISBN der Printausgabe 978-3-451-<br />
38456-1.<br />
Schneidmüller, Bernd / Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz<br />
(Hg.): Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht: von Karl dem<br />
Großen bis Friedrich Barbarossa, (Darmstadt 2020), 559 Seiten, illustriert,<br />
Faksimiles, Pläne, Katalog zur Landesausstellung 2020/20<strong>21</strong>, ISBN 978-3-<br />
8062-4174-7.<br />
Wenz, Martin: Die Stunden- und Kilometersteine an den Straßen der bayerischen<br />
Pfalz, (Speyer 2020), 208 Seiten, ISBN 978-3-93<strong>21</strong>55-43-7.<br />
Wickeren, Alexander van: Wissensräume im Wandel: eine Geschichte<br />
der deutsch-französischen Tabakforschung (1780-1870), (Köln; Wien; Weimar<br />
2020), 329 Seiten, Reihe Peripherien Bd. 6, Online-Ressource ISBN 978-<br />
3-412-51814-1, ISBN der Printausgabe 978-3-412-51812-7.<br />
im internet … www.saargeschichten.online
ach du liebe zeit … (P.B. 44)<br />
saargeschichte|n 65<br />
Im guten alten England, dessen Abschied aus Europa<br />
man schon aus humoristischen Gründen kaum tief genug<br />
bedauern kann, gibt es Theaterbühnen, die jahrzehntelang<br />
jeden Abend das gleiche Programm präsentieren. Von solcher<br />
Konstanz waren wir ungeduldigen Menschen in good<br />
old Germany bis zum Ausbruch der C-Krise meilenweit entfernt.<br />
Jetzt aber können auch wir ein kleines Jubiläum feiern,<br />
das beweist, zu welchen Meisterstücken der kulturellen Redundanz<br />
wir im Notfall fähig sind. Zum ersten Mal jährt sich<br />
in Kürze nämlich der Tag, an dem unsere Politik beschlossen<br />
hat, künftig nur noch in einem alle Medien und Kanäle vereinenden<br />
Format, als monothematische Talkshow mit rotierendem<br />
Personal in Erscheinung zu treten. In den bisher ausgestrahlten<br />
500 Millionen Sendeminuten wurde fast jedes<br />
Detail der C-Politik mit ähnlicher Sorgfalt diskutiert wie einst<br />
die Verdauungsprobleme des Königs im absolutistischen<br />
Frankreich. Nur ein sich geradezu aufdrängendes Problem<br />
blieb dabei merkwürdig unterbelichtet: die Frage der Auswirkungen<br />
der C-Krise auf die Sprache und mithin den<br />
Zustand der Politik.<br />
Nun ist das mit Politik und Sprache schon im Normalfall so<br />
eine Sache, die zum Beispiel mit Präzision nur wenig und mit<br />
Kreativität schon gar nix zu tun hat. Denken wir nur an einige<br />
Meisterstücke der Politprosa, die uns seit Jahren immer<br />
wieder beschert werden. Wenn etwa nach jeder noch so sinnund<br />
ergebnislosen Sitzung behauptet wird, dass wir ein gutes<br />
Stück weitergekommen sind (was sich eigentlich nur auf die<br />
während der Konferenz verdrückten Kuchenstücke beziehen<br />
kann). Oder wenn versichert wird, dass man zur Lösung dieses<br />
und jenes finanziellen Problems gut aufgestellt sei (ist<br />
das Problem die Mannschaftsaufstellung beim Fußballspiel<br />
zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium?). Herrlich<br />
unverkrampft, wenngleich ein wenig persönlich anbiedernd<br />
wirkt schließlich jenes Da bin ich ganz bei Ihnen, um eigentlich<br />
nur sagen zu wollen, dass man ausnahmsweise mal<br />
der gleichen Meinung ist wie sein Gegenüber. Konsequent<br />
weitergedacht müsste also die saarländische Regierung,<br />
wenn sie die kaum noch vorhandene Opposition dazu auffordern<br />
möchte, ihren Gesetzesvorlagen zuzustimmen, nur<br />
ganz vertraulich ins Plenum hauchen: Komm bei mich!<br />
Wo schon ohne jeden Virenbefall, bei einem R- und Inzidenzwert<br />
von Null, derlei rhetorisches Raffinement möglich war,<br />
musste die Sprachliebe in den Zeiten der Corona fast zwangsläufig<br />
