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Saargeschichten Ausgabe 58/59 (1/2-2020)

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saargeschichte|n<br />

<strong>58</strong> | <strong>59</strong> hefte 1|2_20 magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />

hector und paris<br />

ein spektakulärer fall zu beginn des »saarhunderts«<br />

Einzelpreis 10,– EUR 16. Jahrgang<br />

doppelausgabe<br />

100<br />

seiten


Erscheint<br />

Dezember<br />

<strong>2020</strong><br />

Kleine Abbildung:<br />

<strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />

Nach dem erfolgreichen Restart des Landkreis-Neunkirchen-Buches im Jahr 2017, wird<br />

demnächst der zweite Band des beliebten Buches erscheinen. In der 2. <strong>Ausgabe</strong> finden Sie einen Sonderteil<br />

zum 150-jährigen Bestehen der Kreissparkasse Neunkirchen sowie viele weitere spannende Berichte zur<br />

Geschichte und Entwicklung des Landkreises.<br />

Sie erhalten die Bände im Buchhandel, bei Amazon oder direkt www.edition-schaumberg.de<br />

Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />

288 Seiten, Festeinband, großes Format, durchgeh.farbig, ISBN 978-3-941095-47-2, 25,00 EUR<br />

Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> II – <strong>2020</strong><br />

288 Seiten, Ausführung wie <strong>Ausgabe</strong> I, ISBN 978-3-941095-70-0, 25,00 EUR; lieferbar ab August<br />

Brunnenstraße 15 · 66646 Marpingen · Telefon 06853 502380 · info@edition-schaumberg.de<br />

www.edition-schaumberg.de


das ding aus der saargeschichte<br />

Er gehört zum vielleicht größten Kunstschatz, den Saarlouis<br />

seit mehr als dreihundert Jahren in seinen Mauern<br />

verwahrt. Gobelinbezüge aus der königlichen Manufacture<br />

d’Aubusson schmücken Sitz und Rückenlehne dieses einen<br />

von insgesamt zwölf chaises à la reine, die Ende des 17. Jahrhunderts<br />

als Patengeschenk in die neu erbaute Festungsstadt<br />

Ludwigs XIV. geliefert wurden. Wie die Sessel, so sind<br />

auch die dazugehörigen Wandteppiche aus Gobelin mit<br />

Schwertlilien geschmückt, den floralen Insignien des Herrschaftshauses<br />

der Bourbonen. Einst verliehen Gobelinstühle<br />

und Teppiche dem Präsidialgericht am heutigen Großen<br />

Markt in Saarlouis besonderen Glanz, noch heute sind<br />

die Prachtstücke fast am gleichen Ort, nämlich im Gobelinsaal<br />

des Rathauses, zu bewundern.<br />

Auch die goldfarbenen Holzgestelle der Stühle, einst in<br />

einer Metzer Werkstatt gefertigt, mit ihren Blumen- und<br />

Muschelapplikationen das Zeitalter des Rokoko vorwegnehmend,<br />

haben Macht und Pracht des Sonnenkönigs bis<br />

heute in der französischsten Stadt des Saarlandes erhalten.<br />

Nur einmal, Anfang des 20. Jahrhunderts, war dieses kulturelle<br />

Erbe Saarlouis‘ ernsthaft gefährdet. Nachdem die preußischen<br />

Stadtväter selbst kurz mit dem Gedanken gespielt<br />

hatten, die mittlerweile 18 Sessel zu verkaufen, um die leeren<br />

Kassen zu füllen, machte die französische Besatzung im<br />

Frühjahr 1919 kurzen Prozess. Sie requirierte das gesamte<br />

Gobelin-Ensemble, weil sich Saarlouis in der nationalen<br />

Frage nach dem Ersten Weltkrieg nicht »französisch«<br />

genug gezeigt hatte.<br />

Die chaises à la reine stehen damit am Beginn jenes<br />

Säkulums, das wir heute als das erste Jahrhundert<br />

saarländischer Eigenständigkeit feiern können.<br />

Nach einer kurzen Odyssee kehrten die Sessel<br />

nach Saarlouis zurück, möglicherweise auch<br />

deshalb, weil dort ein Jahr lang der frankophile<br />

Arzt und spätere Minister Jakob Hector<br />

als Bürgermeister amtierte. Hector ist vor allem<br />

mit einem nach ihm benannten Prozess in die<br />

saarländische Geschichte eingegangen.<br />

Wie sich dieser legendäre Prozess in die Historie<br />

des Landes zwischen Deutschland und Frankreich<br />

einordnen lässt, das wird in der Titelstory<br />

dieser <strong>Ausgabe</strong> erstmals ausführlich thematisiert.<br />

Foto: Sascha Schmidt


impressum<br />

inhalt<br />

Herausgeber Edition Schaumberg, Brunnenstr. 15,<br />

66646 Marpingen, info@edition-schaumberg.de,<br />

www.edition-schaumberg.de<br />

Gegründet 2005 vom Historischen Verein für die<br />

Saargegend e.V. und vom Landesverband der historisch-kulturellen<br />

Vereine des Saarlandes e.V.<br />

Redaktion Ruth Bauer, Dr. Paul Burgard, Tobias<br />

Fuchs, Bernhard W. Planz, Dr. Jutta Schwan<br />

Redaktionsanschrift Brunnenstraße 15, 66646<br />

Marpingen, info@edition-schaumberg.de (Redaktion<br />

<strong>Saargeschichten</strong>)<br />

Anzeigenverwaltung ANZEIGEN.DE GmbH,<br />

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Mandelbachtal (Ommersheim), 06803 9<strong>58</strong>0677,<br />

0178.8953500<br />

Gesamtherstellung Edition Schaumberg<br />

ISSN 1866-573x<br />

Erscheinungsweise Viermal jährlich im März, Juni,<br />

September, Dezember.<br />

Einzelausgabe 5,– EUR, Bei Bestellung über den Verlag<br />

zzgl. Versandkosten; Doppelausgabe 10,– EUR.<br />

Jahresabonnement 22,– EUR (incl. Versand innerhalb<br />

Deutschland); Ausland zzgl. anfallende Versandkosten.<br />

Hinweis zu den Beiträgen Namentlich gekennzeichnete<br />

Beiträge geben nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion wieder. Der Verlag haftet<br />

nicht für unverlangt eingereichte Manuskripte und<br />

Fotos. Die Redaktion behält sich vor, nach Absprache<br />

mit dem jeweiligen Autor, insbesondere in Überschriften<br />

eingreifen zu dürfen. Mit der Annahme zur<br />

Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das<br />

kostenlose Nutzungsrecht für die Zeitschrift saargeschichte|n.<br />

Eingeschlossen sind auch das Recht<br />

zur Herstellung elektronischer Versionen und zur<br />

Einspeicherung in Datenbanken sowie das Recht zu<br />

deren Vervielfältigung und Verbreitung online oder<br />

offline ohne zusätzliche Vergütung. Alle in dieser<br />

Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt.<br />

Das Ding aus der Saargeschichte 3<br />

Klaus-Peter Henz Fortuna im Wareswald 5<br />

Bärbel Kuhn, Andreas Schorr Eine frühe Karte des Saargebiets 11<br />

Paul Burgard Hector und Paris, Saarlouis und Berlin 14<br />

Ein Minister vor Gericht: Was der spektakuläre »Fall Hector«<br />

über die Anfänge des Saarlandes erzählt<br />

Florian Bührer Mit dem Rütlischwur heim ins Reich! 44<br />

Der Abstimmungskampf von 1935 und seine eidgenössischen Vorbilder<br />

Ralph Schock Seines Zeichens Dichter 51<br />

Der Kölner Expressionist Johannes Theodor Kuhlemann und Saarbrücken<br />

Kristine Marschall Von der Industriebrache zum postmodernen Ökopark 56<br />

Der Bürgerpark Hafeninsel in Saarbrücken-Malstatt<br />

Joachim Conrad »Bei Kameraden und Vorgesetzten stets beliebt« 64<br />

Das Schicksal der Dillinger Ernst und Otto Schmeyer –<br />

nach ihren Feldbriefen erzählt<br />

Hans-Christian Hermann Der lange Schatten des Abstimmungskampfes 72<br />

Ein schwieriges Erbe: Zur Entstehungsgeschichte des<br />

Deutsch-Französischen Gartens<br />

Sabine Graf Europadämm(er)ung in Saarbrücken 83<br />

Zwei Teppiche und ein Bildprogramm<br />

Ausstellungen + Neue Publikationen 94<br />

Ach du liebe Zeit … Die Glosse in den saargeschichte|n 96<br />

saargeschichte|n bildet … 98<br />

Hinweis zum Titelbild<br />

Truppenparade auf dem Großen<br />

Markt in Saarlouis am Französischen<br />

Nationalfeiertag 1919. (Ausschnitt).<br />

Im Mittelpunkt der Aufnahme und der<br />

Parade steht die mit einer Tricolore<br />

geschmückte Militärkommandatur.<br />

(StA SLS, Bildersammlung)


fortuna im wareswald<br />

saargeschichte|n 7<br />

von klaus-peter henz<br />

Seit 2001 finden nun schon archäologische Ausgrabungen<br />

im gallo-römischen Vicus Wareswald<br />

statt, einer kleinen, ländlichen Siedlung aus römischer<br />

Zeit. Der Begriff Vicus meint eine ländliche<br />

Siedlung, häufig entlang der nun in Stein ausgebauten<br />

Handelsrouten. »Gallo-römisch« verweist<br />

auf die auch nach der römischen Eroberung<br />

des Gebietes weiterhin ansässige einheimischkeltische<br />

Bevölkerung, die in einem »Romanisierung«<br />

genannten Prozess römische Lebensart<br />

annimmt ohne die keltischen Wurzeln gänzlich<br />

abzulegen.<br />

Gelegen am Fuße des Schaumbergs, erstreckt<br />

sich der Ort auf Gemarkungen der Gemeinden<br />

Tholey, Oberthal und Marpingen. Durchgeführt<br />

werden die Ausgrabungen durch die Terrex<br />

gGmbH, einer Grabungsgesellschaft des Landkreises<br />

St. Wendel und der Gemeinden Marpingen,<br />

Nonnweiler, Oberthal und Tholey. [1] Neben<br />

[1] Die archäologischen Grabungen werden von der Terrex<br />

gGmbH in Kooperation mit der WiAF gGmbH durchgeführt.<br />

Die Grabungsgenehmigung erteilt das Landesdenkmalamt<br />

des Saarlandes als Fachaufsichtsbehörde.<br />

Wohnhäusern, teils mit Fußbodenheizungen,<br />

Badezimmern und Wandmalereien ausgestattet,<br />

konnten auch Gebäude ausgegraben werden, die<br />

von Händlern und Handwerkern genutzt worden<br />

waren, Berufsgruppen, die typischerweise<br />

einen solchen gallo-römischen Vicus bewohnen.<br />

In der Siedlung herrschte insbesondere im 2./3.<br />

Jhd. ein relativer Wohlstand, der sich in der hohen<br />

Anzahl der umlaufenden Münzen zeigt, die auf<br />

regen Handel schließen lassen. Insbesondere die<br />

Ausbeutung der Rötel-Vorkommen, die auf den<br />

Gemarkungen Oberthal und Theley anzutreffen<br />

sind und seine Weiterverarbeitung zu einem<br />

einheitlich geformten Handelsgut, den »Rötel-<br />

Stiften« war wohl ein bedeutender Produktionszweig<br />

im Vicus. Hunderte solcher Stifte wurden<br />

während der Ausgrabungen geborgen. [2]<br />

Sicher spielte auch der Handel mit landwirtschaftlichen<br />

Erzeugnissen eine bedeutende Rolle.<br />

Die Produktion dieser Güter übernahmen landwirtschaftliche<br />

Gehöfte, die sog. »villae rusticae«,<br />

die sich um einen vicus gruppierten. Die<br />

[2] Glansdorp (2011), 25f.<br />

Der Wareswald in<br />

der Landschaft. Ganz<br />

rechts der heutige<br />

Parkplatz mit Standort<br />

des Pfeilergrabmals,<br />

in der Mitte<br />

die Tempelbauten<br />

und das »Haus der<br />

Fortuna«, links der<br />

Siedlungskern mit<br />

Wohnbebauung.<br />

(Foto: A.Groß)


Die moderne Visualisierung<br />

des Pfeilergrabmals<br />

aus dem 2.<br />

Jhd.n. Chr. Sie führt<br />

dem Betrachter die<br />

beeindruckende<br />

Größe des ursprünglichen<br />

Monumentes<br />

vor Augen. (Foto:<br />

A.Groß)<br />

Rechts: Opfergabenbringer<br />

mit Vogel auf<br />

dem linken Arm. Das<br />

kleine Sandsteinrelief<br />

war sicher eine Weihung<br />

in den Tempel.<br />

(Foto: M. Schäfer)<br />

Besitzer der Latifundien erlangten teilweise großen<br />

Wohlstand, den sie auch präsentierten. So<br />

entstanden etwa repräsentative Grabbauten um<br />

den Reichtum einer solchen Familie zu zeigen.<br />

Auch im Wareswald lassen sich solche Gehöfte<br />

nachweisen, in deren unmittelbarer Nähe ein sog.<br />

Pfeilergrabmal entdeckt wurde. Der ca. 12 Meter<br />

hohe aus Sandstein erbaute Pfeiler war rundum<br />

mit Reliefs verziert, die wohl Szenen der antiken<br />

Mythologie zeigen, wohl auch die Familienmitglieder<br />

abbildete und viele Darstellungen aus<br />

einem Weinberg beinhaltete. [3] Die gründliche<br />

Zerstörung des Monumentes – das immense<br />

Steinmaterial weckte in nachantiker Zeit große<br />

Begehrlichkeiten – lässt eine Rekonstruktion des<br />

Dargestellten jedoch nicht mehr zu. Nach dem<br />

Abbau der Steinblöcke wurden die störenden, da<br />

vorspringenden Reliefs abgeschlagen und verblieben<br />

am Ort. Das Monument war in eine ca.<br />

12 x 12 m messende Umfriedung eingestellt und<br />

stand in unmittelbarer Nähe einer Straße, die ver-<br />

mutlich vom Gutshof kommend am Pfeilergrab<br />

vorbei auf die Durchgangsstraße der Siedlung im<br />

Wareswald führte. An der Straße zugewandten<br />

Seite war eine Inschrift angebracht, von deren<br />

Existenz lediglich ein erhaltener Buchstabe zeugt.<br />

Die Überreste mindestens eines weiteren, aber<br />

deutlich kleineren Grabmonumentes unweit des<br />

großen Pfeilers weist darauf hin, dass hier die<br />

verstorbenen Familienmitglieder aus der »villa<br />

rustica« in Gräbern mit zum Teil monumentaler<br />

Architektur innerhalb eines kleinen Friedhofs<br />

beigesetzt worden sind. Vor allem die Stilanalyse<br />

der figürlichen und vegetabilen Relieffragmente<br />

legen eine Errichtung des Monumentes in der 2.<br />

Hälfte des 2. Jhd. n. Chr. nahe. [4]<br />

Der heutige Besucher kann an Ort und Stelle eine<br />

sog. Visualisierung des Monumentes in Augen-<br />

[3] Henz/Klöckner (2009), 69–88.<br />

[4] Henz/Klöckner (2009), 87f.<br />

Luftbildaufnahme der<br />

Tempel im Wareswald.<br />

der große<br />

Tempels rechts war<br />

dem Gott Mars (Cnabetius?)<br />

geweiht.<br />

Direkt daneben<br />

(auf dem Bild links<br />

anschließend) ist<br />

seit der Grabungskampagne<br />

2019 die<br />

Existenz eines zweiten<br />

Umgangstempels<br />

bekannt geworden.<br />

(Foto: A.Groß)


saargeschichte|n 9<br />

schein nehmen und wird auf Infotafeln über die<br />

Darstellungen informiert.<br />

Die Heiligtümer im Wareswald<br />

Bereits mehrere Jahrzehnte zuvor war ca. 150<br />

Meter östlich des großen Pfeilers ein Tempel<br />

errichtet worden, der dem Mars, wahrscheinlich<br />

dem Mars Cnabetius geweiht war. 11,60 m x 14,20<br />

m misst die Cella – der Hauptraum des Tempels<br />

mit der Götterstatue –, um die mit einem Abstand<br />

von ca. 3,80 m ein weiteres Mauergeviert von<br />

19,50 m x 22,80 m angelegt wurde. Der so entstehende<br />

Umgang verleiht diesem Tempeltyp<br />

seinen Namen. Er gehört zu den sog. »gallo-römischen<br />

Umgangstempeln, die auch und gerade<br />

im Gebiet der Treverer weite Verbreitung fanden.<br />

Funde bronzener Figürchen des Gottes Mars<br />

im Tempel führen zur Zuschreibung des Heiligtums<br />

an diesen Gott. Darüber hinaus erwähnt<br />

eine Weiheinschrift, bereits im 19. Jhd. »aus dem<br />

Varuswalde« gefunden, den »Mars Cnabetius«,<br />

den lokalen Genius. Es ist daher durchaus wahrscheinlich,<br />

dass diese Gottheit in unserem Tempel<br />

verehrt worden ist.<br />

Zahlreiche Funde, die im Tempel geborgen wurden,<br />

beleuchten die Kultpraxis im Heiligtum.<br />

Neben einem kleinen Sandsteinrelief, das einen<br />

Adoranten mit Vogel als Opfergabe zeigt oder der<br />

Darstellung eines Molossers, einem Kampfhund,<br />

der auch im Krieg eingesetzt werden konnte und<br />

sicher zu einer Figurengruppe gehörte, sind vor<br />

allem eiserne Lanzenspitzen zu erwähnen, die in<br />

großer Zahl geopfert worden waren. Sie belegen<br />

die Fortführung der Weihungen solcher Lanzenspitzen<br />

in der römischen Kaiserzeit im Gebiet des<br />

keltischen Stammes der Treverer. [5]<br />

Auch Münzen gehören zum Fundgut. Die große<br />

Mehrzahl der Stücke stammt aus dem 2. bis 4.<br />

Jhd. n. Chr. Die Münzreihe legt eine Gründung des<br />

[5] Adler (2018), 66–69.<br />

Tempels am Anfang des 2. Jhd. n. Chr nahe und<br />

zeigt darüber hinaus, dass hier die Ausübung des<br />

Kultes bis an das Ende des 4. Jhd. n.Chr. andauerte.<br />

Der Mars-Tempel war nur eines von mehreren<br />

Heiligtümern in einem »Heiligen Bezirk«. Aus<br />

den aktuellen Grabungen der Kampagne 2019<br />

stammen die Mauern eines zweiten Umgangstempels,<br />

in Struktur und Ausdehnung dem Mars-<br />

Tempel ähnlich. Sie werden von Studierenden der<br />

Kennesaw State University of Georgia unter der<br />

Leitung von Prof. Philip Kiernan untersucht. Seit<br />

zwei Jahren besteht eine Kooperation der Terrex<br />

gGmbH mit der amerikanischen Universität, die<br />

ihren Sitz in Kennesaw, Atlanta hat.<br />

Wann der Tempel gebaut wurde und wem hier<br />

die Opfernden Gaben brachten, sollen weitere<br />

Grabungskampagnen zeigen.<br />

Das Gebäude »G«<br />

Nach umfangreichen Rodungsarbeiten im<br />

Gelände nördlich der Tempelanlagen ergab sich<br />

die Möglichkeit, die Fläche archäologisch zu<br />

sondieren und einige sog. Suchschnitte anzulegen.<br />

Unmittelbar unter dem Waldboden, der<br />

von einem Bagger entfernt wurde, tauchten<br />

erste Mauersteine, Bruchstücke römischer Dachziegel<br />

und Keramikscherben im Boden auf. Die<br />

während der anschließenden Ausgrabungsarbeiten<br />

gefundenen Mauerstücke ließen rasch<br />

ein Gebäude erkennen, dessen Ausdehnung<br />

allerdings noch unbekannt ist, da sich die Außenmauern<br />

über die derzeitigen Grabungsgrenzen<br />

hinaus erstrecken. Daher kann für eine nordöstlich<br />

verlaufende Mauer lediglich eine Mindestausdehnung<br />

von 15 m ermittelt werden. Die<br />

Mauer verläuft parallel zur Hangkante. Eine<br />

zweite Mauer geht im rechten Winkel davon ab<br />

und läuft in südöstlicher Richtung hangaufwärts<br />

unter die heutige Asphaltstraße. Auch hier lässt<br />

sich die Ausdehnung noch nicht bestimmen. Die<br />

Mauerstärke von durchgehend ca. 80 cm weist<br />

Links: Bronzefigur<br />

eines Molossers, eines<br />

Kampfhundes, der in<br />

römischer Zeit auch<br />

in der Arena eingesetzt<br />

wurde. Der<br />

Hund allgemein gilt<br />

als Attributtier des<br />

Gottes Mars, dem die<br />

Weihung wohl galt.<br />

(Foto: M. Schäfer)<br />

Rechts: Eiserne<br />

Lanzenspitzen, die<br />

meist mit dem hölzernen<br />

Schaft im Tempel<br />

geweiht wurden. Sie<br />

belegen die Weiterführung<br />

der an sich<br />

keltischen Sitte des<br />

Waffenopfes auch im<br />

2. Jhd. n. Chr. bei den<br />

keltischen Treverern.<br />

(Foto: M. Schäfer)


Oben links: Das<br />

neu aufgefundene<br />

Gebäude »G« in<br />

einer Luftaufnahme,<br />

unmittelbar an und<br />

vielleicht unter der<br />

modernen Straße<br />

gelegen. (Foto: A.<br />

Groß)<br />

Oben Mitte: Detailaufnahme<br />

des<br />

Gebäudes »G«. In der<br />

Bildmitte rechts ist<br />

der kleine Raum mit<br />

Fußbodenheizung<br />

zu erkennen, dessen<br />

Boden aus Dachziegeln<br />

in Zweitverwendung<br />

besteht. In<br />

der Bildmitte ist ein<br />

wohl später hinzugefügter<br />

Einbau zu<br />

sehen.<br />

dabei auf eine zweigeschossigen Bau hin. Die vorläufigen<br />

Grabungsergebnisse lassen erkennen,<br />

dass mindestens ein weiterer Raum zu einem<br />

späteren Zeitpunkt dem Bau hinzugefügt und<br />

mit einer Fußbodenheizung versehen worden<br />

war. Das Gebäude wurde offensichtlich mehrfach<br />

umgebaut und in seiner inneren Ausstattung<br />

verändert, unter anderem durch den Einbau<br />

mehrerer Mauern. Bemerkenswert ist auch, dass<br />

der Außenbereich des Gebäudes, hangabwärts<br />

gelegen, als Park oder Garten gestaltet gewesen<br />

sein könnte. Während der Ausgrabungen jedenfalls<br />

wurden eine Art Durchgang zu einer Freitreppe<br />

aus großen, sorgfältig behauenen Sandsteinen)<br />

sowie eine Trockenmauer aufgedeckt,<br />

die als Terrassenmauer gedient haben könnte.<br />

Gebäudemauern fanden sich in diesem Bereich<br />

indes nicht. Auch hier hoffen die Archäologen auf<br />

weitere Erkenntnisse durch die geplanten Untersuchungen<br />

der Kampagne <strong>2020</strong>.<br />

Das Gebäude, soweit es bislang ausgegraben<br />

wurde, war offensichtlich voll unterkellert, die<br />

Kellerböden mehrfach erneuert, der Keller später<br />

mit Brandschutt verfüllt worden In diesem<br />

Bereich fanden sich auch viele Bruchstücke großer<br />

Vorratsgefäße, aber auch ein Anteil an Feinkeramik<br />

sowie die Reste einiger feiner Glasgefäße,<br />

die meist in das 2./3. Jhd. n. Chr. datiert<br />

werden können. In diese Zeit wird vorläufig auch<br />

die Nutzung des Gebäudes datiert. Die einzige<br />

bisher gefundene Münze, ist zwar ein Denar des<br />

Kaisers Vespasian, geprägt 72/73 n. Chr.), allerdings<br />

ist das Stück stark abgegriffen und war<br />

sicherlich eine lange Zeit im Umlauf, bevor es im<br />

Wareswald in den Boden gelangte.<br />

Die Statue der Fortuna<br />

Eine besondere Überraschung bot sich den Ausgräbern<br />

dann beim Freilegen der Südwest-Ecke<br />

des Gebäudes. Inmitten des Brandschuttes, wohl<br />

Oben rechts: Die<br />

Sandsteinfigur der<br />

Fortuna in Fundlage<br />

im Gebäude »G«.<br />

Freitreppe aus großen<br />

Sandsteinblöcken<br />

gesetzt. Der Außenbereich<br />

des Gebäudes<br />

wies neben der<br />

Treppe auch trocken<br />

gesetzte Terrassenmauern<br />

auf, die darauf<br />

hinweisen, dass<br />

das Gelände offensichtlich<br />

als Gartenanlage<br />

genutzt<br />

wurde. (Fotos: Terrex<br />

gGmbH)


saargeschichte|n 11<br />

zwischen den Resten des hölzernen Inventars<br />

eines abgebrannten Wohnraumes, lag eine noch<br />

ca. 35 cm hohe Figur aus Sandstein, die sich nach<br />

sorgfältiger Freilegung, Einmessung und Bergung<br />

als eine Statue der Fortuna, der römischen<br />

Göttin des Schicksals und des Glücks, herausstellte.<br />

Zu erkennen gibt sich die Göttin durch<br />

das Füllhorn, das sie an ihrer linken Seite trägt<br />

sowie durch das, nur in Teilen erhaltene Steuerruder<br />

zu ihrer Rechten. Einige Teile, so auch der<br />

Kopf sind abgebrochen.<br />

Die Figur weist deutliche Brandspuren auf, die<br />

sich als bandförmige Verfärbung schräg über<br />

den Rücken ziehen und auch auf der Vorderseite<br />

am linken Arm, am linken Bein und am Saum<br />

des Gewandes zu beobachten sind. Auch an den<br />

Bruchstellen der Skulptur und am Halsansatz<br />

des abgebrochenen Kopfes sind die Brandspuren<br />

zu verfolgen, die Figur ist daher im bereits zerbrochenen<br />

Zustand mit den heißen Materialien<br />

des Brandschuttes in Berührung gekommen. Solche<br />

Götter-Figuren wurden häufig in den sog.<br />

Lararien aufgestellt, Hausaltären, die der täglichen<br />

Religionsausübung dienten und in denen<br />

neben dem Lar, dem Beschützer des Hauses,<br />

mannigfaltigen Gottheiten Opfergaben dargebracht<br />

wurden.<br />

Das Füllhorn, das die reich gewandete Figur im<br />

linken Arm hält, weist bereits auf die Göttin<br />

Fortuna hin, zumal ihr als zweites Attribut an<br />

ihrer Rechten ein Steuerruder eines Schiffes beigegeben<br />

ist. Mit diesen Attributen ist die Göttin<br />

auf zahlreichen Münzen der römischen Kaiserzeit<br />

abgebildet und wird dann häufig als »fortuna<br />

redux« bezeichnet, als die »Rückführende«,<br />

die vor allem von Soldaten um eine gute Rückkehr<br />

aus Krieg oder Stationierung in fernen Ländern<br />

gebeten wurde. Jedoch scheint ein solch<br />

»soldatischer« Aspekt nicht so recht in eine zivile<br />

Kleinsiedlung, wie wir sie im Wareswald vor uns<br />

haben, zu passen. Denkbar wäre immerhin ein<br />

Veteran als Stifter, der sich im vicus Wareswald<br />

nach seiner Entlassung niedergelassen hatte und<br />

das Stück in einem Tempel aufstellen ließ.<br />

Die einzige Münze,<br />

die bislang geborgen<br />

werden konnte: ein<br />

Denar des Kaisers<br />

Vespasian, geprägt<br />

72/73 n. Chr. Die<br />

Rückseite zeigt die<br />

Kultwerkzeuge der<br />

Auguren: simpulum,<br />

aspergillum, Opferkanne<br />

und lituus.<br />

Foto: A. Didas<br />

Unmittelbar nach<br />

der Bergung zeigt<br />

sich die vorzügliche<br />

künstlerische Arbeit<br />

an der Figur. Die<br />

Beschädigungen<br />

im Kopfbereich<br />

und an der rechten<br />

Körperseite sind<br />

zu erkennen. (Foto:<br />

Terrex gGmbH)


Links: Nach der Restaurierung<br />

in den<br />

Werkstätten des<br />

Landesdenkmalamtes<br />

treten die Brandspuren<br />

deutlich zu<br />

Tage. (Foto: N. Kasparek,<br />

LDA)<br />

Rechts: Die Statue<br />

der Fortuna in der<br />

Sonderausstellung im<br />

Museum für Vor- und<br />

Frühgeschichte Saarbrücken.<br />

Restaurierter<br />

Zustand.<br />

Im Frühjahr <strong>2020</strong><br />

wurde ein Köpfchen<br />

aus Sandstein<br />

im Bauschutt<br />

der Ausgrabungen<br />

gefunden. Ob er zur<br />

ausgegrabenen Fortuna<br />

gehört, wird sich<br />

zeigen?<br />

(Foto: LDA)<br />

Die Figur ist aus gelblichem, hellem und feinkörnigem<br />

Sandstein hergestellt. Die Provenienz<br />

des Steines wurde bislang nicht ermittelt. Mit<br />

großem Geschick und Können hat der Bildhauer<br />

die Göttin geformt. Proportionen und die Standstellung<br />

im sog. Kontrapost mit zurückgesetztem<br />

linkem Fuß und rechtem Standbein, der darauf<br />

ruhenden schräg gestellten Hüfte und dem in<br />

Gegenrichtung schwingenden Oberkörper bis<br />

in die Schultern gekonnt ausgeführt. Die sehr<br />

gute Qualität der Bildhauerarbeit zeigt sich ins-<br />

besondere in der Darstellung der Gewänder. Über<br />

dem ärmellosen Chiton aus dünnem Stoff liegt<br />

der Mantel, der über die linke gelegt ist und zur<br />

rechten Hüfte hinabgeführt wird und von dort,<br />

den Oberkörper freilassend zur rechten Schulter<br />

verläuft. Das Gewand zieht in reichem Faltenwurf<br />

bis zu den Füßen. Die übereinander liegenden<br />

Kleidungsstücke sind in ihrer Stofflichkeit<br />

herausgearbeitet, dünne Stoffbahnen von dickeren<br />

unterschieden, die Faltenwürfe detailliert<br />

dargestellt. Die hohe künstlerische Qualität der<br />

Skulptur spricht dafür, die Entstehung in einer<br />

renommierten Werkstatt, eventuell in Trier im 2.<br />

Jhd. n. Chr., anzunehmen.<br />

Der Kopf der Fortuna?<br />

Seit Mai <strong>2020</strong> laufen die Grabungen im Gebäude<br />

»G« weiter. Hochinteressante Ergebnisse sind<br />

hierbei zu erwarten. Ganz aktuell wurde im<br />

Brandschutt ein kleiner Frauenkopf aus Sandstein<br />

gefunden, aus der Schicht also, aus der<br />

auch schon die Fortuna-Statue stammt. Der Kopf<br />

wurde umgehend in die Restaurierungswerkstätten<br />

des Landesdenkmalamtes gebracht, wo<br />

er nun zunächst restauriert wird. Erst danach<br />

wird es möglich sein, die Zusammengehörigkeit<br />

der Figur des letzten Jahres mit dem aktuellen<br />

Fund zu vergleichen.


eine frühe karte des saargebiets<br />

saargeschichte|n 13<br />

von bärbel kuhn und andreas schorr<br />

Mit dem Friedensvertrag von Versailles vom<br />

28. Juni 1919 wurde das neu gebildete »Saarbeckengebiet«<br />

für 15 Jahre vom Deutschen Reich<br />

abgetrennt und unter die Verwaltung des frisch<br />

konstituierten Völkerbunds gestellt. Die vorliegende<br />

Karte aus Privatbesitz [1] darf wohl als ein<br />

frühes regionales Zeugnis zur Popularisierung<br />

des neuen Gebietes gelten. Sie erschien im Verlag<br />

der Gebrüder Hofer in Saarbrücken, der auch<br />

die »Saarbrücker Zeitung« herausgab. Die Karte<br />

wurde zum Preis von 50 Pfennig angeboten,<br />

wahrscheinlich in den Verkaufsstellen der »Saarbrücker<br />

Zeitung«. Da die Karte nach ersten<br />

Recherchen in regionalen Archiven nicht nachgewiesen<br />

ist und bislang in einschlägigen Werken<br />

nicht erwähnt wurde, war sie vermutlich<br />

nicht in hoher Auflage gedruckt worden.<br />

Auf der Karte wurden unterschiedliche Typen von<br />

Grenzen beziehungsweise Grenzabschnitten eingezeichnet<br />

und in der Kartenlegende benannt.<br />

Unter anderem ist von einer »örtlich noch zu<br />

bestimmenden Grenze« die Rede. Gemeint<br />

ist die östliche Grenze des Saargebietes. Die<br />

gestrichelte Linie bezeugt den damals noch provisorischen<br />

Charakter dieses Abschnitts. Das wird<br />

vor allem westlich von Zweibrücken sichtbar: Hier<br />

hat die Grenze abgerundete Formen und gleicht<br />

nicht einer Zickzacklinie wie etwa im Hochwald,<br />

wo sie den Gemarkungsgrenzen der Gemeinden<br />

folgt. Die Karte stammt damit aus der Zeit vor<br />

dem Abschluss der Grenzvermessung, also zwischen<br />

der Unterzeichnung des Versailler Vertrags<br />

[1] Die Karte wurde erstmals publiziert in Kuhn, Bärbel: Beharrung<br />

und Aufbruch in bewegten Zeiten. Wiesbach im<br />

Saargebiet der Völkerbundzeit (1919–1935), in: Wiesbach.<br />

Geschichte eines saarländischen Dorfes, hg. von der Gemeinde<br />

Eppelborn durch Kuhn, Bärbel; Maas, Hans Günther;<br />

Schorr, Andreas (St. Ingbert 2018) S. 223–239, hier S.<br />

224 (Gesamtkarte in Verkleinerung) und S. 225 (Ausschnitt<br />

mittleres Saarland).<br />

(28. Juni 1919) und der urkundlichen Grenzfestlegung<br />

für das »Saargebiet« (21. Dezember 1921),<br />

als der östliche Grenzverlauf genau geregelt<br />

wurde. Weiter gibt die Preisangabe in Pfennigen,<br />

als Hundertstel-Unterteilung der zunächst weiter<br />

geltenden Mark des Deutschen Reiches, einen<br />

Hinweis auf die Entstehung in der frühen Phase<br />

des Saargebiets, vor der Einführung des französischen<br />

Franken als alleiniges Zahlungsmittel am<br />

1. Juni 1923.<br />

In § 48 des Versailler Vertrages wurden die Prinzipien<br />

für die Grenzziehung des neuen Gebildes<br />

festgelegt: »Ein Ausschuß von fünf Mitgliedern,<br />

von denen eines von Frankreich, eines von<br />

Deutschland und drei von dem Rate des Völkerbunds,<br />

welch letzterer seine Wahl unter den<br />

Staatsangehörigen anderer Mächte zu treffen<br />

hat, ernannt werden, tritt binnen zwei Wochen<br />

nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags<br />

zusammen, um an Ort und Stelle den Verlauf<br />

der […] Grenzlinie festzulegen. Wo dieser Verlauf<br />

nicht mit den Verwaltungsgrenzen zusammenfällt,<br />

wird der Ausschuß bemüht sein, dem<br />

angegebenen Verlauf unter möglichster Berücksichtigung<br />

der örtlichen Wirtschaftsinteressen<br />

und der bestehenden Gemeindegrenzen nahezukommen.«<br />

[2]<br />

Der Ausschuss bestand dann neben dem französischen<br />

und dem deutschen Delegierten aus<br />

einem britischen, einem brasilianischen und<br />

einem japanischen Vertreter. Mit der am 21.<br />

Dezember 1921 in Paris unterzeichneten Urkunde<br />

legte er die Grenzziehung fest. [3] Die Umgrenzung<br />

[2] Hier zitiert nach: http://www.documentarchiv.de/wr/<br />

vv03.html (zuletzt gesehen am 27. April <strong>2020</strong>).<br />

[3] Urkunde publiziert in: Amtsblatt der Regierungskommission<br />

des Saargebietes 1928, S. 179–192, Landesarchiv<br />

Saarbrücken, Inv.-Nr. 901/Z40, online: http://ndkio.homepage.t-online.de/grenzprotokoll.htm<br />

(zuletzt gesehen<br />

am 27. April <strong>2020</strong>).


des Saargebiets richtete sich nicht nach den<br />

preußischen und bayerischen Landkreisen, sondern<br />

nach damals hochmodernen wirtschaftsgeografischen<br />

Gesichtspunkten: den Kohlelagerstätten,<br />

den Industriestandorten sowie den<br />

Wohngebieten der Bergarbeiter. [4] Nach dem Versailler<br />

Vertrag sollte die Grenze nach Süden und<br />

Südwesten die im selben Vertragswerk nach den<br />

Verhältnissen des Jahres 1870 wiederhergestellte<br />

französische Staatsgrenze sein. Die Kriterien<br />

für die Festsetzung der neuen Grenzabschnitte<br />

gegen das Deutsch Reich waren unterschiedlich:<br />

Die Grenze im Nordosten und Osten sollte nach<br />

topografischen Punkten, im Nordwesten und Norden<br />

entlang von Verwaltungsgrenzen gezogen<br />

[4] Vgl. zu den Grenzziehungen auch Aust, Bruno; Herrmann,<br />

Hans-Walter; Quasten, Heinz: Das Werden des Saarlandes<br />

– 500 Jahre in Karten (= Veröffentlichungen des Instituts<br />

für Landeskunde im Saarland. Band 45) (Saarbrücken<br />

2008) Karten 30, 31, 57.<br />

werden. Für die vorliegende Karte lässt der Titel<br />

»Karte des Saarlandes« aufhorchen, denn offiziell<br />

hieß die Region in der Zeit der Völkerbundverwaltung<br />

»Saargebiet«, einer Klammerform<br />

aus »Saarbeckengebiet«, französisch Territoire du<br />

Bassin de la Sarre. Nach weiteren Überprüfungen<br />

und technischen Korrekturen wurde die Grenzziehung<br />

1928 im Amtsblatt der Regierungskommission<br />

des Saargebietes veröffentlicht.<br />

Neben der Bezeichnung »Saarland« lassen<br />

sich auf der Karte einige weitere Hinweise finden,<br />

die auf eine eigene, im damaligen Sinne<br />

»deutsche« Perspektive des Saarbrücker Verlags<br />

schließen lassen, die nicht im Einklang mit<br />

den Auffassungen der Völkerbundverwaltung<br />

sowie der französischen Wirtschaftsregierung<br />

und Militärverwaltung stehen konnte: Auf eine<br />

Beschriftung »Deutsches Reich« im nordwestlichen<br />

Anschluss an das Gebiet wurde verzichtet.<br />

Da sich die Bevölkerung des Saargebiets weiterhin<br />

als deutsch und somit als Teil des Deutschen


Reiches verstand, könnte ein Motiv für diese wohl<br />

bewusst gewählte Darstellungsweise sein, dass<br />

eine Grenze zum »Reich« erst gar nicht benannt<br />

werden sollte. Aber auch die Rückkehr des Reichslands<br />

Elsass-Lothringen nach Frankreich war<br />

offenbar noch zu neu, um bereits akzeptiert zu<br />

werden. Es finden sich westlich der Saargebietsgrenze<br />

sowohl die Bezeichnung »Elsass-Lothringen«<br />

(und nicht etwa »Frankreich«) als auch die<br />

damals allgemein geläufigen deutschen Ortsnamenformen<br />

wie zum Beispiel »Busendorf«<br />

statt Bouzonville und »Kammern« statt Lachambre.<br />

Die neue beziehungsweise wieder errichtete<br />

Grenze zu Frankreich wurde in der Kartenlegende<br />

als »lothringische Grenze« bezeichnet.<br />

Weiter fällt auf, dass die Grenzen der Landkreise<br />

auf der Karte fehlen. Die Zerschneidung der seit<br />

dem frühen 19. Jahrhundert bestehenden Kreise<br />

schlug politisch hohe Wellen und wurde von vielen<br />

Menschen beiderseits der neuen Trennungslinie<br />

als schmerzlich empfunden. Die beim Deutschen<br />

Reich verbliebenen Teile wurden dort ganz<br />

bewusst als »Restkreise« verwaltet und ihre amtlichen<br />

Namen erinnerten an die aus der Sicht des<br />

Deutschen Reiches vorläufig eingebüßten Kreisstädte:<br />

»Kreis Merzig-Wadern (Rest)« mit Sitz in<br />

Wadern und »Kreis Sankt Wendel-Baumholder<br />

(Rest)« mit Sitz in Baumholder. Ob die Grenzen<br />

der Landkreise aus gestalterischen Gründen,<br />

also der Übersichtlichkeit der Darstellung, oder<br />

aus politischer Absicht nicht in die Karte aufgenommen<br />

wurden, muss offenbleiben.<br />

Eingezeichnet wurde hingegen als dünn<br />

gestrichelte Linie die ehemalige, im Saargebiet<br />

weitgehend bedeutungslos gewordene bayerisch-preußische<br />

Grenze. Sie wurde in der<br />

Kartenlegende als »Pfalzgrenze« bezeichnet und<br />

damals offenbar noch als relevant angesehen.<br />

Vielleicht war sie auch als Merkposten gedacht,<br />

denn man stellte sich nichts Anderes vor als eine<br />

Rückkehr der jeweiligen Teile des Saargebiets zu<br />

Preußen und Bayern, was jedoch nach der Rückgliederung<br />

ins Deutsche Reich im Jahr 1935 nicht<br />

geschah. Anekdotisch und in Ortsneckereien wird<br />

bis heute auf saarländische »Preußen« und »Bayern«<br />

Bezug genommen. Anstatt der Kreisgrenzen<br />

übernehmen auf der Karte die eingezeichneten<br />

Straßen und Bahnlinien die orientierende Funktion<br />

im Raum und verweisen – wohl ungewollt –<br />

auf die französische Absicht, mit dem Saargebiet<br />

eine neue politische Einheit auf wirtschaftsgeografischer<br />

Grundlage zu schaffen und aus den<br />

älteren Zusammenhängen herauszulösen.<br />

saargeschichte|n 15<br />

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hector und paris,<br />

saarlouis und berlin<br />

Ein Minister vor Gericht:<br />

Was der spektakuläre »Fall Hector« über die Anfänge des Saarlandes erzählt<br />

von paul burgard<br />

Wer sich mit der saarländischen Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst, wird<br />

mit Sicherheit ziemlich schnell auf seinen Namen stoßen. Allerdings hat sich<br />

der Arzt und Politiker Jakob Hector nur in zweiter Linie durch seine Tätigkeit<br />

als Bürgermeister von Saarlouis und Minister der internationalen Regierungskommission<br />

im kollektiven Gedächtnis des Landes verewigt. Fast zum Mythos<br />

gewordene Erinnerungen ranken sich vielmehr um eine gerichtliche Auseinandersetzung,<br />

die im Jahr 1923 für internationales Aufsehen sorgte. Viele der<br />

wichtigsten Kapitel des jetzt als »Saarhundert« gefeierten Säkulums lassen sich<br />

am Beispiel dieses außergewöhnlichen Prozesses erzählen: die Entstehung eines<br />

eigenen Saar-Staates, die Wechselfälle der deutsch-französischen Beziehungen,<br />

die Grundlagen saarländischer Identität und nicht zuletzt der Wandel von<br />

Erinnerung und Geschichtsbildern.<br />

Niemand kann sagen, die Saarlouiser hätten keinen guten Platz für die<br />

Erinnerung an ihren Doktor gefunden. [1] In einem gutbürgerlichen Viertel<br />

haben sie sie benamt, die Dr.-Jakob-Hector-Straße, einseitig bebaut mit<br />

18 Häusern, vom Verkehr der parallel verlaufenden Wallerfanger Straße<br />

durch eine Doppelreihe Laubbäume abgeschirmt. Die hundert Meter<br />

entfernte Klinik vom Roten Kreuz (dessen saarländischer Ehrenpräsident<br />

Hector war) ist ein ebenso würdiger Nachbar wie die<br />

Straße für Robert Koch, die unmittelbar neben Jakob Hector ganz<br />

nebenbei auch zeigt, dass man mit Professur und Nobelpreis das<br />

[1] Der Fall Hector ist in der Literatur bisher erstaunlich wenig beachtet worden.<br />

Zwar wurde er in Abhandlungen zur Zeit des Völkerbundes quasi als Symptom<br />

der Zeit immer wieder thematisiert, aber nie als eigenständiges Kapitel für den<br />

Einblick in die 1920er Jahre analysiert. Nicht einmal eine etwas ausführlichere<br />

faktische Darlegung hat seit der Darstellungen in den zeitgenössischen<br />

Medien und Kampfschriften mehr stattgefunden. Am ausführlichsten<br />

und durchaus quellennächsten ist noch die entsprechende Passage in<br />

Hermann Röchling, Wir halten die Saar!, Berlin 1934, S. 81–88 gelungen.<br />

Siehe zum Fall Hector auch Ludwig Linsmayer, Politische Kultur im<br />

Saargebiet 1920–1932, St. Ingbert 1992, S.205f.; Peter Lempert, »Das<br />

Saarland den Saarländern«. Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet<br />

1918–1935, Köln 1985, hier v.a. S. 40–46. Beim »Klassiker« zur<br />

Völkerbundszeit von Maria Zenner, Parteien und Politik im Saargebiet<br />

unter dem Völkerbundsregime, Saarbrücken 1966, spielt der Fall<br />

Hector nur am Rande eine Rolle. Auch bei Hans Jörg Schu, Chronik der<br />

Stadt Saarlouis 1679–2005. Ein chronologischer Bericht über die Entwicklung<br />

der Festungsstadt, Saarlouis 2010, wird Bürgermeister Hector<br />

kaum und der Fall des Ministers überhaupt nicht thematisiert.


saargeschichte|n 17<br />

kompensatorische »Dr.« vor dem Namen nicht<br />

mehr braucht, um vor aller Welt zu dokumentieren,<br />

dass der einzig wahre Doktor nur ein Mediziner<br />

sein kann. Im Saarlouiser Straßennetz wird<br />

Hector nicht nur in einen prominenten medizinischen<br />

Kontext eingebettet. Parallel- und<br />

Anschlussstraße bringen ihn auch in Verbindung<br />

mit der kommunalen Politik, und zwar – ob<br />

gewollt oder nicht – mit deren französischer<br />

Variante. Ferdinand Heil und Michel Reneauld,<br />

die Namensgeber besagter Straßen, führen den<br />

Betrachter nämlich zurück in jene Zeit, als Saarlouis<br />

von Paris aus regiert wurde, Heil als erster<br />

Maire der Sonnenkönigsstadt überhaupt, Reneauld<br />

als Stadtoberhaupt in der Ära Napoleons,<br />

dessen General er auch war. Arzt und Politiker<br />

zwischen Saarlouis und Paris, so könnte man die<br />

Botschaft über die Vita Hectors also durchaus<br />

aus dem Stadtplan der heimlichen Hauptstadt<br />

des Saarlandes herauslesen. Was gar nicht so<br />

weit von der historischen Wahrheit entfernt ist,<br />

nicht einmal das mit der heimlichen Hauptstadt.<br />

Jung, dynamisch, erfolgreich – und preußisch?<br />

Dass er nach dem Ersten Weltkrieg zu den führenden<br />

Männern gehören würde, die mit der<br />

französischen Besatzungsmacht kooperierten,<br />

dass er mit Unterstützung aus Paris zum Minister<br />

werden und später an der Spitze frankophiler<br />

Bewegungen stehen sollte, dass er bereits 1930 die<br />

Staatsbürgerschaft der Grande Nation erwerben<br />

würde und 1935 mit seiner Familie ins französische<br />

Exil gehen musste: Das alles war Jakob Hector<br />

keineswegs ins Stammbuch geschrieben. Als<br />

Hector 1872 im heute zu Dillingen gehörenden<br />

Dorf Pachten geboren wurde, grassierte auch an<br />

der mittleren Saar eher das preußische als das<br />

französische Fieber. Zwar gehörte Pachten bis 1815<br />

zum Herzogtum Lothringen, besaß Dillingen mit<br />

seinem Eisenwerk eine lange französische Tradition,<br />

die wie jene des benachbarten Saarlouis<br />

bis ins 17. Jahrhundert zurückführte. Aber das<br />

alles war zur Zeit von Jakobs Geburt schon seit<br />

sechs Jahrzehnten aus und vorbei. Längst hatten<br />

die Preußen das Land in Besitz genommen und<br />

auch kulturell »kolonisiert«, waren die französischen<br />

durch preußische Truppen in der Garnison<br />

Saarlouis abgelöst worden, hatte vor<br />

allem die Reichsgründung den nationalen<br />

Kompass an der Saar endgültig<br />

in Richtung Berlin eingenordet. Wenn<br />

eines den Menschen im Saarlouiser<br />

Land in der nun beginnenden<br />

Ära des Kaiserreichs besonders am Herzen<br />

lag, dann war es zu zeigen, wie deutsch sie<br />

waren – und wie sehr sie sich vom französischen<br />

»Erbfeind« jenseits der Grenze unterschieden.<br />

Leider sind die biografischen Überlieferungen<br />

zum jungen Jakob Hector ziemlich dürftig. Insofern<br />

ist es schwer zu sagen, wo und wie der aufstrebende<br />

Mann aus Pachten seinen kulturellen<br />

Standort im Zeitalter von Nationalismus und<br />

Imperialismus fand. Fest steht, dass der Sohn<br />

eines Bauern einen bildungsbürgerlichen Aufstieg<br />

schaffte, der für einen wie ihn in dieser Zeit<br />

und in diesem Saar-Land nicht alltäglich war. Das<br />

Gymnasium besuchte er fernab der Heimat, im<br />

westfälischen Rheine, das dortige Dionysianum,<br />

eine ehemalige Franziskanerschule, seit 1861<br />

preußisches Vollgymnasium, war vermutlich aus<br />

konfessionellen wie aus ökonomischen Gründen<br />

eine geeignete Lernstätte für das jüngste<br />

von neun Kindern eines saarländischen Bauern.<br />

Als er 1895 in der Stadt an der Ems sein Abitur<br />

absolvierte, war der Pachtener bereits 23 Jahre<br />

alt, der Weg von der saarländischen Dorfschule<br />

zum westfälischen Gymnasium verlief also nicht<br />

Die Dezennaltabelle<br />

der Bürgermeisterei<br />

Fraulautern, zu der<br />

Pachten gehörte,<br />

zeigt, dass Jacob<br />

Hector an einem<br />

ungewöhnlichen<br />

Datum geboren<br />

wurde: am 29. Februar<br />

1872 (LA SB,<br />

Bestand Dezennaltabellen)


Im dritten Haus von<br />

links, am Großen<br />

Markt 16, lebte und<br />

arbeitete Jacob Hector<br />

mit Familie bis<br />

zu seiner Emigration<br />

1935.<br />

(StA SLS, Sammlung<br />

Postkarten)<br />

ganz geradlinig. Nach dem Abitur zog es Hector<br />

zum Medizinstudium nach Deutschland und in<br />

die Schweiz. An den renommierten Universitäten<br />

von Heidelberg, Gießen, Würzburg, München und<br />

Lausanne lernte er die ärztliche Heilkunst, ehe er<br />

1900 in Berlin approbiert und ebendort 1901 promoviert<br />

wurde. Nicht ganz gewöhnlich war ein<br />

solch ausgedehntes akademisches Itinerar im<br />

Kaiserreich, zumal für einen unbemittelten Dorfjungen,<br />

was womöglich für eine Unterstützung<br />

durch (katholische?) Stipendien spricht. Nicht<br />

ganz gewöhnlich für einen jungen Arzt war es<br />

aber auch, dass Hector das erste Jahr des neuen<br />

Jahrhunderts, das erste seiner langen medizinischen<br />

Karriere, auf Schiffen verbrachte. Auf den<br />

Dampfern des Norddeutschen Lloyd hatte er<br />

sich im August 1900 als Schiffsarzt verdingt, war<br />

für das leibliche Wohl einer eher besser situierten<br />

Gesellschaft auf Weltreisen nach Nord- und<br />

Südamerika, Afrika und Fernost verantwortlich.<br />

Zurück in der Heimat, ließ er sich kurz nach seiner<br />

Heirat im Herbst 1901 mit Haus und Arztpraxis<br />

am Großen Markt in Saarlouis nieder, im Zentrum<br />

der französischsten Stadt des Saarlands. Mit<br />

Ausnahme eines gut zehnjährigen Exils in Frankreich<br />

hat Hector hier ein halbes Jahrhundert lang<br />

als praktischer Arzt gewirkt, bis zur Emigration<br />

1935 im Haus Nr. 16, nach der Rückkehr 1946 in der<br />

Nummer 7. [2]<br />

[2] Hans Peter Klauck, Die Bürgermeister der Stadt Saarlouis<br />

1683–2005, in: Unsere Heimat 30, 2005, S. 12–30<br />

(hier S. 23); ders., Jakob Hector, in: Saarland-Biografien<br />

(www.saarland-biografien.de); ders., Die Einwohner der<br />

Stadt Saarlouis 1851–1902. Teilband 6, A–H, Saarlouis<br />

2012, S. 552f. Nachrufe waren in der in SVZ v. 6. Februar 54<br />

und der SZ v. 7. Februar 54 abgedruckt. Vgl. auch Andres,<br />

Hecor und die Saarfrage (wie Anm. 42). Zum Dionysianum<br />

vgl. Festschrift des Gymnasium Dionysianum in<br />

Rheine. Den Freunden der Schule als Erinnerungsgabe<br />

an die Dreihundertjahrfeier im Jahre 19<strong>59</strong>, Rheine 19<strong>59</strong>.<br />

Die Abiturientenliste von 1895 mit Hector S. 351. Die<br />

Wohnungen Hectors am Großen Markt nach den Adressbüchern<br />

von Saarlouis 1909 und 1925 sowie für die<br />

Nachkriegszeit nach den Briefwechseln in der LEA-Akte<br />

(LA SB, LEA 14261).<br />

Nur ein paar Meter entfernt von Haus und Praxis,<br />

zwei Häuser neben der Ludwigskirche, begann<br />

auch Hectors politische Karriere. Hier befand<br />

sich nämlich das alte Saarlouiser Rathaus, in dessen<br />

Ratssaal er am 13. Januar 1913 als Stadtverordneter<br />

einziehen konnte, in dem er allerdings,<br />

anders als hie und da zu lesen, niemals als Beigeordneter<br />

agierte. Die Wahl zu einem von 26<br />

Saarlouiser Stadtverordneten zeigt dennoch, wie<br />

schnell sich Hector in der Stadtgesellschaft etabliert<br />

hatte, vor allem in deren besseren Kreisen:<br />

Kommunalpolitik war vor dem Ersten Weltkrieg<br />

in Preußen noch eine Honoratioren vorbehaltene<br />

Veranstaltung. Dass ein Arzt mit gut gehender<br />

Praxis zu eben dieser besseren Gesellschaft<br />

gehörte, war spätestens im 20. Jahrhundert allerdings<br />

quasi zur Selbstverständlichkeit geworden.<br />

Bei diesem Werdegang ist es eigentlich kaum<br />

ersichtlich, wie der junge Jakob Hector seine<br />

»Liebe« zu Frankreich entdeckt haben könnte.<br />

Eine Vita mit den beschriebenen Stationen<br />

schloss im Gegenteil die Entfaltung einer wie<br />

auch immer gearteten Frankophilie im Normalfall<br />

sogar aus. Sowohl die höheren Schulen (auch<br />

vor dem katholischen Dionysianum in Rheine<br />

stand ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal) als auch<br />

die Universitäten waren im Kaiserreich eher<br />

Brutstätten eines mehr oder weniger aggressiven<br />

Nationalismus, den man unter dem Einfluss<br />

genau so gesinnter Kommilitonen fern<br />

der Alltagserfahrungen in der deutsch-französischen<br />

Heimat nicht anders als selbstverständlich<br />

empfinden mochte. Sollte – wovon wir ebenfalls<br />

nichts wissen, was aber vor dem Start einer<br />

akademischen Ausbildung in den 1890ern fast<br />

als must have galt – Hector auch seinen Militärdienst<br />

als Einjährig-Freiwilliger abgeleistet<br />

haben, müsste das einen preußisch-deutschen<br />

Patriotismus noch stärker fundamentiert haben.<br />

Auch das Jahr mit dem Norddeutschen Lloyd hat,<br />

anders als das heute gerne kommuniziert wird,<br />

nicht per se zum Erlernen von Weltoffenheit im<br />

modernen Sinne beigetragen: Sogar die zivilen<br />

Passagierschiffe dampften im Zeitalter der wilhelminischen<br />

Flotteneuphorie und der kurz vor<br />

Hectors Dienstantritt beim Lloyd gehaltenen<br />

Hunnenrede Wilhelms II. vor allem mit imperialistisch-kolonialem<br />

Antrieb. Schließlich dürfte<br />

es im Sinne eines beruflichen und kommunalpolitischen<br />

Fortkommens im kaiserzeitlichen<br />

Saarlouis besser gewesen sein, wenn man nicht


saargeschichte|n 19<br />

zu sehr mit den französischen Stadtgründern<br />

und deren Nachkommen sympathisierte. [3]<br />

Wenn die zeitgenössischen Aussagen und in<br />

deren Gefolge die Lokalgeschichte der historischen<br />

Wahrheit nur einigermaßen nahekommen,<br />

dann war Jakob Hectors »frankophile<br />

Einstellung« schon recht bald nach dem verheerenden<br />

Weltkrieg im Saarlouiser Land allseits<br />

bekannt. Möglicherweise hat also der Weltkrieg<br />

selbst zu einem Gesinnungswandel beigetragen.<br />

Aber auch das muss vor dem Hintergrund des<br />

allgemeinen Szenarios eine fast schon kontrafaktische<br />

Spekulation bleiben. Denn erstens wissen<br />

wir nicht, ob – und wenn ja: in welcher Form<br />

– Hector überhaupt am Ersten Weltkrieg teilgenommen<br />

hat; im August 1914 war er bereits 42<br />

Jahre alt, damit allerdings prinzipiell noch wehrpflichtig.<br />

Zieht man die Protokolle der Stadtverordnetenversammlungen<br />

zu Rate, dann zeigt<br />

sich, dass Hector – nachdem er bis dahin nie<br />

gefehlt hatte – zwischen Juli 1914 und Herbst<br />

1915 nur zweimal an Sitzungen teilnahm und wie<br />

andere Kollegen während des Krieges des Öfteren<br />

absent war. Möglich also, dass er als Arzt<br />

jenseits der Front zeitweise gebraucht wurde,<br />

unwahrscheinlich hingegen, dass er selbst – wie<br />

das bei anderen manchmal vermerkt wurde –<br />

[3] Zur Entstehung von Nationalismus in Schulunterricht:<br />

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte.<br />

Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis<br />

zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München<br />

1995, S. 405ff.; 938-945; 1002ff.; zum Lloyd vgl. Reinhold<br />

Thiel. Die Geschichte des Norddeutschen Lloyd 1857–<br />

1970 in fünf Bänden. Band II, 1884–1899, Bremen 2002;<br />

Arnold Kludas, Die Seeschiffe des Norddeutschen Lloyd<br />

1920 bis 1970. Band 2, Herford 1992.<br />

fehlte, weil er »im Felde« [4] stand. Aber selbst<br />

wenn Hector im aktiven Einsatz gewesen wäre,<br />

hätte das nicht zwangsläufig »friedensstiftend«<br />

gewirkt, haben die grausamen Fronterfahrungen<br />

im Ersten Weltkrieg bekanntlich sogar eher dazu<br />

beigetragen, die feindlichen Gefühle zwischen<br />

Deutschen und Franzosen zu vergrößern, als sie<br />

abzubauen. Kluge und humanitär gesinnte Köpfe<br />

mochten damals, nach dieser »Urkatastrophe«,<br />

über neue Wege der Völkerverständigung nachdenken.<br />

Ohne allerdings die nationalen Prioritäten<br />

dabei aufzugeben. Die Visionen des durch<br />

und durch deutschen Sozialdemokraten Max<br />

Braun haben dafür im Saargebiet ein gutes Beispiel<br />

gegeben. Freilich glaubte Braun an ein<br />

runderneuertes Europa mit seinen revolutionierten<br />

Kernstaaten: einem (sozial)demokratisch<br />

gewandelten Deutschen Reich und einem Frankreich,<br />

in dem die imperialistisch-kapitalistischen<br />

Kräfte endlich aus der bereits existierenden<br />

Demokratie verschwunden sein würden. [5]<br />

[4] Schon vor der Mobilmachung, am 16. Juli 1914, fehlte<br />

Hector allerdings zum ersten Mal überhaupt. Die Frequenz<br />

der Versammlungen nahm während des Krieges<br />

nicht ab, die Zahl der abwesenden Verordneten lag jedoch<br />

oft zwischen fünf und zehn Personen. In den späteren<br />

Kriegsjahren wurden auch die entschuldigt und<br />

unentschuldigt fehlenden Verordneten notiert, zu letzteren<br />

gehörte Hector hie und da. (StA SLS, Beschlussbücher<br />

1913–1920, S. 197 u. 481 als Beispiele für differenzierte<br />

Anwesenheitslisten).<br />

[5] Zu Max Braun, seinen nationalen und frühen europäischen<br />

Vorstellungen vgl. ders., Unsere Hoffnungen und<br />

Ziele, in: Fritz Kloevekorn (Hg.), Das Saargebiet, seine<br />

Struktur, seine Probleme, Saarbrücken 1929, S. 549–555.<br />

Im alten Saarlouiser<br />

Rathaus (links, heute<br />

ist hier die Buchhandlung<br />

Bock &<br />

Seip) lenkte Jacob<br />

Hecor ein Jahr lang<br />

als kommissarischer<br />

Bürgermeister die<br />

Geschicke der Stadt<br />

Saarlouis. Im Haus<br />

Nr. 7 (rechts neben<br />

der Ludwigstraße;<br />

heute Gebäude der<br />

Sparkasse) befanden<br />

sich nach 1946 Wohnung<br />

und Praxis von<br />

Dr. Hector. (StA SLS,<br />

Sammlung Postkarten)


Beginn der<br />

Besatzungszeit: Franz.<br />

Truppen zu Fuß und<br />

zu Pferde haben mit<br />

Geschützen und<br />

Fahrzeugen am 23.<br />

November 18 auf dem<br />

Großen Markt Aufstellung<br />

genommen.<br />

(StA SLS, Bildersammlung)<br />

Zwischen Compiègne und Versailles<br />

Als die französischen Truppen wenige Tage nach<br />

dem Waffenstillstand im Saarland einzogen,<br />

schienen diese Bataillone eher den alten Kräften<br />

in Paris zu gehorchen. Obwohl mit Georges<br />

Clemenceaus ein linksbürgerlicher Politiker die<br />

Regierungsgeschäfte lenkte, blieben rechtskonservative<br />

Kräfte mit oder ohne Regierungsamt<br />

einflussreich, sie waren es vor allem auch,<br />

die auf einen harten Kurs gegenüber dem Kriegsverlierer<br />

Deutschland drängten. Ganz davon<br />

abgesehen spielten die Militärs aller Nationen<br />

ohnehin oft gerne nach eigenen, nicht unbedingt<br />

auf friedliche Völkerversöhnung zielenden Regeln,<br />

ein kalter Nachkrieg, der nicht selten auf Kosten<br />

der Bevölkerung ging. Im Saargebiet, dessen<br />

besondere Rolle in der Nachkriegsordnung sich<br />

bereits in den ersten Monaten des Waffenstillstands<br />

abzeichnete, gab es derartige Übergriffe<br />

auch. Freilich hielten sie sich bei genauerem Hinschauen<br />

doch in sehr viel zivilisierteren Grenzen,<br />

als es die Zeitgenossen empfunden haben mochten<br />

und als es der propagandistische Nachhall<br />

der zwanziger Jahre nach außen vermittelte.<br />

Was dem Konflikt seine besondere Schubkraft<br />

gab, was ihn nachhaltig mit negativer Energie<br />

auflud und die öffentliche Meinung mit den<br />

schlimmsten Phantasien konfrontierte, das war<br />

vor allem die nationale Frage. Oder präziser die<br />

Frage des Nationalgefühls, jenes eigentlich erst<br />

im 19. Jahrhundert entstandenen Sentiments,<br />

das umso explosiver wirkte, je mehr es in einer<br />

gleichsam physisch aggregierten Form daherkam.<br />

Also buchstäblich körperlich spürbar war<br />

und dementsprechend aus und mit der Natur des<br />

Menschen begründet werden konnte. »Was denn<br />

für Blut eigentlich in seinen Adern rollt«, fragte<br />

der Leitartikler in der Saar-Zeitung mit einer<br />

damals überhaupt nicht anders als rhetorisch zu<br />

verstehenden Frage an die Adresse eines Kollegen<br />

im frankophilen Saarlouiser Journal, »Internationales?«<br />

[6] Weil Nationalität über Fleisch<br />

und Blut definiert wurde, war es auch »natürlich«,<br />

dass man nur eine einzige nationale Identität<br />

haben konnte, und zwar diejenige, die einem<br />

angeboren war, deren Wahrung aufs engste mit<br />

der persönlichen Ehre zusammenhing und die es<br />

notfalls unter Einsatz von Leib und Leben zu verteidigen<br />

galt. Umgekehrt gab es in einer solchen<br />

Gedanken- und Gefühlswelt, in einer buchstäblich<br />

verkörperten Nationalität, viele Gefahren<br />

der Verunreinigung und Infizierung mit Fremdkörpern,<br />

die bis hin zu jener »Perversion« führen<br />

konnten, die eigene Nationalität in Frage zu stellen<br />

oder gar zu wechseln.<br />

Um nationale Identität, um deren ehrenhafte<br />

Verteidigung und die vielfältigen Gefahren,<br />

denen sie ausgesetzt war, ging es auch in der<br />

saarländischen Besatzungszeit 1918/19 – gerade<br />

im preußisch-französischen Saarlouis. Am<br />

21. November 1918, so erzählen es die Quellen<br />

im Weißbuch der Regierung von 1921, verließen<br />

die letzten deutschen Truppen Saarlouis, verabschiedet<br />

von den Einheimischen mit Blumen,<br />

Girlanden und Ehrenpforten. Wenige Stunden<br />

später standen schon die Soldaten des französischen<br />

Kriegsgewinners vor den Toren der Stadt,<br />

um hier jedoch alles andere als einen triumphalen<br />

Empfang bereitet zu bekommen. Nur wenige<br />

Einheimische seien auf den Straßen gewesen, ein<br />

einziger habe es gewagt, Vive la France zu rufen<br />

– und der sei deshalb, so behauptete zumindest<br />

die vox populi später, verprügelt worden. Das<br />

Spiel um die Wahrung der nationalen Ehre, die es<br />

umso mehr aufrecht zu erhalten galt, als man um<br />

den militärischen Sieg scheinbar betrogen worden<br />

war, ging am nächsten Tag weiter. Der von<br />

den Franzosen geforderte Empfang von General<br />

Lecomte am Saarlouiser Stadttor durch Bürgermeister<br />

und Stadtverordnete wurde jedenfalls<br />

verweigert, mit der bauernschlauen Begründung,<br />

dass man auch preußischen Militärs niemals derart<br />

entgegen gekommen sei. Im Gobelinsaal des<br />

Rathauses standen Bürgermeister Dr. Peter Gilles,<br />

der an diesem Tag in sein Amt eingeführt worden<br />

war (nachdem tags zuvor die Amtszeit von<br />

Dr. Karl-August Kohlen abgelaufen war) sowie<br />

die Beigeordneten später aber doch zum Rencontre<br />

mit dem General bereit. Der sprach zwar<br />

demonstrativ von den ungezählten »Schandtaten<br />

der Deutschen« im vergangenen Krieg,<br />

[6] Saarlouis in Wahrheit – nicht Dichtung, in: Saar-Zeitung<br />

Nr. 83 v. 12. April 20, S.1.


saargeschichte|n 21<br />

zeigte ansonsten aber viel Entgegenkommen,<br />

das die Saarlouiser Stadtväter mit der Versicherung<br />

des loyalen Verhaltens ihrer Kommune<br />

erwiderten. Der friedliche Neuanfang lief also gar<br />

nicht so schlecht, wenngleich die Saarlouiser Bürger<br />

auf den Straßen der Stadt den neuen Machthabern<br />

eher die kalte Schulter zeigten. [7]<br />

Um die Jahreswende 1918/19 wurden verschiedene<br />

Sollbruchstellen in der vermeintlich<br />

festgefügten »deutschen Front« des Saarlouiser<br />

Landes immer deutlicher. Das hatte<br />

zum einen seine historischen beziehungsweise<br />

grenzüberschreitenden Gründe, wenn zum Beispiel<br />

einige Familien sich ihrer französischen<br />

Herkunft beziehungsweise des französischen<br />

Ursprungs der Stadt Saarlouis erinnerten oder<br />

auch deutsche Bewohner mit ehemals lothringischem<br />

Wohnsitz und guten (wirtschaftlichen)<br />

Beziehungen zur Grande Nation die Nähe der<br />

Militärverwaltung suchten. Das hatte zum anderen<br />

damit zu tun, dass diese Militärverwaltung<br />

nun auf offiziellen und inoffiziellen Wegen, mal<br />

mit Zuckerbrot, mal mit Peitsche, versuchte, die<br />

Saarlouiser Bevölkerung auf einen Kurs heim ins<br />

Frank-Reich zu bringen. Ob das kurzfristig auf<br />

dem Weg der Annexion oder mittelfristig durch<br />

das Votum der Saarländer selbst geschehen<br />

sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch offen, war<br />

außerdem eine Frage, deren international und<br />

friedensvertraglich geregelte Sanktionierung<br />

ja noch ausstand. Und so lange noch nicht klar<br />

war, in welche nationale Zukunft das Land gehen<br />

würde, war vieles möglich, sowohl bei den französischen<br />

Machthabern wie bei den Bürgern von<br />

Saarlouis.<br />

Es ist schwer zu sagen, ob und inwieweit die<br />

profranzösischen Aktivitäten dieser Übergangszeit<br />

von oben gesteuert wurden oder auf die<br />

persönlichen Initiativen frankophiler Persönlich-<br />

[7] Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens<br />

und des Vertrags von Versailles. Als<br />

Weißbuch von der deutschen Regierung dem Reichstag<br />

vorgelegt, Berlin 1921, hier die Nr. 3, S. 19–21. Die Amtseinführung<br />

von Gilles nach StA SLS, Beschlussbuch der<br />

Stadtverordnetenversammlung 1913–1920, S. 483ff.<br />

keiten vor Ort zurückgingen.<br />

Nicht selten wird beides<br />

zusammen gewirkt haben,<br />

wie es sich besonders bei<br />

der Familie Fabvier nachvollziehen<br />

lässt, deren Name<br />

uns im Zusammenhang<br />

mit der frankophilen Agitation<br />

der ersten Nachkriegsjahre<br />

immer wieder begegnet. Das sogenannte<br />

schwarze Schloss, ein ursprünglich den Villeroys<br />

gehörendes Wallerfanger Rittergut, bewohnten<br />

die Fabviers seit dem 19. Jahrhundert, sie waren<br />

im Saarlouiser Land von gewissem Einfluss und<br />

griffen seit 1918 in Person des Leutnants Fabvier<br />

als französische Militärverwalter aktiv ins<br />

Geschehen ein. Das war auch im Rahmen jener<br />

konzertierten Aktionen der Fall, mit denen man<br />

Saarlouis und Umgebung Anfang 1919 auf einen<br />

antipreußischen und profranzösischen Kurs zu<br />

bringen gedachte. Aufrufe zum Boykott der Wahlen<br />

zur Nationalversammlung, Unterschriftenlisten<br />

für den Anschluss des Kreises Saarlouis an<br />

Frankreich, Anträge auf Erhalt der französischen<br />

Staatsbürgerschaft, diese allgemeinen und viele<br />

individuellen Maßnahmen gehörten ins Portfolio<br />

der aktiven Frankreichstrategie der Jahre<br />

nach 1918. Argumentativ unterfüttert wurden<br />

diese Initiativen stets mit historischen, rechtlichen,<br />

politischen und ökonomischen Gründen:<br />

mit dem französischen Ursprung Saarlouis’, mit<br />

dem »widerrechtlichen Raub« von 1815, mit der<br />

preußischen Unterdrückung des katholisch-französischen<br />

Landkreises, nicht zuletzt mit den düsteren<br />

wirtschaftlichen Perspektiven, die im Fall<br />

eines Verbleibs im Deutschen Reich drohten.<br />

Quantitativ betrachtet fand die französische<br />

Werbung im Saarlouiser Landkreis nur einen<br />

ziemlich bescheidenen Widerhall. Gleichwohl<br />

stieg die Unruhe mit der Ungewissheit<br />

über die eigene Zukunft; sie wurde zudem<br />

befeuert von der dramatischen Zuspitzung bei<br />

den Saarverhandlungen von Versailles. Frankreichs<br />

Annexionsansprüche und Wilsons Selbstbestimmungsvision<br />

waren hier ziemlich schroff<br />

aufeinandergeprallt und konnten erst nach harten<br />

Kontroversen in eine Kompromisslösung<br />

gegossen werden.<br />

Clemenceaus Diktum von den angeblich 150.000<br />

im Saargebiet lebenden Franzosen hallte lange<br />

nach, bot vor allem in den ersten Monaten des Jahres<br />

1919 den Hintergrund für die gesteigerten Agitationen<br />

im französischen Saarlouis. Ob sie nun<br />

als gesamtsaarländische Nachkommenschaft<br />

der »ursprünglichen« Saarfranzosen gedacht<br />

Im »Schwarzen<br />

Schloss« in Wallerfangen<br />

lebte die<br />

franz. Familie Fabvier<br />

seit dem 19.<br />

Jahrhundert. Das<br />

Bild aus den 1920er<br />

Jahren zeigt das<br />

Anwesen in marodem<br />

Zustand.<br />

(LA SB, Bildersammlung)


Im Mittelpunkt des<br />

Großen Marktes, der<br />

seinerseits das Zentrum<br />

der Stadt des<br />

Sonnenkönigs war,<br />

stand die französische<br />

Militärkommandatur.<br />

Der Stich aus dem 19.<br />

Jahrhundert zeigt den<br />

alten Paradeplatz zu<br />

einem Zeitpunkt, als<br />

er bereits in preußische<br />

Herrschaft übergegangen<br />

war. (LA SB,<br />

Bildersammlung)<br />

wurden oder ob man sie mit den Bewohnern<br />

des Landkreises identifizierte, jedenfalls ergab es<br />

durchaus einen Sinn, wenn man entsprechende<br />

Bekenntnisse für die Pariser Politik ausgerechnet<br />

in Saarlouis suchte. Denn hier konnte man auf<br />

gewisse historische Fakten verweisen, hier konnte<br />

der Wunsch nach Angliederung an Frankreich<br />

zumindest einigermaßen glaubhaft als Ausübung<br />

des Selbstbestimmungsrechtes interpretiert<br />

werden. [8]<br />

Von März bis Mai 1919, während in Versailles<br />

die kontroversen Verhandlungen und die<br />

schwierigen Entscheidungen über die Saarfrage<br />

anstanden, spitzte sich die Lage in Saarlouis<br />

dramatisch zu. Auf der einen Seite erhöhte<br />

die Militärkommandantur erheblich den Druck,<br />

forderte Loyalitätsbekundungen ein, nahm<br />

Einfluss auf die Berichterstattung der Presse,<br />

behauptete öffentlich, dass die Entscheidung<br />

für eine französische Zukunft Saarlouis’ bereits<br />

gefallen sei, wollte einen vorgesehenen Empfang<br />

für Marschall Foch so gestaltet wissen, dass<br />

Saarlouiser Kinder Blumen überbrächten und<br />

Gedichte aufsagten, während ein Chor von Einheimischen<br />

die Marseillaise singen sollte. Auf<br />

der anderen Seite begegneten Parteien, Verbände<br />

und Verwaltungen den französischen<br />

Herausforderungen mit Bekenntnissen ihres<br />

[8] Zu den Saarverhandlungen auf der Friedenskonferenz<br />

vgl. Helmut Hirsch, Die Saar in Versailles. Die Saarfrage<br />

auf der Friedenskonferenz von 1919, Bonn 1952; jetzt<br />

auch die Einordnung im Rahmen des gesamten Friedensprozesses:<br />

Saarland und Fiume, Schantung und<br />

Kleinasien. Die Krise der Konferenz im April 1919, in: Jörn<br />

Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die<br />

Welt 1918–1923, München 2018, S. 819–837.<br />

Deutschtums. So etwa in einer Kundgebung am<br />

7. März, in dem der »unabänderliche Willen der<br />

Bevölkerung, am deutschen Vaterland festzuhalten«<br />

artikuliert wurde. »Weder die zwangsweise<br />

Einführung des französischen Unterrichts<br />

in allen Schulen, weder die Zusicherung finanzieller<br />

und wirtschaftlicher Vorteile, weder die<br />

französischerseits veranstalteten Propagandaversammlungen<br />

und Werbungen, weder die<br />

gewaltsame Unterdrückung von Äußerungen<br />

deutscher Gesinnung, noch die Knebelung<br />

unserer Presse (…) werden uns in unserer<br />

Anhänglichkeit und Treue gegen das Deutsche<br />

Reich wankend und zum Anschluß an Frankreich<br />

zu bewegen vermögen.« Ein Bekenntnis, das der<br />

Kreistag von Saarlouis gut drei Wochen später<br />

»in der jetzigen Schicksalsstunde« mit ähnlichen<br />

Worten bekräftigte. [9]<br />

Der spektakuläre Höhepunkt der Kontroverse<br />

um die nationale Frage von Saarlouis hatte allerdings<br />

bereits zwei Wochen zuvor in und um das<br />

Rathaus der Kreisstadt stattgefunden. Am 14.<br />

März war Major Delévaque, Adjutant des Stadtkommandanten<br />

Poulet, bei Bürgermeister Gilles<br />

erschienen. Er behauptete, dass Saarlouis faktisch<br />

bereits französisch sei, dass Marschall Foch kommen<br />

würde, um die entsprechende Proklamation<br />

zu vollziehen, und fragte das Stadtoberhaupt,<br />

was die Stadt in diesem Fall zu tun gedenke. Gilles<br />

erwiderte, dass er diese Frage nur nach Konsultation<br />

mit dem Stadtrat beantworten könne,<br />

der Adjutant stimmte zu und sagte sein persönliches<br />

Kommen zur Entgegennahme dieser Antwort<br />

in der Stadtverordnetenversammlung am<br />

[9] Weißbuch (wie Anm. 7), Nr. 9, S.31f.; die Kundgebung des<br />

Kreistages vom 31. März in Nr. 16, S. 40.