bisher ungeahnte Höhen erreichen. Ein grandioses<br />
Beispiel dafür lieferte gerade jetzt, bei der sogenannten<br />
Maskenaffaire, Tilman Kuban, jener jungunion ierte Rambo,<br />
bei dem man prima vista nicht so recht weiß, ob er in der<br />
richtigen Partei gelandet ist. Wir wissen nicht, ob und wie<br />
lange sich Herr Kuban in letzter Zeit in irgendwelchen krachneuen<br />
Virenvariantengebieten aufgehalten hat. Über seinen<br />
demaskierten sündigen Parteifreund fällte er jedenfalls ein<br />
gnadenlos aufrichtiges Urteil: Wer die Not der Menschen ausnutzt<br />
und sich damit noch selbst die Taschen vollmacht, der<br />
gehört nicht in ein deutsches Parlament, hat der junge Mann<br />
schon fast altersweise erkannt. Wäre ja auch noch schöner,<br />
wenn im Bundestag tatsächlich Abgeordnete säßen, die<br />
ihre Taschen mit den Nöten der Wahlbürger gefüllt hätten!<br />
Wenn Sie nun glauben, wir wären damit auf dem Gipfel<br />
coronöser Kommunikation angekommen, dann haben<br />
Sie sicher noch nichts von den derzeit laufenden Wahlkampagnen<br />
in den beiden unwichtigeren Bundesländern<br />
des deutschen Südwestens mitbekommen. Dieses 20<strong>21</strong>ste<br />
Jahr soll ja nicht nur ein Superimpf-, sondern auch ein<br />
Superwahljahr werden. Und das unter Coronabedingungen,<br />
will sagen, unter dem Diktat des Digitalen. Virtuelle Wahlen<br />
wird’s sozusagen geben, wozu hierzulande sehr viel weniger<br />
Erfahrungen existieren als beispielsweise in Hongkong,<br />
Russland oder Belarus. Immerhin, so viel ist auch bis zu uns<br />
vorgedrungen: Auf den richtigen Führer kommt es an – und<br />
auf die Worte, die ihn in den Himmel über Mainz oder Stuttgart<br />
heben sollen. Der Blick auf die Plakatwände, die derzeit<br />
in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sogar analog<br />
zu sehen sein sollen, kann nur bestätigen, wie sehr die virtuelle<br />
Wahlkommunikation gelungen ist. Den Vergleich mit<br />
russischen Verhältnissen kann sie ohne Frage aushalten.<br />
Bei den Schwaben, die genau wie wir Saarländer alles können<br />
außer Hochdeutsch, spricht das Konterfei des Landesvaters<br />
die Wähleraugen vor dem Plakat direkt an. Sie kennen<br />
mich, beruhigt Kretschi alle seine möglicherweise<br />
verunsicherten Landeskinder, und wer ihn nicht jeden Tag in<br />
der Talkshow sehen will, das sagt der Winni damit natürlich<br />
auch, der wird ihn schon noch kennenlernen, spätestens bei<br />
der nächsten Ausgangssperre. Während der Schwabe also<br />
die sybillinische Formel der Macht bevorzugt, lässt Kollegin<br />
Dreyer in Mainz nur klare Worte zu. Wir mit ihr ist neben<br />
Malus lachendem Kopf zu lesen, was man, nachdem der<br />
sprachästhetische Schock verdaut ist, sofort als das erkennt,<br />
was es ist: Ganz große Politik mit ganz kleinen Worten. Das<br />
Land als ganzheitliche Vereinigung von Landesmutter und<br />
-kindern, die paradiesische Vision einer pränatalen Gemeinschaft<br />
mit quasi uteralen Versorgungsmöglichkeiten, die<br />
matriarchal abgesoftete Version von L’Etat c’est moi.<br />
Die Latte liegt also verdammt hoch, wenn nächstes Jahr das<br />
wichtigste Bundesland im Südwesten in den Kampf zieht.<br />
Wie will unser MP die kommunikative Herausforderung<br />
bestehen? Der Hans, der kann’s? Der Tobi, ein As? Eine<br />
Mischung aus BW und RP, etwa: Kennen Sie mich mit ihr?<br />
(Müsste man sinnvollerweise Frau Hans mit ins Bild rücken).<br />
Wir rätseln weiter. Und warten ab. Die nächste Seuche<br />
kommt bestimmt. Auch sie wird uns nicht sprachlos machen.