saargeschichte|n 23<br />

17. März zu. In den Tagen dazwischen<br />

tagte das städtische Kollegium drei<br />

Mal, um eine entsprechende Resolution<br />

zu verabschieden. Keine leichte<br />

Aufgabe, zumal es auch innerhalb des<br />

Rates disparate Meinungen dazu gab.<br />

Nachdem ein diplomatisch ziemlich<br />

geschickter Entwurf gefunden war,<br />

der sowohl der Größe der französischen<br />

Nation huldigte als auch, daraus<br />

abgeleitet, eine Lanze für das<br />

(deutsche) Selbstbestimmungsrecht<br />

der Saarlouiser brach, fiel der Showdown<br />

im letzten Moment doch aus. Oberst<br />

Poulet verbot die von ihm nicht genehmigte<br />

Stadtverordnetenversammlung und rügte das<br />

eigenmächtige Vorgehen seines Adjutanten.<br />

Hunderte Saarlouiser Bürger, die sich auf dem<br />

Markt vor dem Rathaus versammelt hatten, ließen<br />

daraufhin vielfache Hurra-Rufe hören und<br />

sangen Deutschland, Deutschland über alles. [10]<br />

Der nur knapp verhinderte Eklat und die eindeutige<br />

Positionierung der Saarlouiser Stadtväter<br />

hatten Konsequenzen politischer und<br />

persönlicher Art. General Andlauer, seit dem 24.<br />

Januar Chef der französischen Militärverwaltung<br />

im Saargebiet, erschien an mehreren Tagen in der<br />

Stadt, um sich in persönlichen Gesprächen ein<br />

Bild von der Lage zu machen. Adjutant Delévaque<br />

und sein Helfer, Leutnant Collong, wurden sofort<br />

von ihren Aufgaben entbunden, später auch der<br />

Stadtkommandant Poulet. Bürgermeister und<br />

Landrat von Saarlouis, die beiden ranghöchsten<br />

Saarlouiser in diesem Drama, sollten zwei Monate<br />

später ebenfalls ihr Amt verlieren: Wiewohl bis<br />

zum Mai noch einige schwerwiegende Konflikte<br />

gefolgt waren, dürfte seit dem neuralgischen<br />

Märztag ihr Weg ins politische Abseits vor-<br />

[10] A.a.O., S. 32.<br />

gezeichnet gewesen sein. Auf<br />

der anderen Seite begann an diesem Tag vermutlich<br />

der politische Aufstieg jenes Mannes,<br />

der mit der Resolution seiner deutschen Stadtratskollegen<br />

vom 17. März nicht so ganz einverstanden<br />

gewesen war.<br />

Dr. Hector oder: wie er gelernt haben könnte,<br />

den Erbfeind zu lieben<br />

Wann und wo ist der Funke übergesprungen?<br />

Wie kam es, dass Jakob Hector nach einer eindeutig<br />

preußischen Sozialisation und in einem<br />

Nachkriegsklima, das im Saarlouiser Land ein<br />

kerndeutsches Bekenntnis fast gebieterisch verlangte,<br />

mit französischen Stellen zu kooperieren<br />

begann? Waren es persönliche Erlebnisse als Arzt<br />

während des Weltkrieges gewesen, die ihn frankreichfreundlich<br />

stimmten? Brachte ihn, ähnlich<br />

wie den aus Saarlouis stammenden Geheimrat<br />

Muth zur gleichen Zeit, sein tiefer Katholizismus<br />

dazu, im Vergleich mit dem protestantischen<br />

Preußen die Vorzüge des katholischen Frankreich<br />

zu entdecken? Immerhin stammte Jakob<br />

aus einer strenggläubigen Familie, immerhin war<br />

er selbst Präsident katholischer Studentenverbindungen<br />

gewesen, immerhin hatten sich einige<br />

Kreise im katholischen Saarlouis schon lange<br />

General Andlauer,<br />

Chef<br />

der französischen<br />

Militärregierung<br />

an<br />

der Saar seit Januar<br />

1919, war ursprünglich<br />

als Präsident<br />

der Regierungskommission<br />

im<br />

Gespräch und blieb<br />

dem Saarland lange<br />

verbunden. Die Aufnahme<br />

zeigt Andlauer<br />

zusammen<br />

mit dem französischen<br />

Außenminister<br />

Bidault bei einem<br />

Festakt auf Schloss<br />

Halberg am 20.<br />

Dezember 1952. (LA<br />

SB, Sammlung NPress<br />

Act)<br />

Gedruckte Proklamation<br />

General<br />

Andlauers vom 20.<br />

April 1919 (LA SB,<br />

Plakatsammlung)


Das »neue« Landratsamt<br />

am Kaiser-<br />

Friedrich-Ring war<br />

ein Epizentrum<br />

preußisch-deutscher<br />

Nationalkultur – auch<br />

während der Auseinandersetzungen<br />

um die Zukunft<br />

Saarlouis‘ nach dem<br />

Ersten Weltkrieg.<br />

(StA SLS, Postkartensammlung)<br />

gegen die Bevormundung durch das protestantische<br />

Saarbrücken gewehrt. Hatte der bestens<br />

vernetzte »Stadtarzt« Hector im Laufe seiner (bis<br />

dahin) fast zwanzig Saarlouiser Jahre besondere<br />

Beziehungen zu französischen und frankophilen<br />

Familien der Region aufgebaut? Oder nutzte er<br />

einfach »nur« die Gunst der Stunde, um einen<br />

ihm notwendig erscheinenden Politikwechsel<br />

einleiten zu können und dabei selbst an die Spitze<br />

der Stadt vorzurücken? [11]<br />

Dass »die Ursachen des Falles Hector (…) nichts als<br />

die verständlich menschliche Schwäche des biederen<br />

praktischen Landarztes (waren), einmal aus<br />

der Enge des täglichen ärztlichen Einerlei herauszukommen,<br />

ins Rampenlicht der Öffentlichkeit<br />

zu rücken und eine politische Rolle zu spielen«,<br />

das scheint aber dann doch viel zu kurz und zu<br />

pejorativ gegriffen. Namentlich dokumentiert<br />

tritt Hector erstmals im Zusammenhang mit<br />

der eben zitierten Note der Stadtverordneten<br />

vom 17. März 1919 als »frankophiler« Politiker in<br />

Erscheinung. Neben dem jüdischen Kaufmann<br />

Henry Cahn, so wird es im »amtlichen Bericht«<br />

[11] Tatsächlich könnte der Katholizismus bei frankophilen<br />

Bestrebungen der Nachkriegszeit eine größere Rolle<br />

gespielt haben, als das meist gesehen wird. Geheimrat<br />

Johann Peter Muth hatte im Frühsommer 1919 bereits<br />

ein entsprechendes Schreiben nach Paris gesandt,<br />

in dem die Segnungen französischer Politik seit der<br />

Zeit Ludwig XIV. aufgezählt und den »Unterdrückungen«<br />

durch das protestantische Preußen gegenübergestellt<br />

wurden. Muth war als Bürger von Saarlouis im<br />

August 1870 aus seiner Heimatstadt ausgewiesen worden,<br />

weil er mit seiner Verwandtschaft zuvor an einer<br />

Marschall-Ney-Feier teilgenommen hatte. Im Juni 1919<br />

unterzeichneten die führenden Zentrumsfunktionäre<br />

von der Saar ein Schreiben, in dem dafür plädiert wurde,<br />

Muth zum saarländischen Mitglied der künftigen<br />

Regierungskommission zu küren. Vgl. dazu: Dokumente<br />

zur Zeitgeschichte des Saarreviers, in: SZ v. 18. April<br />

1920 sowie als Replik darauf : Veröffentlichung von Dokumenten,<br />

in: Saarzeitung v. 20. April 1920.<br />

festgehalten, sei er der einzige aus dem Kreis von<br />

25 Ratsherren gewesen, der zunächst gegen das<br />

Papier gestimmt hatte, bei der Endfassung dann<br />

aber doch zur einstimmigen Geschlossenheit des<br />

Stadtrates beitrug. [12]<br />

In den Wochen danach wurde das Klima der<br />

nationalen Konfrontation noch rauer, trotz der<br />

bereits erwähnten Ablösung der Saarlouiser<br />

Militärkommandanten. Während in Versailles<br />

die Saarfrage auf des Messers Schneide stand,<br />

begann auf den Saargruben eine weitere große<br />

Streikwelle, es ging um Lohnfragen und Arbeitszeit.<br />

Die Militärverwaltung ließ die Bergleute<br />

requirieren, erklärte den Belagerungszustand,<br />

wies schließlich Anfang April über 400 Streikende<br />

aus, darunter etwa 100 aus dem Landkreis<br />

Saarlouis. Und in der Kreisstadt selbst ging<br />

es weiter mit einer Politik der Nadelstiche, diesmal<br />

mit überaus symbolträchtigen Angriffen auf<br />

das Kulturgut der Stadt. Die 18 Gobelinstühle<br />

aus der Zeit Ludwigs XIV. ließ der neue Kommandant<br />

de Job requirieren, einige Tage später<br />

sogar die Wandbehänge aus Gobelin im Rathaus<br />

abmontieren, außerdem sollten ein Schrein<br />

mit Medaillons sowie das Stadtarchiv mit alten<br />

Bildern und Urkunden in die Hände der Franzosen<br />

übergehen. Mit Gobelinstühlen und Wandbehängen<br />

war das beschlagnahmt worden,<br />

was die Stadt »1/4 Jahrtausend als ihren wertvollsten<br />

Schatz gehütet und geschätzt« hatte. [13]<br />

So jedenfalls bezeichnete es Bürgermeister Gilles,<br />

der die Wegnahme nur unter scharfem Protest<br />

zuließ, die die Deutsche Waffenstillstandskommission<br />

darüber benachrichtigte, worauf<br />

diese eine offizielle Protestnote bei der interalliierten<br />

Kommission einreichte.<br />

[12] Undatiertes und unbenamtes Schreiben, in: LA SB, NL<br />

Schneider 239; Weißbuch Nr. 14, S.38. Interessanterweise<br />

sind die entsprechenden Passagen über diese Dissonanz<br />

in der Stadtversammlung nicht in den Beschlussbüchern<br />

festgehalten.<br />

[13] Weißbuch Nr. 17, S. 42.


saargeschichte|n 25<br />

Sechs der damals insgesamt<br />

18 Gobelinsessel<br />

aus dem<br />

Saarlouiser Rathaus,<br />

die als eine Folge<br />

der gescheiterten<br />

Frankreichpolitik der<br />

Besatzungszeit für<br />

eine Weile aus der<br />

Stadt verschwanden<br />

waren. Die Aufnahme<br />

stammt aus der Zeit<br />

vor dem Ersten Weltkrieg.<br />

(LA SB, Bildersammlung<br />

HV)<br />

Die Beschlagnahmung der kostbaren Kulturgüter<br />

aus der französischen Gründungszeit von<br />

Saarlouis war eine in ihrer Deutlichkeit kaum zu<br />

überhörende politische Botschaft. Nachdem sich<br />

Bewohner und Offizielle der Stadt zuvor mit vielen<br />

kerndeutschen Worten stets gegen die französischen<br />

Werbungen gewehrt hatten, nachdem<br />

in Versailles über die nationale Zukunft des Landkreises<br />

de facto bereits entschieden war, zeigten<br />

die Militärs vor Ort, dass die Saarlouiser dann<br />

künftig auch nicht mehr mit der besonderen<br />

Unterstützung aus Paris zu rechnen hatten. Das<br />

war genau der Zeitpunkt, zu dem sich der Stadtverordnete<br />

Hector offenbar genötigt sah, aktiv zu<br />

werden und für eine neue Stadtpolitik einzutreten.<br />

Am 16. April, einen Tag nach der Konfiszierung der<br />

Gobelinstühle, erschien er bei Bürgermeister Gilles<br />

»und erklärte ihm, es sei an der Zeit, die von<br />

der Stadt zu vertretende Politik endlich anders<br />

zu orientieren. Er habe den Eindruck, daß nach<br />

den Vorgängen vom 17. März das Verhältnis zwischen<br />

Besatzung und Stadt getrübt sei.« Da Hector<br />

die unmittelbare Zukunft seiner Stadt noch<br />

für offen hielt, meinte er sogar, dass im deutschen<br />

Saarlouis noch starke Erinnerungen an die<br />

französische Zeit herrschten und dass, falls die<br />

Stadt an Frankreich fallen sollte, in 10 bis 15 Jahren<br />

niemand mehr merken würde, dass die Kommune<br />

einmal deutsch gewesen sei. Schließlich<br />

verlautbarte er gegenüber Bürgermeister Gilles<br />

sogar »die Überzeugung, daß Sie zum Nachteil<br />

von Saarlouis die Stadt regieren«. [14]<br />

Solche Worte waren im April 1919 natürlich ziemlich<br />

starker Tobak – sowohl, was den Frontalangriff<br />

gegen das Stadtoberhaupt betraf, als auch<br />

und vor allem hinsichtlich der Gewissheit, die<br />

preußisch-deutschen Nationalfarben von Saarlouis<br />

problemlos wieder gegen die blau-weißroten<br />

zurücktauschen zu können. In den darauffolgenden<br />

Tagen forcierte Hector sogar noch<br />

seinen politischen »Borderline«-Kurs, wollte bei<br />

Gilles die Einrichtung einer städtischen Kommission<br />

erreichen, die in Versailles antichambrieren<br />

sollte, um für alle der drei möglichen Zukunftsfälle<br />

von Saarlouis gewappnet zu sein. Im Fall<br />

der Rückkehr zu Frankreich sollte die Saarlouiser<br />

Abordnung die größtmögliche Unterstützung für<br />

die Stadt in Paris erwirken, im Falle der Neutralität<br />

für einen Anschluss an Frankreich werben (weil<br />

sonst Saarlouis binnen 15 Jahren wirtschaftlich<br />

ruiniert sei), im Falle des Verbleibs bei Deutschland<br />

gar nichts tun müssen. Die Beigeordneten<br />

der Stadt und ihr Bürgermeister waren, wie nicht<br />

anders zu erwarten, gegen die politische Strategie<br />

des Jakob Hector. Der sich daraufhin, so<br />

erzählt es der amtliche Bericht, »frostig« aus dem<br />

Rathaus entfernt habe. [15]<br />

Die plötzliche Vorliebe des Dr. Hector scheint<br />

ungeachtet aller zeitgenössischen und historischen<br />

Unkenrufe eher einer pragmatischen Einsicht<br />

in Notwendigkeiten und Möglichkeiten<br />

der Stadtpolitik als einem quasi libertären<br />

Umgang mit nationalen Gefühlen geschuldet<br />

gewesen zu sein. Trotz aller auch unter französischer<br />

Militärherrschaft riskant bleibender<br />

Exponierung in der nationalen Frage respektierte<br />

Hector in letzter Konsequenz eben doch<br />

die deutsche Staatsräson von Saarlouis, wollte<br />

sich ebenso selbstverständlich dem schicksalshaften<br />

Urteil von Versailles fügen, suchte nicht<br />

bedingungslos den Anschluss an Frankreich,<br />

trat auch bei den vielen Bemühungen franko-<br />

[14] Weißbuch Nr. 18, S. 44.<br />

[15] ebda.


Die Karte vom Cours<br />

de la Sarre von 1703<br />

zeigt die französische<br />

Saarprovinz mit ihrer<br />

»Hauptstadt«, der<br />

Festungsstadt Saarlouis<br />

(LA SB, Kartensammlung<br />

Hellwig)<br />

philer Kräfte bis zum Frühjahr 1919 nie namentlich<br />

in Erscheinung. Nicht einmal nach der<br />

Abfuhr, die er sich bei Bürgermeister Gilles und<br />

den Beigeordneten geholt hatte: Die Saarlouiser<br />

Abordnung, die am 19. April für eine Woche mit<br />

Unterstützung der Militärregierung nach Paris<br />

reiste, tat dies ohne den sich immer deutlicher<br />

Frankreich nähernden Arzt vom Großen Markt. [16]<br />

Dass diese Annäherung in einem reziproken Verhältnis<br />

zur Distanzierung von Gilles’ »deutschem«<br />

Konfrontationskurs (so dürfte ihn jedenfalls Hector<br />

gedeutet haben) geschah, ist mehr als wahrscheinlich.<br />

Ebenso wie die nicht durch Quellen zu<br />

stützende Vermutung, dass Hector bei der zweiten<br />

Saarlouiser Delegationsreise nach Paris, die<br />

nur wenige Tage nach der ersten stattfand, mit<br />

an Bord gewesen sein könnte.<br />

Jedenfalls kam es genau nach diesem zweiten<br />

Saarlouiser Bittgang gen Süden zu einem von<br />

Frankreich gewünschten Machtwechsel im Rathaus.<br />

Am 28. April hatte Dr. Gilles noch seine<br />

Protestnote gegen die Requierierung der Wandbehänge<br />

und eine entsprechende Eingabe an die<br />

deutsche Delegation in Versailles unterschrieben,<br />

wenige Tage später war er bereits abgesetzt und<br />

durch Dr. Hector kommissarisch ersetzt worden.<br />

Am 12. Mai wurde er gar gemeinsam mit<br />

dem Saarlouiser Landrat ins Rechtsrheinische<br />

ausgewiesen, folgte damit einigen unbeliebt<br />

[16] Weißbuch Nr. 19, S. 45f. Allerdings wird ebda., Anm. 2,<br />

auch erläutert, dass man sich bei einer Vorbesprechung<br />

dieser Reise darauf geeinigt hatte, dass nach den Vorkommnissen<br />

des 17. März kein Stadtverordneter unter<br />

den Delegierten sein solle.<br />

gewordenen Mitbürgern, die schon eine Woche<br />

zuvor die Reise ins unfreiwillige Exil hatten<br />

antreten müssen. Wie sehr der neue Bürgermeister<br />

Hector die Unterstützung Frankreichs<br />

besaß, wurde spätestens am nächsten Tag ganz<br />

klar. Am 13. Mai nämlich wurde er auch offiziell<br />

vom Stadtrat zum neuen Stadtoberhaupt<br />

gewählt, nachdem der in der Sitzung anwesende<br />

Leutnant Fabvier zuvor erklärt hatte, dass General<br />

Andlauer wünsche, dass Hector in dieses Amt<br />

gewählt würde. 20 von 22 anwesenden Stadtverordneten<br />

folgten diesem »Wunsch« und der<br />

gebürtige Saarlouiser Fabvier sprach danach<br />

seine Hoffnung aus, dass nun in der Stadt wieder<br />

mehr Ruhe einkehren möge. Jakob Hector nahm<br />

das Ergebnis der geheimen Abstimmung dankbar<br />

an. [17]<br />

Das gute Jahr, das Hector als Saarlouiser Bürgermeister<br />

verbrachte, war nicht gerade eines, in<br />

dem man die Stadt vom Ruhekissen aus regieren<br />

konnte. Erst recht nicht dann, wenn man wie Hector<br />

weiterhin auch seinem bürgerlichen Beruf als<br />

praktischer Arzt nachging. Da waren zum einen,<br />

wie die überlieferten Protokolle und Berichte<br />

von den Stadtverordnetenversammlungen ausweisen,<br />

die vielen elementaren Probleme, die die<br />

Kommune nach dem langen Krieg zu bewältigen<br />

hatte. Lebensmittelknappheit, Wohnungsnot,<br />

die mangelhaften Verhältnisse von Straßen und<br />

Infrastruktur, die Not der Gewerbetreibenden,<br />

verschärft durch die Folgen von Streiks und<br />

[17] Weißbuch Nr. 24, S.49. Dieser Bericht entspricht dem<br />

Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 13.<br />

Mai 19, vgl. Beschlussbuch 1913–1920, S. 540ff.


saargeschichte|n 27<br />

Teuerungskrise, schließlich auch noch ein Hochwasser<br />

im Januar 1920, das Teile der Stadt regelrecht<br />

absaufen ließ. Nicht zu vergessen die<br />

Umstellung auf Friedenswirtschaft und -politik,<br />

was erst im Frühjahr 1920 erreicht wurde,<br />

nachdem die Militärregierung auf Kreis- und<br />

Kommunalebene ihre Verwaltung aufgegeben<br />

hatte. Über all dem schwebte die große nationale<br />

Frage, die Hector offenbar stets in sozio-ökonomischer,<br />

in landes- und kommunalpolitischer<br />

Perspektive begriff. Und von der er daher glaubte,<br />

dass sie zum Wohle seiner Stadt am besten gelöst<br />

wäre, wenn sie im engen Schulterschluss mit<br />

dem französischen »Heimatland« von Saarlouis<br />

realisiert würde. In diesem Fall, so dachte Hector<br />

wohl tatsächlich, könnte es sogar gelingen, die<br />

Vorherrschaft des preußisch-protestantischen<br />

Saarbrücken zu beenden und Saarlouis von der<br />

heimlichen zur wirklichen Hauptstadt der neuen<br />

Saar-Lande zu machen.<br />

In Saarlouiser Optik ergab ein nationaler Salto<br />

rückwärts in die französische Vergangenheit<br />

genau deshalb einen Sinn, weil die erhoffte kapitale<br />

Zukunft so in der Geschichte ihre Legitimation<br />

erhielt: Schließlich war Saarlouis ja schon<br />

zwischen 1680 und 1815 die »Hauptstadt« eines<br />

französisch dominierten Saarraumes gewesen.<br />

Exakt auf dieser Basis argumentierte auch eine<br />

Denkschrift sowie ein Begleitschreiben, die Hector<br />

wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf<br />

den Weg nach Paris bringen ließ. »Diese Stadt«,<br />

so heißt es in dem Schreiben vom 24. Juli 1919,<br />

»die nach Absicht ihres Gründers die gegebene<br />

Hauptstadt der Saarprovinz war, steht Gefahr,<br />

durch die unbestreitbar preußische Stadt Saarbrücken<br />

aus ihren Rechten verdrängt zu werden.«<br />

Deswegen baten Bürgermeister und Stadtverordnete<br />

in der Denkschrift die »hohe Regierung«<br />

– Adressat war die damals erst noch zu schaffende<br />

Regierungskommission – »Saarlouis zum<br />

Sitz des Regierungsausschusses und des obersten<br />

Gerichtshofes des neuen Saarstaates zu<br />

machen.« Außerdem wünschten die Saarlouiser,<br />

auch Bischofssitz, (französische) Garnisonsstadt,<br />

Verkehrsknotenpunkt und schließlich Sitz einer<br />

neu zu errichtenden technischen Fach(hoch)<br />

schule zu werden. Wäre all dies wie von Hector<br />

1920 gewünscht Realität geworden,<br />

würde wahrscheinlich auch das Saarland<br />

von heute ein anderes Gesicht<br />

haben. [18]<br />

Es war also nicht gerade wenig, was<br />

man sich da an der mittleren Saar für<br />

die staatliche Zukunft mit der wohlwollenden<br />

Unterstützung aus Paris<br />

erhoffte. Um der Sache den nötigen Nachdruck<br />

zu verleihen, wurde deshalb auch die Übergabe<br />

der Denkschrift in Versailles beziehungsweise<br />

Paris zur Chefsache erklärt. Hector stand selbst<br />

an der Spitze einer kleinen Saarlouiser Delegation,<br />

um Premierminister Clemenceau und seinem<br />

engsten Mitarbeiter auf der Friedenskonferenz,<br />

André Tardieu, am 1. August 1919 persönlich die<br />

Wünsche der Stadt Louis’ XIV. darzulegen. [19]<br />

Die Eisenbahnfrage, die auf der Saarlouiser Agenda<br />

nicht zuletzt wegen der gewünschten Direkt-<br />

[18] Das Begleitschreiben zitiert nach: N.N., Prozeß Dr. Hector<br />

gegen die »Saarbrücker Zeitung«, in: SZ v. 23. März<br />

23; ein gedrucktes Exemplar der Saarlouiser Denkschrift<br />

(»Die Zukunft der Stadt Saarlouis«) in: LA SB, NL<br />

Schneider 239.<br />

[19] Nach Schu, Chronik (wie Anm. 1) , S. 109, verweigerten<br />

die (meisten) Stadtverordneten dem Bürgermeister die<br />

Begleitung anlässlich der Übergabe in Paris. Das deutet<br />

bereits auf das Zerwürfnis zwischen Versammlung<br />

und Hector hin, das im Prozess von 1923 dann in aller<br />

Öffentlichkeit dargelegt wurde.<br />

Ausweisung von Saarländern<br />

durch die<br />

französische Militärverwaltung,<br />

hier in<br />

Sulzbach im Sommer<br />

1919. (LA SB, BSlg HV)<br />

Der französische<br />

Premier- und Kriegsministers<br />

Georges<br />

Clemenceaus, Widerpart<br />

des amerikanischen<br />

Präsidenten<br />

Wilson auf der Versailler<br />

Konferenz, ist<br />

mit seinem Diktum<br />

von den »150.00<br />

Saarfranzosen« auch<br />

in die saarländische<br />

Geschichte eingegangen.<br />

(wiki commons)


verbindung nach Paris einen besonderen Platz<br />

einnahm, wurde auf einen entsprechenden französischen<br />

Vorschlag hin sogar mit einer eigenen<br />

Denkschrift kommuniziert; auch das ein sicheres<br />

Indiz für den kurzen Draht, der damals zwischen<br />

der saarländischen Möchtegern- und der französischen<br />

Hauptstadt existierte. Um das große Ziel<br />

zu erreichen, hängte sich die Stadtführung unter<br />

Hector ziemlich weit aus dem nationalen Fenster,<br />

betonte nicht nur ständig die historische Verbindung<br />

zwischen Paris und Saarlouis, sondern<br />

ließ in der französischen Version der Denkschrift<br />

auch Sätze fallen, die so in der Urschrift nie zu<br />

lesen waren und die ganz klar eine viel weitergehende<br />

Liaison für die Zukunft assoziierten. Zu<br />

klar wurden damit die damals gültigen nationalen<br />

»Grenzwerte« überschritten, mit Folgen, die<br />

Jakob Hector schon bald zu spüren bekommen<br />

sollte.<br />

Hectors Jahr als Bürgermeister war das Jahr, in<br />

dem sich die Zukunft des Saargebietes und diejenige<br />

von Saarlouis konkretisierten. Und in beiden<br />

Fällen geschah das in einer Richtung, die<br />

der Pachtener nicht unbedingt gewünscht hatte,<br />

gegen die sich seine grenzüberschreitenden<br />

politischen Aktivitäten eigentlich gerichtet hatten.<br />

Im Sommer 1919 war es das Saarstatut des<br />

Versailler Vertrages, das ihn zur Intervention in<br />

Paris motiviert hatte, im Januar 1920 das Inkrafttreten<br />

des Statuts und der Regierungsantritt der<br />

Mandatsverwaltung, die ihn noch einmal zur<br />

Grenzüberschreitung animierten. Fast schon ein<br />

wenig verzweifelt klang es am 15. Januar 1920 –<br />

zu einem Zeitpunkt, da die Würfel längst gefallen<br />

waren –, wenn in einem handschriftlichen Brief<br />

Hectors, den vorgeblich alle Saarlouiser Stadtväter<br />

an den »Herrn Ministerpräsidenten und<br />

Kriegsminister« Clemenceau richteten, wenn<br />

also scheinbar alle Saarlouiser Ratsherren ihrer<br />

»sicheren Hoffnung Ausdruck (gaben), daß Frankreich<br />

ihrer Stadt, die über ein Jahrhundert lang<br />

wegen ihres Ursprungs und ihrer Zuneigung zu<br />

Frankreich von Preußen boykottiert wurde, helfen<br />

wird, wieder in ihre historischen Rechte eingesetzt<br />

zu werden.« Wenn in einem an die französische<br />

Regierung adressierten Brief darum<br />

gebeten wird, Saarlouis dabei zu helfen, wieder<br />

in seine historischen Rechte eingesetzt zu werden,<br />

dann war das zweifelsohne mehr als eine<br />

geschichtliche Reminiszenz, und entsprechend<br />

eindeutig wurde dieser Hilferuf später auch von<br />

jener Seite verstanden, die alles andere als eine<br />

Annäherung an Frankreich wünschte. [20]<br />

[20] Zitat nach »Prozeß Dr. Hector«, a.a.O. (wie Anm.18).<br />

Immerhin hat die Regierungskommission unter<br />

ihrem französischen Präsidenten Victor Rault<br />

das Saarlouiser Flehen insoweit erhört, als der<br />

im Versailler Vertrag für das Saargebiet vorgesehene<br />

Oberste Gerichtshof tatsächlich in die<br />

alte Festungsstadt kam. Einen Tag nach ihrem<br />

Amtsantritt, am 27. Februar 1920, wurde diese<br />

Entscheidung der Reko publiziert, und natürlich<br />

wurde das in der Saarlouiser Öffentlichkeit<br />

auch als Punktsieg gegen den preußischen Rivalen<br />

aus Saarbrücken gefeiert.[21] Gleichwohl war<br />

das höchstens ein Trostpflaster im Vergleich zu<br />

dem Programm, das in Hectors Denkschrift für<br />

die Zukunft der Stadt des Sonnenkönigs entworfen<br />

worden war. Von einem Regierungs- oder<br />

Bischofssitz blieb Saarlouis weit entfernt, und<br />

auch eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen<br />

Situation war durch französische Protektion<br />

nicht zu erwarten. Vielleicht hat dieses<br />

magere Ergebnis mit dazu beigetragen, dass sich<br />

der lokale Widerstand gegen Hectors riskanten<br />

Kurs just seit diesem Zeitpunkt formieren und<br />

bald lautstark artikulieren konnte. Allerdings<br />

konnte sich die volle Wucht des kerndeutschen<br />

Nationalgefühls erst gegen den Bürgermeister<br />

und späteren Minister entladen, als die französische<br />

Militärmacht langsam an Bedeutung verlor<br />

– und Stück für Stück bekannt wurde, wie sehr Dr.<br />

Hector mit den Franzosen 1919/20 geflirtet hatte.<br />

Rücktritt kommt vor dem Fall<br />

Der politische Fall des Dr. Hector nahm bereits Formen<br />

an, als sein politischer Aufstieg noch bevorstand.<br />

Nur durch die Gerichtsverhandlungen von<br />

1923 wissen wir überhaupt, was da wie zu Beginn<br />

des Jahres 1920 seinen Lauf nahm und warum es<br />

schließlich nicht mehr zu stoppen war. Das Verhängnis<br />

begann mit den beiden Begleitschreiben<br />

zu den Pariser Eingaben, die Hector ohne Wissen<br />

und Wollen der gewählten Stadtverordneten<br />

schrieb oder verfassen ließ. Letztlich fatal waren<br />

für ihn außerdem seine mangelhaften, eigentlich<br />

kaum existenten Französischkenntnisse, die<br />

ihn zum einen von kompetenten Übersetzern<br />

abhängig, zum anderen die persönliche Kontrolle<br />

über das Ergebnis der Übersetzung unmöglich<br />

machten. Schon von daher gab es zu viele Mitwisser<br />

von einem Unternehmen, das zumindest<br />

im Saargebiet eigentlich als undercover-Aktion<br />

angelegt war. Wenigstens zwei Übersetzerinnen<br />

waren allein für das zweite Schreiben im Spiel, und<br />

außerdem gab es da auch noch die Stenotypistin<br />

[21] Vgl. den Leitartikel »Saarlouis – Saarbrücken« in der<br />

Saarzeitung vom. 13. März 20.


saargeschichte|n 29<br />

Auch die Sozialisten<br />

im Reich protestierten<br />

energisch gegen<br />

den »Raub des deutschen<br />

Saargebiets«,<br />

hier auf einem Plakat<br />

des »Werbedienstes<br />

der sozialistischen<br />

Republik« von 1919.<br />

(Sammlung Gerhard<br />

Paul)<br />

Frau Jost, die im Prozess 1923 aussagte, dass es<br />

»empörend für eine deutsche Frau (gewesen<br />

sei), solche Briefe schreiben zu müssen«. [22]<br />

Die Empörung über »solche Briefe«, die sich für<br />

einen »deutschen Saarlouiser« nicht gehörten,<br />

teilten wohl noch so einige Mitbürger der Stadt.<br />

Sogar vor der unmittelbaren Umgebung des<br />

Bürgermeisters machte sie nicht halt, schuf<br />

undichte Stellen im Zentrum der städtischen<br />

Macht. Aus dem Schreibtisch des Bürgermeisters<br />

wurden jedenfalls irgendwann zwischen Januar<br />

und März 1920 einige delikate Briefe gestohlen,<br />

darunter auch die beiden hier angezeigten<br />

Begleitschreiben, das eine sogar in Hectors<br />

[22] Der Hectorprozeß. Fünfter Verhandlungstag, in: SZ v. 6.<br />

März 23.<br />

Originalhandschrift. Und diese beiden »Briefbomben«<br />

landeten dann auf unbekanntem Wege<br />

ausgerechnet in den Händen des jungen Joseph<br />

Goergen, damals Jurastudent und Mitarbeiter<br />

eines juvenilen Redaktionsteams der Saarzeitung,<br />

die ebenso forsch die Sache des katholischen<br />

Zentrums wie die eines kerndeutschen<br />

Saargebiets vertrat.<br />

Der ältere Bruder von Joseph Goergen, auch er<br />

Jurist, war als Justitiar von Saarlouis pikanter<br />

Weise die rechte Hand von Dr. Hector und Autor<br />

der deutschen Fassung jener Denkschrift, die<br />

im Sommer 1919 zwar an die kommende Saarregierung<br />

adressiert war, recht eigentlich aber<br />

Augen und Ohren der französischen Regierung<br />

erreichen sollte. Honi soit qui mal y pense, aber<br />

in diesem Fall lag das Schlechte einfach zu nahe,


Kleinanzeigen<br />

und redaktionelle<br />

Erklärung aus der<br />

Saarlouiser Saar-Zeitung<br />

vom April 1920.<br />

weswegen der ältere Goergen quasi selbstverständlich<br />

in Verdacht geriet, die kompromittierenden<br />

Briefe gestohlen und seinem jüngeren<br />

Bruder zugespielt zu haben. Er mochte sich gegen<br />

diesen Verdacht noch so sehr wehren (und später<br />

im Prozess auch unter Eid beschwören, dass er die<br />

Schriften nicht geleakt hatte), der Bürgermeister<br />

und die französische Militärregierung glaubten<br />

ihm offenbar nicht, und so wurde der ältere<br />

Goergen nicht nur seinen Job, sondern für sieben<br />

Monate auch seine Aufenthaltsgenehmigung<br />

im Saargebiet los. Eine Ausweisung, die die Zahl<br />

von Hectors Gegenspielern aber im Endeffekt<br />

erhöhte – statt sie wie beabsichtigt zu reduzieren.<br />

Vielleicht war auch die politische Naivität<br />

eines Nebenberufspolitikers dafür verantwortlich,<br />

wenn Hector nicht bedacht hatte, dass die<br />

gefährlichsten Gegner oft die werden, die man<br />

aus dem gemeinsamen Haus vertrieben hat.<br />

Außer Frage steht jedenfalls, dass Hectors politische<br />

Demontage in der medialen Öffentlichkeit<br />

stattfand, ausgetragen vor allem als Zeitungskrieg<br />

zwischen dem frankophilen Saarlouiser<br />

Journal und der deutschen Saarzeitung von<br />

Redakteur Goergen. Im März oder April 1920, so<br />

gab es Hector im Prozess zu Protokoll, habe Goergen<br />

in zwei Artikeln die Pariser Briefe herangezogen<br />

und ihm damit – will wohl sagen: mit<br />

deren Veröffentlichung – gedroht. Der Redakteur<br />

meinte hingegen, er habe keineswegs gedroht,<br />

sei vielmehr von Hector als »alldeutscher Hetzer«<br />

beschimpft worden und habe lediglich am<br />

Ende des zweiten Artikels konstatiert, dass er im<br />

Gegensatz zum Bürgermeister eine weiße Weste<br />

habe, die nicht durch zwei nach Paris geschickte<br />

Briefe befleckt sei. [23] Es ist nicht ganz einfach,<br />

die einzelnen Stationen einer langsam eskalierenden<br />

Auseinandersetzung zu benennen. Oft<br />

wurden die Artikel in der damaligen Zeit nicht<br />

namentlich gekennzeichnet, wurden Argumente<br />

literarisch-metaphorisch sublimiert oder Stellvertreterkriege<br />

geführt, indem man einen anonymen<br />

Leserbrief (nach dem Muster: Eingesandt –<br />

Ein Rodener) zum Ausgangspunkt für die jeweils<br />

[23] Prozeß Dr. Hector gegen »Saarbrücker Zeitung«, wie<br />

Anm. 18.<br />

nächste Eskalationsstufe nutzte. Deutlich nachvollziehbar<br />

ist jedoch, dass die nationale Tonlage<br />

auf der »deutschen« Presse-Seite seit Ende der<br />

Militärherrschaft insgesamt strammer wurde<br />

und nationale Abweichungen jetzt offen attackiert<br />

werden. Man positioniert sich nun eindeutig,<br />

vor allem in Saarlouis, das wegen seiner<br />

französischen Geschichte im Reich in den Ruf der<br />

»Unzuverlässigkeit« gekommen sei. In dem allerdings<br />

nur einige »Dunkelmänner« und »räudige<br />

Schafe« innerhalb der »Herde« guter Deutscher<br />

für Unruhe oder gar für die »Anstiftung zum<br />

Landesverrat« gesorgt hätten, wie er namentlich<br />

in den erschlichenen Anträgen zur Naturalisierung<br />

von Saarlouisern greifbar geworden sei.<br />

»Die Elemente aber«, so urteilt die Saarzeitung<br />

am 19. April 1920, »die zum Landesverrat verleitet<br />

haben, verdienen die größte Verachtung<br />

aller anständigen Deutschen. Sie müßten aus der<br />

deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen<br />

werden, wenn sie sich nicht schon selbst ausgeschlossen<br />

haben. An alle gutgesinnten deutschen<br />

Saarlouiser aus Stadt und Land richten wir<br />

die dringende und herzliche Bitte: Schließt euch<br />

zusammen zu einer heiligen Gemeinschaft, um<br />

Euer edelstes Gut, die deutsche Nationalität … zu<br />

schützen. Ihr, die Ihr Deutsche seid und bleiben<br />

wollt, pflanzt die Liebe zum Vaterland in die Herzen<br />

Eurer Kinder …« [24]<br />

Im Klima dieser nationalen Polarisierung von<br />

Saarlouis wurde auch die Kritik am Bürgermeister,<br />

die zuvor in der Regel nur »mitgedacht« worden<br />

war, mehr oder weniger konkret. Abermals<br />

war der Auslöser ein Eingesandt, eine Zuschrift,<br />

für deren Form und Inhalt die Redaktion nur<br />

die »preßgesetzliche Verantwortung« zu über-<br />

[24] Der Tiefstand des nationalen Geistes, in: Saarzeitung Nr.<br />

90 v. 19. April 20; die »Dunkelmänner« und »räudigen<br />

Schafe« sowie die »nationale Unzuverlässigkeit« nach<br />

einer am 31. März 20 abgedruckten Zuschrift: »Saarlouis‘<br />

Ruf in Wahrheit und Dichtung«. Die vom Autor<br />

über sich selbst in dem Text gemachten Angaben könnten<br />

darauf hindeuten, dass hinter ihm der ehemalige,<br />

ausgewiesene Saarlouiser Bürgermeister Dr. Gilles<br />

steckte – und dass seine implizite Kritik an den »Dunkelmännern«<br />

(auch) seinem Nachfolger Hector galt.


saargeschichte|n 31<br />

Die erste und einzige<br />

Meldung vom Rücktritt<br />

Jacob Hectors als<br />

Saarlouiser Bürgermeister<br />

in der Saar-<br />

Zeitung vom 29. Mai<br />

1920.<br />

nehmen hatte. Der Briefeschreiber kritisiert darin<br />

zunächst lediglich den etwas despektierlichen<br />

Ton gegenüber den Rodener Stadtverordneten in<br />

der Ratsversammlung und die »Tatsache«, dass<br />

der Stadtteil gegenüber der Stadtmitte in der<br />

Kommunalpolitik stets vernachlässigt werde.<br />

Bei der Gelegenheit glaubt er aber auch darauf<br />

hinweisen zu müssen, dass es Zeit werde, »daß<br />

die Stadt wieder einen Berufsbürgermeister<br />

bekommt, der mehr Zeit hat, um nach dem<br />

Rechten zu sehen.« Und der überhaupt als Verwaltungsfachmann<br />

professioneller im Bürgermeisteramt<br />

arbeiten könne, als es der gelernte<br />

Arzt Hector tue. Im Übrigen habe Bürgermeister<br />

Hector »doch bestimmt erklärt, am 1. April sein<br />

Amt niederzulegen«. [25]<br />

Tatsächlich warfen die ersten Kommunalwahlen<br />

im Saargebiet Ende Mai 1920 bereits ihre Schatten<br />

voraus, tatsächlich unterschrieb Hector oft<br />

als »kommissarischer Bürgermeister«, war also<br />

das Statement des offenkundig eingeweihten<br />

»Rodeners« zum angekündigten Rücktritt Hectors<br />

sicher nicht aus der Luft gegriffen. Gleichwohl<br />

wurde aus der Normalität eines kommunalen<br />

Amtswechsels im Furor des nationalen<br />

Bekenntniseifers ein lokales Politikum. Hector<br />

habe in der Stadtverordnetenversammlung das<br />

Rodener Eingesandt zur Debatte gestellt, habe<br />

sich über die »Haß und Zwietracht« verbreitende<br />

Zentrumspresse, namentlich die Redaktion der<br />

Saarzeitung beklagt, habe schließlich die Vertrauensfrage<br />

gestellt, die nach namentlicher<br />

Abstimmung einstimmig für ihn ausfiel. Ein deutlicher<br />

Hinweis, wie prekär die Situation im Saarlouiser<br />

Rathaus mittlerweile war. Und die Saarzeitung,<br />

höchstwahrscheinlich in Person Joseph<br />

Goergens, goss weiter Öl ins Feuer. Eine öffentliche<br />

Stellungnahme erwarte die Zeitung nach den<br />

Anschuldigungen des Bürgermeisters, sie fahre<br />

im Gegensatz zu diesem nicht auf einem Karren<br />

»der je nach der politischen Konjunktur Berliner<br />

oder Pariser Richtung« einschlage, habe »Zeit<br />

und Nerven und vor allem keine Veranlassung<br />

unsere schwer belastenden Karten vorzeitig aus-<br />

zuspielen«. Der bedrohlichen Anspielung auf die<br />

gelakten Paris-Papers folgte ein verbales Finale,<br />

das man aus heutiger Perspektive fast wie eine<br />

finstere Prophezeiung auf das Jahr 1935 lesen<br />

kann. Der Geist der nationalen Unzuverlässigkeit,<br />

so heißt es da, »wird eines Tages, wenn der<br />

Gerechtigkeit und vor allem dem Recht, das der<br />

Welt innewohnt und sich letzten Endes doch<br />

Bahn brechen muß, zur Rechenschaft gezogen<br />

werden; er wird, wenn einmal das sogenannte<br />

Selbstbestimmungsrecht zur Wirksamkeit werden<br />

sollte, seinen Verrat am Volkstum bitter zu<br />

büßen haben.« [26]<br />

Wenige Tage nach der Veröffentlichung dieser<br />

Zeilen war Jacob Hector als Bürgermeister<br />

zurückgetreten. In wenigen, allerdings sehr fett<br />

gedruckten Buchstaben verkündete die Saarzeitung<br />

am 29. Mai in ihrem Lokalteil: »Herr<br />

k. Bürgermeister Dr. Hector hat, wie uns mitgeteilt<br />

wird, sein Amt mit dem 28. Mai niedergelegt.«<br />

Danach herrschte erst einmal langes<br />

Schweigen in Saarlouis: in der Saarzeitung, über<br />

Dr. Hector und über die frankophilen Affären, die<br />

man mit ihm in Verbindung brachte. Zum nächsten<br />

Bürgermeister von Saarlouis wurde nach<br />

den Kommunalwahlen vom 11. August 1920 Dr.<br />

Johann Josef Latz gekürt. Er bekleidete dieses<br />

Amt bis in das Jahr 1936 und war danach noch<br />

neun Jahre lang Stadtoberhaupt in Sulzbach. An<br />

nationaler Zuverlässigkeit, wie man sie in den<br />

saarländischen 1920ern verstand, hat es ihm<br />

bestimmt nicht gefehlt.<br />

Plötzlich Minister<br />

Als Jacob Hector nach den Turbulenzen im Frühjahr<br />

1920 seinen Platz im Saarlouiser Rathaus<br />

räumte und in den einstweiligen politischen<br />

Ruhestand trat, hätte er wohl selbst nicht vermutet,<br />

schon wenige Monate später noch viel<br />

stärker im Rampenlicht des jungen »Saarstaats«<br />

zu stehen. Denn der Posten des saarländischen<br />

Ministers in der Regierungskommission, den<br />

Hector am 20. September 1920 übernehmen sollte,<br />

war Ende Mai gerade einmal seit vier Mona-<br />

[25] Eingesandt, in: Saarzeitung v. 20. Mai 20.<br />

[26] Zu dem Angriff des Bürgermeisters Dr. Hector, in: Saarzeitung<br />

v. 23. Mai 20.


Dieses Entree<br />

im Gebäude des<br />

heutigen Saarbrücker<br />

Landgerichtes<br />

passierten<br />

Minister, Beamte<br />

und Mitarbeiter<br />

der Regierungskommission<br />

auf<br />

dem Weg zu ihren<br />

Amtsstuben. (LA SB,<br />

Bildersammlung)<br />

ten besetzt von Alfred von Boch. Einem alten<br />

Bekannten aus Saarlouis also, der bis zum Jahresbeginn<br />

noch als Landrat des Kreises amtiert<br />

hatte und dort, wenn die Nachrichten von seiner<br />

Verabschiedung zutreffen, durchaus beliebt<br />

war. Es war wohl alles andere als ein Zufall, dass<br />

die ersten drei saarländischen Minister in der<br />

Reko aus Saarlouis stammten. Zwar wurden die<br />

Kommissare offiziell vom Völkerbundrat ernannt.<br />

Aber gerade in den frühen Zwanzigern war man<br />

dort offenkundig bereit, den französischen Wünschen<br />

nach Hegemonie in diesem Gremium zu<br />

entsprechen. Ein Kandidat aus der französischsten<br />

Stadt des Saarlandes passt jedenfalls sehr<br />

gut in diese Konstellation, die mit dem mächtigen<br />

Präsidenten Rault, dem seit Jahrzehnten in<br />

Paris lebenden Dänen Moltke-Huitfeld und dem<br />

Belgier Jaques Lambert ohnehin mehr als frankophil<br />

eingefärbt war. [27]<br />

Aber schon bei dem Wohlfahrts- und Landwirtschaftsminister<br />

von Boch wurde, wie bei seinen<br />

Nachfolgern dann auch, deutlich, dass die<br />

saarländischen Vertreter in der Reko keineswegs<br />

willfährige Mitspieler in einer von französischen<br />

Interessen gelenkten Saarpolitik sein<br />

wollten. Zum frühen Bruch der ersten Kommission<br />

kam es anlässlich der Beschlüsse über das<br />

saarländische Beamtenstatut, die erste große<br />

Bewährungsprobe der Reko seit ihrem Amtsantritt<br />

im Februar. Es ging bei dem Streit zwi-<br />

[27] Zur französischen Reko-Macht der ersten Jahre vgl.<br />

Zenner, Parteien und Politik (wie Anm. 1), S. 40f..<br />

schen Regierung und (deutschen) Beamten um<br />

soziale, um Prestige- und nicht zuletzt um politisch-nationale<br />

Fragen, ein Paket, über das man<br />

sich bis August 1920 nicht einig werden konnte,<br />

so dass am 6. August ein großer Streik fast<br />

aller saarländischer Beamten begann. Rault verhängte<br />

den Ausnahmezustand, ließ das Militär<br />

aufmarschieren, es folgte eine Woche mit den<br />

bis dahin schlimmsten Zusammenstößen im<br />

Saargebiet, mit Verhaftungen, Ausweisungen,<br />

Entlassungen. Am Tag des Streikbeginns reichte<br />

von Boch seine Demission beim Generalsekretär<br />

des Völkerbundes ein. Schon in der an diesem<br />

6. August 1920 stattfindenden Sitzung der<br />

Regierungskommission fehlte von Boch, sogar<br />

ohne Angabe von Gründen. Der saarländische<br />

Stuhl am Regierungstisch sollte damit für mehrere<br />

Wochen leer bleiben, ausgerechnet in dieser<br />

sehr turbulenten Zeit. [28]<br />

Zu viert und ohne Saarländer musste also die<br />

Reko die erste große Staatskrise durchfechten,<br />

aber vielleicht war die lange Vakanz der französischen<br />

Kommissionsführung gar nicht so unrecht.<br />

Da erst in der dritten Septemberwoche im Völkerbundrat<br />

über die Akzeptanz von Bochs Demission<br />

entschieden werden konnte und dieser wiederum<br />

nur dann selbst einen Ersatzmann benennen<br />

durfte, wenn die Gründe für sein Fernbleiben von<br />

seinen vier Kollegen akzeptiert wurden, blieben<br />

die »Internationalen« bis zur Sitzung vom 11. September<br />

unter sich. Am 25. August endlich einigte<br />

sich das Gremium darauf, dass von Bochs Fernbleiben<br />

wegen »Krankheit und aus persönlichen<br />

Gründen« akzeptabel sei und man deshalb bis zur<br />

Entscheidung des Völkerbunds mit dem von ihm<br />

benannten »Übergangsminister« arbeiten könne.<br />

Die Wahl des ehemaligen Landrats fiel nicht etwa<br />

auf einen Saarlouiser Landsmann, sondern auf<br />

den Eppelborner Bartholomäus Koßmann, ehemaliger<br />

Reichstagsabgeordneter, ehemaliges<br />

Mitglied der Weimarer National- und der preußischen<br />

Verfassungsgebenden Versammlung, einflussreicher<br />

Politiker des Zentrums. [29]<br />

[28] Zum Beamtenstreik Zenner, a.a.O., S. 50f. und den Quellentext<br />

in: Weißbuch, Nr. 143, S.213–215. Exemplarisch<br />

die Denkschrift über die ungünstige finanzielle Lage<br />

der vom Deutschen Reich, Preußen und Bayern in die<br />

Dienste der Saarregierung beurlaubten Beamten, in: LA<br />

SB, EBD 550.<br />

[29] Vgl. zu den entscheidenden Sitzungen der Reko: Commission<br />

de Gouvernement de la Sarre, Procès-verbeaux<br />

vom 6., 7., 17. und 25. August sowie vom 11. September<br />

1920, in: LA SB, NL Koßmann 1, S. 99; 112; 116; 119; 195.


saargeschichte|n 33<br />

Die zweite<br />

Regierungskommission<br />

des Saargebiets<br />

mit Hectors Nachfolger<br />

Julius Land<br />

(o.l.) sowie sitzend<br />

Präsident Victor Rault<br />

(links) und George<br />

Washington Stephens<br />

(r.); stehend<br />

neben Land Graf von<br />

Moltke-Huitfeldt und<br />

Jacques Lambert. (LA<br />

SB, BSlg)<br />

Obwohl Koßmann schon 1920 ein, wenn nicht das<br />

politische Schwergewicht des Saargebiets war<br />

und er gerade für das Wohlfahrtsministerium der<br />

geradezu prädestinierte Ressortchef gewesen<br />

wäre, blieb er in der Regierungskommission<br />

zunächst eine politische Eintagsfliege. Historiker<br />

Koßmanns haben sich bis heute immer wieder<br />

gefragt, warum der ausgewiesen erfahrene<br />

Sozialpolitiker 1920 aus den Höhen der Berliner<br />

Luft freiwillig in die verräucherten Niederungen<br />

des Saargebiets zurückgekehrt ist, um dort als<br />

Oberregierungsrat in eine Ministerialverwaltung<br />

einzutreten, deren Chef er eigentlich sein konnte.<br />

Vielleicht war das zumindest aus saarländischdeutscher<br />

Perspektive aber ganz anders geplant<br />

gewesen, stand der im Juni aus der Nationalversammlung<br />

ausgeschiedene Koßmann im August<br />

1920 bereits Gewehr bei Fuß, um von Boch dauerhaft<br />

zu beerben. Immerhin sollte es beim Ausscheiden<br />

Hectors drei Jahre später ja dann genau<br />

so kommen, dass der vom demissionierten Minister<br />

benannte Ersatzmann zum echten Nachfolger<br />

aufstieg. Auch Koßmanns biographische Daten<br />

sprechen dafür, dass er nicht unbedingt freiwillig<br />

als Subalterner ins Wohlfahrtsressort einzog.<br />

Exakt drei Tage, nachdem seine Nominierung<br />

zum Ersatzmann Bochs von der Reko abgenickt<br />

worden war, verlegte er seinen langjährigen<br />

Wohnsitz von Neunkirchen nach Saarbrücken. Im<br />

Übrigen soll das Verhältnis zwischen Koßmann<br />

und seinem Minister Hector später ziemlich frostig<br />

gewesen sein, am Ende sei der Eppelborner<br />

sogar regelrecht kalt gestellt gewesen. Und als<br />

1922 Koßmanns Wahl zum ersten Präsidenten des<br />

Landesrats anstand, war Hector der einzige in der<br />

Reko, der nicht für seinen Ex-Mitarbeiter votierte:<br />

Auch das könnte nicht nur im politischen Dissens,<br />

sondern ebenso in der Konkurrenzsituation von<br />

1920 begründet gewesen sein. [30]<br />

[30] Sitzung der Reko mit dem Ersatzmann Koßmann am 11.<br />

September 20, in NL Koßmann 1, S. 119–124; zum »kaltgestellten«<br />

Koßmann vgl. Philipp W. Fabry, Bartholomäus<br />

Koßmann. Treuhänder der Saar 1924–1935, Merzig<br />

2011, S.67; Reinhold Bost, Bartholomäus Koßmann.<br />

Christ – Gewerkschaftler – Politiker 1883–1952, Blieskastel<br />

2002, S. 178. Nach den Erkenntnissen aus den<br />

Reko-Akten müsste über die Umstände des Wechsels<br />

von Koßmann aus Berlin nach Saarbrücken neu nachgedacht<br />

werden. Vgl. auch meinen Beitrag in den saargeschichten<br />

3/19, hier v.a. S. 19. – Zur Designation Koßmanns<br />

zum Landesratspräsidenten am 11. Juli 22, vgl. NL<br />

Koßmann 25, S. 192f.


Paris gegangen war. Mit machiavellistischem<br />

Auge betrachtet konnte es sogar von Nutzen<br />

sein, mit Hector einen Saarländer im Kabinett<br />

zu haben, der wegen seiner heiklen Aktionen als<br />

Bürgermeister in seiner Heimat auf unsicherem<br />

Terrain stand. Jedenfalls lobte Präsident Rault<br />

bei Hectors Amtseinführung am 23. September<br />

1920, dass »les circonstances de ce choix …<br />

des plus favorables« seien und dass »sa désignation<br />

répondait à leur désir«, also der Wunsch<br />

aller Minister der Reko gewesen sei – soweit sie<br />

die französischen Interessen im Gremium unterstützten,<br />

möchte man hinzufügen. [31]<br />

Die zweieinhalb Jahre, die Jacob Hector als<br />

Minister für Wohlfahrt und Landwirtschaft in<br />

der Regierungskommission verbrachte, waren<br />

zweifelsohne der Höhepunkt seiner politischen<br />

Karriere. Sie umfassen aber auch die Zeit zwischen<br />

Beamten- und Hunderttagestreik, die oft<br />

konfliktreiche Phase also, in der das Saargebiet<br />

und seine internationale Mandatsregierung<br />

»das Laufen« lernten, eine Zeit also, aus der man<br />

viel darüber erfahren könnte, wie die Implementierung<br />

des neuen Systems funktionierte – und<br />

inwiefern der Saarländer in diesem System die<br />

Das Schreiben aus<br />

Hectors Ressort zum<br />

Übergang der Heilanstalt<br />

Homburg in<br />

staatliche Verwaltung<br />

markiert den Beginn<br />

des Universitätsklinikums.<br />

(LA SB, LRA<br />

IGB).<br />

Neun Tage nach Koßmanns erstem und für einige<br />

Jahre letzten Auftritt am Saarbrücker Regierungstisch<br />

fand in Paris eine Sitzung des Völkerbundrates<br />

statt. Monsieur Caclamanos, der Vertreter<br />

Griechenlands, legte dabei den Bericht über die<br />

Regierungskommission des Saargebietes vor, in<br />

dem er die Demission von Bochs und die Nachfolgerfrage<br />

thematisierte. Letztbezüglich habe er<br />

»Erkundungen eingezogen und einige mögliche<br />

Kandidaten erwogen. Ich bin stehen geblieben<br />

bei dem Namen des Dr. Hector, ehemals Bürgermeister<br />

von Saarlouis, wo er seinen Beruf als<br />

Arzt ausübt.« Caclamanos’ Statement zu Hector<br />

klang nicht unbedingt wie ein unwiderstehliches<br />

Plädoyer für den fraglos besten Kandidaten –<br />

zumal mit Koßmann ein unzweifelhaft höher<br />

qualifizierter Saarländer schon auf der Matte<br />

stand. Man kann sich also sehr leicht vorstellen,<br />

dass Harr Calcamanos bei seiner Kandidatensuche<br />

tatkräftige Unterstützung vor allem in<br />

eine gewünschte Richtung erhielt. Und dass die<br />

französischen Protektoren dieser Richtung sich<br />

noch lebhaft daran erinnerten, wie sehr Dr. Hector<br />

in den Nachkriegsjahren auf Tuchfühlung mit<br />

[31] Bericht über die Sitzung des Völkerbundrates v. 20. September<br />

20 nach SDN, Journal Officiel 1, 7, S. 44ff, hier zitiert<br />

nach der deutschen Übersetzung in Weißbuch Nr.<br />

156, S. 234; Sitzung v. 23. September 20, NL Koßmann 25,<br />

S. 125.


saargeschichte|n 35<br />

ihm zugedachte Rolle ausfüllte. In der landesgeschichtlichen<br />

Literatur erfährt man darüber<br />

erstaunlich wenig, zu sehr scheint diese frühe<br />

Phase im Schatten der großen (nationalen) Nachkriegskrisen<br />

zu stehen oder wie selbstverständlich<br />

als die Zeit der autokratischen Herrschaft<br />

Victor Raults abgehandelt zu werden. Von der<br />

Arbeit Hectors als Ressortminister erfährt man<br />

allenfalls den auch in seinen Nekrologen stets<br />

hervorgehobene Aufbau der Homburger Heilund<br />

Pflegeanstalt zum Landeskrankenhaus, die<br />

Fundamentierung der heutigen Universitätskliniken<br />

also (was ja per se durchaus als großes<br />

Verdienst zu belobigen ist). Praktisch nichts<br />

wurde hingegen zu seiner Rolle im Kollegium der<br />

Regierungskommission verlautbart, zu selbstverständlich<br />

ging man wohl davon aus, dass Hector<br />

stets am Pariser Tropf hing und sich dementsprechend<br />

passiv verhalten habe. [32]<br />

Schon eine flüchtige Durchsicht der Protokollbände<br />

der Reko vermittelt jedoch ein anderes<br />

Bild – das den Saarlouiser nicht nur immer mit<br />

einer durchaus eigenständigen Stimme im internationalen<br />

Diskurs agierend zeigt, sondern auch<br />

deutlich macht, dass er vor der sachlichen Konfrontation<br />

mit dem scheinbar übermächtigen<br />

Präsidenten Rault nicht zurückschreckte. Selbst<br />

der Vorwurf eines Verstoßes gegen den Geist des<br />

Versailler Vertrages steht da mal gegen den Präsidenten<br />

im Raum und eine scharfe Replik, die sich<br />

Hector deshalb vom Regierungschef einhandelt.<br />

Auch »saarländische« Minderheitenvoten, später<br />

eine »Spezialität« von Bartholomäus Koßmanns<br />

Reko-Politik, tauchen da auf, Voten, mit denen er<br />

sich einsam gegen die Mehrheit seiner Kollegen<br />

aus den Völkerbundstaaten stellte, um seine Mission<br />

im Sinne des »Saarvolkes« zu erfüllen. Als es<br />

seit 1922 um die konfliktreiche Zusammenarbeit<br />

mit dem Landesrat und die Einsetzung eines<br />

Studienausschusses ging, meinte Rault gar, dass<br />

sich Hector nicht über die diesbezüglichen Probleme<br />

wundern müsse, da er es ja gewesen sei<br />

»qui a toujours defendu le principe de la collaboration<br />

avec la population«. Überhaupt könnte<br />

sich das, in Parallelität zur Zeit im Bürgermeisteramt,<br />

als Maßstab für das politische Handeln<br />

[32] Vgl. zum Beispiel: den Nachruf »Zum Gedächtnis von Dr.<br />

med Jakob Hector« in der SZ v. 6. Februar 54. – Der Übergang<br />

der Klinik aus dem Provinzialverband der Rheinprovinz<br />

und der Pfalz in saarländische Obhut erfolgte<br />

nach Verhandlungen mit der Reko unter Hectors Verantwortung<br />

zum 1. November 1921. Vgl. das in Saarlouis<br />

(!) datierte Schreiben vom 20. September 21 in LA SB,<br />

LRA IGB 6030.<br />

Hectors herauskristallisieren: das Bestmögliche<br />

für die Menschen seiner Heimat, seines »Wahlbezirks«<br />

zu erreichen, ob es sich dabei um die<br />

Bürger_innen seiner Stadt oder die seines neuen<br />

»Landes« handelte. Die Sache hatte freilich einen<br />

Haken: Dass er im Einsatz für die Heimat sogar<br />

bereit war, nationale Schranken zu überspringen,<br />

mag für uns heute sympathisch wirken, war<br />

damals für die meisten Menschen jedoch genau<br />

das Gegenteil davon. [33]<br />

Weil die nationale Selbstvergewisserung in<br />

der Folge von Versailles für die vom Reich<br />

abgetrennten Saarländer eine überragende<br />

Bedeutung quer durch alle Parteien bekam, ist es<br />

fast erstaunlich, wenn Hector seine ersten beiden<br />

Amtsjahre als Regierungskommissar relativ<br />

unbeschadet überstand. Zwar soll es, wie es spätere<br />

Aussagen im Prozess belegen, immer wieder<br />

belastende Anschuldigungen gegeben haben, die<br />

nicht nur gerüchteweise durchs Land zogen, sondern<br />

auch in der Öffentlichkeit ausgesprochen<br />

wurden. Aber richtigen Gegenwind bekam der<br />

Wohlfahrtsminister erst, als die saarländischen<br />

Parteien mit dem Landesrat ein institutionelles<br />

Gehäuse für die Artikulation ihres Protestes<br />

erhalten hatten, der nun auch in Genf legitimer<br />

Weise vorgetragen werden konnte. Dann aber<br />

kam die Kritik umso heftiger. Nur wenige Tage<br />

nach der konstituierenden Sitzung am 19. Juli<br />

1922 richteten die saarländischen Parteien und<br />

26 von 30 Landesratsmitgliedern an den Völkerbundsrat<br />

die Bitte, Hectors Amtszeit nicht mehr<br />

zu verlängern und den nächsten Saarländer am<br />

Regierungstisch entweder nach allgemeinen<br />

Wahlen oder auf Vorschlag des Landesrats zu<br />

ernennen. Demokratische Teilhabe und nationale<br />

Selbstbestimmung: Das war der offizielle Rahmen,<br />

in dem die deutsche Opposition gegen den<br />

Minister mit »anrüchig« frankophiler Vergangenheit<br />

Fahrt aufnehmen konnte. [34]<br />

Nachdem weder Genf noch die Reko in Saarbrücken<br />

auf die Eingabe reagiert hatten, legten<br />

die Saarländer nach. Als die turnusgemäße Ver-<br />

[33] Hector als engagierter Wortführer schon in den ersten<br />

Verhandlungen am Reko Tisch, zum Beispiel in der<br />

Sitzung vom 13. Oktober 20, NL Koßmann 1, S.140. Der<br />

Streit mit Rault – es ging hier um die Frage der Renten<br />

für die Beamten der Zentralverwaltung in der Sitzung<br />

vom 24. Juni 22, NL Koßmann 25, S. 179ff., hier v.a. S.180;<br />

die Bemerkung Raults zu Hectors Bedürfnis nach ‚demokratischer<br />

Rückbindung’ in der Sitzung vom 11. Juli<br />

22, a.a.O., S.203.<br />

[34] Der Fall Hector und seine Konsequenzen. Die Fraktionen<br />

des Saargebietes, Saarbrücken 1922.


Im »neuen« Landgericht<br />

(dem Vorgängerbau<br />

des<br />

heutigen) an der<br />

damaligen Saarbrücker<br />

Alleestraße<br />

(heute: Franz-Josef-<br />

Röder-Straße) fand<br />

der Prozess gegen SZ-<br />

Redakteur Adolf Franke<br />

wegen Beleidigung<br />

von Minister Hector<br />

statt. (LA SB, BSlg)<br />

längerung von Hectors Mandat im September<br />

1922 anstand, erschien ein Artikel in der Saarbrücker<br />

Zeitung, der diesmal wirklich ganz großes<br />

Geschütz auffuhr. Redakteur Adolf Franke<br />

bezog sich in seinen Ausführungen über den<br />

»Fall Hector« explizit auf die Eingabe der saarländischen<br />

Parteien, die diese »dieser Tage dem<br />

Völkerbundsrat auf dem vorschriftsmäßigen Weg<br />

über die Saarregierung übersandt« hätten. Und<br />

er übte sich in der Beurteilung von Hectors Politik<br />

der Jahre 1919/20 nicht gerade in Zurückhaltung:<br />

»Herr Dr. Hector hat schmachvollen Landesverrat<br />

verübt durch einen gemeinen Betrug«. Noch<br />

bevor Franke diese seine Anklage überhaupt<br />

ausgesprochen oder gar begründet hatte, hatte<br />

er bereits das Urteil über seinen »Angeklagten«<br />

gesprochen: »Herr Dr. Hector mag seine Sachen<br />

packen und das Saargebiet im Eiltempo und für<br />

immer verlassen. Ob er vielleicht nun noch in<br />

Frankreich irgendwo ein Dankasyl findet, das zu<br />

erwägen ist nicht unsere Sache. Vielleicht heißt<br />

es auch: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan<br />

...« Unüberhörbar war da bereits der Ton der spöttischen<br />

Ausgrenzung, der den (nationalen) Diskurs<br />

der 1920er Jahre von allen Seiten dominierte.<br />

Die Nazis haben ihn später aufgenommen und<br />

bis zur mörderischen Konsequenz perfektioniert.<br />

[35]<br />

Unmittelbar unter dem Artikel Frankes erschien<br />

die Meldung, dass Hector abermals vom Völkerbund<br />

für ein weiteres Jahr in seinem Amt bestätigt<br />

worden sei. Die saar-deutsche Öffentlichkeit wird<br />

es als weitere Provokation verstanden und deshalb<br />

mit Genugtuung zur Kenntnis genommen<br />

haben, dass die Saarparteien drei Wochen nach<br />

dem Angriff in der Saarbrücker Zeitung ein zweites<br />

Mal beim Völkerbundsrat antichambrierten,<br />

diesmal auch, um Redakteur Franke dezidiert den<br />

Rücken zu stärken. Spätestens jetzt war der Zeitpunkt<br />

gekommen, dass der schwer beschuldigte<br />

[35] Adolf Franke, Der Fall Hector, in: SZ v. 4. September 1922.<br />

Dr. Hector reagieren musste. Nachdem<br />

er die vorausgegangenen Verbalattacken<br />

offenkundig ignoriert hatte,<br />

war der jetzt im Raum stehende Vorwurf<br />

so schwerwiegend, dass ihm<br />

nichts anderes übrig blieb, als Anzeige<br />

gegen Adolf Franke zu erstatten. Gerade<br />

die nationale Frage war, wie bereits<br />

erwähnt, eine Ehrenfrage, die anders<br />

als im 19. Jahrhundert nun nicht mehr<br />

im Duell, sondern in dessen domestizierter<br />

Form vor Gericht ausgetragen<br />

wurde. Der politische Beleidigungsprozess<br />

gegen den Redakteur Adolf Franke wurde<br />

am 23. Februar 1923 vor der Strafkammer des<br />

Landgerichts Saarbrücken eröffnet. [36]<br />

Verkehrte Welt: der Kläger als Angeklagter<br />

Eigentlich hätte der Prozess gegen Franke und<br />

die Saarbrücker Zeitung schon vier Wochen vorher<br />

stattfinden sollen. Ein Termin war sogar<br />

bereits festgelegt, wurde dann aber wieder aufgehoben.<br />

Die ungewöhnliche Verlegung hatte<br />

einen gewichtigen Grund: Nach einem vorangegangen<br />

politischen Verfahren, deren es so<br />

viele in der Völkerbundszeit gab, musste vom<br />

Obersten Gerichtshof die Frage der Unabhängigkeit<br />

des Gerichts in solchen Fällen geklärt werden.<br />

Erst nachdem die im rechtsstaatlichen Sinne<br />

gewünschte Stärkung der richterlichen Autorität<br />

höchstinstanzlich fixiert worden war, Richter also<br />

nicht mehr durch die Intervention der Regierung<br />

bei politischen Verfahren ausgetauscht werden<br />

konnten, wurde der Franke-Prozess eröffnet.<br />

Schon am ersten Verhandlungstag sollte er de<br />

facto zu einem Hector-Prozess werden.<br />

[36] Zur Logik der Politischen Strafprozesse in den 1920er<br />

Jahren vgl. Linsmayer, Politische Kultur (wie Anm. 1), S.<br />

205–208. Die Prozessakten zum Fall Hector sind wie<br />

die meisten frühen Unterlagen des Saarbrücker Landgerichtes<br />

bedauerlicher Weise durch Kriegseinwirkung<br />

oder Hochwasser verloren gegangen. Zum Glück (und<br />

in dem Fall natürlich auch aus Eigeninteresse) hat die<br />

Saarbrücker Zeitung den Fall damals sehr intensiv begleitet;<br />

dass sie als Betroffene oft auch in eigener Sache<br />

interpretierte, schmälert den insgesamt objektiven<br />

Gesamtbestand der damit erhaltenen Dokumentation<br />

kaum. Die folgenden Seiten beziehen ihre Informationen<br />

aus der ausführlichen Berichterstattung über<br />

die sechs Verhandlungstage in: SZ v. 23./27. Februar 23;<br />

1./4./6./9. März 23 sowie der medialen Würdigung des<br />

Prozesses im Leitartikel: »Ein Sieg der Wahrheit« am 9.<br />

März 1923.


saargeschichte|n 37<br />

Es begann alles wie gewöhnlich vor den Schranken<br />

eines Gerichts: Die Feststellung der Prozessbeteiligten<br />

des Verfahrens unter der Leitung<br />

von Landgerichtsdirektor Dr. Messinger, die<br />

Benennung und Frage der Zulässigkeit der Zeugen,<br />

die Verlesung der Anklageschrift. Hector,<br />

der als Zeuge und Nebenkläger auftrat, wurde<br />

von Rechtsanwalt Donnevert aus Saarlouis vertreten,<br />

der als Stadtverordneter aber auch als<br />

Zeuge geladen war und daher Dr. Schmidt in<br />

seiner Vertretung ins Rennen schicken musste.<br />

Der Beklagte Franke erschien mit den Rechtsanwälten<br />

Dr. Steegmann und Dr. Lehmann vor<br />

Gericht, beide waren auch politische Schwergewichte,<br />

der eine als Vorsitzender des Saar-Zentrums,<br />

der andere im Vorstand der Saar-SPD. Und<br />

beide waren, um das gleich vorwegzuschicken,<br />

keine deutschnationalen Hard liner, das Gegenteil<br />

war der Fall, Lehmann musste als Jude später<br />

sogar vor den Nazis fliehen. [37] Hectors Anwalt<br />

bemühte sich vergeblich darum, Joseph Goergen<br />

als Zeugen der Gegenseite nicht vor Gericht<br />

zuzulassen, aus formalen Gründen, wahrscheinlich<br />

ahnte man bereits, dass von ihm besonderes<br />

Ungemach drohte. Die zur Verhandlung stehende<br />

öffentliche Beleidigung Hectors gründete sich<br />

vor allem, so hielt es das Gericht fest, auf Frankes<br />

Diktum vom schmachvollen Landesverrat verübt<br />

durch einen gemeinen Betrug. Der Angeklagte<br />

begründete dies, wie in seinem Beitrag für die<br />

SZ, mit dem Hinweis auf die Denkschrift der Parteien<br />

und die darin festgehaltene Tatsache, dass<br />

aus einer ökonomisch motivierten Bittschrift<br />

der Stadt Saarlouis durch absichtlich gefälschte<br />

Übersetzung eine Ergebenheitsadresse der Verwaltung<br />

einer deutschen Stadt entstanden sei<br />

– womit sowohl die französische Seite als auch<br />

die Stadtverordneten betrogen worden sein. Zu<br />

seiner Anschuldigung gegenüber Hector, so gab<br />

es Franke zum Abschluss seines einführenden<br />

Statements zu Protokoll, habe er sich demnach<br />

»als Vertreter der Öffentlichkeit und als Deutscher<br />

verpflichtet gefühlt.«<br />

Die Zeugenbefragungen des ersten Verhandlungstages<br />

drehten sich vor allem um die<br />

Entstehung der Saarlouiser Denkschrift, um die<br />

Modalitäten der Übersetzung, die Verhandlungen<br />

darüber in der Stadtverordnetenversammlung<br />

[37] Zu den Viten kurz: Peter Wettmann-Jungblut, Rechtsanwälte<br />

an der Saar 1800–1960. Geschichte eines bürgerlichen<br />

Berufsstandes, Blieskastel 2004, S. 512 u. 537<br />

sowie in LA SB, MJ-PA 308 (Lehmann); LG SB 218 (Steegmann).<br />

Zu Landesgerichtsdirektor Messinger die umfängliche<br />

Personalakte MJ-PA 3<strong>59</strong>.<br />

und schließlich die Überbringung der Schriften<br />

zur Saarabteilung der Friedenskommission in<br />

Versailles sowie den hohen Politikern und Militärs<br />

in Paris. Es lässt sich bereits in dieser Phase<br />

der Verhandlungen erkennen, dass es von Anfang<br />

an Widerstände gegen die Diktion der französischen<br />

Fassung seitens der Stadtverordneten<br />

gegeben hatte – und dass an mehr als einer Stelle<br />

getrickst worden war, um eine Version nach Paris<br />

bringen zu können, die deutlich frankophiler ausfiel<br />

als das Original. Vor allem jene Stelle in der<br />

zweiten, bedeutend kürzeren französischen Version<br />

(die vom Wallerfanger Urban Fabvier besorgt<br />

worden war), in der »Le Maire et le conseil de Sarrelouis<br />

(…) vous assurer en meme temps de sa<br />

fidèlité et de sa loyauté« erregte stark die deutschen<br />

Gemüter. Es klingt schon nach ziemlichen<br />

Taschenspielertricks, wenn man die Stadtverordneten<br />

wechselweise dadurch zu beruhigen<br />

suchte, dass man fidèlité und loyauté als Rechtschaffenheit<br />

und Wahrheit übersetzte, dass man<br />

Glauben machen wollte, diese Bekundungen<br />

gälten der neuen Saarregierung (die formal<br />

der Adressat der Denkschrift war) oder schlicht<br />

die Verordneten in dem Glauben ließ, dass die<br />

Begriffe vor der Übergabe in Paris entfernt würden.<br />

Auch viele andere, neuen Sinn stiftende<br />

Abweichungen brachten deutlich mehr französischen<br />

Esprit in die Übersetzung, als er im Original<br />

jemals erwünscht gewesen wäre. So zum<br />

Beispiel die besonders heikle Konzedierung einer<br />

l’annexion de la Lorraine im Bezug auf die Grenzziehung<br />

von 1871, ein Verständnis der Geschichte,<br />

das in Deutschland selbst in den Weimarer Parteien<br />

verpönt war. Kurzum, das Gericht konnte<br />

im Grunde schon in diesem frühen Stadium bei<br />

einer objektiven Würdigung der gehörten Dinge<br />

eigentlich nur zu der Auffassung kommen, dass<br />

da einiges faul gewesen sein musste in der von<br />

Dr. Hector verantworteten Stadtpolitik. Und dass<br />

die französische Botschaft, die 1919 den Pariser<br />

Machthabern übermittelt wurde, so zumindest<br />

nicht von den Saarlouiser Stadtverordneten<br />

abgesegnet worden sein konnte. [38]<br />

Die Verteidigung des Ministers und ehemaligen<br />

Bürgermeisters stand bei kritischen Fragen von<br />

[38] Die Parteien des Landesrats hatten ihrer Eingabe von<br />

1923 Hectors Denkschrift zur »Zukunft der Stadt Saarlouis«<br />

angefügt, in einer synoptischen Druckform, die<br />

die Unterschiede zwischen deutscher und französischer<br />

Fassung schon bildlich klarmachte, in dem besonders<br />

anzufechtende Passagen der französischen<br />

Übersetzung zudem gesperrt gedruckt waren. Vgl dazu<br />

das Druckexemplar in: NL Schneider (wie Anm. 18).