saargeschichte|n bildet …<br />
Wussten Sie übrigens, dass man im<br />
Saarland bereits in den 1940er Jahren<br />
innovative Wege beschritt, um<br />
Massenimpfungen zu ermöglichen?<br />
Im Krankenhaus Fischbach mussten<br />
die Probanden einfach nur ihren Arm<br />
abgeben, der dann von einer Heerschar<br />
kompetener Schwestern am Fließband<br />
versorgt werden konnte. Schnelligkeit<br />
war ebenso garantiert wie ein<br />
absoluter Infektionsschutz.<br />
Saarlandfarben von Georg Fox<br />
Über den Charme des Landes und vom Glück,<br />
im Saarland leben zu dürfen<br />
Neu aufgelegt und ab sofort<br />
wieder erhältlich im Buchhandel,<br />
oder edition-schaumberg.shop
saargeschichte|n<br />
magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />
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1/2-20 3-20<br />
4-20
Hans-Christian Herrmann (Hg.)<br />
Die Strukturkrise an der Saar<br />
und ihr langer Schatten<br />
Bilanz und Perspektiven von Montanregionen<br />
im europäischen Vergleich<br />
Auf dem Weg zur E-Mobilität und zum sogenannten<br />
grünen Stahl steht Deutschland ein massiver<br />
Strukturwandel bevor. Das betrifft insbesondere<br />
das Saarland mit seiner erfolgreich restrukturierten<br />
Stahlindustrie und seinen zahlreichen Arbeitsplätzen<br />
in der Autobranche. In dieser Situation lohnt sich<br />
der Blick auf die schwere Krise von Kohle und<br />
Stahl in den 1960er Jahren und dann vor allem<br />
wieder ab 1975. Der vorliegende Band gibt einen<br />
Überblick über Ursachen, Entstehung und Verlauf<br />
dieser Strukturkrise und analysiert die Strategien<br />
zu ihrer Lösung. Verschiedene Reviere wie das<br />
Saarland, Nordrhein-Westfalen, die lothringischen<br />
Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle<br />
sowie das Großherzogtum Luxemburg werden in<br />
den Blick genommen und miteinander verglichen.<br />
Dabei zeigen sich erstaunliche Unterschiede. Mit<br />
Ausnahme von Luxemburg hat die Strukturkrise<br />
die betroffenen Regionen existenziell erschüttert<br />
und bis heute geschwächt, wie man am Beispiel<br />
Lothringens und in abgeschwächter Form auch in<br />
einigen ehemaligen saarländischen Montanstädten<br />
beobachten kann. Die bis heute spürbaren<br />
Verwerfungen machen vor dem Hintergrund<br />
zukünftiger Prozesse deutlich, dass Strukturkrisen<br />
nicht nur an die Substanz der Wirtschaft gehen,<br />
sondern auch an das Fundament der Gesellschaft<br />
und unserer Demokratie.<br />
Herausgegeben im Auftrag des<br />
Saarländischen Archivverbandes e. V.<br />
360 Seiten, Hardcover<br />
zahlreiche, teils farbige Abbildungen<br />
ISBN 978-3-95602-224-1, 24,90 €<br />
»Viele sagen, der Krieg gehe<br />
verloren. Sie sagen es mit<br />
vorgehaltener Hand, denn dies<br />
laut auszusprechen ist gefährlich.<br />
Ich kann es nicht hören, will<br />
es nicht glauben, obwohl es<br />
offensichtlich ist. Insgeheim<br />
weiß ich auch, es wird so sein.<br />
Was wird kommen?<br />
Werden wir uns wiedersehen?«<br />
Heidemarie Ertle (Hg.)<br />
»Gestern war ein sehr schwerer<br />
Tag für uns hier in St. Ingbert.«<br />
Das Kriegstagebuch<br />
von Ruth Schier<br />
Schriftenreihe des<br />
St. Ingberter Stadtarchivs<br />
204 Seiten, Taschenbuch, zahlr. Abb.<br />
ISBN 978-3-95602-228-9, 17,00 €<br />
Baus/Becker/Schwan (Hg.)<br />
Bayern an der Blies<br />
100 Jahre bayerische Saarpfalz<br />
(1816–1819)<br />
Herausgegeben im Auftrag<br />
des Saarpfalz-Kreises<br />
336 Seiten, Hardcover<br />
zahlreiche, teils farbige Abbildungen<br />
ISBN 978-3-95602-185-5, 24,90 €<br />
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