André Tardieu, Berater<br />

Clemenceaus auf der<br />

Versailler Konferenz<br />

und später mehrfach<br />

französischer Minister<br />

und Ministerpräsident,<br />

war ein<br />

wichtiger Ansprechpartner<br />

für die Saarlouiser<br />

Delegationen<br />

in den Jahren 1919/20.<br />

(wiki commons)<br />

Anfang an auf schwachen Füßen. So erklärte er<br />

beispielsweise zur eklatanten Diskrepanz zwischen<br />

deutscher und französischer Denkschrift,<br />

dass sein Französisch »damals« - also drei Jahre<br />

vor dem Prozess – so schlecht gewesen sei, dass<br />

»er nicht in der Lage gewesen sei, die Unterschiede<br />

zwischen dem deutschen und französischen<br />

Texte zu erkennen.« Ungeachtet der Tatsache,<br />

dass eine solche Uneinsichtigkeit schon<br />

wegen der quantitativ gravierend voneinander<br />

abweichenden Textcorpora schwer nachvollziehbar<br />

ist, enthob das Hector natürlich nicht der<br />

politischen Verantwortung für die schlechterdings<br />

kaum übersehbaren Differenzen. Ebenso<br />

kurios war Hectors Replik auf die Frage von<br />

Frankes Verteidigern, warum er die Denkschrift<br />

nicht – wie eigentlich verabredet – auch in französischer<br />

Fassung zur Kontrolle an die Stadtverordneten<br />

gegeben hätte? Weil, so Hector, er nach<br />

seiner Parisreise, auf der er sehr vielen maßgeblichen<br />

Franzosen das Druckwerk überreicht habe,<br />

keine Exemplare mehr zur Verfügung gehabt<br />

hätte. Vielleicht hatte Hector tatsächlich gar<br />

nicht damit gerechnet, vor einem Tribunal, das ja<br />

eigentlich einen anderen anklagte, in die Defensive<br />

zu geraten. Eine Einstellung, die freilich für<br />

einen Minister auch reichlich naiv gewesen wäre.<br />

Jedenfalls war und blieb die Verteidigungslinie<br />

Hectors so brüchig, dass ihr Zusammenbruch<br />

absehbar war.<br />

Der kam dann tatsächlich bereits mit der Vernehmung<br />

des zwölften und letzten Zeugen am<br />

ersten Verhandlungstag. Das war eben jener<br />

junge Joseph Goergen, der ehemalige Redakteur<br />

der Saarzeitung, mit dem Hector schon<br />

1920 im Clinch gelegen hatte und der bereits<br />

in den Artikeln jener Monate vor dem Rücktritt<br />

des Bürgermeisters hatte ahnen lassen, dass er<br />

schwergewichtiges Beweismaterial in Händen<br />

hatte. An diesem 23. Februar 1923 wurde es von<br />

Goergen der Öffentlichkeit präsentiert, mit dreijähriger<br />

Verspätung, ganz so, als habe Hectors<br />

Gegenspieler nur auf diesen Moment gewartet.<br />

Zwei Schreiben aus dem Bürgermeisteramt, so<br />

der Zeuge, seien ihm aus dritter Hand zugespielt<br />

worden. Es handelte es sich dabei um jene beiden<br />

bereits oben erwähnten Briefe vom 23. Juli<br />

1919 und vom 15. Januar 1920, die als Begleit- und<br />

Bittschreiben nach Paris gebracht worden waren<br />

und bis zum Zeitpunkt des Prozesses in der saarländischen<br />

Öffentlichkeit offenkundig noch<br />

völlig unbekannt waren. Als Rechtsanwalt Dr.<br />

Steegmann sie nun vor Gericht in ihrer französischen<br />

Übersetzung verlas, gab es im Saal »eine<br />

ungeheure Erregung«, die sich noch steigerte,<br />

nachdem die deutsche Fassung gefolgt war.<br />

Die Bombe, die da gerade geplatzt war, hatte<br />

verheerende Wirkungen. In der hochgradig<br />

emotionalisierten und nationalisierten<br />

Öffentlichkeit, weil hier erstmals ein handfester<br />

Beweis dafür auftauchte, dass die kerndeutsche<br />

Identität der Saarländer tatsächlich von Frankreich<br />

bedroht sein könnte, und zwar durch die<br />

»Untergrundtätigkeit« von Kollaborateuren aus<br />

den eigenen Reihen. Anders als bei den allermeisten<br />

sonstigen Injurienfällen, in denen sich<br />

fast immer zeigte, dass da etwas konstruiert worden<br />

war, um dem Ruf des politisch missliebigen<br />

Kontrahenten zu schaden. Entsprechend hochgradig<br />

erregt zeigte sich zum Ende des ersten<br />

Verhandlungstages vor allem der unversehens<br />

zum Hauptbeschuldigten gewordene Dr. Hector.<br />

Unter Eid könne er beschwören, so der Doktor<br />

mehrfach, dass er das erste Schreiben nicht<br />

kenne, nicht verfasst und nicht dem französischen<br />

Premierminister Clemenceau überreicht<br />

habe. An das zweite Schreiben, dessen deutsches<br />

Original seine Handschrift tragen solle, könne er<br />

sich nicht erinnern. Um den Dingen möglichst<br />

zügig auf den Grund gehen zu können, ordnete<br />

das Gericht an, dass sich sofort eine dreiköpfige<br />

Delegation mit einem Auto der Regierungskommission<br />

auf den Weg nach Saarlouis machen<br />

solle, um das Stadtarchiv nach den Originalschriften<br />

und allen Hinweisen auf die Entstehung<br />

der Denkschrift zu untersuchen und gegebenenfalls<br />

zu beschlagnahmen.<br />

Die Vorlage für den Brief vom 15. Januar 1920<br />

mit der Handschrift Hectors wurde tatsächlich<br />

gefunden. Anhand des Ausgangsjournals für<br />

1920 ließ sich sogar nachvollziehen, wann er unter


saargeschichte|n 39<br />

Der Landesrat war der<br />

wichtigste institutionelle<br />

Gegenspieler<br />

des frankophilen Kurses<br />

von Jacob Hector.<br />

Hier ein Bild aus der<br />

letzten Sitzung des<br />

Landesrats im Saarbrücker<br />

Rathaus,<br />

Dezember 1934. (LA<br />

SB, BSlg.)<br />

welcher Nummer an den Ministre de La Guerre<br />

nach Paris geschickt worden war. Dieser Fund ließ<br />

die letzten Dämme brechen. Als am Montag nach<br />

der samstäglichen Durchsuchung in Saarbrücken<br />

wieder verhandelt wurde, überschlugen sich die<br />

Ereignisse. Hector war nicht mehr vor Gericht<br />

erschienen, hatte ein ärztliches Attest vorlegen<br />

lassen, nach dem er aufgrund von Grippe, nervösen<br />

Beschwerden und Herzleiden für eine Woche<br />

krankgeschrieben war. Auch Hectors Anwalt Donnevert<br />

erschien nicht mehr, hatte nach der neuen<br />

Erkenntnislage sein Mandat niedergelegt, da er<br />

in Kenntnis der ihm bisher vorenthaltenen Informationen<br />

nichts mehr verteidigen könne. Frankes<br />

Anwälte hingegen gingen in die Offensive. Lehmann<br />

erklärte, dass ihn der physische und psychische<br />

Zusammenbruch Hectors angesichts der<br />

erdrückenden Beweislast nicht wundere. Steegmann<br />

hatte bereits am ersten Verhandlungstag<br />

betont, dass er die von Hector reklamierte<br />

Erinnerungslücke für unmöglich halte: Wer<br />

einen solchen Brief an Clémenceau geschrieben<br />

habe, erinnere sich sein ganzes Leben daran. Es<br />

bestünde, so die quasi zu Staatsanwälten mutierten<br />

Verteidiger Frankes, der starke Verdacht, dass<br />

Hector einen Meineid geschworen habe. Sie legten<br />

daher vor Gericht seine Verhaftung nahe, da<br />

Fluchtgefahr bestünde. Außerdem solle sein Haus<br />

durchsucht, seine Privatkorrespondenz beschlagnahmt<br />

und weitere Zeugen gehört werden. Viele<br />

Indizien sprächen dafür, dass Hector auch der Initiator<br />

des ersten, des Begleitschreibens der Denkschrift<br />

gewesen sei.<br />

Mit jedem weiteren Verhandlungstag wuchs der<br />

von ihm selbst initiierte Prozess zu einem völligen<br />

Alptraum für Hector, in politischer wie in<br />

persönlicher Hinsicht. Nur seine, am zweiten Verhandlungstag<br />

durch Gerichtsbeschluss erst sanktionierte<br />

Immunität als quasi »exterritorialer«<br />

Beamter des Völkerbundes, verhinderte seine<br />

sofortige Strafverfolgung. Eine amtsärztliche<br />

Untersuchung Hectors sollte nun feststellen, ob<br />

er weiter verhandlungsfähig sei – und eventuell<br />

am Krankenbett befragt werden könne. Dass<br />

der buchstäbliche Fall eines Ministers auch das<br />

Gericht zunehmend nervös machte, zeigte sich<br />

am dritten Prozesstag. Als der Noch-Angeklagte<br />

Franke angeblich wenige Minuten zu spät vor<br />

Gericht erschien, erhielt er eine scharfe Rüge des<br />

Vorsitzenden. Und an Verteidiger Lehmann richtete<br />

Dr. Messinger die hier vollkommen unangemessen<br />

ironische Frage, ob er deshalb nun<br />

auch die Verhaftung Frankes beantragen wolle.<br />

Der derart aus der Rolle gefallene Richter dokumentierte,<br />

dass der Fall Hector längst zum Politikum<br />

geworden war, dessen Auswachsen zur<br />

Staatskrise man befürchten konnte. Als die Verteidigung<br />

Frankes immer weitere Zeugen vor<br />

Gericht bestellen wollte, um das ganze Ausmaß<br />

der Saarlouiser »Frankreichpolitik« der Jahre<br />

1919/20 zu beleuchten, schob der Regierungschef<br />

persönlich einen Riegel vor: Seinen höchsten<br />

Beamten, die vor die Saarbrücker Schwurkammer<br />

geladen werden sollten – darunter auch der<br />

Generalsekretär und nachmalige Reko-Minister<br />

Morize –, erteilte er Aussageverbot. Da zeitgleich<br />

jener große Bergarbeiterstreik begonnen hatte,<br />

der hundert Tage währen sollte und zur »nationalen«<br />

Kraftprobe wurde, wollte Rault offenbar<br />

nicht noch eine zweite offene Flanke haben.<br />

Sein bisheriger Wohlfahrtsminister hatte da<br />

allerdings schon die Konsequenzen gezogen<br />

und endgültig das Handtuch geworfen. In einer<br />

Erklärung, die sein neuer Rechtsanwalt Flesch am<br />

vierten Verhandlungstag verlesen ließ, gab Hector<br />

an, sich nun doch erinnern zu können, den<br />

ersten Brief seinem Oberstadtsekretär diktiert<br />

und den zweiten selbst geschrieben zu haben.<br />

Die Zeitungslektüre der Namen seiner städtischen<br />

Angestellten, die an der Aktion damals<br />

beteiligt waren, habe seiner Erinnerung auf die<br />

Sprünge geholfen. Im Fall des zweiten Briefes


Mitglieder der<br />

Regierungskommission<br />

unter Präsident<br />

Rault (m.) und französische<br />

Militärs<br />

besuchen das Festgelände<br />

auf dem Großen<br />

Exerzierplatz in<br />

Saarbrücken anlässlich<br />

des französischen<br />

Nationalfeiertages.<br />

(LA SB, BSlg.)<br />

revidierte er ebenfalls seine erste eidliche Aussage,<br />

begründete die fehlende Erinnerung am<br />

ersten Verhandlungstag mit dem Stress einer<br />

zehnstündigen Gerichtsverhandlung und der Tatsache,<br />

dass ihm, einem Menschen, der sich ständig<br />

mit geistigen Materien zu befassen habe, die<br />

Erinnerung an das ein oder andere Detail schnell<br />

eingetrübt werden könne. Im Übrigen habe er<br />

aber beide Aussagen in dem subjektiven Bewusstsein<br />

getätigt, die Wahrheit zu sagen. So wackelig<br />

– oder eher: vorgeschoben – diese Aussagen auch<br />

wirken mochten, sie kamen doch noch gerade<br />

rechtzeitig, um den juristisch begründeten Vorwurf<br />

eines vollzogenen Meineids loszuwerden. [39]<br />

Noch am gleichen Tag erklärte Hector in einem<br />

Schreiben an die Regierungskommission, dass er<br />

sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht<br />

mehr wahrnehmen könne. Als seinen Stellver-<br />

treter benannte er Julius Land, ehemaliger Landrat<br />

des Kreises Saarlouis. [40]<br />

Nur das Ende des Prozesses in Saarbrücken verhinderte,<br />

dass noch viel mehr Details über die<br />

Beziehungen zwischen Saarlouis und Paris in<br />

Hectors Amtszeit als Bürgermeister ans Licht<br />

kamen. Und die Liste der Zeugen, die noch aufgeboten<br />

worden waren, sprach dafür, dass da<br />

noch so einiges zu sagen gewesen wäre. Am<br />

sechsten und letzten Verhandlungstag erschien<br />

aber kein einziger der Zeugen mehr vor Gericht,<br />

ob sie nun krank gemeldet waren oder ein Aussageverbot<br />

von höchster Stelle hatten. Außerdem<br />

erklärte Dr. Flesch, der Anwalt des ursprünglichen<br />

Nebenklägers Hector, dass der Strafantrag<br />

seines Mandanten gegen Franke zurückgezogen<br />

worden sei. So gab es nichts mehr zu verhandeln.<br />

Damit fehlte allerdings nun auch das Forum für<br />

die weitere öffentliche Aufarbeitung. Immerhin<br />

sorgten die Verteidiger Frankes noch für einen<br />

unüberhörbaren Schlussakkord. Steegmann<br />

taxierte Frankes mediale Enthüllung im Nachhinein<br />

als »eine höchst verdienstvolle Tat, (…) die<br />

[39] Hectors Revision seiner ersten Aussagen und sein dazu<br />

gemachter Kommentar zielte v. a. auf die §§ 1<strong>58</strong> und 163<br />

StGB, nach denen die Strafe bei Meineid auf die Hälfte<br />

bis ein Viertel reduziert wurde beziehungsweise Straflosigkeit<br />

zur Folge hatte, wenn eine gegenläufige Aussage<br />

vor der Anzeige wegen Meineids erfolgte, wenn<br />

der »Meineid« niemand geschadet hatte und er aus<br />

Fahrlässigkeit erfolgt war.<br />

[40] In seinem Schreiben an die Regierungskommission<br />

heißt es, dass Hecors Krankheit ihn hindere, »pour<br />

plusieurs semaines« an der Arbeit der Reko teilzunehmen,<br />

und dass er daher Julius Land, »ancien Landrate<br />

de Sarrelouis«, als seinen Stellvertreter benenne. Hector<br />

kannte Land auch als Stadtverordneten, er gehörte<br />

dem Rat bereits vor Hector an. Vgl. Procès-verbal du<br />

Conseil de Gouvernement vom 3. März 23 (LA SB, NL<br />

Koßmann 35, S.73) sowie: StA SLS das Beschlussbuch<br />

Stadtverordnetenversammlung 1913–1920.


saargeschichte|n 41<br />

der ganzen Saarbevölkerung zum Wohle<br />

gereicht und für die sie ihm immer dankbar<br />

sein wird«. Und Kollege Lehmann plädierte<br />

entgegen der ursprünglichen Vorstellung<br />

des Gerichts, dass der Staat die Kosten des<br />

Verfahrens trage, dafür, dass alle Kosten<br />

von Hector übernommen werden müssten,<br />

einschließlich jener Unkosten, die dem<br />

Angeklagten entstanden waren. Genau so<br />

beschloss es dann das Gericht. [41]<br />

Vollständiger als Hector konnte man ein<br />

Gerichtsverfahren eigentlich kaum verlieren.<br />

Der Prozess hatte als Beleidigungsklage<br />

gegen einen Redakteur begonnen<br />

und endete als völliges Debakel für einen<br />

Minister. Der Nachhall dieses spektakulären<br />

Verfahrens war noch lange zu hören,<br />

weit über das Prozessende, ja über das<br />

Ende der Völkerbundszeit hinaus.<br />

Ein asiatisches<br />

Gesicht in blau-weißrot,<br />

die Kokarde auf<br />

dem Kopf und eine<br />

(falsche) Schlange,<br />

die das Saargebiet<br />

vergiftet: Die Attribuierung<br />

des frankophilen<br />

Saarbundes<br />

auf einem »deutschen«<br />

Plakat anlässlich<br />

der Landesratswahlen<br />

von 1932 war<br />

eindeutig. (Sammlung<br />

Gerhard Paul)<br />

Vom Nachbeben zum Nachleben<br />

Vor einigen Jahren hat Alexis Andres, französischer<br />

Diplomat und Enkel des früheren saarländischen<br />

Innenministers Edgar Hector, einen<br />

Artikel über die politische Vorstellungswelt seines<br />

Großvaters publiziert. Auf der Suche nach<br />

den frankophilen Wurzeln von Hectors saarländischer<br />

Politik im teilautonomen Saarstaat<br />

kommt Andres zu Beginn auch kurz auf das Wirken<br />

seines Urgroßvaters Jakob Hector zu sprechen.<br />

Ein Grund für dessen Rücktritt aus der<br />

Reko im März 1923 sei die Sorge des Urgroßvaters<br />

gewesen, sein Familienleben vor den politischen<br />

Spannungen schützen zu müssen. Spannungen,<br />

die vor allem auf die »scharfen Angriffe« der<br />

»prodeutschen Opposition« im Saarland gegen<br />

die »frankophilen Neigungen« Jakobs zurückzuführen<br />

gewesen seien. [42]<br />

Nach dem bisher zum Fall Hector Dargelegten<br />

möchte man den einen oder anderen Widerspruch<br />

gegen diese etwas einseitige Begründung<br />

erheben. Im unmittelbaren Handlungszusammenhang<br />

der frühen 1920er Jahre waren<br />

es vorderhand und zuallererst natürlich nicht<br />

familiäre Gründe, die den Rücktritt verursachten,<br />

[41] Infos und Zitat nach: Der Hectorprozeß. Der sechste<br />

Verhandlungstag, in: SZ v. 9. März 23.<br />

[42] Alexis Andres, Edgar Hector und die Saarfrage 1920-<br />

1960, in: Rainer Hudemann u.a. (Hgg.), Grenz-Fall. Das<br />

Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–<br />

1960, St. Ingbert 1997, S. 163–176, hier S. 164. Vgl auch die<br />

Straßburger Maîtrise d’histoire des gleichen Autors:Edgar<br />

Hector et la question sarroise 1920–1957.<br />

sondern die in einem einwandfrei rechtsstaatlichen<br />

Verfahren nachgewiesenen ‚Grenzüberschreitungen’<br />

während Hectors Amtszeit als<br />

Bürgermeister von Saarlouis und sein haarscharf<br />

am juristisch sanktionierten Meineid vorbeischrammendes<br />

Verhalten vor Gericht. Als Minister<br />

einer Regierungskommission, die ohnehin<br />

ständig im Kreuzfeuer der (inter)nationalen Kritik<br />

stand, war er so schlechterdings nicht mehr<br />

haltbar, sein Rücktritt kam also quasi zwangsläufig.<br />

Dennoch wäre es nicht gerechtfertigt,<br />

Andres’ Darstellung einfach als pure Apologetik<br />

im Dienst einer möglichst ungetrübten Familienbiografie<br />

zu qualifizieren. Das Narrativ der Familie<br />

Hector hat in diesem Punkt nämlich durchaus<br />

auch seine historisch berechtigten Seiten. Zum<br />

einen, weil völlig überzogene Anfeindungen der<br />

Hectors durch eine »deutsche Opposition« tatsächlich<br />

stattfanden – diese ihre aggressiv-ausgrenzenden<br />

Wirkungen aber erst später und in<br />

anderem Kontext entfalteten. Zum anderen, weil<br />

die öffentliche (Selbst-)Demontage einer politischen<br />

Führungsfigur wie Jakob Hector auch ein<br />

unmittelbares Nachbeben in der Völkerbundszeit<br />

verursachte. Dass davon er und seine Familie<br />

persönlich betroffen sein würden, war kaum<br />

anders zu erwarten, gerade bei nationalen Fragen,<br />

die in den 1920ern stets in unmittelbarer<br />

Verbindung mit denen der Ehre verhandelt wurden.<br />

Mit welcher Hypothek Hector den Neustart in<br />

Privat- und Berufsleben schaffen musste, machte<br />

schon die Eingabe der Saarparteien an den<br />

Völkerbund vom 13. März 1923 klar. »In den Augen


An einem Umzug<br />

frankophiler Organisationen<br />

des Saargebietes<br />

durch Paris<br />

nahm Anfang der<br />

1930er Jahre der<br />

junge Edgar Hector,<br />

Sohn Jakob Hectors<br />

und nachmaliger<br />

saarländischer Innenminister,<br />

als Gallionsfigur<br />

der »Sarre« in<br />

tragender Funktion<br />

teil.<br />

der gesamten Saarbevölkerung«, heißt es da, »ist<br />

und bleibt Dr. Hector allzeit ein Meineidiger und<br />

ein Verräter. Jedermann ist empört, dass ein derartiger<br />

Mann eine so lange Zeit der Vertreter der<br />

Saarbevölkerung in der Regierungskommission<br />

des Saargebietes sein konnte.« Da wir keinen<br />

unmittelbaren Einblick in die Familiengeschichte<br />

jener Zeit besitzen, können wir nur ahnen, was<br />

eine solche Belastung für das Leben in und um<br />

den Großen Markt 16 in Saarlouis bedeutete.<br />

Fest steht zunächst einmal nur, dass Jakob Hector<br />

nach seinem knapp dreijährigen Intermezzo<br />

als Berufspolitiker wieder in seine Arztpraxis<br />

zurückkehrte. Und wenn die Taxierungen späterer<br />

Jahre über diese Zeit zutreffen, dann hatte<br />

Hector nach 1923 wieder eine gut gehende Praxis,<br />

die ein ordentliches Familieneinkommen garantierte.<br />

Eine solche erfolgreiche Reintegration war<br />

keineswegs selbstverständlich nach dem öffentlichen<br />

Absturz, bringt in solchen Fällen der politische<br />

Niedergang doch oft einen harten Einschnitt<br />

in der sozialen Reputation mit sich. Aber vielleicht<br />

war es auch genau umgekehrt. Nach verschiedenen<br />

Erzählungen war Jakob ein guter und<br />

beliebter Arzt, und es könnte genau diese Positionierung<br />

in der lokalen Gesellschaft gewesen sein,<br />

die ihn die Demontage als politische Führungsfigur<br />

relativ schadlos überstehen ließ. [43]<br />

Eine andere Frage ist, wie die dramatischen Ereignisse<br />

von 1923 auf die Kinder der Hectors wirkten.<br />

Die drei ältesten waren Jungen, Arno, Kurt<br />

und Edgar, zum Zeitpunkt des Prozesses knapp<br />

17, 15 und 12 Jahre alt, in einem Alter also, da die<br />

Vaterfigur eine doppelt wichtige Rolle spielt.<br />

Zumal in einer Zeit wie damals, als die Welt der<br />

männlichen Sozialisation von lauter (nationalen)<br />

Heroen bevölkert war. Es braucht nicht viel<br />

Phantasie, um sich vorzustellen, welches Echo die<br />

öffentliche Brandmarkung des Vaters als nationaler<br />

»Verräter« und »Meineidiger« in dieser<br />

[43] Die Eingabe vom 13. März 23 zitiert nach LA SB, NL<br />

Schneider 239; die Einschätzung der Einnahmen aus<br />

dem Praxisbetrieb von Hector in der Völkerbundszeit<br />

nach: einer Taxierung der Ärztekammer in den Entschädigungsakten<br />

der Hectors: LA SB, LEA 14216, Bl. 24.<br />

pubertären Welt ausgelöst hat. Und dass der tägliche<br />

Gang zur deutschen Schule zu einem Spießrutenlauf<br />

werden konnte. Was wiederum ein<br />

Grund dafür gewesen sein mag, dass der Vater<br />

den jüngsten Sohn Edgar für seine letzten Schuljahre<br />

aufs Kolleg der Jesuiten nach Metz schickte.<br />

Die Fürsorge für die Kinder, sie spielte im Hause<br />

Hector sicher eine besonders große Rolle, nicht<br />

zuletzt seit den Erfahrungen aus der ›Gründerzeit‹<br />

der Familie, als dem jungen Paar 1905 binnen<br />

drei Wochen die ersten drei Kinder im Alter von<br />

wenigen Monaten bis zwei Jahren verstarben. [44]<br />

Obwohl man Anfang des 20. Jahrhunderts mit<br />

einem solchen ›schnellen Kindstod‹ viel häufiger<br />

rechnen musste als heute, war das für einen<br />

Arzt und tiefgläubigen Katholiken fraglos eine<br />

traumatische Erfahrung. Umso mehr wird sich<br />

der Vater nach den Ereignissen der frühen 20er<br />

bemüht haben, Schaden von seinen verbliebenen<br />

Kindern abzuhalten. Gemeinsam mit seinem in<br />

Paris auf das Jurastudium wartenden Sohn Edgar<br />

erwarb er 1930 sogar die französische Staatsbürgerschaft.<br />

Vermutlich deshalb, weil das sonst<br />

für den noch minderjährigen Edgar nicht so ohne<br />

weiteres möglich gewesen wäre.<br />

Was von außen – und das heißt: in der historischen<br />

Rückschau wie in der Perspektive von<br />

Hectors Gegenspielern – wie die konsequente<br />

Fortführung eines frankophilen Lebensweges<br />

aussah, das könnte also auch hier noch in eine<br />

andere Richtung weisen. Ähnlich wie bei seinen<br />

profranzösischen Entscheidungen der Nachkriegsjahre<br />

könnte der Weg zur französischen<br />

Staatsbürgerschaft vor allem pragmatischen<br />

Gründen geschuldet gewesen sein, Einsicht in<br />

jene Notwendigkeiten dokumentieren, die man<br />

zu beachten hatte, wenn man die beste Lösung<br />

für seine »Schutzbefohlenen« finden wollte.<br />

Umgekehrt bedeutete dies allerdings auch, dass<br />

Hector nicht die gleichen unverrückbaren Vorstellungen<br />

von Nation und Nationalgefühl teilte<br />

wie die allermeisten seiner (deutschen) Zeitgenossen.<br />

Dass alles Nationale bei ihm nicht jenes<br />

zunehmend ethnisch-völkisch grundierte Fundament<br />

besaß, das die Volksgemeinschaft gerade<br />

nach den Fronterlebnissen des Ersten Weltkriegs<br />

entwickelt hatte. Dass ihm seine Nation<br />

mithin nicht in Fleisch und Blut übergegangen,<br />

nicht untrennbar mit seiner physischen Existenz<br />

verbunden, sondern im Notfall eben auch<br />

austauschbar war. Wäre Hectors Leben einfach<br />

einem frankophilen Muster gefolgt – und zwar in<br />

[44] Vgl.: Klauck, Einwohner Saarlouis (wie Anm.2), Nr. 22270,<br />

S. 553.


saargeschichte|n 43<br />

unserem heutigen, eher positiv konnotierten Verständnis<br />

ebenso wie im durchweg negativen seiner<br />

Zeitgenossen – dann hätte diese Biographie<br />

in vielen Dingen sicher anders ausgesehen. Dann<br />

wäre er bestimmt nach dem GAU von 1923 und<br />

erst recht nach dem Super-GAU von 1935–45<br />

nicht in Saarlouis geblieben beziehungsweise<br />

dorthin zurückgekehrt. Dann hätte er ohne Zweifel<br />

auch sprachlich schon viel früher eine größere<br />

Annäherung an Frankreich gesucht (Hector, so<br />

wird berichtet, hatte hingegen noch in der Exilzeit<br />

aus sprachlichen Gründen Schwierigkeiten,<br />

seinen Arztberuf in Frankreich auszuüben) und<br />

wäre nach den schlimmen Erfahrungen mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit dauerhaft in der Grande<br />

Nation geblieben. [45]<br />

Das Beispiel der Frankophilie deutet an, dass<br />

wir sehr viel intensiver über die Kategorien des<br />

Nationalen nachdenken müssen, wenn wir all<br />

das verstehen wollen, was mit dem Fall Hector<br />

verbunden ist. Wir müssen diese Kategorien historisieren,<br />

kontextualisieren, anthropologisieren,<br />

quasi verflüssigen, um nicht durch ein statisches<br />

Begriffsverständnis die Geschichte der 1920er<br />

Jahre zu vernebeln, anstatt sie aufzuklären. Das<br />

gilt für das Selbstverständnis der historischen<br />

Akteure von einst ebenso wie für die wechselnden<br />

Bilder, die wir Nachgeborenen uns von ihnen<br />

machen. Dass das Verdikt vom frankophilen Dr.<br />

Hector, mit dem die Saardeutschen in den Zwanzigern<br />

ihren Zeitgenossen belegten, etwas ganz<br />

anderes konnotierte, als wenn wir heute – aus<br />

der Sicht eines Deutschen – von einem frankophilen<br />

Saarländer sprechen, ist unmittelbar<br />

nachvollziehbar. Der Unterschied von gestern zu<br />

[45] Zur Entwicklung des Nationalismus in Deutschland vgl.<br />

Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland<br />

1790–1990, München 1993, S. 173; Erich Hobsbawm, Nation<br />

und Nationalismus, S. 212ff. Die Informationen zu<br />

Hectors Berufstätigkeit in Frankreich und den mangelnden<br />

Französischkenntnissen nach seiner Entschädigungsakte<br />

in: LA SB, LEA 14216, Bl. 18ff.<br />

heute liegt vor allem darin,<br />

dass bei buchstäblichem<br />

Gleichklang die Frankreichliebe<br />

heute nicht nur denkbar,<br />

sondern möglich, gar<br />

wünschenswert geworden<br />

ist.<br />

Insofern hat die Frankophilie<br />

eine verblüffend ähnliche<br />

Karriere gemacht wie<br />

jene Diskurse über Leib und<br />

Körper, die mit den Vorstellungen<br />

von Nation – wie bereits angedeutet<br />

– so eng verbunden waren. Nichts hat den Körper<br />

in seinen möglichen und verbotenen Äußerungsformen<br />

so eindeutig definiert wie eine scheinbar<br />

ewig festgefügte Ordnung der Geschlechter.<br />

Alles, was von dieser sexuell codierten Ordnung<br />

abwich, wurde als Perversion empfunden, als<br />

widernatürliche Abweichung von jener selbstevidenten<br />

Norm, die die Welt zusammenhielt.<br />

Auf dieser gedanklichen Metaebene betrachtet,<br />

funktionierten Norm und Abweichung in der<br />

Geschlechterordnung ebenso wie in der Ordnung<br />

nationaler Identitäten. Und so nimmt es<br />

kaum Wunder, dass man die Frankophilie lange,<br />

zum Teil noch immer, sprachlich ebenso kategorisierte<br />

wie Homosexualität: Von Neigungen<br />

ist in dem einen wie in dem anderen Fall bis<br />

heute die Rede. Wobei es diese Neigungen früher<br />

zu unterdrücken, gar auszumerzen galt, während<br />

sie mittlerweile als eine von vielen Möglichkeitsformen<br />

gelebt werden wollen. Überspitzt<br />

formuliert entspricht heutige Diversität der<br />

Lebensstile der Internationalisierung, Europäisierung,<br />

Globalisierung politischer Identitätsvorstellungen.<br />

Der Vergleich von nationalen Fragen und Körperbildern<br />

lässt ahnen, wie schwer es ist, eine adäquate<br />

Beurteilung des Falles Hector, seiner Folgen<br />

und der mit ihm verbundenen Erinnerung zu finden.<br />

Weil hier gerade das, was scheinbar ewig gültigen<br />

Naturgesetzen unterliegt, sich in Wirklichkeit<br />

als den Gesetzen der Relativität gehorchend<br />

offenbart. Tatsächlich ergibt sich je nach Standpunkt<br />

ein ganz anderes Bild, einschließlich<br />

jener Ausblendungen und Verfälschungen, die<br />

Perspektivwechsel eben mit sich bringen. So war<br />

bereits die zeitgenössische Auseinandersetzung<br />

von vielen kognitiven Dissonanzen begleitet. Die<br />

saardeutschen Gegenspieler Hectors, infiziert<br />

von der Sozialisation im Kaiserreich und befeuert<br />

von den Erfahrungen des Weltkriegs, konnten<br />

des Doktors Aktivitäten kaum anders deuten<br />

denn als schändlichen Verrat und Betrug – wie<br />

Ein beredtes Zeugnis<br />

für den Wandel der<br />

saarländischen Vorstellung<br />

von Frankophilie<br />

stellte der<br />

erfolgreiche Wahlkampf<br />

des nachmaligen<br />

Ministerpräsidenten<br />

Oskar<br />

Lafontaine im Jahr<br />

1985 dar: Das »savoir<br />

vivre« war staatstragend<br />

geworden.<br />

(LA SB, Plakatsammlung)


Edgar Hector bei<br />

einem Empfang<br />

des saarländischen<br />

Ministerpräsidenten<br />

im Ministerpräsidium<br />

in der Saarbrücker<br />

Schillerstraße 1949.<br />

Neben Hector Josef<br />

Kurtz (l.) und Emil<br />

Weiten (r.)<br />

sonst hätte man eine Politik erklären können, sie<br />

so offenkundig der natürlichen Ordnung widersprach?<br />

Sie übersahen dabei ganz (und vermutlich<br />

auch gerne), dass Hector sehr wohl im Interesse<br />

des (lokalen) Gemeinwohls handelte, dass<br />

er diese Gemeinschaft aber ganz offenkundig<br />

nicht als vom nationalen Blut schicksalhaft<br />

zusammengehaltenen Volkskörper begriff. Dass<br />

gerade er als Arzt dem engen Konnex von Körper<br />

und Nation skeptisch gegenüberstand, ist vielleicht<br />

kein Zufall, zumal solche transzendenten<br />

Gemeinschaftsvorstellungen in einem unmittelbaren<br />

Konkurrenzverhältnis zu denen »seiner«<br />

heiligen katholischen Kirche standen.<br />

Ob man Hectors Politik der Jahre 1919/20 im<br />

juristischen Sinne überhaupt als »Landesverrat«<br />

hätte sanktionieren können, ist eine andere<br />

Frage. Immerhin befand sich die Saar damals in<br />

so etwas wie einem nationalen Schwebezustand,<br />

schufen das Besatzungsregime, die Möglichkeiten<br />

einer friedensvertraglichen Neuregelung<br />

und schließlich der internationale Status der<br />

Völkerbundsregierung ganz andere Voraussetzungen<br />

als es vor 1919 oder nach 1935 der Fall<br />

gewesen wäre. Selbst wenn aber Hector in diesem<br />

Punkt einen Freispruch vor einem virtuellen<br />

Gericht und der realen Geschichte erreichen<br />

könnte, so war doch sein Verhalten nicht frei von<br />

Schuld, von Fehlern und Fehlwahrnehmungen.<br />

Denn so sehr er sich mit seiner Frankreichpolitik<br />

eigentlich für das Wohl seiner Stadt einsetzen<br />

wollte, so sehr übersah er dabei gut und gerne,<br />

dass er sich über die nationalen Gedanken und<br />

Gefühle der allermeisten Mitbürger_innen in seiner<br />

Kommune recht eigenmächtig hinwegsetzte.<br />

Dass er damit die demokratischen Spielregeln im<br />

Saarlouiser Rathaus missachtete. Dass er sogar<br />

bereit war, den großen Mehrheitswillen mit<br />

einem Doppelspiel zu delegitimieren. Ob er dabei<br />

wissentlich trickste oder nur in wohlmeinender<br />

Absicht Dinge zuließ, von denen er selbst lieber<br />

nichts wissen wollte, ist letztlich nur ein gradueller<br />

Unterschied. Vermutlich glaubte er einfach,<br />

auch da ganz Arzt, die einzig richtige Medizin für<br />

seine politischen »Patienten« zu haben.<br />

Die kollektive Erinnerung des Saarlandes an den<br />

Fall Hector hat sich sehr lange gehalten, teils<br />

namentlich, noch viel mehr aber als Metapher für<br />

jenes Feld der deutsch-französischen Wechsellagen,<br />

in dem das Land seine nationale, staatliche<br />

und kulturelle Identität gesucht und gefunden<br />

hat. Die langlebige Erinnerung hat sicher damit<br />

zu tun, dass der Fall Hector den Anfang unseres<br />

»Saarhunderts« beschreibt, dass er genau an jener<br />

Schnittstelle stattfand, an dem staatliche Identitäten<br />

– erstmals einschließlich einer solchen des<br />

Saarlandes selbst – neu verhandelt und nationale<br />

Gefühlslagen neu befeuert wurden. Im Fall Hector<br />

steckte damit bereits die gesamte Potenzialität<br />

des saarländischen »Sonderwegs«, der im<br />

deutsch-französischen Antagonismus begann<br />

und im Zeichen deutsch-französischer Freundschaft<br />

bis heute fortlebt. Die unterschiedliche<br />

Perspektivierung der nationalen Frage, die schon<br />

den Hectorprozess so explosiv gemacht hatte,<br />

bestimmt auch die historische Rückschau auf den<br />

Fall. Die einen, deren nationales Blut die Frankophilie<br />

bereits in den 1920ern in Wallung gebracht<br />

hatte, sahen in ihm so etwas wie die Erbsünde<br />

des Separatismus’ und der patriotischen Unzuverlässigkeit.<br />

Der Fall Hector stand deswegen<br />

ganz folgerichtig stets am Anfang jenes deutschnationalen<br />

Narrativs vom Saarland, das nach<br />

den nationalsozialistischen Monstrositäten zwar<br />

modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage<br />

gestellt werden musste. Mit dem Innenminister<br />

Edgar Hector hatte die »deutsche« Opposition<br />

auch im frankophilen Nachkriegssaarland einen<br />

glänzend funktionierenden Gegenspieler aus der<br />

gleichen Familie gefunden, der damit die alten<br />

Vorstellungen vom Zusammenhang von Blut und<br />

Nation quasi ex negativo spiegelte.


saargeschichte|n 45<br />

Der seit 1930 französische<br />

Saarländer Jacob<br />

Hector (3.v.l.) unter<br />

Franzosen: Hoher<br />

Kommissar Gilbert<br />

Grandval, General<br />

Joseph Louis Marie<br />

Andlauer, Madame<br />

Christine Grandval<br />

(erste Reihe, v.l.n.r.).<br />

(LA SB, NPressPhA)<br />

Auf der anderen Seite der saarländischen Sonderwegsgeschichte<br />

stand die Fraktion derer,<br />

deren nationale Identitätsvorstellungen entweder<br />

bereits nach dem Ersten Weltkrieg Flexibilitäten<br />

zuließen (eine winzige Minderheit)<br />

oder nach den schlimmen Erfahrungen der<br />

Nazizeit einem leiblich-völkisch begründeten<br />

Nationalismus endgültig abgeschworen hatten.<br />

In dieser bis heute lebendigen Tradition hat die<br />

Erinnerung an Jakob Hector einen neuen Platz<br />

erhalten. Seine frankophile Politik wurde nicht<br />

nur vom Ruch des Vaterlandsverrats befreit, sondern<br />

retrospektiv geadelt: durch Hectors Beitrag<br />

zum Widerstand gegen Hitler (der 1933 mit<br />

der Gründung der von Frankreich unterstützten<br />

Saarländischen Wirtschaftsvereinigung begann),<br />

durch seine Emigration nach Frankreich, durch<br />

seinen Status als Verfolgter des Nationalsozialismus.<br />

Dass auch die Umstände des Falles Hector<br />

vor diesem Hintergrund unter eine Art Generalamnestie<br />

gestellt wurden, ist moralisch absolut<br />

verständlich, historiographisch aber fragwürdig.<br />

Nicht nur, weil der Prozess bereits zehn Jahre<br />

vor der nationalsozialistischen Machtergreifung<br />

stattgefunden hatte, sondern auch, weil diese<br />

Überblendung nicht unbedingt zu einer intensiveren<br />

Beschäftigung mit diesem wichtigen Kapitel<br />

saarländischer Geschichte beigetragen hat.<br />

Und heute, was ist geblieben in der saarländischen<br />

Erinnerung an Jakob Hector und seinen Fall?<br />

Man hat auch nach längerer Beschäftigung das<br />

Gefühl, dass es abgesehen von der bereits eingangs<br />

benannten Fanalwirkung seines Namens<br />

wenige Fakten aber viele moralische Grautöne<br />

gibt. Weil die »deutsche« Tradition ihn nicht<br />

gänzlich zur Antifigur aufbauen konnte (dagegen<br />

stand sein antinazistisches Engagement) und<br />

die antinazistische Tradition ihn nicht rundweg<br />

positiv vereinnahmen konnte (dagegen stand<br />

sein undemokratisches Verhalten am Beginn des<br />

»Saarhunderts«), wurde er in eine Ecke des saarländischen<br />

Geschichtsraumes gestellt, die man<br />

am besten nur wenig, ganz diskret beleuchtet.<br />

Selbst in Saarlouis, jener Stadt, in der er sein halbes<br />

Leben gewohnt und gearbeitet und für die<br />

er riskante Reisen nach Paris unternommen hat,<br />

selbst in dieser »seiner« Stadt stammt die heutige<br />

Erinnerungskultur eigentlich von gestern.<br />

Wäre der frankophile Saarstaat nicht gewesen,<br />

würde man Hectors Namen in der Saarlouiser<br />

Öffentlichkeit vermutlich vergeblich suchen.<br />

Denn nur damals gab es für ihn eine öffentliche<br />

Rehabilitation, er erhielt die Ehrenbürgerschaft<br />

der Stadt und schon ein Jahr später (1951), noch<br />

zu seinen Lebzeiten, wurde eine Straße nach<br />

ihm benannt. An der vielleicht deswegen wiederum<br />

das Erstaunlichste ist, dass sie die »Kulturrevolution«<br />

von 1956/57 überlebt hat.<br />

Aber wer weiß, vielleicht gibt es in Saarlouis<br />

ja irgendwann ein Hector-Revival. In Zeiten, in<br />

denen Kulturmanagement und Stadtmarketing<br />

den Reiz der Frankophilie neu entdeckt haben,<br />

in denen man mit strahlenden Augen und ohne<br />

nationale Störfeuer seine französische Festungsgeschichte<br />

präsentieren kann (natürlich auf<br />

Deutsch), in denen man savoir vivre zu Füßen<br />

eines saarlouis-französischen Generals zelebriert,<br />

der nicht nur zu leben, sondern natürlich auch zu<br />

töten verstand – in diesen verrückten, schönen,<br />

modernen Zeiten könnte man sich doch eigentlich<br />

auch wieder mehr an jenen frankophilen<br />

Mann erinnern, der vor hundert Jahren ganz<br />

heimlich große Pläne für seine Stadt entwickelt<br />

hatte. Wären sie aufgegangen, die Saarlouiser<br />

müssten heute nicht mehr nur von der heimlichen<br />

Hauptstadt des Saarlandes schwärmen.<br />

Sie könnten sogar auf das Adjektiv verzichten.


mit dem rütlischwur heim ins reich!<br />

Der Abstimmungskampf von 1935 und seine eidgenössischen Vorbilder<br />

von florian bührer<br />

Toni Zepf, Saarkundgebung<br />

am Niederwalddenkmal<br />

27.<br />

August 1933, Farblithographie,<br />

100 x<br />

155 cm, Auftraggeber:<br />

Saarvereine. (Institut<br />

für Zeitungsforschung<br />

Dortmund)<br />

An der Saar kam es 1935 zu regelrechten Plakatschlachten.<br />

Der Grund: Wie im Versailler Vertrag<br />

vorgesehen, fand am 13. Januar 1935 unter Aufsicht<br />

des Völkerbunds eine Volksabstimmung<br />

statt. Die Saarländer und Saarländerinnen sollten<br />

über ihre Zukunft entscheiden. Vor allem von<br />

deutscher Seite ging der Abstimmung eine massive<br />

Propagandakampagne voraus. Unter Führung<br />

der NSDAP hatten sich 1933 im Saarland<br />

rechte Parteien zur »Deutschen Front« formiert,<br />

die vom Deutschen Reich auch finanziell unterstützt<br />

wurde. Egal ob Befürworter oder Gegner<br />

eines Anschlusses an das Dritte Reich – ihre visuellen<br />

Argumente ähnelten sich stark. Blickt man<br />

aus der Schweiz auf die eingesetzten Bildmotive<br />

ist man überrascht. Denn die sind auch im eidgenössischen<br />

Bildgedächtnis omnipräsent.<br />

An der Saar sei es bei der Saarabstimmung 1935<br />

zu »regelrechten Plakatschlachten« [1] gekommen,<br />

schreiben die Historiker und Autoren Gerhard<br />

Paul und Ralph Schock. Das verwundert insofern,<br />

da in Deutschland Volksabstimmungen nur selten<br />

stattfinden und folglich das Abstimmungsplakat<br />

hier ein Nischendasein fristet. Anders<br />

in der Schweiz. Flaniert man dort vor einem<br />

Abstimmungssonntag durch den öffentlichen<br />

Raum, wird man von der Vielzahl an Plakaten<br />

förmlich erschlagen. Mit Beginn des<br />

Schweizer Bundesstaates und der ersten eidgenössischen<br />

Volksabstimmung 1848 tauchten<br />

allmählich immer mehr Plakate an Häuserund<br />

Plakatwänden auf. Nicht so in Deutschland.<br />

Denn zur gleichen Zeit wurde hier das politische<br />

Plakat verboten. Das Zensurgesetz blieb<br />

bis 1918 in Kraft, politische Plakate waren in<br />

Deutschland bis 1914 in Gänze verboten. [2]<br />

Es dauerte beinahe 20 Jahre, bis im Saarland der<br />

besondere Plakattypus des Abstimmungsplakats<br />

auf deutschem Bode eine kurze Blütezeit erfuhr.<br />

Die beiden Abstimmungskämpfe von 1935 und<br />

1955 zeigen die wechselvolle Geschichte des Saar-<br />

[1] Gerhard Paul; Ralph Schock, Saargeschichte im Plakat<br />

1918–1957, Saarbrücken 1987, S. 7.<br />

[2] Kai Artinger, Das politische Plakat – Einige Bemerkungen<br />

zur Funktion und Geschichte. In: ders (Hg.), Die Grundrechte<br />

im Spiegel des Plakats von 1919 bis 1999, Berlin<br />

2000, S. 15–22, hier S. 19.<br />

landes zwischen Deutschland und Frankreich,<br />

zwischen Demokratie und diktatorischer Herrschaft<br />

und zwischen militärischer Besatzung und<br />

vermeintlicher Befreiung. Jeder dieser Punkte<br />

würde meterweise historische Bücherregale füllen.<br />

Die Bildwissenschaft interessiert sich jedoch<br />

mehr für die eingesetzten Bildmotive. Denn sie<br />

sind es, die die stummen Plakate zum Sprechen<br />

bringen. Wie sich zeigt, waren vor allem bei der<br />

ersten Abstimmung 1935 an der Saar Bildmotive<br />

beliebt, die in ihrer ästhetischen Gestaltung<br />

und in ihrer ikonographischen Aussage im kollektiven<br />

schweizerischen Bildgedächtnis einen<br />

festen Platz haben, und die auch in den eidgenössischen<br />

Abstimmungskämpfen seit mehr


saargeschichte|n 47<br />

als hundert Jahren eine große Rolle spielen. Nämlich<br />

die Gründermythen Wilhelm Tell oder der<br />

Rütlischwur. Sie sind so genannte »Schlagbilder«,<br />

die der Hamburger Kunst- und Bildhistoriker<br />

Aby Warburg während des Ersten Weltkriegs<br />

als Reaktion auf die gestiegene Bildproduktion<br />

prägte. Er meinte damit den gesteigerten affektiven<br />

Gehalt von Bildern, die besonders in politischen<br />

Streitfragen mit Kalkül eingesetzt wurden.<br />

[3]<br />

Durch sie werden politische Vorstellungs- und<br />

Erscheinungsbilder geformt und propagiert. Die<br />

saarländischen Plakate zeigen, dass diese Schlagbilder<br />

länderübergreifend ihre Wirkung in der<br />

politischen Propaganda entfalten. Egal bei welch<br />

politischer Couleur. Egal ob an der Saar, an der<br />

Prims oder eben an der Limmat.Der Duft der Freiheit<br />

weht nur wenige Jahre an der Saar Nach<br />

der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten<br />

Weltkrieg trat am 10. Januar 1920 der Versailler<br />

Vertrag in Kraft. Da sich Frankreich mit der Annexion<br />

des Saarreviers nicht durchsetzten konnte,<br />

einigten sich alle Parteien auf den Kompromiss,<br />

dass das Saargebiet fünfzehn Jahre lang vom<br />

Völkerbund verwaltet werden sollte. Der französische<br />

Staat übernahm als Ersatz für die im<br />

Ersten Weltkrieg zerstörten nordfranzösischen<br />

Kohlengruben und als Reparationsleistungen<br />

die Kontrolle über die Gruben an der Saar. Unter<br />

dem Vorsitz des Franzosen Victor Rault nahm die<br />

Regierungskommission am 26. Februar 1920 ihre<br />

Amtsgeschäfte auf. Rault drang darauf, die französischen<br />

Rechte an der Saar auszubauen und<br />

kritische Stimmen zu unterdrücken. Erst 1922<br />

wurde auf Drängen der Bevölkerung ein Länderrat<br />

eingerichtet, der politisch aber nur eine<br />

beratende Funktion hatte. Nach fünfzehn Jahren<br />

musste also die saarländische Bevölkerung<br />

darüber entscheiden, ob sie zu Frankreich oder<br />

Deutschland gehören wollte, oder ob der Status<br />

Quo, das Mandat des Völkerbundes, aufrechterhalten<br />

werden sollte. Der überwiegende Teil<br />

der Saarbevölkerung neigte der Rückgliederung<br />

an Deutschland zu. Am Tag der Abstimmung war<br />

dann die vaterländische Gesinnung des Volkes<br />

stärker als alle wirtschaftlichen Erwägungen, die<br />

gegen den Anschluss sprachen. Über 90 Prozent<br />

der Wähler stimmten für die Wiedervereinigung<br />

mit dem Deutschen Reich. [4]<br />

Im Herbst 1933 setzte in den saarländischen<br />

Städten und Dörfern ein regelrechter »Plakat-,<br />

Transparenten- und Fahnenkrieg« [5] ein. Zwischen<br />

Befürwortern und Gegnern einer »Heimkehr ins<br />

Reich« entbrannte ein heftiger Kampf auf den<br />

Plakatwänden. Die »Deutsche Front« stand an<br />

der Spitze jener politischen Kräfte, die für die<br />

Rückkehr des Saargebiets in ein diktatorisch<br />

regiertes, faschistisches Deutsches Reich eintraten.<br />

Sie war eine Sammelbewegung aus konservativen,<br />

rechtsgerichteten und bürgerlichen<br />

Parteien und setzte auf die Zugkraft nationaler<br />

Parolen. [6] Auch Gebrauchsgraphiker wie der<br />

Saarbrücker Toni Zepf stellten ihre Arbeit in den<br />

nationalen Dienst. Sein 1933 entworfenes Plakat<br />

»Saar Kundgebung am Niederwald-Denkmal«<br />

wirbt mit einer gewaltig senkrecht in den Himmel<br />

ragenden, schwarz-weiß-rot eingefärbten<br />

Schwurhand, hinter der aufrecht und herrschaftlich<br />

auftretenden Germania für die Rückkehr<br />

des Saarlands nach Deutschland. Inmitten einer<br />

heimisch anmutenden, grau schattierten Landschaft<br />

steigt jene Schwurhand empor, die in der<br />

Schweiz eine wohl Bekannte ist. Als Insigne der<br />

Qualität ziert sie seit vielen Jahren Lebensmittelverpackungen<br />

und der Legende nach sollen<br />

drei freiheitsliebende Eidgenossen sie auf einer<br />

Anonym, Wählt Liste<br />

3 zu den Grossratsund<br />

Regierungsratswahlen<br />

im Kanton<br />

Bern vom 5./6. Mai<br />

1934, Auftraggeber:<br />

Nationale Front, Farblithographie,<br />

100 x 71<br />

cm. (Plakatsammlung<br />

Bern, SNL_POL_333)<br />

[3] Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagungen in Wort<br />

und Bild zu Luthers Zeiten (1920). In: Horst Bredekamp;<br />

Michael Diers; Kurt W. Forster; Nicholas Mann; Salvatore<br />

Settis; Martin Warnke (Hg.): Aby Warburg. Gesammelte<br />

Schriften. Erste Abteilung, Band I.2. Die Erneuerung der<br />

heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge<br />

der europäischen Renaissance, Berlin 1998, S. 487–5<strong>58</strong>,<br />

hier S. 513.<br />

[4] Peter Rütters, Landesparlamentarismus – Saarland, In:<br />

Siegfried Mielke; Werner Reuter (Hg.): Landesparlamentarismus.<br />

Geschichte – Struktur – Funktionen, 2. durchgesehene<br />

und aktualisierte Auflage, Wiesbaden, S. 471–<br />

508, hier S. 472.<br />

[5] Paul; Schock, 1987, S. 61.<br />

[6] Wolfgang Behringer; Gabriele Clemens, Geschichte des<br />

Saarlandes, München 2009, S. 101.


Anonym, Nur Status<br />

Quo schützt unsere<br />

Heimat, Auftraggeber:<br />

Status-quo-<br />

Bündnis 1934, Farblithographie<br />

50 x 66<br />

cm. (Deutsche Bibliothek<br />

Frankfurt am<br />

Main)<br />

Wiese am Vierwaldstättersee im ausgehenden<br />

15. Jahrhundert gen Himmel gereckt haben. Die<br />

Hand rekrutiert auf den Rütlischwur – jener<br />

Gründungsmythos der Schweiz, mit dem sich die<br />

Eidgenossen gegen die Habsburger Tyrannei zur<br />

Wehr gesetzt haben. [7] Im populären Geschichtsbild<br />

der Schweizer Bürger ist der Schwur Symbol<br />

der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung.<br />

Im »Weissen Buch von Sarnen«, einer Sammlung<br />

eidgenössischer Urkunden, hieß es 1470:<br />

»und swüren einandern truw und wahrheit und<br />

ir lib und güt ze wagen und sich der herren zu<br />

[7] Ausführlich zum Rütlischwur und den historischen Begebenheiten:<br />

Jean-François Bergier, Wilhelm Tel – Realität<br />

und Mythos, Zürich 2012.<br />

werren.« [8] Hunderte Jahre später aktualisierte<br />

Zepf den Schwur vor einem Hakenkreuz, wahrlich<br />

dem Symbol schlechthin für Unfreiheit und<br />

Unterdrückung: »Schwört und sprecht: Recht<br />

bleibt Recht, Wahr bleibt wahr: Deutsch die Saar.«<br />

Zepf hat den Treueschwur nationalsozialistisch<br />

aufgeladen und macht das nicht zuletzt durch<br />

die Farbkombination schwarz-weiß-rot deutlich.<br />

In seiner Darstellung schwört das Volk nicht der<br />

Freiheit, sondern der nationalsozialistisch Tyrannei<br />

die Treue. Diese faschistische Umdeutung des<br />

[8] Zit. in: Georg Kreis; Josef Wiget, Mythos Rütli: Geschichte<br />

eines Erinnerungsortes, Zürich 2001, S. 77. Sinngemäße<br />

Übersetzung: und schwören gegenseitige Treue und<br />

Wahrheit, Leib und Leben zu wagen und sich gegen die<br />

Herren zu wehren.


saargeschichte|n 49<br />

Schwurs hat das Saarland aber nicht exklusiv. In<br />

der politischen Agitation der Schweiz erlebte der<br />

Rütlischwur vor allem während der Geistigen<br />

Landesverteidigung einen Höhepunkt. Die Geistigen<br />

Landesverteidigung war eine politisch-kulturelle<br />

Bewegung von den 1930er bis in die 60er<br />

Jahre, die »schweizerische« Werte stärken und<br />

das Land gegen die Bedrohung von Nationalsozialismus,<br />

Faschismus und später Kommunismus<br />

schützen sollte. Freilich war die Bewegung<br />

nicht vor faschistischen Tendenzen sicher. Beinahe<br />

zeitgleich warb die »Nationale Front« im<br />

Kanton Bern zu den Grossrats- und Regierungsratswahlen<br />

mit der Schwurhand. Beide<br />

Bewegungen waren in ihrer politischen Haltung<br />

identisch. Auch die »Nationale Front« lehnte sich<br />

an die NSDAP an und machte aus ihrer Liebe<br />

zum Nationalsozialismus keinen Hehl. [9] Statt<br />

schwarz-weiß-rot sollte auf dem Plakat eine rote<br />

Schwurhand samt weißem Kreuz die patriotischem<br />

Gefühle ansprechen. In beiden Plakatbeispielen<br />

ging der freiheitsstrebende Schwur und<br />

der Nationalsozialismus eine unheilvolle Symbiose<br />

ein.<br />

Die Gegner der Rückgliederung des Saarlandes<br />

traten für den Staus Quo ein. Sie mussten im<br />

Abstimmungskampf gegen eine Welle des<br />

[9] Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert,<br />

München 2015, S. 234.<br />

Nationalgefühls ankämpfen. Da die<br />

Befürworter einer Rückkehr zum Großdeutschen<br />

Reich die nationale Unzuverlässigkeit<br />

der Linken betonten,<br />

mussten die Anhänger des Status Quo<br />

ihre Liebe für die Heimat und ihr nationales<br />

Bekenntnis unter Beweis stellen.<br />

»Nur Status Quo schützt unsere<br />

Heimat« verkündet das bekannteste<br />

Plakat der Einheitsfront aus Sozialisten,<br />

Antifaschisten und Kommunisten.<br />

Wie auch ihre politische Kontrahenten<br />

vertrauten sie der Wirkmacht der<br />

Schwurhand. Mit ihr in tiefer Nacht<br />

über einem stilisierten Saargebiet<br />

voller Kirchtürme und Fördergerüste<br />

wollten sie die Propaganda der Gegner<br />

vereinnahmen und das Nationalgefühl<br />

von links instrumentalisieren.<br />

In der Schweizer Plakatgeschichte ist<br />

es keine Seltenheit, dass dasselbe Plakatsujet<br />

während einer Abstimmung<br />

von rechts, wie auch von links vereinnahmt<br />

wird. [10] Der Rütlischwur<br />

hat viele Zungen. Er ist länderübergreifend<br />

offen für unterschiedliche, mitunter<br />

divergierende Interpretationen. Auch an der<br />

Saar.Auch auf ihrem Plakat »Volksfront für Status<br />

Quo« stellte die Einheitsfront den schweizerischen<br />

Gründungsmythos in ihre Sache. Die<br />

drei Eidgenossen wurden ab dem 18. Jahrhundert<br />

zu einem beliebten Motiv im eidgenössischen<br />

Kunstschaffen. Eine der prominentesten Visualisierungen<br />

der freiheitsgewillten Eidgenossen<br />

ist sicherlich Johann Heinrich Füsslis Gemälde<br />

»Die drei Eidgenossen beim Schwur auf dem<br />

Rütli« von 1781. Anfang des 20. Jahrhunderts vollzog<br />

sich die schrittweise Ablösung vom konkreten<br />

Ort und die Ausdrucksfähigkeit der Gruppe<br />

wurde für einen allgemeinen politischen Kontext<br />

vereinnahmt. [11] Auf dem Plakat des Status-Quo-<br />

Bündnisses haben die drei Schwörenden ihre historische<br />

Kleidung zugunsten des »Dresscodes«<br />

der vorkriegszeitlichen Drei-Klassen-Gesellschaft<br />

eingetauscht. Sie verkörpern die Vereinigung des<br />

Bürgertums, der Arbeiter- und der Bauernschaft.<br />

In ähnlicher Tonlage hat Friedrich Schiller in sei-<br />

[10] Siehe hierzu etwa: Bruno Margadant, Das Schweizer Plakat:<br />

1900–1983, Basel 1983 oder auch Bruno Margadant,<br />

»Für das Volk – gegen das Kapital«: Plakate der schweizerischen<br />

Arbeiterbewegung von 1919 bis 1973: 99 Plakate,<br />

Zürich 1973.<br />

[11] Florian Bührer, Die Ikonographie Schweizer Abstimmungsplakate,<br />

Berlin 2015, S. 49.<br />

Anonym, Volksfront<br />

für Status<br />

Quo, Auftraggeber:<br />

Status-quo-Bündnis,<br />

1934, Schwarzer<br />

Druck auf weißem<br />

Grund, 91 x 61 cm.<br />

(Hoover Institution<br />

Library & Archives,<br />

Stanford University,<br />

XX343.8994)


Hans Schweitzer<br />

(Mjölnir), Deutsche<br />

Mutter - heim zu Dir!,<br />

Auftraggeber: Deutscher<br />

Front 1934, Farblithographie,<br />

84 x 119<br />

cm. (Bundesarchiv<br />

Koblenz, Plak 003-<br />

004-019)<br />

nem Drama Wilhelm Tell den Rütlischwur formuliert:<br />

Dort versprechen sich die drei Eidgenossen:<br />

»Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,<br />

in keiner Not uns trennen und Gefahr.« [12] Der<br />

Gefahr des Nationalsozialismus begegneten die<br />

Anhänger des Statue Quo allerdings ganz und gar<br />

nicht geeint. In ihrem Plakatschaffen ignorierten<br />

sie ganze Bevölkerungsgruppen wie Anhänger<br />

der katholischen Kirche oder Frauen. So ist die<br />

Selbstbeschreibung »Volksfront« mit Vorsicht zu<br />

[12] Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Tübingen 1804, S. 147.<br />

genießen, wie Gerhard Paul und Ralph Schock<br />

anmerken. [13] Immerhin: Frauen durften bei der<br />

Abstimmung ihre Stimme abgeben. Dieses »Privileg«<br />

war den Schweizer Frauen noch jahrelang<br />

vergönnt. Die Mutter der Nation Ein »optischer<br />

Schrei« [14] , der Aufmerksamkeit erzeugt, ist Hans<br />

Schweitzers Plakat »Deutsche Mutter – heim<br />

[13] Paul; Schock, 1987, S. 67.<br />

[14] So beschreibt der Kunsthistoriker Kai Artinger die wesentliche<br />

Aufgabe eines Plakats. Sieht hierzu: Artinger,<br />

2000, S. 19.


saargeschichte|n 51<br />

zu dir«. Es erfüllt im besten Sinne ein wesentliches<br />

Merkmal politischer Plakate, wie es in der<br />

Schweiz von Plakatkennern vor vielen Jahren<br />

formuliert wurde: »Es wird an unterschwellige<br />

Regungen appelliert, und es werden Emotionen,<br />

manchmal Aggressionen ausgelöst.« [15]<br />

Die »Nationale Front« zielte mit ihrem Plakat<br />

auf die »Ausschaltung des kalt rechnenden Verstandes«<br />

und die »Eroberung des Herzens«. [16] Für<br />

Schweitzer, der unter dem Pseudonym Mjölnir<br />

gestaltete, ist die Rückkehr des Saarlandes zum<br />

Dritten Reich etwas sehr persönliches. Es ist, als<br />

komme der Sohn heim und falle in die Arme der<br />

Mutter. Mjölnir, einer der bekanntesten nationalsozialistischen<br />

Plakatkünstler, proklamierte<br />

unmissverständlich: Deutscher Sohn, komm<br />

heim ins Reich! Der Sohn hat auf dem Plakat die<br />

französische Fabrikkulisse hinter sich gelassen<br />

und überquert die saarländisch-französsiche<br />

Grenze. Erschöpft fällt er in seiner deutschen Heimat<br />

seiner Mutter vor dem Trier Dom in die Arme.<br />

In einer Zeit voller Ungewissheit greift Mjölnir<br />

die latenten Bedürfnisse der saarländischen<br />

Bevölkerung nach Geborgenheit und Sicherheit<br />

auf. Das großdeutsche Reich als hilfsbereite Mutter<br />

versprach in Zeiten der großen Wirtschaftskrise<br />

den Menschen an der Saar vermeintlich<br />

Arbeit und Brot. Die enge Koppelung der Begriffe<br />

Mutter und Heimat bot, wie die beiden Publizis-<br />

[15] Willy Rotzler; Fritz Schärer; Karl Wobmann, Das Plakat<br />

In der Schweiz, Zürich 1991, S. 11.<br />

[16] Paul; Schock, 1987, S. 61.<br />

tinnen Maruta Schmidt und Gabi Dietz<br />

aufzeigen, den Nationalsozialisten<br />

eine entsprechende Projektionsfläche,<br />

um die Begeisterung und Bindung<br />

der Volksgemeinschaft an die eigene<br />

Nation und deren vermeintliche<br />

Größe anzufachen. [17] Die gesellschaftliche<br />

Überhöhung des Mutterbildes<br />

und vor allem der Bildtypus der liebevoll<br />

und schützenden Mutter, die<br />

sich dem Kind zuneigt und es schützend<br />

umfaßt, ist in der politischen<br />

Ikonographie wohlbekannt. In der<br />

Schweiz ging die »Matrona Helvetia«<br />

als mütterliche Personifikation in der<br />

Ikonographie des 19. Jahrhunderts ein.<br />

Im Konflikt mit Preußen um den Kanton<br />

Neuenburg 1856 und zur Zeit der<br />

ersten Gesamtrevision der Verfassung<br />

1874 trat die Helvetia als gerüstete<br />

Mutter wehrhafter Söhne mit Speer,<br />

Schild und Panzer auf. [18] Dieses Bild<br />

der angriffslustigen Helvetia hat sich während<br />

des Ersten Weltkriegs gewandelt. Von nun an<br />

hat sich die Helvetia Schild und Speer abgelegt.<br />

Ganz im Sinne des Zeitgeists zeigt eine Postkarte<br />

des Roten Kreuz zur Bundesfeier 1917 sie in<br />

ihrer mütterlichen Rolle. Nach einem Gemälde<br />

von Eugène Burnand gibt sie sich als einfache<br />

Bürgersfrau, gekleidet in einen groben Mantel,<br />

und hilft den Schwachen und Verfolgten. Barmherzig<br />

nimmt sie ihre Landeskinder unter den<br />

Mantel. Die häufige Darstellung der Helvetia als<br />

Mutter für bedrängte Kinder, Alte und Flüchtende<br />

in der Not ist ein typisches Schlagbild der Schweizer<br />

Ikonographie. Jedoch tritt sie immer jung<br />

und aufrecht auf. Mjölnirs Darstellung der älteren<br />

Frau in gebückter Haltung und grauem Haar<br />

zeugt von den Qualen, die der verlorene Weltkrieg<br />

und der Versailler Vertrag über sie – also über<br />

Deutschland – gebracht haben. Macht weit auf<br />

die Tore Ein besonderes Plakat ist Sepp Semars<br />

»Zu Deutschland«. Am oberen Rand prangt ein<br />

lichtdurchflutetes Hakenkreuz. Es ist eines der<br />

wenigen Plakate, das mit nationalsozialistischer<br />

Symbolik wirbt. Ansonsten verzichtete die »Deutsche<br />

Front« darauf, derart offen ihre politische<br />

Heimat zur Schau zu stellen. Die Plakate sollten<br />

den Eindruck erwecken, es handle sich bei der<br />

[17] Maruta Schmidt; Gabi Dietz, Frauen unterm Hakenkreuz.<br />

Eine Dokumentation, München 1985, S. 56–67.<br />

[18] Ted Stoll, Helvetia und ihre Schwestern: Trouvailles aus<br />

der Rumpelkammer der Geschichte: ein inoffizieller<br />

Beitrag zum Jubeljahr 1991, Bern 1990, S. 76.<br />

Sepp Semar, Zu<br />

Deutschland, Auftraggeber:<br />

Deutsche<br />

Front 1934, Zweifarbendruck,<br />

82 x 117<br />

cm. (Bundesarchiv<br />

Koblenz, Plak 003-<br />

004-020)


Rolf Gfeller, Wählt<br />

freisinnig, Für eine<br />

starke freie Demokratie,<br />

Auftraggeber:<br />

Freisinnig-<br />

Demokratische<br />

Partei der Schweiz,<br />

1951, Farblithographie<br />

127,5 x<br />

90,5cm. (Plakatsammlung<br />

Bern,<br />

SNL_POL_<strong>58</strong>6)<br />

Abstimmung um eine nationale Entscheidung<br />

unabhängig politischer Rahmenbedingungen. [19]<br />

Der Zweibrücker Gebrauchsgrafiker Semar stellte<br />

sein künstlerisches Talent regelmäßig in den<br />

Dienst des Nationalsozialismus. Sein Aushang<br />

»Zu Deutschland« strahlt eine enorme Entschlossenheit<br />

und Siegeszuversicht aus. Ein muskulöser,<br />

ganz in schwarz gekleideter Arbeiter in<br />

Rückansicht stößt mit einem mächtigen Kraftakt<br />

ein schweres Tor auf. Es ist das Tor zum Dritten<br />

Reich. Endlich tritt der junge Mann aus der französischen<br />

Unterdrückung heraus und in das wärmende<br />

Licht des Hakenkreuzes. Für Semar stand<br />

ohne Zweifel fest, wo die Zukunft des Saarlandes<br />

liegen sollte.<br />

In seiner ästhetischen Gestaltung erinnert das<br />

Plakat unweigerlich an ein Plakat des Berner<br />

Künstler Rolf Gfeller. Für die Freisinnig-Demokratische<br />

Partei der Schweiz gestaltete er in den<br />

Fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein<br />

[19] Franz Maier; Sylvain Chimello; Charles Hiegel, Krieg auf<br />

Plakaten – La Guerre par l‘Affiche, Koblenz 2000, S. 77.<br />

nahezu identisches Plakat. Zumindest<br />

aus formalen Gesichtspunkten. Ebenfalls<br />

in Rückansicht stößt ein hermsärmeliger<br />

junger Mann, nicht ganz<br />

so muskulös, in zeitgenössischer Kleidung<br />

kraftvoll zwei Türflügel auf und<br />

eröffnet sich und dem Betrachter den<br />

Weg in die Zukunft. Anders als bei<br />

Semar liegt die Zukunft aber nicht im<br />

nationalsozialistischen Terrorregime,<br />

sondern in einer starken und freien<br />

Demokratie. Es ist wohl gewiss, dass<br />

Gfeller nicht Semars Plakat zum Vorbild<br />

nahm. Vielmehr erinnern die beiden<br />

Plakate in ihren Kompositionen und<br />

der malerischen Stile an ein bekanntes<br />

Schweizer Gemälde. Wären statt<br />

der Türflügel schroffe Felsen und Wolken,<br />

würde man unweigerlich an den<br />

Hodlerschen Tell denken. Der Schweizer<br />

Nationalmaler Ferdinand Hodler<br />

erschuf um 1896 den überlebensgroßen<br />

»Wilhelm Tell«. Der Schweizer<br />

Freiheitskämpfer steht frontal auf<br />

einer Anhöhe, fixiert den Betrachter<br />

mit grimmigem Ausdruck, in der linken<br />

Hand trägt er die Armbrust als<br />

Zeichen der Kampfbereitschaft. Links<br />

und rechts sind die bekannten Wolken,<br />

aus denen er hervortritt. Durch<br />

die Kehrtwende der Figur verändern<br />

beide Künstler die Aussage. Sie sprechen<br />

den Betrachter nicht mehr direkt an, sondern<br />

zeigen ihm den künftigen Weg. Der könnte<br />

unterschiedlicher nicht sein. Bei Semar endet<br />

der Weg im Nationalsozialismus endet, Gfeller<br />

macht sich für eine freie Demokratie stark. Am<br />

18. Januar beschloss der Völkerbund die Wiedervereinigung<br />

des Saargebiets mit dem Deutschen<br />

Reich zum 1. März 1945. An jenem Tag fanden an<br />

der Saar große Feierlichkeiten statt und Adolf<br />

Hitler nahm vor dem Saarbrücker Rathaus den<br />

Vorbeimarsch der »Deutschen-Front«-Formation<br />

ab. »Getreu bis in den Tod« hatten sich die Saarländer<br />

dem nationalsozialistischen Deutschland<br />

verschworen und leisteten diesen Schwur noch<br />

einmal auf einem Plakat vom 1. März. Wie wir<br />

wissen, kam der Tod bereits wenige Jahre später.<br />

Was aber bis heute blieb sind die Bildmotive – die<br />

Schlagbilder – die ihre Kraft aus den Varianten<br />

langer Überlieferungen gewinnen und die an der<br />

Saar, weit weg der eidgenössischen Heimat, offen<br />

für unterschiedliche, mitunter divergierende<br />

Interpretationen sind.


seines zeichens ein dichter<br />

saargeschichte|n 53<br />

Der Kölner Expressionist Johannes Theodor Kuhlemann und Saarbrücken<br />

von ralph schock<br />

Unter dem Titel »Also heraus und weit weg!<br />

– Expressionismus, eine Epoche und die Saarregion«<br />

wird im Sommer <strong>2020</strong> im Conte-Verlag<br />

ein Lese- und Bilderbuch erscheinen, in dem<br />

Ralph Schock Spuren expressionistischer Schriftsteller<br />

und Künstler mit einem Bezug zur Saarregion<br />

dokumentiert.<br />

Zu ihnen gehört der am 4. November 1891 in Köln<br />

geborene und am 9. März 1939 dort gestorbene<br />

Lyriker, Kabarettist, Mundartautor und Musikkritiker<br />

Johannes Theodor Kuhlemann.<br />

Wir drucken einen Auszug aus dem Kapitel über<br />

ihn.<br />

Der 77-seitige Gedichtband »Consolamini«, 1919<br />

im Kairos-Verlag in Köln-Ehrenfeld erschienen,<br />

ist das Hauptwerk dieses rheinischen Expressionisten.<br />

Die Illustrationen des Bandes stammen<br />

von Max Ernst, der im gleichen Jahr zusammen<br />

mit Johannes Baargeld und Hans Arp die Kölner<br />

Dada-Gruppe gründete. Die fünf Zeichnungen<br />

waren die ersten Buchillustrationen des damals<br />

noch weitgehend unbekannten Künstlers. Kuhlemann<br />

und Ernst, gleichaltrig, waren befreundet.<br />

Als Max Ernst seine erste Frau Luise Straus heiratete,<br />

verfasste Kuhlemann ein dreiteiliges Hochzeitscarmen<br />

mit dem Titel »Hymne«. Mit folgender<br />

Nachschrift wurde es in »Consolamini«<br />

aufgenommen: »Gesprochen am 7. Oktober 1918<br />

auf der Hochzeit meiner Freunde Max Ernst und<br />

Lou Straus.« (S. 65).<br />

Schon 1915 hatte Max Ernst versucht, Kuhlemann<br />

an den »Sturm«-Herausgeber Herwarth Walden<br />

zu vermitteln, wo er selbst schon zahlreiche Illustrationen<br />

veröffentlicht hatte. Am 19. Dezember<br />

jenes Jahres übersandte er Walden ein Kuhlemann-Gedicht<br />

mit der Bitte um Publikation: »Ich<br />

schicke Ihnen ein sehr erhabenes Gedicht meines<br />

Freundes Joh. Th. Kuhlemann«. Doch Walden war<br />

der Text möglicherweise zu erhaben, zu einer Veröffentlichung<br />

kam es jedenfalls nicht.<br />

Zu dem Band »Consolamini« hatte Max Ernst<br />

Federzeichnungen beigesteuert, obwohl ihm<br />

der »symphonische, leicht hölderlinsche« Ton der<br />

Gedichte inzwischen »bereits fremd geworden«<br />

sei, wie Werner Spies weiß, der in den Zeichnungen<br />

Ernsts »Klee-Reminiszenzen« erkennt. Da der<br />

Lyrikband nahezu unverkäuflich blieb, wurde fast<br />

die gesamte Auflage 1920 eingestampft. Seine<br />

ersten Gedichte hatte Kuhlemann bereits 1913<br />

in der in Heidelberg erschienenen Anthologie<br />

»Fanale« veröffentlicht, in der auch Lyrik des in<br />

Saarlouis geborenen Expressionisten Richard<br />

Maximilian Cahén abgedruckt war.<br />

Der mehrfach unter dem Pseudonym »Ithaka«<br />

(abgeleitet aus den Anfangsbuchstaben seines<br />

Namens) veröffentlichende Autor verließ<br />

1919 Köln, um eine Stelle als Schriftleiter einer<br />

Saarbrücker Musikzeitschrift zu übernehmen.<br />

Er wohnte laut Eintrag im Saarbrücker Melderegister<br />

vom 11. Dezember 1919 bis zum 20.<br />

August 1920 in der Blumenstraße 33, danach, bis<br />

zu seiner Abmeldung aus Saarbrücken am 27. Mai<br />

1922, in der Lebacher Straße 17. Als Beruf ist auf<br />

der Meldekarte »Schriftsteller« angegeben.<br />

In Köln wurde Kuhlemann vor und nach seinem<br />

Aufenthalt an der Saar von dem Tabakgroßhändler<br />

Josef Feinhals (Collofino) gefördert, einem vermögenden<br />

Kunstsammler und Mäzen der Kölner<br />

und Rheinischen Kunst- und Kulturszene. Der<br />

Autor, der sieben Fremdsprachen beherrschte<br />

und sich exzellent in europäischer Geschichte,<br />

Kunst, Literatur und Musik auskannte, wurde von<br />

Feinhals als Sekretär angestellt und arbeitete als<br />

Kulturhistoriker in dessen Tabakmuseum. Der gut<br />

vernetzte Unternehmer Feinhals war auch mit<br />

Hermann Hesse befreundet, der ihn unter seiner<br />

latinisierten Namensform Collofino in mehreren<br />

Erzählungen und im »Glasperlenspiel« erwähnte.<br />

Leider ist über eine Beziehung zwischen Hesse<br />

und Kuhlemann nichts bekannt. Die umfangreiche<br />

Korrespondenz von Feinhals, die darüber


Saarbrücker Meldekarte<br />

des Johannes<br />

Kuhlemann. (StA SB)<br />

vielleicht hätte Auskunft geben können, wurde<br />

mit der Villa des Unternehmers Anfang Juli 1943<br />

bei einem Bombenangriff auf Köln zerstört. Feinhals-Collofino<br />

starb am 1. Mai 1947, und zwar auf<br />

Schloß Randegg, dem Wohnsitz seines Freundes,<br />

des in St. Avold geborenen expressionistischen<br />

Schriftstellers und Kunstsammlers Hans Koch.<br />

In einer biographischen Skizze, der Einleitung<br />

zu einer <strong>Ausgabe</strong> von Gedichten Kuhlemanns in<br />

Kölner Mundart, geht Otto Brües kurz auf dessen<br />

Saarbrücker Zeit ein: »Er wird dort Schriftleiter,<br />

und die Weite seiner Bildung ermöglicht<br />

ihm, sich auf vielerlei Gebieten zu tummeln, vor<br />

allem kann er seiner Neigung zur Musik nachgehen.<br />

Seine Musikkritiken gehören zum Besten,<br />

was er wertend hinterlassen hat.« Brües erwähnt<br />

auch dunkle Seiten Kuhlemanns: »Daß sein äußeres<br />

Leben nun gesichert scheint, bedeutet ihm<br />

wenig. In seinem Innern ist er, der leicht Verletzliche,<br />

zutiefst verwundet, auch die Freundschaft<br />

vieler junger Menschen, die sich um ihn<br />

scharen, bringt ihm keinen Trost. […] Er wird nun<br />

im Übermaß der Eindrücke leiblich und seelisch<br />

krank, und die Freunde finden ihn manchmal auf<br />

dem Bette wie tot.« (S. 11) Dies scheint auf eine<br />

depressive Veranlagung Kuhlemanns hinzudeuten,<br />

zudem war er offenbar dem Alkohol nicht<br />

gänzlich abgeneigt. Das legt ein seinem Gedicht<br />

»Der Botengänger« beigefügtes Motto des französischen<br />

Lyrikers Charles-Louis Philippe nahe: »Il<br />

y a un bon Dieu pour les ivrognes« (Gott sei auch<br />

den Trunkenbolden, den Säufern, gnädig …)<br />

Der Schriftsteller Karl Willy Straub (1880–1971),<br />

der nach dem Ersten Weltkrieg in Saarbrücken<br />

lebte, begegnete dort Kuhlemann. In einem drei<br />

Jahrzehnte später entstandenen Gedenkartikel<br />

erinnerte er sich recht herablassend an ihn: »Seines<br />

Zeichens ein Dichter. Ein schmächtiger, mit<br />

einer Hornbrille bewaffneter junger Mensch, der<br />

es nicht dabei bewenden ließ, selbst in die Saiten<br />

seiner etwas verstimmten Lyra zu greifen, sondern<br />

auch die vor ihm und neben ihm dichtenden<br />

Kollegen von Goethe bis Stefan George einer<br />

ihm lauschenden Gemeinde nahe zu bringen<br />

versuchte. Einen besonderen Kreis von Hörern<br />

bildete eine Anzahl junger Menschen beiderlei<br />

Geschlechts, meistens Pennäler und höhere<br />

Töchter der oberen Schülerklassen. Da es Kuhlemann,<br />

dem Vermittler besserer Literatur, an<br />

einem geeigneten Raum fehlte (in seine Mietbude<br />

konnte er wirklich niemanden einladen,<br />

ohne missverstanden zu werden), so verlegte er<br />

seine wöchentlich einmal abzuhaltenden Privatissima<br />

kurzerhand in das Schloßcafé. Hier in<br />

einer stillen Ecke versammelten sich die Adepten<br />

einer brotlosen Kunst und lauschten bei Kaffee<br />

und Kuchen den Ausführungen des vom Nymbus<br />

[!] der Dichtkunst umgebenen Meisters. War die<br />

Stunde abgelaufen, dann türmte sich das Honorar<br />

in Gestalt von Crèmeschnitten, Nußschiffchen<br />

und Mohrenköpfen auf Kuhlemanns Teller. Aber<br />

wohin mit dem Segen? Der Meister wußte sich<br />

zu helfen. Er verschwand geheimnisvoll im W.C.<br />

Wenn er wiederkam, entnahm er seiner Rocktasche<br />

mehrere Meter des bekannten schmalen<br />

grauen oder rosanen Kreppapiers und begann,<br />

dem Naturalien-Honorar einen Verband anzulegen,<br />

um dessen Kunstfertigkeit ihn mancher<br />

Sanitäter hätte beneiden können. Für die Speisekammer<br />

der nächsten Tage hatte Johannes Kuhlemann<br />

gesorgt.<br />

Zehn Jahre später schlug mir ein Teilnehmer der<br />

Rheinischen Dichtertagung in Freiburg [1931] auf<br />

die Schulter. Es war ein sehr korpulenter Mann<br />

mit dicker Hornbrille und Baskenmütze. Die Art<br />

der Begrüßung eines mir völlig Fremden ging<br />

mir auf die Nerven, weshalb ich wohl etwas<br />

zurückhaltend meinen Namen nannte. ›Sie kennen<br />

mich nicht mehr?‹, lachte der Dicke. ›Ja, ich<br />

habe mich ein bißchen verändert, das muß ich<br />

zugeben: Johannes Kuhlemann aus dem Schloßcafé<br />

in Saarbrücken.‹ ›Ach, Sie sind es‹, rief ich<br />

nun, versöhnt mit der burschikosen Begrüßung.


saargeschichte|n 55<br />

Inneres des Schlosscafés<br />

an der Viktoriabrücke<br />

in Saarbrücken<br />

1900.<br />

Urheber: Kunstanstalt<br />

Demetz, St. Ingbert.<br />

(LA SB; B 1686/8 C)<br />

›Da scheinen Sie ja der Währung des Schloßcafé-Honorars<br />

treu geblieben zu sein!‹ Wir feierten<br />

das unverhoffte Wiedersehen ausgiebig.«<br />

Zwanzig Jahre später wurde in der Zeitschrift<br />

»Saarheimat« ein weiterer Text Straubs<br />

abgedruckt, in dem er erneut etwas überheblich<br />

auf Kuhlemann zu sprechen kommt. Leider fehlt<br />

dem Beitrag eine Quellenangabe. Ich vermute,<br />

dass er im Auftrag von Karl-August Schleiden<br />

entstand, dem Herausgeber der »Saarheimat«,<br />

und dann in dessen Redaktionsschreibtisch lag,<br />

bis er zwei Jahre nach Straubs Tod schließlich<br />

gedruckt wurde. Straub schreibt:<br />

»Neben diesen mehr oder weniger ernst zu nehmenden<br />

Künstlern [Fritz Grewenig, Christoph<br />

Voll, Richard Wenzel] machten in diesen Jahren<br />

zwei junge Menschen den untauglichen Versuch,<br />

in Saarbrücken sogar so etwas wie eine Bohème<br />

heimisch werden zu lassen. Der eine kam aus dem<br />

Rheinland und hieß Johannes Taddäus [recte:<br />

Theodor] Kulemann [recte: Kuhlemann]; der<br />

andere hatte seiner tschechischen Heimat Valet<br />

gesagt und hörte auf den Namen Mischa Szenkar.<br />

Kuhlemann war der typische Kaffeehausliterat.<br />

Wo er nächtigte, war unbekannt. Tagsüber saß<br />

er im ›Schloßcafé‹ im Kreise literaturhungriger<br />

Gymnasiasten und las ihnen aus einem Bande<br />

George’scher Lyrik vor, die schon deshalb auf die<br />

Jünger Apolls ihren Eindruck nicht verfehlten,<br />

weil sie die Interpunktion und Orthographie auf<br />

den Kopf stellten und damit die Autorität ihres<br />

Deutschlehrers ad absurdum führte. Um mich zu<br />

Luisenbrücke mit<br />

Schloss-Café und<br />

gegenüberliegendem<br />

Gebäude<br />

frühe 1920er Jahre<br />

LA SB<br />

(B 1720/10 C)


amüsieren, setzte ich mich öfters in die Nähe dieses<br />

Kreises. War die Literaturstunde zu Ende, verschwand<br />

Kuhlemann in den Räumlichkeiten ›Für<br />

Herren‹. In das dort von der Rolle abgewickelte<br />

Papier verstaute er dann die von seinen Schülern<br />

gestifteten Kuchen, denn jene pflegten in Naturalien<br />

zu bezahlen! Aber Kuhlemanns Ambitionen<br />

beschränkten sich nicht auf diese Privatissima<br />

in Literatur. Dann und wann veranstaltete<br />

er auch ›Lesungen‹ für die große Öffentlichkeit.<br />

Als er aber in der Auswahl seiner literarischen<br />

Erzeugnisse einmal garzusehr den Takt<br />

gegenüber dem weiblichen Publikum vermissen<br />

ließ – nebenbei erschien er in kurzen Hosen und<br />

gepumptem Gehrock – hatte seine Stunde in<br />

Saarbrücken geschlagen. Das Gedicht von der<br />

›bleichen Wasserleiche‹ war für schwache Nerven<br />

zuviel. In Köln fand Kuhlemann den Mäzen,<br />

den er brauchte. Der Zigarrenfabrikant Feinhals<br />

machte ihn zu seinem Bibliothekar!«<br />

Die Rezitation besagten Gedichts dürfte jener<br />

»berufliche Eklat« gewesen sein, der in einer<br />

kurzen biografischen Notiz über Kuhlemann in<br />

den »Literarischen Nachlässen in Rheinischen<br />

Archiven« genannt wird als Grund für die Rückkehr<br />

nach Köln. Das Gedicht über die »bleiche<br />

Wasserleiche« mit dem Titel »Im Karpfenteich«<br />

verfasste Hanns Heinz Ewers. Viele Abende lang,<br />

so ein zeitgenössischer Bericht, habe er es vor<br />

einem begeisterten Berliner Publikum in Ernst<br />

von Wolzogens Kabarett »Überbrettl« vorgetragen,<br />

»schmatzend wie ein Karpfen«. Das<br />

Publikum in Saarbrücken mag von einer Lyriklesung<br />

möglicherweise Erbaulicheres erwartet<br />

haben als die Rezitation eines solchen Gedichts.<br />

Der Text über die drei Karpfen ist abgedruckt in<br />

dem gemeinsam von Hanns Heinz Ewers und<br />

Theodor Etzel verfassten und 1901 in München im<br />

Albert Langen Verlag erschienenen »Fabelbuch«<br />

(S. 23). Die beiden Autoren dieses Bandes, die<br />

befreundet waren, hatten etwa 20 Jahre vor Kuhlemann<br />

eine Zeitlang an der Saar gelebt. Der eine,<br />

Etzel, ab 1895 als Beamter in Merzig und später,<br />

von Januar bis August 1899, in Saarbrücken als<br />

Herausgeber der Zeitschrift »Der Kunstfreund«;<br />

der andere 1897 einige Monate als Referendar am<br />

Landgericht in Saarbrücken.<br />

Im Karpfenteich<br />

Im Karpfenteiche<br />

schwamm einmal eine bläulich bleiche<br />

und schleimig weiche Wasserleiche.<br />

Ein Karpfenjüngling kam heran<br />

und fing wie folgt zu reden an:<br />

»O Menschenlos! Gewiss die Flammen,<br />

die aus verschmähter Liebe stammen,<br />

verbrannten seinen armen Sinn<br />

und trieben ihn zum Wasser hin!«<br />

Ein anderer Karpfen hört sein Klagen<br />

und hub verächtlich an zu sagen:<br />

»Ach wat! Im Dusel hat er sich verloffen<br />

fiel in den Teich und ist darin versoffen!«<br />

- Jedoch ein alter, hundertjähriger Knabe<br />

erfreute sich der guten Gottesgabe.<br />

Er sprach kein Wort, er frass und frass,<br />

dass er die Welt darob vergass,<br />

und dacht: »Nicht immer gibts im Teiche<br />

solch eine schöne, schleimig weiche<br />

und bläulich bleiche Wasserleiche!«<br />

Der Schriftsteller und Jurist Hanns Heinz Ewers<br />

war von 1912 bis 1920 mit der französischen Lyrikerin<br />

und Malerin Marie Laurencin (1883–1956)<br />

liiert, die zuvor die Gefährtin von Apollinaire<br />

gewesen war. 1914 hatte sie den deutschen Maler<br />

Otto von Wätjen geheiratet und war mit ihm 1918<br />

nach Düsseldorf gezogen. Beide Künstler wurden<br />

von der Galerie Alfred Flechtheim vertreten. Da<br />

der Galerist in engem Kontakt zu dem Sammler<br />

Collofino-Feinhals stand, dürfte Kuhlemann auf<br />

diesem Wege die Französin kennengelernt haben.<br />

Jedenfalls war ihm Marie Laurencin ein Begriff,<br />

ist ihr doch eines jener Landschaftsgedichte des<br />

Bandes »Consolamini« gewidmet, die später<br />

von Erwin Schulhoff vertont wurden. Karl Otten<br />

schreibt in seinen Erinnerungen über Kuhlemann:<br />

»Unter den Besuchern der Ausstellung [Rheinische<br />

Expressionisten, 1914] war mir ein anderer<br />

Dichter aufgefallen, mit dem ich mich<br />

anfreundete, Johannes Theodor Kuhlemann,<br />

braunhäutig, schwarzhaarig, glich er einem Franzosen<br />

oder Spanier eher als einem echten Kölner.<br />

Er war Sekretär des großen Collofino-Feinhals,<br />

jenes reichen Zigarrenhändlers, der das Tabakbuch<br />

schrieb und moderne Bilder sammelte.«<br />

Das Saarbrücker Schloßcafé scheint in jener Zeit<br />

ein beliebter Treffpunkt von Schriftstellern und<br />

Künstlern gewesen zu sein. Auch Alfred Döblin,<br />

der von Januar 1915 bis Juni 1917 in Saargemünd<br />

als Militärarzt stationiert war, berichtet, dass er<br />

»oft herübergewandert« sei, um dieses Lokal zu<br />

besuchen: »Saarbrücken war mir doch damals


saargeschichte|n 57<br />

die ›Großstadt‹. Da war nicht nur das eine Kaffee,<br />

sondern das schöne Schloßkaffee am Wasser, wo<br />

man interessante durchreisende Menschen sah.«<br />

Vermutlich in diesem Szene-Café dürften sich<br />

der expressionistische Lyriker und der böhmische<br />

Komponist und Pianist Schulhoff begegnet<br />

sein. Dieser, damals ein Anhänger des Dadaismus,<br />

hatte am 15. Oktober 1920 eine Stelle als Klavierlehrer<br />

an einem privaten Saarbrücker Konservatorium<br />

angetreten; zwei Unangepasste, bis 1922<br />

in die Diaspora verbannt.<br />

Kennengelernt hatten sich die beiden schon früher.<br />

Denn der damals in Dresden lebende Schulhoff<br />

hatte gute Kontakte in die Künstlerszene<br />

Kölns und Düsseldorfs, etwa zu Otto Dix, der mit<br />

Schulhoffs Schwester Viola liiert war. Dix porträtierte<br />

Hans Koch sowie den Komponisten, der<br />

seinerseits von Dix das Gemälde »Billardspieler«<br />

erwarb .<br />

In der Erwin-Schulhoff-Sammlung im Archiv der<br />

Berliner Akademie der Künste ist die Partitur<br />

»Landschaften op. 26: Fünf Gedichte von Johannes<br />

Theodor Kuhlemann« archiviert mit der Datumsangabe<br />

»23. August 1918«. Schulhoff kannte also<br />

Kuhlemanns Lyrik, zumindest den Zyklus »Das<br />

Herz« und dessen Landschaftsgedichte, bereits<br />

ein Jahr vor der Veröffentlichung. Opus 26 ist eine<br />

Symphonie für Mezzosopranstimme und Orchester.<br />

Vermutlich waren sich die beiden Künstler sogar<br />

schon früher begegnet; denn in dem von Klaus<br />

Simon im Schott-Verlag herausgegebenen Schulhoff-Werk<br />

»Sämtliche Lieder, Bd. 2, Frühe Lieder<br />

II (1911–1915)« findet sich bereits eine Vertonung<br />

des Textes »Der Apfel« von Kuhlemann. Seine<br />

Geburtsstadt Köln ehrte den Schriftsteller mit<br />

einer Straßenbenennung in dem Stadtteil Altstadt-Süd.<br />

Landschaft<br />

Die Türen sind zugeweht<br />

lang. Aber die kalten Kissen<br />

schluchzen der Lust nach. Schräg<br />

rauscht der Vorhang<br />

herein, wie die Liebe kommt,<br />

tiefrot und zum Weinen.<br />

Schmücke mit Silber und Eis<br />

und brich ein Fenster<br />

der hoch andrängenden Welt.<br />

Landschaft<br />

(Marie Laurencin)<br />

Alle Frauen weinen. Der graue Prinz<br />

hat seinen Vater erschlagen. Er reitet<br />

durch der Frühe singende Schneedome<br />

der Lilie nach, die seine vollendeten<br />

Hände halten. Aber<br />

ein Haus ist, dessen bange Wölbung<br />

er nie verlassen wird. Bis in die Keller<br />

fällt Regen böse Jahre lang.<br />

Bitter starren die toten Adern<br />

der Erde. Doch in den höheren Lüften<br />

singt Ariel einsam.<br />

Landschaft<br />

Demut faltet den Raum. Wir müssen<br />

sterben. Aus nächtlichen Spiegeln<br />

zittert Unruh. O Woge<br />

des Monds! Es ruft<br />

über den Fluß. Und hoher,<br />

aller Tage gekrönter Stern<br />

ist unterwegs, hebt<br />

hinter der Wand der Meere sich auf.<br />

Ich kann den Tod nicht, wie<br />

den Abend lieben. Am Ende<br />

steht der Engel: mitten<br />

unter dem Tor. Ihm bergen<br />

lauschendes Haupt die Völker. Auch mir<br />

rauscht am Boden das Gras. Die Pfade<br />

enden im schaurigen Herzen mir.<br />

Junges Mädchen stirbt im Hospital<br />

In meinem Bette flieg ich durch den Raum.<br />

Schneewälder wiegen mich in neuen Düften.<br />

Noch sengen Erdenfeuer aus den Lüften<br />

der letzten Berge düster meinen Traum.<br />

Noch bin ich weich von Schmerz. Hier ist der Saum.<br />

Im Tale brechen leise meine Hüften<br />

und sehnen sich zu ruhn in jungen Grüften,<br />

gebadet und gesalbt. Ich weine kaum<br />

und sinke. Menschen stehn um mich gehäuft,<br />

verliebte, fremd, beladen mit Gerüchen,<br />

Tabak und Blumen aus der alten Welt.<br />

Und Dinge klirren wie verlornes Geld<br />

im Saal, aus dessen bunten Bibelsprüchen<br />

ein letztes Mal Gespräch und Liebe träuft.


von der industriebrache<br />

zum postmodernen ökopark<br />

Der Bürgerpark Hafeninsel in Saarbrücken-Malstatt<br />

von kristine marschall<br />

Bürgerpark<br />

Hafeninsel, Aquädukt,<br />

2018.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Innenstadt<br />

Saarbrückens zu etwa 80 Prozent in Trümmern.<br />

Der dichte Wiederaufbau auf historischen<br />

Quartiergrundrissen prägte das nachkriegszeitliche<br />

Stadtbild in weiten Bereichen. Die verkehrsgerechte<br />

Stadt der 1960er Jahre wurde<br />

durch den Bau der Stadtautobahn in der Flussaue<br />

der Saar Realität. Eine Folge davon war die<br />

Beseitigung der Luisenanlage in Alt-Saarbrücken.<br />

Dieser öffentliche Park erstreckte sich seit 1876<br />

links der Saar in Alt-Saarbrücken bis auf Höhe<br />

der gegenüberliegenden Hafeninsel in Malstatt-Burbach.<br />

Seit dem späten 17. Jahrhundert<br />

wurde hier im Hafenbecken am Altarm der Saar<br />

die in den umliegenden Gruben gewonnene<br />

Steinkohle gewogen, gelagert, von Lastkränen<br />

umgeladen und verschifft. Eigentümer waren<br />

die Saarbergwerke. In der Nachkriegszeit wurde<br />

das Hafenbecken mit Kriegstrümmern verfüllt.<br />

Das Areal wurde zum Schuttdepot. Über Jahrzehnte<br />

erfolgte auf weiten Teilen eine natürliche<br />

Renaturierung. 1967 entstand die Kongresshalle<br />

östlich des bachliegenden Bereichs der ehemaligen<br />

Hafeninsel und eine Teilfläche wurde als<br />

Parkplatz genutzt.<br />

Anfang der 1980er Jahre konkretisierte sich die<br />

Planung der Verkehrsanbindungen der A 1 (Trier,<br />

Köln) und der A 623 (Friedrichsthal, Zubringer zur<br />

A 8 Pirmasens) an die linksseitige A 620 (Stadtautobahn<br />

Saarbrücken-Saarlouis) über die neue<br />

Westspangenbrücke, die 1986 fertiggestellt<br />

wurde. In diesem Zusammenhang ließ die Stadt<br />

Saarbrücken in einem Gutachterverfahren ein<br />

Nutzungskonzept für die historische Industriebrache<br />

beziehungsweise die Kriegstrümmerlandschaft<br />

des ehemaligen Kohlehafens vom<br />

Büro Peter Latz und Partner, Gunter Bartholmai<br />

und Nicki Biegler erstellen, das 1981 in der großformatigen<br />

Publikation Hafeninsel. Alternativen<br />

zur Gestaltung eines citynahen Parks veröffentlicht<br />

wurde.<br />

Die Planer und Landschaftsarchitekten<br />

Dipl. Hort. Anneliese Latz, Prof.<br />

Dipl. Ing. Peter Latz und Paul von Pattay<br />

erarbeiteten dabei drei Konzepte,<br />

wobei die Variante eines geometrischbarocken<br />

Parks ebenso verworfen<br />

wurde wie die des klassischen englischen<br />

Landschaftsgartens. Beides<br />

erschien zu traditionell und hätte in<br />

keiner Weise Rücksicht auf die vorgefundenen<br />

Strukturen genommen.<br />

Diese bildeten jedoch die entscheidende<br />

Prämisse für die dritte,<br />

sowohl naturnah als auch geometrisch<br />

gestaltete Alternative, deren syntaktisches<br />

Konzept umgesetzt wurde. Entscheidend<br />

war die Akzeptanz der vorhandenen<br />

räumlichen Gegebenheiten.<br />

Dabei spielten die Integration differenzierter<br />

Nutzungsanforderungen


saargeschichte|n <strong>59</strong><br />

Bürgerpark Hafeninsel,<br />

gestutzte<br />

Heckenscheiben und<br />

hohe Pappelallee als<br />

Sicht- und Lärmschutz<br />

an der Westspange,<br />

2018.<br />

und entsprechende technische Lösungsansätze,<br />

zudem Ansprüche an die ästhetische Formensprache<br />

und eine moderne Anwendung von<br />

Vegetation eine entscheidende Rolle.<br />

Grundvoraussetzung für die Planung war die<br />

Analyse der architektonischen Hinterlassenschaften,<br />

der Topografie und des vegetativen<br />

Bestandes. Hinzu kam die Beschäftigung mit der<br />

ursprünglichen Nutzung dieses Industriestandortes<br />

und seiner Altlasten. Die Überprüfung der<br />

städtebaulichen Situation und die besonders<br />

von sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen<br />

geprägte optimale Anbindung des neuen Parkareals<br />

an die Stadt waren erklärte Ziele von Peter<br />

Latz.<br />

Das Parkareal auf etwa 190 m über NHN erstreckte<br />

sich Anfang der 1980er Jahre auf etwa 9,5 Hektar<br />

entlang des rechten Saarufers und wurde von<br />

der neuen sechsspurigen Westspange mit ihren<br />

zwei Auf- und Abfahrten sowie dem darunter<br />

befindlichen Parkhaus in Nord-Süd-Richtung in<br />

zwei annähernd gleich große Hälften geteilt. Aktuell<br />

begrenzt eine große Niederlassung der Steag<br />

(technischer Service, Energieanlagen Süd) das<br />

Terrain im Westen. Die St. Johanner Straße mit<br />

dem 2000 implementierten Großkino Cinemax<br />

inklusive Parkplatz schirmen das Areal im<br />

Nordwesten von der Wohnbebauung des südlichen<br />

Malstatt ab. Im Nordosten entstand in<br />

den 1990er Jahren entlang der Hafenstraße<br />

die in zwei parallelen Gebäuderiegeln untergebrachte<br />

Agentur für Arbeit Saarland. Bereits<br />

1967 entstand die Con gresshalle im Osten nach<br />

Entwurf des renommierten Architekten Dieter<br />

Oesterlen. 1996/97 wurde die Parkfläche durch<br />

die Erweiterung der Congresshalle neu begrenzt<br />

und durch den vom Johannes-Hoffmann-Platz<br />

erreichbaren, langgestreckten fünfteiligen Parkhausriegel<br />

vermindert.<br />

Fußläufig zugänglich ist der Park über den<br />

von der St. Johanner Straße abzweigenden<br />

Schleusenweg im Westen, der zugleich das Areal<br />

auch begrenzt, und einen weiteren Stichweg,<br />

der als Verlängerung der von Norden auf die<br />

St. Johanner Straße treffenden Straße Auf der<br />

Werth westlich am Kino vorbei zum Park führt<br />

und dort auf die große diagonale Erschließung<br />

Richtung Saar und Westspange überleitet. Auch<br />

auf der östlichen Seite des Kinos kann man den<br />

Park betreten und gelangt auf einen Hauptweg<br />

in Nord-Süd-Verlauf, der, durch einen schmalen<br />

Grüngürtel (eng gestellte diagonale Heckenriegel<br />

und Alleebäume) von den Parkplätzen<br />

unter der Westspange getrennt, bis an den künstlichen<br />

Teich führt. Parallel dazu verläuft auch von<br />

der Hafenstraße aus ein vergleichbar gestalteter<br />

Weg auf die östliche Seite des Teichs. Auf Höhe<br />

der Abzweigungen der Westspange führen ausladende<br />

Betontreppenkonstruktionen sowohl<br />

links als auch rechts hinunter auf das Parkniveau.<br />

Man findet sich fast mittig in der Anlage zwischen<br />

hohen schmalseitig aufgereihten Heckensegmenten<br />

wieder. Des Weiteren sind zwei<br />

Zugänge von der Congresshalle angelegt, die<br />

zum einen auf den Freiplatz unterhalb des neuen<br />

Parkhauses führen beziehungsweise zur West-<br />

Ost-Querung des Bürgerparks. Der Uferweg entlang<br />

der Saar ist als Teil des Parkkonzeptes über<br />

mehrere Wege und dem zentralen Platz am Teich<br />

mit dem Park verbunden. Entlang der Saar werden<br />

die westlichen und östlichen Parkteile durch<br />

niedrige Stützmauern geschützt.


Bürgerpark Hafeninsel,<br />

Amphitheater,<br />

2018.<br />

Parallel zum Gutachterverfahren lobte die<br />

Saarbergwerke AG einen Wettbewerb für verdichteten<br />

Wohnungsbau als nördliche Randbebauung<br />

aus. Projektiert wurden viergeschossige<br />

Wohnbauten von gehobenem Standard, die<br />

jedoch nicht umgesetzt wurden. Vielmehr entstanden<br />

in den kommenden Jahren entlang der<br />

St. Johanner Straße und Hafenstraße in unmittelbarer<br />

Parknähe große Verwaltungs-, Veranstaltungs-<br />

und Parkhauskomplexe. Der Bürgerpark<br />

büßte die in den 1980er Jahren planerisch intendierte<br />

Bürgernähe mehr und mehr ein, da die<br />

Wohnquartiere durch verschiedene Neubauten<br />

städtebaulich in den Hintergrund rückten.<br />

Peter Latz erhielt den Auftrag, die inzwischen<br />

stark verwilderte Landschaft im Bereich der ehemaligen<br />

Hafeninsel als Bürgerpark zu gestalten.<br />

1983–1989 entstand ein innerstädtischer Landschaftspark,<br />

der die Geschichte des Industrieortes<br />

ebenso einbezieht wie das Trümmerfeld<br />

der Nachkriegszeit, und eine zeitgenössische, von<br />

ökologischen Gesichtspunkten geprägte Anlage<br />

in einem über Jahre hinweg aufgelassenen stadtnahen<br />

Bereich schafft. Diagonale Wege und Sichtachsen<br />

sowie ein dem Gauß-Krüger-Koordinatensystem<br />

folgendes Raster strukturieren den<br />

Park. Engagierte Bürger, Studentengruppen<br />

und Arbeitskräfte eines Arbeitsbeschaffungsprogramms,<br />

Lehrlinge und Handwerker konnten<br />

in Workshops Details nach eigenen Vorstellungen<br />

gestalten. Ziel war die identitätsstiftende Einbeziehung<br />

der Bevölkerung in den Schaffensprozess<br />

bei möglichst kostengünstigen Arbeitsleistungen.<br />

Den Auftakt der Parkanlage im Anschluss an<br />

die Congresshalle bildet eine begehbare türkisfarbene<br />

Stahlpergola mit großen segmentbogigen<br />

Öffnungen, die mit vergitterten<br />

Zwischenelementen alternieren. Sie wurde mit<br />

Glyzinien (Blauregen) bepflanzt. Durch diese<br />

begrünte Torwand gelangt man auf die mit Kopfsteinpflaster<br />

versehene große Freifläche, dem<br />

multifunktional nutzbaren Festplatz. Dieser wird<br />

im Norden durch zwei die Parkgrenze entlang<br />

des neuen Parkhauses säumende Mischhecken<br />

abgeschlossen.<br />

Auf dem Kopfsteinpflaster des Festplatzes wurde<br />

die einzige von insgesamt drei geplanten Skulpturen<br />

aufgestellt. Der Pariser Bildhauer Michel<br />

Gérard schuf die 1991 eingeweihte Installation<br />

Wanderung eines Caspar David. Sie besteht<br />

aus zwölf geschmiedeten Stahlelementen, die<br />

von Saarstahl in Völklingen produziert wurden.<br />

Das größte Element, ein Bogen von vier Metern<br />

Höhe und zwölf Metern Durchmesser, steht auf<br />

einer Fundamentplatte, ebenso sechs stehende<br />

Spitzen. Ein Spieß mit Spirale und eine überdimensionierte<br />

Garnrolle ruhen auf dem Pflaster.<br />

Anfang des 19. Jahrhunderts begann die industrielle<br />

Ausbeute der Erde. Gérard wählte Leitmotive<br />

aus den Gemälden Caspar David Friedrichs<br />

– Regenbogen und Bergspitzen. Romantische<br />

Naturvorstellung und industrielle Fertigung stehen<br />

eng beieinander. Übergroß erscheinen die<br />

Werkzeuge der Plünderung der natürlichen Ressourcen.<br />

Die begehbare Installation schafft ihren<br />

eigenen Bezug zum ehemaligen Kohlehafen und<br />

dem Umgang mit Natur im industriellen Zeitalter.<br />

Der Saaruferweg ist in ähnlicher Dichte wie in<br />

der Grünanlage des Stadens in Saarbrücken-<br />

St. Johann mit Platanen gesäumt, welche hier


saargeschichte|n 61<br />

als beidseitige Allee gepflanzt sind. Oberhalb<br />

des Uferwegs verläuft einer der Hauptwege<br />

des Parks parallel zur Saar von der Congresshalle<br />

zum Parkende am Schleusenweg. Flankierend<br />

bilden rechteckig gestutzte Mischheckensegmente<br />

Nischen aus, in denen weitere mit<br />

Beleuchtungskörpern ausgestattete Rankhilfen<br />

und Sitzgelegenheiten stehen. Die Bepflanzung<br />

verdichtet den Weg seitlich, so dass der Blick eng<br />

auf die Wasserwand fokussiert wird. Zwischen<br />

dem tunnelähnlichen, geschotterten Weg und<br />

dem offenen Festplatz wurden streng orthogonal<br />

Linden aufgestellt, die einen weitläufigen<br />

beschatteten Baumplatz bilden. Im Laufe der Zeit<br />

haben die Wurzeln die ehemals plane Kopfsteinpflasterung<br />

in sanfte Wellenformationen versetzt.<br />

Der künstliche Teich erstreckt sich beidseits<br />

und unter der Westspange und spiegelt deren<br />

Unterbau. Sein Saum ist teils mit feinem Sand<br />

aufgefüllt, teils mit einer Bambusanpflanzung<br />

begrünt, zu der sich im Laufe der Zeit noch Rohrkolben<br />

gesellt haben. Hier siedeln inzwischen<br />

verschiedene Enten- und Halbgansarten. Ein aufgeständerter<br />

Metallsteg führt nahe am Halbrund<br />

der hoch aufragenden Wasserwand aus<br />

Ziegelsteinen vorbei über den Teich hinweg und<br />

unter der Westspange hindurch. Dieser Steg<br />

war ursprünglich beleuchtet. Die Wasserwand,<br />

eines der Schlüsselelemente der Landschaftsgestaltung,<br />

erinnert an ein Segment aus einem<br />

römischen Aquädukt. Wie dort fließt das Wasser<br />

in einer offenen Rinne im oberen Abschluss. Eine<br />

Vielzahl kleiner Wasserspeier mit runden Öffnungen<br />

seitlich der Rinne ermöglichen Wasserergüsse<br />

aus höchster Höhe in den Teich. Auf diese<br />

Weise wird die urbane Geräuschkulisse durch das<br />

fallende Wasser überdeckt und zudem mit<br />

Sauerstoff angereichert bevor es wieder<br />

dem Teich zugeführt wird. Es handelt sich<br />

nicht allein um eine beeindruckende Konstruktion,<br />

sondern hier wird auch pragmatisch<br />

das Oberflächenwasser gesammelt<br />

und die Wasserzu- und -ableitung des<br />

Parks über das kleine unweit aufgestellte<br />

Pumpenhaus bewerkstelligt.<br />

Die aufgeständerte offene Parkhausebene<br />

beidseitig der darüber verlaufenden Westspange<br />

wird von einem breiten Band diagonal<br />

in enger Abfolge angeordneter Mischheckenreihen<br />

begleitet. Diese bestanden<br />

aus Weißdorn, Linden, Hainbuchen, Flieder<br />

und Liguster, der sich dem Formschnitt am<br />

besten anpasste und nun als dominantes<br />

Gehölz die mannshohen Hecken des Parks<br />

prägt. Geplant waren bis zu vier Meter Heckenhöhe,<br />

um die Hochstraße zu kaschieren. Die<br />

Formerziehung durch entsprechende Schnittmaßnahmen<br />

erwies sich jedoch als zu hoher<br />

gartentechnischer Aufwand, zumal in dem zur<br />

unteren Parkebene abschüssigen Gelände.<br />

Als weitere die Höhenstaffelung gen Hochstraße<br />

fortsetzende Elemente tragen die beiden Alleen<br />

hoch aufgeschossener Säulenpappeln auch zur<br />

Sichtabschirmung bei. Peter Latz verband mit<br />

ihnen die Assoziation an südländische, von Zypressen<br />

gesäumte Straßen.<br />

Wichtige Prämissen für die Parkgestaltung waren<br />

eine möglichst Verkehrslärm absorbierende Konzeption<br />

(Wasserwand, Heckenmauern), um neben<br />

der aktiven Nutzung, die vorwiegend im Ostteil<br />

des Parks verortet wurde (Festplatz, später Boulebahn,<br />

aktuell neue Skateranlage), Ruhezonen<br />

in Flussnähe und im Westteil zu erschaffen. Der<br />

Park bietet ein großes Spektrum im Umgang mit<br />

Pflanzkulturen, welches die historische Dimension<br />

der Entwicklung neuzeitlicher Grünanlagen<br />

vom Barock über die romantischen Landschaftsgärten<br />

des 19. Jahrhunderts mit ihren architekturhistorischen<br />

Zitaten widerspiegelt. Vom<br />

ausgeprägten Formwillen (Heckenerziehung,<br />

Buchsbaumformtrimmung) und linearer, geometrischer<br />

Anordnung (Betonung der diagonalen<br />

Wegeführung beziehungsweise Rasterung<br />

mittels Pflanzschemata, lange Blickachsen) reicht<br />

das Repertoire über pflegeintensive Teilbereiche<br />

(Kräuterkiste, Rosenanlage, Beetbepflanzung) zur<br />

Steinspirale mit differenzierten Bodensubstraten,<br />

die der Spontanvegetation zur Verfügung gestellt<br />

wurden, sowie zum weitgehend unangetasteten<br />

Trümmergrundstück mit ökologischem Eigenleben.<br />

Bürgerpark<br />

Hafeninsel,<br />

Spolienwand, 2018.


Aspektreich bieten die überaus zahleichen und<br />

vielfältigen überlieferten Materialien, aus denen<br />

Wegbeläge, Mauern, Treppen, Sitzgelegenheiten,<br />

Nischen, Einfassungen von Pflanzbereichen und<br />

Aussichtspunkte entwickelt wurden, unzählige<br />

optische und haptische Attraktionen. Latz<br />

entwickelte Klamottmauerwerk als Grundbestandteil<br />

der Mauertechnik im Park, für das<br />

die vorgefundenen riesigen Blöcke zusammenhängender<br />

Mauer- beziehungsweise Betonverbände<br />

umgenutzt wurden. Das Entdecken historischer<br />

Relikte und deren Umdeutung im neuen<br />

Parkkontext ist Programm. Neben dem Hauptzugang<br />

von Seiten der Congresshalle, wo durch<br />

die begrünte mehrbogige Pergola der Wechsel<br />

aus der urbanen Struktur in die Grünzone<br />

besonders akzentuiert wird, sind noch sechs<br />

weitere Zugänge vorhanden. Die leichte Erreichbarkeit<br />

des Bürgerparks war ein wichtiges planerisches<br />

Anliegen. Alle Zugänge sind Ausgangspunkte<br />

von Hauptwegen, die zugleich, durch<br />

architektonische und/oder vegetabile seitliche<br />

Wegbegleiter hervorgehoben, lange Blickachsen<br />

bilden. Zusammen mit der diagonalen Wegeführung<br />

sollte eine optische Erweiterung erzeugt<br />

werden.<br />

Gen Westen erschließt sich über die Teichachse<br />

zunächst ein klassisches Landschaftsparksegment<br />

– eine kleinhügelige, mit Buschund<br />

halbhohen Baumgruppen bestandene<br />

Schutttopografie, die vielfältige An- und Einblicke<br />

gewährt. Die syntaktische Durchdringung<br />

naturnaher Gestaltung und geometrischer Ordnung<br />

gelingt im Westteil des Parks am eindringlichsten.<br />

Neben Strauchrosenrabatten wurden<br />

vereinzelte Ölweiden und Traubenkirschen<br />

gepflanzt. Hauptwege bilden ein großes Dreieck<br />

aus, das in optimaler Sonnenlage eine Wildkrautflur<br />

in quadratisch gerasterten Flächen aufnahm.<br />

Eine dieser Fläche füllt eine große steinerne Spirale,<br />

deren unterschiedliche Bodensubstrate differenzierte<br />

Spontanvegetation befördern sollte.<br />

Ein weiteres Hauptanliegen bestand in der<br />

Auflassung verschiedener Parkareale, die ökologisch<br />

sich selbst überlassen blieben, wie das<br />

Trümmergrundstück im Süden und Osten des<br />

Rondells. Dieses entstand als architektonischer<br />

Schwerpunkt im Westen des Parks in Nachbarschaft<br />

zur ungebändigten Natur, in Anlehnung<br />

an römische und neuzeitliche Vorbilder, als Ort<br />

multipler kultureller Open-Air-Veranstaltungen.<br />

Das große in den Schutthügel eingetiefte, von<br />

hohen Stützmauern und einer mit Glyzinien<br />

berankten Pergola umgebene Kreisrund ist über<br />

drei in den Hügel eingeschnittene Zugänge und<br />

Treppen erreichbar. Die Brunnen- beziehungsweise<br />

Bühnenanlage liegt im Zentrum, umgeben<br />

von höhengestaffelten Sitzbänken. Klinker ist<br />

das vorherrschende Material. Von Buchsbaum<br />

gesäumte Blumenbeetsegmente lassen den Ort<br />

zum geordneten, intensiv gepflegten Garten im<br />

Park werden. Versenkt in den Schutthügel entsteht<br />

ein Ruheort abseits des Verkehrs- und<br />

Stadtlärms.<br />

In Richtung Schleusenweg und Unteres Malstatt<br />

waren im Bereich des Bauhofes Nachbarschaftsgärten<br />

geplant, die den Malstatter Anwohnern<br />

zur individuellen Bepflanzung und Nutzung zur<br />

Verfügung gestellt werden sollten. Die persönliche<br />

Gestaltung durch die Anwohner sollte dem<br />

Park zu besserer Akzeptanz durch die Bevölkerung<br />

verhelfen.<br />

Eine weitere Ruhezone bietet der zwischen Rondell<br />

und Westspange ebenfalls in Rundform<br />

angelegte Kastanienhain, ein leicht abgesenkter<br />

Platz mit gemauerten Sitzgelegenheiten, welcher<br />

den ursprünglichen Belag samt Kastanienbäumen<br />

in den Park integriert. Eine Hecke erhöht<br />

optisch den rückwärtigen Wandabschluss, so dass<br />

auch diese kleine Arena sich in den umgebenden<br />

Grünbereich einfügt. Nahe der Böschungsmauer<br />

am Uferweg im Südwesten erlaubt ein Pavillon<br />

den Ausblick über die Saar nach Alt-Saarbrücken.<br />

Die meisten Hauptwege haben begleitend architektonische<br />

Ausstattungen, wie zum Beispiel<br />

kniehohe Mäuerchen, Treppenwangen aus Spolien,<br />

mannshohe Stützmauern mit Pilastern,<br />

Segmentbögen und Nischen oder aufgesetzte<br />

Betonquader mit Schlackesplittoberfläche. Allein<br />

der lange, parallel zur St. Johanner Straße verlaufende<br />

nordwestliche Begrenzungsweg ist<br />

als Pflanzenwand ausgebildet. Das Besondere<br />

der fast zwei Meter hohen Wallhecke in Mischkultur<br />

ist ihr Schnittbild, das als pulsierende<br />

Welle hinter einer Reihe von Götterbäumen viel<br />

Raum einnimmt. Torähnliche Durchlässe, meist<br />

als Ziegelsteinkonstruktionen, wie hohe Pfeiler<br />

mit Übergängen oder Bogenkonstruktionen<br />

ergänzen das architektonische Inventar des Parks<br />

und dienen wiederum der Akzentuierung der<br />

Blickachsen.<br />

Straßenbäume kündigen in den Randbereichen<br />

des Parks bereits die Grünanlage an. Im Park kontrastieren<br />

ruhige Rückzugsräume mit offenen<br />

strapazierfähigen Flächen. Zur Benutzerfreundlichkeit<br />

gehörten eine konstante Beleuchtung<br />

des Hauptwegenetzes, eine Toilettenanlage und<br />

ein Funktionsgebäude für die Gartenpflege.<br />

Die historische Nutzung als Kohlehafen und<br />

die Zweitnutzung als Kriegsschuttdeponie ist


saargeschichte|n 63<br />

Bürgerpark Hafeninsel,<br />

Park- und<br />

Spolienlandschaft,<br />

2018.<br />

anhand diverser Relikte und Ruinen der ehemaligen<br />

Logistikanlage in situ im Park mannigfaltig<br />

ablesbar. Der nach syntaktischem Entwurfskonzept<br />

realisierte Landschaftspark Hafeninsel<br />

im Saarbrücker Stadtteil Malstatt zeichnet<br />

sich durch seine minimalistischen Eingriffe in<br />

die vorhandene Topografie aus. Die natürliche<br />

Pionierpflanzenwelt des Brachlandes wurde in<br />

bestimmten Segmenten bewahrt.<br />

Viele Spolien, überwiegend aus kriegszerstörten<br />

Architekturen des Stadtgebietes, als historische<br />

Relikte uminterpretiert, erhielten eine neue<br />

Funktion und wurden erkennbar teils durch<br />

neue Materialien ergänzt. Die vorgefundenen<br />

historischen Hinterlassenschaften dienen als<br />

Bedeutungsträger der Aufarbeitung des Vergangenen.<br />

Parallel werden die Geschichte und<br />

die Pflanzensukzession des Ortes in großen<br />

Bereichen des Parks thematisiert. Dabei spielt<br />

die vorgefundene Vielfalt der Pflanzen und der<br />

Bodensubstrate aus den verschiedensten geologischen<br />

Vorkommen des Saarlandes eine entscheidende<br />

Rolle. Angestrebt wird die existierende<br />

Flora weiter zu entwickeln, um artenreiche<br />

Biotope zu generieren. Diese stehen in Kontrast<br />

zu den pflegeintensiven Gartenarealen, die sich<br />

über die Hafeninsel verteilen.<br />

Der Rückgriff in die europäische Kunst- und Baugeschichte<br />

findet im Bereich der Landschaftsgartengeschichte<br />

statt. Das Label postmodern<br />

wird aussagekräftig in der hervorragenden syntaktischen<br />

Neuinterpretation barocker Gartenstrukturen<br />

und englischer Landschaftsgartenelemente<br />

dargelegt. Die Grundformen der<br />

beiden neuen Großbauwerke des Parks lösen<br />

Assoziationen an römische Aquädukte und Arenen<br />

aus. Einzelne Relikte werden aufgegriffen,<br />

in den neuen Park integriert (zum Beispiel eine<br />

Kellerruine im Westen, Schienen und Pflaster im<br />

Osten) und zum Teil neu interpretiert (zum Beispiel<br />

Kastanienhain oder Klammottmauern). Eine<br />

für die postmoderne Architekturströmung charakteristische<br />

Uminterpretation und Funktionsänderung<br />

einzelner, größerer historischer Bauelemente<br />

fehlt.<br />

Bedeutend erscheint der neuartige Ansatz im<br />

Umgang mit einer innerstädtischen Industriebrache.<br />

Die Landeshauptstadt hatte sich Anfang<br />

der 1980er Jahre für einen Wandel der städtebaulichen<br />

Leitbilder entschlossen. Zwischen<br />

den Saarbrücker Industriestandorten, den Verwaltungssitzen<br />

und den Nahtstellen der Stadtteile<br />

Malstatt-Burbach und St. Johann entstand<br />

vor dem Hintergrund der damals begeisterten<br />

und engagierten Umweltbewegung in Deutschland<br />

ein Nukleus ökologischer Stadterneuerung.<br />

Als Vorläufer von Parkanlagen mit industrieller<br />

Vorgeschichte kann der 1973 bis 1975 nach Entwurf<br />

von Richard Haag angelegte Gas Works<br />

Park in Seattle, Washington, angesehen werden.<br />

Die historische Kohlevergasungsanlage blieb im<br />

öffentlichen Park als Landmarke, als Zitat der<br />

ehemaligen industriellen Nutzung, erhalten,<br />

während das Gelände jedoch wegen starker Altlasten<br />

abgedichtet und planiert wurde.<br />

Die Saarbrücker Hafeninsel ist eines der frühesten<br />

europäischen Beispiele für die Konversion<br />

einer Industriebrache in einen innerstädtischen<br />

Landschaftspark und bleibt im Saarland singulär.<br />

Etwa zeitgleich entstand 1983 bis 1998 im Nordosten<br />

von Paris der Parc de la Villette auf dem ehemaligen<br />

Schlachthofareal. Die größte öffentliche


Pariser Parkanlage berücksichtigt die 1982 formulierte<br />

Wettbewerbsanforderung, die Geschichte<br />

des Ortes bei der Planung zu berücksichtigen.<br />

Der schweizer Architekt Bernhard Tschumi schuf<br />

den 35 ha großen Park mit knallroten Pavillons,<br />

den Folies, als Knotenpunkte auf einer orthogonal<br />

gerasterten Matrix. In Barcelona wurde<br />

1985 bis 1986 ein ehemaliges Werksgelände der<br />

spanischen Eisenbahngesellschaft in einen 2,7 ha<br />

großen innerstädtischen Quartierspark, dem Parc<br />

del Clot, umgewandelt. Die Landschaftsarchitekten<br />

Dani Feixes und Vincente Miranda nahmen<br />

Industrierelikte in die Parkgestaltung auf<br />

und interpretierten sie im neuen Umfeld um.<br />

Thema dieser landschaftsarchitektonischen<br />

Bestrebungen war die Reintegration von altindustriellen<br />

Standorten in urbane Funktionsräume<br />

in städtebaulich wertvoller Lage. Aus dem<br />

Industriestandort und der Kriegsschuttdeponie<br />

wurde ein vielseitig nutzbarer Freizeitbereich.<br />

Eine Revitalisierung im industriellen Architekturkontext<br />

erfolgte im Saarland erstmals in großem<br />

Maßstab im Zusammenhang mit der Umund<br />

Nachnutzung des baulichen Bestandes<br />

des ehemaligen Eisenwerkes in Völklingen, das<br />

1994 als erstes Industriedenkmal in die Weltkulturerbeliste<br />

der UNESCO aufgenommen und<br />

dann zum Großmuseum, Veranstaltungsort und<br />

multimedialem Wissenschaftszentrum weiterentwickelt<br />

wurde.<br />

Im 21. Jahrhundert wird das Thema Industriebrachenumgestaltung<br />

seit 2006 alljährlich im Rahmen<br />

der ibug künstlerisch vereinnahmt – ein<br />

sächsisches Festival für urbane Kunst, welches<br />

Oberflächen, Räume und Plätze der Industriebrachen<br />

künstlerisch recycelt.<br />

Im Werk des Landschaftsarchitekten Peter Latz<br />

nimmt das Saarbrücker Projekt Bürgerpark<br />

Hafeninsel sicherlich einen besonderen Stellenwert<br />

ein, da er dem Saarland über lange Jahre in<br />

Leben und Arbeit verbunden war. So wuchs er im<br />

Saarland auf und gründete nach dem Studium<br />

der Landschaftsarchitektur an der TH in München<br />

und der Weiterbildung im Städtebau an der<br />

RWTH Aachen 1968 mit seiner Frau Anneliese<br />

ein Landschaftsarchitekturbüro in Aachen und<br />

zusammen mit Herbert Kruske in Saarbrücken.<br />

Zusammen mit dem Dillinger Architekten Conny<br />

Schmitz führte er bis 1976 ein Büro für interdisziplinäre<br />

Stadtplanung in Saarlouis. 1974 wurde<br />

Kassel Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Ab 1983<br />

an der TU München-Weihenstephan als Lehrstuhlinhaber<br />

für Landschaftsarchitektur und<br />

Planung beschäftigt, zog das Büro 1991 nach<br />

Ampertshausen bei Kranzberg/Bayern. Peter Latz<br />

wurde vielfach international ausgezeichnet. 1989<br />

erhielt er für den Bürgerpark Hafeninsel den<br />

Landschaftsarchitekturpreis des Bundes Deutscher<br />

Landschaftsarchitekten (BDLA) und 2000<br />

für die Planung des Emscher Parks in Duisburg-<br />

Nord den Ersten Europäischen Preis für Landschaftsarchitektur<br />

in Barcelona. 2001 folgte die<br />

Grande Médaille d’Urbanisme der Académie<br />

royale d’architecture in Paris und 2016 verlieh<br />

ihm die International Federation of Landscape<br />

Architects in Turin den Sir Geoffrey Jellicoe Award.<br />

Die Belassung und Einbeziehung historischer<br />

Grundstrukturen folgt dem Motto function follows<br />

form, das vom Büro Latz und Partner erstmals<br />

bei der Parkgestaltung der Saarbrücker<br />

Hafeninsel realisiert wurde. Im Werkzusammenhang<br />

erscheint der Bürgerpark als Pionierprojekt.<br />

In kleinem Maßstab wurden prototypisch Fragestellungen<br />

und Analysemethoden bezüglich der<br />

historischen, vegetabilen und städtebaulichen<br />

Matrix angewandt. Die umfassende Nutzungssuche<br />

für vorstrukturierte Areale wurde später<br />

im Großformat im Emscher Park in Duisburg-<br />

Nord ausdifferenzierter umgesetzt. Die Industrieanlagen<br />

sind keine Zitate einer abgeschlossenen<br />

Epoche wie in Seattle, sondern bleiben im Kontext<br />

verbundene interagierende Elemente<br />

analog zu Biotopen oder Gelände- und Infrastrukturen<br />

des ehemaligen Industriestandorts.<br />

Die Parkkonzeption ermöglicht und fördert die<br />

Spontanbildung von Biotopen (Teich mit neuer<br />

Flora und Fauna, Ökokiste auf dem Schutthügel).<br />

Die Weiterentwicklung natürlicher Prozesse und<br />

die damit einhergehende langsame Veränderung<br />

der Parkanlage waren im Konzept vorgesehen.<br />

Für Peter Latz war die Realität offen und<br />

interpretierbar. Eine neue Gestalt konnte<br />

durch Anreicherung mit funktionalen und<br />

gestalterischen Elementen ohne Negation oder<br />

Zerstörung des Historischen entstehen. Wichtig<br />

sei ein Park mit offenem Ende, das heißt einer<br />

Entwicklungsfähigkeit innerhalb der Grundstruktur,<br />

da auch künftig Ansprüche und Konflikte<br />

den Park neu definieren werden.<br />

Den größten Eingriff in die Parksubstanz<br />

bedeutete der Verlust einer Teilfläche im Nordosten<br />

zugunsten des langestreckten mehrteiligen<br />

Parkhauses in den 1990er Jahren. Anlässlich<br />

des Neubaus der Landeszentralbank im<br />

Winkel zwischen Westspange und Hafenstraße<br />

1990 konnte Peter Latz das südlich anschließende<br />

Gelände mit einem Kiefernhain neu gestalten.<br />

Analog dazu wurden auch die drei Kiefern im<br />

Zugangsbereich auf der Nordwestseite der<br />

Congresshalle gepflanzt. Zwischenzeitlich erfolg-


saargeschichte|n 65<br />

te der Rückbau der Toilettenanlage. Ein Unterstand,<br />

eine reversible leichte Metallkonstruktion,<br />

wurde für die Mitglieder des ortsansässigen Bouleclubs<br />

genehmigt. Die Brunnenanlage in der<br />

Arena wurde 2018 provisorisch mit einer begehbaren<br />

Holzkonstruktion mit Metallbelag zerstörungssicher<br />

gegen Vandalismus abgedeckt.<br />

Aktuell (2018) wird ein Schutthügel nordöstlich<br />

der Wasserwand für eine Skaterbahn neu modelliert.<br />

Die bisherigen Veränderungen haben die<br />

wesentlichen Strukturen und Komponenten<br />

des Landschaftsparks nicht maßgeblich beeinträchtigt,<br />

vielmehr tragen die neuen Nutzungen<br />

durch Boulespieler und Skater vermehrt zu dessen<br />

Akzeptanz, positivem Gebrauch und somit<br />

zur Erhaltung bei.<br />

Der in vielerlei Hinsicht innovative Park ist ein<br />

signifikanter Bedeutungsträger für die Saarbrücker<br />

Stadtgeschichte und die saarländische<br />

Industriegeschichte sowie den in den 1970er<br />

Jahren in Deutschland aufkommenden ökologischen<br />

Wertewandel. Der Bürgerpark Hafeninsel<br />

stellt zugleich im internationalen Kontext<br />

der Landschaftsarchitekturgeschichte ein<br />

herausragendes Zeugnis dar. Der Landschaftspark<br />

besitzt aus stadt- und regionalgeschichtlichen,<br />

insbesondere aus architektur-, industrieund<br />

gartenhistorischen Gründen im öffentlichen<br />

Interesse eine besondere Bedeutung.<br />

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im Saarland leben zu dürfen<br />

Georg Fox<br />

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»bei kameraden und<br />

vorgesetzten stets beliebt«<br />

Das Schicksal der Dillinger Ernst und Otto Schmeyer –<br />

nach ihren Feldbriefen erzählt<br />

von joachim conrad<br />

Peter Schmeyer<br />

(1889–1932) um 1914.<br />

(PA Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila<br />

Schmeyer Best.7,1)<br />

»Media vita in morte sumus« – Mitten im Leben<br />

sind wir im Tod. Der Tod traf im Zweiten Weltkrieg<br />

unzählige Familien in Deutschland – aber<br />

manche mehr als andere. Das zeigen die Feldpostbriefe<br />

der Brüder Ernst und Otto Schmeyer<br />

aus Dillingen. Durch den Tod der beiden Söhne<br />

veranlasst, hütete die Mutter Cäcilia die Dokumente<br />

wie einen Schatz. Nach ihrem Tod blieben<br />

sie weitgehend unbeachtet in einem Ordner,<br />

bis sie der Urenkel von Cäcilia Schmeyer, Thomas<br />

Schmeyer, wiederentdeckte und zugänglich<br />

machte.<br />

Der Vater der Brüder Ernst und Otto, Hüttenarbeiter<br />

Peter Schmeyer [1] aus Dillingen, hatte<br />

noch im Ersten Weltkrieg für Kaiser und Reich<br />

gekämpft. Sein Militärpass hat sich erhalten. [2]<br />

In Friedenszeiten, am 13. Oktober 1909, trat er<br />

seinen Dienst in der 11. Kompanie des Oberrheinischen<br />

Infanterieregiment Nr. 97 an und<br />

wurde bis zum Gefreiten befördert. [3] Die Liste der<br />

Gefechte, an denen er im Ersten Weltkrieg teilnahm<br />

ist lang [4] , dazu gehören Verdun (3. November<br />

1917 bis 9. April 1918) und Flandern (5. Mai<br />

[1] Peter Schmeyer, geboren am 15. Mai 1889 in Dillingen,<br />

dort gestorben am 16. Juli 1932.<br />

[2] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 1,1 Militärpass<br />

von Peter Schmeyer.<br />

[3] Durch den Militärpass erfahren wir, dass Peter Schmeyer<br />

1,66 m groß war und – wie üblich – in der ersten Schießklasse<br />

ausgebildet wurde. Nach seiner Beförderung zum<br />

Gefreiten am 17. Dezember 1910 erfolgte die Beurlaubung<br />

zur Reserve am 25. September 1911. 1914 brach dann<br />

der Krieg aus.<br />

[4] Das waren: 21. bis 25. August 1914 Longwy, 1. September<br />

1914 Dannevoux, 29.November 1914 bis 5. Januar 1915<br />

Argonnenwald, 25. September bis 11. Oktober 1916 Verdun,<br />

24. Dezember 1916 bis 8. März 1917 Champagne, 3.<br />

November 1917 bis 9. April 1918 Verdun (mit Unterbrechung),<br />

5. Mai bis 11. September 1918 Flandern (mit Unterbrechung).<br />

bis 11. September 1918), wobei ausdrücklich festgehalten<br />

wurde, dass die Teilnahme an den<br />

Schlachten immer wieder unterbrochen wurde<br />

durch Heimaturlaube. Die Verwundungen [5] halten<br />

sich im Rahmen, die Auszeichnungen auch:<br />

am 1. August 1917 Eisernes Kreuz II. Klasse und am<br />

26. Juli 1918 das Verwundetenabzeichen.<br />

[5] Notiert sind für den 1. September 1914 ein Schuss in die<br />

rechte Hand und für den 5. Januar 1915 eine Gehirnerschütterung.


saargeschichte|n 67<br />

Peter Schmeyer hatte die standeslose Katharina<br />

Cäcilia Stein [6] geheiratet; sie gebar ihm drei<br />

Söhne: Ernst, Otto und Josef. Cäcilia Schmeyer<br />

muss eine starke Frau gewesen sein, denn sie<br />

kämpfte ein Leben lang. Am 16. Juli 1932 war Peter<br />

Schmeyer wohl an den Spätfolgen des Krieges<br />

gestorben, und seine Witwe Cäcilia focht (ihren<br />

ersten Kampf) um die Rente und den Unterhalt<br />

der Söhne aus. [7] Sie nahm dann am 30. November<br />

1935 eine Putzstelle bei der Dillinger Hütte an,<br />

die sie noch am 3. August 1944 innehatte. [8]<br />

Der älteste Sohn Ernst Peter war den Eheleuten<br />

am 16. Dezember 1920 in Dillingen geboren worden.<br />

Er besuchte die achtklassige katholische<br />

Volksschule am Ort, die er am 30. März 1935 verließ,<br />

[9] machte eine Ausbildung zum Technischen<br />

Zeichner und besuchte die Gewerbliche Berufsschule<br />

Bezirk Dillingen-Saar. [10] Mit Kriegsbeginn<br />

wurde er zum Heer eingezogen.<br />

[6] Katharina Cäcilia Schmeyer geb. Stein, Hausfrau, geboren<br />

am 29. April 1897 in Hülzweiler, gest. am 22. April 1972<br />

in Wallerfangen.<br />

[7] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 2,1<br />

Schreiben des Knappschaftsvereins der Dillinger Hüttenwerke<br />

zu Dillingen-Saar betr. Die Witwenpension<br />

nach dem Tod des Peter Schmeyer († 16. Juli 1932) vom<br />

26. Juli 1932.<br />

[8] Ebd. Best. 2,2 Arbeitsbuch als Putzfrau auf der Dillinger<br />

Hütte.<br />

[9] Ebd. Best. 3,2 Entlassungszeugnis der Katholischen<br />

Volksschule Dillingen vom 30. März 1935.<br />

[10] Ebd. Best. 3,3 Zeugnis der Gewerblichen Berufsschule Bezirk<br />

Dillingen-Saar vom 27. Oktober 1937.<br />

Der zweite Sohn Otto wurde am 23. März 1926<br />

in Dillingen geboren und besuchte ebenfalls die<br />

katholische Volksschule. [11] Am 3. Oktober 1940<br />

unterschrieb seine Mutter den Lehrvertrag bei der<br />

Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwerke; er<br />

wurde Modellschreiner und verließ die Gewerbliche<br />

Berufsschule Dillingen am 20. März 1943. [12]<br />

Bald danach zog er ins Feld. Beide Brüder sollten<br />

sterben. Nur der dritte, Josef Ambrosius, geboren<br />

am 3. Oktober 1929 in Dillingen, hatte die Gnade<br />

der späten Geburt und blieb am Leben. Von ihm<br />

sind im Nachlass der Mutter Cäcilia keine Dokumente<br />

erhalten. Das Gros des Nachlasses besteht<br />

aus Korrespondenz, besonders mit dem älteren<br />

[11] Ebd. Best. 4,1 Zeugnisheft der Katholischen Volksschule<br />

in Dillingen. Die Laufzeit des Heftes reicht aber nur vom<br />

7. April 1932 bis 20. März 1939.<br />

[12] Ebd. Best. 4,5 Beglaubigte Abschrift des Schulabgangszeugnisses<br />

vom 20. März 1943.<br />

Gruppenbild 1917.<br />

(PA Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila<br />

Schmeyer Best. 7,11)<br />

Ernst Schmeyer als<br />

Säugling um 1921. (PA<br />

Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila Schmeyer<br />

Best. 7,12)


Ernst Schmeyer<br />

(rechts) und Hans<br />

Ferner um 1939. (PA<br />

Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila Schmeyer<br />

Best. 7,14)<br />

Die Hosen sind durchgescheuert.<br />

Album<br />

mit Bildern von Otto<br />

und Ernst Schmeyer<br />

im Zweiten Weltkrieg.<br />

(PA Schmeyer<br />

Homburg. NL Cäcila<br />

Schmeyer Best. 9,1<br />

Nr. 5)<br />

Sohn Josef. Diese Korrespondenz beleuchtet bei<br />

der ganzen tragischen Situation der Mutter die<br />

Verhältnisse dieser Zeit.<br />

»Ein fröhliches Treiben« – Reichsarbeitsdienst<br />

Während die Rote Zone und damit Dillingen evakuiert<br />

war, befand sich Ernst Schmeyer in Schönebeck<br />

an der Elbe im Reichsarbeitsdienst. Anlässlich<br />

eines Heimataufenthaltes wollte er die<br />

Mutter mit den jüngeren Brüdern besuchen und<br />

machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg durch<br />

den Hunsrück. Vergeblich. Ihm wurde gesagt,<br />

man habe die Dillinger nach Bleicherode in den<br />

Harz gebracht. »Das erste, was wir dort hörten,<br />

war, das[s] wir arbeiten könnten. Dazu hatten wir<br />

aber keine Lust. Von Essen u. Quartier war hier<br />

überhaupt nichts zu sehen und noch viel weniger<br />

von den Dillingern. Wir hatten hier die Nase ziemlich<br />

voll und den Magen bedenklich leer. Wir fuhren<br />

anderntags auf eigene Gefahr nachmittags<br />

um V 8 Uhr los in Richtung Magdeburg […]. Es<br />

hieß, hinter Magdeburg sind die ganzen Dillinger.<br />

So kamen wir hier nach Schönebeck ziemlich ausgehungert.<br />

[…] Jetzt bin ich hier bei einem Apot[h]eker<br />

und habe es sehr gut, habe ein Zimmer u.<br />

ein Bad dabei. Bis jetzt brauchte ich noch nichts<br />

zu bezahlen; es sind sehr nette Leute.« [13]<br />

In Schönebeck arbeitete Ernst in der ortsansässigen<br />

Patronen- und Zündhütchenfabrik<br />

als Zeichner und verdiente 120 Reichsmark. Der<br />

Neunzehnjährige konnte seiner Mutter stolz vermelden,<br />

dass er 153 Pfund wog, beichtete aber<br />

auch, dass er in Dillingen zwei Tage »vergnügt<br />

mit den Soldaten verlebt [hat] zwischen Wein<br />

und Bier. Es wurde nämlich sämtlicher Alkohol<br />

von den Männern ausgetrunken; das war ein<br />

fröhliches Treiben.« [14]<br />

Nachdem Ernst Schmeyer nach Wiesbaden als<br />

Gefreiter gewechselt war, berichtet er vom Alltag<br />

in den Kasernen. An keiner Stelle hat man den<br />

Eindruck, dass ein grausamer Krieg tobte. »Unser<br />

Dienstplan ist folgender. Morgens um 6 Uhr ist<br />

Wecken. Um 6.50 Uhr haben wir Antreten zur<br />

Befehlsausgabe. In den 50 Min. müssen wir Betten<br />

bauen, etwas Kaffee trinken und waschen.<br />

Von 7.00 Uhr bis 9.00 Uhr haben wir Unterricht<br />

über das Gewehr; Rangordnungen von Offizieren<br />

usw. Von 9 bis V 10 haben wir Kaffeetrinken.<br />

Von V 10 bis 10 formale Ausbildung, also Exerzieren,<br />

Gewehrübungen, Gehen und Stehen. Das<br />

macht mir am meisten Spaß. Da geht es so richtig<br />

stramm zu. Von 12 bis 2.00 haben wir Mittagspause.<br />

Wenn wir raustreten, müssen wir die Finger<br />

vorzeigen. Das Essen ist tadellos. Wir erhalten<br />

ganz selten nur Eintopf, und die Woche hatten<br />

wir jeden Tag Fleisch. Von 2.00 Uhr bis 6.00 Uhr<br />

haben wir verschiedenen Dienst. Entweder theoretisch<br />

oder Luftschutzübung oder Gewehr oder<br />

Kleiderappell oder Sport. Um 10 Uhr müssen wir<br />

in den Betten sein. Vorher aber müssen wir die<br />

Stube blitzblank machen.« [15]<br />

»Alles halb so wild« – Durchhalteparolen<br />

Um Mutter und Brüder zu beruhigen, bemühte<br />

sich Ernst Schmeyer beständig darum, positive<br />

Nachricht zu übermitteln. Der Gefreite schrieb<br />

aus Wiesbaden: »Meine Uniform passt mir fabelhaft.<br />

Aber Stiefel haben wir noch nicht und neue<br />

Stiefelzieher brauche ich noch nicht. Eine Ausgangsuniform<br />

haben wir auch schon. Meine<br />

eigene Wäsche werde ich auch wieder schicken.<br />

Meine Militärwäsche bekommen wir gewaschen.<br />

[13] Ebd. Best 3,4. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter<br />

vom 24. September 1939, S. 1. Der Verf. schreibt fast<br />

ohne Satzzeichen; sie sind hier ergänzt.<br />

[14] Ebd., S. 2–3.<br />

[15] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,5.<br />

Brief von Ernst Schmeyer an die Mutterr vom 12. Oktober<br />

1940.


saargeschichte|n 69<br />

Wir brauchen nur die Taschentücher und Strümpfe<br />

zu waschen und die Halsbinden.« [16] Nur selten<br />

und knapp kommen klare Worte: »Es gefällt mir<br />

immer noch gut, wenn es auch manchmal scheisse<br />

ist« [17] , dann geht es positiv weiter: »Auf unserer<br />

Stube liegen alles Pfälzer oder Mannheimer,<br />

und wir haben eine Bombenkameradschaft.<br />

Einen Volksempfänger haben wir uns auch schon<br />

zugelegt.« [18]<br />

Also »bestens versorgt« hatten die Rekruten auch<br />

viele Vergnügungen, schenkt man den Briefen<br />

von Ernst Schmeyer Glauben. »Wir bekommen<br />

[…] am Freitag Geld und unser Soldbuch und<br />

dann können wir allein ausgehen. Hier in Wiesbaden<br />

ist ein schönes Treiben in den Lokalen und<br />

ganz tolle Mädels, und als Soldat hat mans ziemlich<br />

leicht, um mit Mädels weg zu gehen.« [19]<br />

Und weil die Mutter kritisch nachfragte, schrieb<br />

Ernst: »Du machst Dir bestimmt zu schlimme<br />

Vorstellungen, was wir alles aushalten müssen.<br />

Ich glaube, daran ist nichts anderes schuld als die<br />

Wochenschau und die Bilder in der Zeitung. Das<br />

ist doch klar, das[s] die nicht Bilder bringen können,<br />

wo wir in Ruhe liegen oder sonst was treiben.<br />

Das würde die, welche zu Hause sind, doch gar<br />

nicht interessieren und würde bestimmt langweilig<br />

werden.« [20]<br />

Der jüngere Bruder Otto scheint von seinem großen<br />

Bruder gelernt zu haben, denn im Dezember<br />

1944 schreibt er über die Westfront: »Wir sind<br />

immer noch da, wo wir von Landau aus hin sind,<br />

und das weißt Du ja. Wir sollten ja zuerst nach 4<br />

Wochen wieder von hier weg, aber nun hat sich<br />

die Lage so geändert, daß wir hier bleiben müssen.<br />

Du brauchst nun aber nicht zu erschrecken, und<br />

Dir unnötige Sorge zu machen. Das ist alles halb<br />

so wild. Der Westwall ist hier ziemlich stark, und<br />

der Amerikaner wird sich bei uns schon die Zähne<br />

ausbeißen. So einen kleinen Vorgeschmack hatte<br />

er schon heute Mittag bekommen. Er war nähmlich<br />

(!) mit ein paar Panzern etwas vor gekommen,<br />

und das hat ihn unsere Ari [21] im Nu wieder vertrieben.<br />

Die ersten Kugeln sind auch schon über<br />

uns weg, und das ganze ist halb so wild, wenn<br />

man die Nase rechtzeitig in den Dreck steckt. |<br />

Und Dreck ist hier im wahrsten Sinne genug.<br />

[16] Ebd.<br />

[17] Ebd.<br />

[18] Ebd.<br />

[19] Ebd.<br />

[20] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,10.<br />

Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter und seine<br />

Brüder vom 4. Dezember 1941.<br />

[21] Ari = Angehöriger der Artillerie.<br />

Du brauchst Dir also um mich keine Sorgen zu<br />

machen, ich passe schon von selbst auf.« [22]<br />

Am 7. Januar 1945 sollte Otto Schmeyer mit 19<br />

Jahren in Stundviller/Elsass fallen. Noch vier<br />

Tage zuvor schrieb er der Mutter: »Wir liegen hier<br />

immer noch in Ruhe, und führen ein ganz tadelloses<br />

Leben. Den ganzen Tag machen wir nichts<br />

anderes als schlafen und Essen. Das Essen ist ganz<br />

prima, und zu rauchen haben wir auch genug. Du<br />

brauchst Dir also um mich überhaupt keine Sorgen<br />

zu machen. Nun will ich schließen, denn ich<br />

muß mich noch rasieren. Ich hab einen Bart wie<br />

ein U-Boot-Fahrer. Denn an Weihnachten hab ich<br />

mich das letzte mal rasiert.« [23]<br />

»Wieder im Luftschutzkeller« –<br />

Luftkrieg und Mittagsschlaf<br />

Die Luftangriffe nahmen zu. Ernst Schmeyer<br />

betonte gegenüber der Mutter das Positive.<br />

»Wenn wir Alarm haben, dann haben wir von<br />

2-3 Mittags Schlafstunde.« [24] Und später genauer:<br />

»Wegen dem Fliegeralarm brauchst Du Dir<br />

keine Angst zu machen. Wir sind nämlich Mittags<br />

immer froh, wenn wir eine Stunde länger schlafen<br />

können. Und der Fliegeralarm dauert auch<br />

höchstens nur eine Stunde, und Bomben sind<br />

noch keine […] abgeworfen worden.« [25] Zu Weihnachten<br />

äußerte sich Ernst Schmeyer, inzwischen<br />

Funker, gegenüber dem kleinen Bruder Josef ganz<br />

ehrlich: »Ich habe Deine Karte in mein Spind aufgehängt<br />

und sieht schön aus. Es ist jetzt 9 Uhr<br />

[22] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best.4,9.<br />

Brief von Otto Schmeyer an seine Mutter und Bruder<br />

Josef vom 16. Dezember 1944.<br />

[23] Ebd. Best.4,11. Feldpostbrief von Otto Schmeyer an seine<br />

Mutter und Bruder Josef vom 3. Januar 1945.<br />

[24] Ebd. Best. 3,5. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter<br />

vom 12. Oktober 1940.<br />

[25] Ebd. Best.3,6. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter<br />

vom 30. Oktober 1940.<br />

Baden in einem russischen<br />

See.<br />

Album mit Bildern<br />

von Otto und Ernst<br />

Schmeyer im Zweiten<br />

Weltkrieg. (PA<br />

Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila Schmeyer<br />

Best. 9,1 Nr. 7)


Friseurtag im Lager.<br />

Album mit Bildern<br />

von Otto und Ernst<br />

Schmeyer im Zweiten<br />

Weltkrieg. (PA<br />

Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila Schmeyer<br />

Best. 9,1 Nr. 10)<br />

abends und ich sitze wieder im Luftschutzkeller.<br />

Ich lag gerade 5 Min. im Bett und mußte wieder<br />

heraus. Hier darf man nicht wie zu Hause im Bett<br />

liegen bleiben.« [26]<br />

Was der Luftkrieg aber aus einem jungen Mann<br />

von rund zwanzig Jahren machte, der – von seiner<br />

Familie getrennt – »den starken Mann« spielen<br />

musste, ist seinem kurzen Bericht über einen<br />

Alptraum zu entnehmen: »Die vorige Nacht<br />

hatte ich geträumt von Dillingen. […] Ich träume<br />

sonst nie, und da kann ich tagsüber noch so viel<br />

erlebt haben. Ich habe geträumt, ich hätte mit<br />

Otto beim Gratz am Geschäft gestanden und<br />

auf einmal wäre eine ganze Masse Flugzeuge<br />

angekommen. Alle Leute glaubten, es seien deutsche.<br />

Bis auf einmal rief ich zu Otto: ‚Die werfen<br />

Bomben‘, denn ich hörte das übliche Zischen in<br />

der Luft. Wir sprangen beide sofort in Deckung,<br />

und schon hagelte es an allen Ecken und Enden.<br />

Wie ich auch hier sah, waren es Engländer. Wir<br />

gingen dann noch seelenruhig Wurst und Brötchen<br />

kaufen, und dann wurde ich wach […]. Wieder<br />

war es nur ein Wünschen. Ich hätte ja lieber<br />

diesen Bombenangriff mitgemacht und wäre<br />

aber die Hauptsache zu Hause. Allerdings dürfte<br />

man bei einem solchen Bombenangriff kein Loch<br />

in den Kopf kriegen. War auch schwerer Quatsch,<br />

der Traum, was?« [27]<br />

»Seit langer Zeit wieder gebadet« –<br />

Der Frontalltag<br />

Ernst Schmeyer verdanken wir zahlreiche Bilder,<br />

denn er bat seine Mutter, ihm den Fotoapparat<br />

zu schicken. [28] Immer wieder erzählt er in seinen<br />

Briefen vom Alltag an der Ostfront. »Der ganze<br />

Nachschub, überhaupt sämtliche Verbindungen<br />

mit dem vorgesetzten Oberst [halten wir nur<br />

über das] Flugzeug. Wir waren die ersten 14 Tage<br />

eingeschlossen. Das geht Euch ja gar nichts an.<br />

Das ist ja Dienstsache. Mache dir keine Angst<br />

[26] Ebd. Best.3,7. Karte von Ernst Schmeyer an Josef Schmeyer<br />

vom 3. Dezember 1940. Auf derselben Karte zeigt er<br />

sich als großer und fürsorglicher Bruder: »Lieber Josef,<br />

wie gefällt es Dir denn noch in der Schule. Bekommst<br />

Du bald wieder Ferien. Hast Du Dich auch geschickt,<br />

daß Dir der Nikolaus was bringt und das Christkindchen.<br />

Ich bekomme für Weihnachten sehr wahrscheinlich<br />

kein Urlaub. Ich hoffe aber bald nach Neujahr.«<br />

[27] Ebd. Best.3,18. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 11. Januar 1942.<br />

[28] Ebd. Best. 3,5. Brief von Ernst Schmeyer an Cäcila<br />

Schmeyer vom 12. Oktober 1940.<br />

deswegen, denn jetzt ist wieder alles in bester<br />

Ordnung.« [29]<br />

Die hygienischen Zustände waren grauenvoll,<br />

aber ein junger Mann wird seiner Mutter gegenüber<br />

nicht so deutlich, sondern sagt durch die<br />

Blume, wie ihn die Verhältnisse quälen. Ein gutes<br />

Beispiel liefert ein Brief vom 7. Dezember 1941:<br />

»Ich war gerade eben in meiner Farm. Wenn Du,<br />

liebe Mama, jetzt wüßtest, was das wäre. Jeder<br />

von uns hat eine Zucht von kleinen [Tierchen] […].<br />

Habe eben ein paar mit dem Lasso [gefangen].<br />

Jetzt merken die lieben Tierchen, daß ich von<br />

ihnen schreibe und jetzt marschieren dieselben<br />

im Takt des Pariser Einzugsmarsches auf meinem<br />

Rücken und Bauch auf und ab. Bei uns nennt man<br />

dieselben Schneiderläuse. Von Flöhen oder Wanzen<br />

merke ich nichts. Ich werde aber, wenn wir<br />

das nächste feste Quartier erhalten, dieselben<br />

vertreiben. Ich werde die ganze Wäsche mal<br />

Nachts in die Kälte legen und dann werden dieselben<br />

schon den Schnupfen bekommen.«[30]<br />

Und ein paar Wochen später: »Eben war ich wieder<br />

in meinem Jagdrevier und habe eine ganze<br />

Anzahl Abschüsse. Die Biester können einen aufregen.<br />

Wenn man in der Kälte ist, merkt man<br />

nichts. Wie man es aber warm bekommt, fangen<br />

die an zu laufen.« [31]<br />

Russland wäre nicht Russland, wenn der Junge<br />

aus Dillingen nicht die Sauna für sich entdeckt<br />

hätte. »Gestern habe ich seit langer Zeit wieder<br />

[29] Ebd. Best.3,10. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 4. Dezember 1941.<br />

[30] Ebd. Best.3,11. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 7. Dezember 1941.<br />

[31] Ebd. Best. 3,12. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 16. Dezember 1941.


saargeschichte|n 71<br />

gebadet. Ach war das schön. Es war ein Dampfbad,<br />

da wurden Steine heiß gemacht und darauf<br />

Wasser geschüttet. Das Wasser verdampft<br />

und durch die Hitze kommt [man] dermaßen ans<br />

Schwitzen, daß das Wasser nur einem so runterläuft.<br />

Das Bad ist ziemlich gesund, nur bekommt<br />

man Hunger darauf.« [32]<br />

Der jüngere Bruder Otto erlebte den Umstand,<br />

an Weihnachten nicht zu Hause zu sein, als<br />

besondere Anfechtung, thematisierte aber nur<br />

den Schmerz der Familie, um selbst unangreifbarer<br />

zu sein: »Wie werdet Ihr den heiligen<br />

Abend da gesessen haben, und wieviele Tränen<br />

sind wieder geflossen. Hoffentlich wart Ihr nicht<br />

all zu traurig. Nun will ich Dir mal schreiben, wie<br />

ich hl. Abend erlebt habe. Zunächst mal wußten<br />

wir hier in unserer Einsamkeit garnicht richtig,<br />

wo wir mit dem Datum dran waren, und feierten<br />

darum hl. Abend einen Tag zu früh. Am anderen<br />

Tag erst erfuhren wir das richtige Datum. Na<br />

das macht auch nichts, sagten wir, dann feiern<br />

wir eben zweimal. Aber Scheibe (!): Am hl. Abend<br />

um 6 Uhr dann Alarm. Alles mußte in den Graben,<br />

weil der Amerikaner einen Angriff plante. Unsere<br />

Ari hat ihm aber den Spaß verdorben, und so<br />

wurde der Alarm um 12 Uhr beendet. Unser Chef<br />

ging um 11 Uhr durch den Graben, und wünschte<br />

jedem frohe Weihnachten und ließ Zigaretten<br />

verteilen. Von 12 Uhr ab habe ich dann 2 Stunden<br />

geschlafen, und um 2 Uhr mußte ich dann<br />

raus mit auf Spähtrupp. Das waren meine Weihnachten<br />

1944. Die werde ich nie im Leben vergessen.<br />

Aber es kommen auch wieder andere<br />

Zeiten, und dann wird alles nachgeholt.« [33] Otto<br />

Schmeyer ist im Januar darauf gefallen; es war<br />

sein letztes Weihnachtsfest.<br />

»Erfroren habe ich mir noch nichts« –<br />

Wetter und Arbeit im Osten<br />

Der Funker Ernst Schmeyer lernte an der Ostfront<br />

den russischen Winter fürchten. »Wir haben<br />

hier jetzt richtigen Winter. Heute morgen hatten<br />

wir 35° kalt. Der Schnee liegt aber noch nicht<br />

so hoch. Wir haben 25 cm Schnee vielleicht […].<br />

Da war aber so ein Wind. An dem Weg mußten<br />

wir gerade ein ganz kurzes Stück Leitung schalten.<br />

Der Wind hat einen bald vom Mast herunter<br />

geschmissen. Und kalte Füsse (!) und Finger gibt<br />

es, wenn man so auf dem Mast hängt. Aber das ist<br />

alles nicht so schlimm. Die Infanterie ist wohl viel<br />

beschissener dran. Wir haben wenigstens Ruhe,<br />

wenn wir unsere Leitung gebaut haben.« [34] Die<br />

Mutter reagierte prompt: »Hoffentlich hast Du<br />

die Hände und Füße noch nicht erfroren. Wenn<br />

Du doch so auf die Masten klettern mußt, kannst<br />

Du doch keine Handschuhe anlaßen, und im<br />

Auto werden Dir die Füße steif werden, oder habt<br />

Ihr auch von den neuen heizbaren Einlegesohlen,<br />

wie sie hier erzählen und im Radio?« [35] Ernst antwortete<br />

wahrheitsgemäß: »Erfroren habe ich mir<br />

noch nichts. Dabei hatte ich schon oft zum Weinen<br />

kalte Füsse (!) und Finger. Aber es ging wieder<br />

vorbei. Wir hatten auch schon ganz schön kalte<br />

Tage. Augenblicklich geht es wieder. Wir haben<br />

heute vielleicht 10° Kälte oder auch nicht soviel.<br />

Ein Silvester und Neujahr habe ich verbracht […].<br />

Wir lagen im Bett und hörten etwas Musik. Um<br />

12 Uhr wurde ich wach gemacht. Wir gratulierten<br />

uns gegenseitig, und ich schlief, nachdem das<br />

Glockengeläut im Radio wieder vorbei war, ruhig<br />

ein. Wenn Du auf warst, wirst Du auch die Musik<br />

gehört haben, welche nach dem Glockengeläut<br />

gespielt wurde. Die hat mir prima gefallen. Es war<br />

Auf dem Telegrafenmast.<br />

Album mit<br />

Bildern von Otto und<br />

Ernst Schmeyer im<br />

Zweiten Weltkrieg.<br />

(PA Schmeyer Homburg.<br />

NL Cäcila<br />

Schmeyer Best. 9,1<br />

Nr. 12)<br />

[32] Ebd. Best.3,11. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 7. Dezember 1941.<br />

[33] Ebd. Best.4,10. Brief von Otto Schmeyer an seine Mutter<br />

und Bruder Josef vom 25. Dezember 1944.<br />

[34] Ebd. Best. 3,12. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 16. Dezember 1941.<br />

[35] Ebd. Best. 3,19. Brief von Cäcilia, Otto und Josef Schmeyer<br />

an Ernst Schmeyer vom 22. Januar 1942.


die ‚Götterdämmerung‘ von Wagner.«[36] Wenige<br />

Tage später geriet der junge Mann in russische<br />

Kriegsgefangenschaft und galt ab 22. Januar 1942<br />

als verschollen.<br />

»Ohne besonders großen Widerstand« –<br />

Der Vormarsch<br />

Von den eigentlichen Kriegshandlungen<br />

berichten die Brüder Ernst und Otto eher selten;<br />

die Zensur wird ihnen die Möglichkeit<br />

genommen haben. In einer Karte an den jüngsten<br />

Bruder Josef – er setzt nach dessen Namen<br />

den Begriff »Kaninchenzüchter« ins Adressfeld,<br />

um dem Jungen eine Freude zu machen – schreibt<br />

Ernst Schmeyer über das Leben auf dem Russlandfeldzug:<br />

»Ich bin heute in guter Laune und<br />

habe Bauchweh vor lauter Lachen. Hier sind wir<br />

in einem kleinen Dorf und in dem Hause machen<br />

die Mädchen ein paar russische Volkstänze. So<br />

etwas mußt Du mal sehen. Der eine spielt auf der<br />

Ballalaika (!) und die anderen singen gegenseitig<br />

und trampeln mit den Füßen und tanzen im Kreis<br />

herum.« [37]<br />

Im Dezember 1941 wird Ernst deutlicher und<br />

berichtet einer Familie Eggert vom Verlauf des<br />

Russlandfeldzuges, wie er ihn mitgemacht und<br />

erlebt hat. »Ich bin jetzt schon seit Kriegsbeginn<br />

in Rußland, und ich wäre froh, wenn wir bald aus<br />

dem Arbeiterparadies heraus können. […]. Denn<br />

hier in Rußland lebt man wie vor hundert Jahren,<br />

und das noch nicht ein mal. […] Am 22. Juni<br />

sind wir als motorisierte Division bei Tilsit über<br />

die Deutsch-Litauische Grenze, ohne besonders<br />

großen Widerstand. Durch ganz Litauen ging es<br />

schnell, und hier hieß es, nichts als fahren und<br />

am Feinde bleiben. Am Tage haben wir 100 – 150<br />

km zurückgelegt, und das auf Wegen, welche<br />

nur aus Sand und Schlaglöchern bestanden. […]<br />

Unser Vormarsch ging immer noch in dem gleichen<br />

Tempo weiter durch Lettland über die russische<br />

Grenze bis nach Pleskau [heute Pskow]. Hier<br />

wurde die Stalin-Linie durchbrochen und weiter<br />

ging es den Peizus-See bis an die Luga. Hier<br />

blieben wir 4 Wochen liegen, denn der Russe<br />

verteidigte den Fluss. Aber dieses war nicht der<br />

Grund zu unserem Stillstand. Der ganze Nachschub<br />

mußte wieder herangebracht werden.<br />

Während diese[r] 4 Wochen lag unsere Kompanie<br />

am Samra-See, und hier konnten wir es gut<br />

aushalten und unsere Wäsche wieder in die Reihe<br />

[36] Ebd. Best. 3,17. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter<br />

und seine Brüder vom 9. Januar 1942.<br />

[37] Ebd. Best. 3,9. Karte von Ernst Schmeyer an Josef<br />

Schmeyer vom 27. November 1941.<br />

bringen. Das schlimmste Übel bis jetzt war der<br />

Staub und die unendlich vielen Stechmücken.<br />

Die konnten einen verrückt machen. Abends war<br />

man müde, und die Biester stachen sogar durch<br />

die Wolldecken, die man über das Gesicht zog.<br />

Wir sind dann weiter gezogen und haben die<br />

starke Verteidigungslinie bei Petersburg durchbrochen.<br />

Wir waren bis auf Sichtweite an die<br />

Stadt herangekommen. Hier wurden wir dann<br />

herausgezogen und kamen an die Mittelfront.<br />

Hier haben wir die Umfassungsschlacht bei<br />

Wjasma mitgemacht und haben dann in schnellem<br />

Vorstoß Kalinin genommen. Hier sah ich zum<br />

ersten Mal in Rußland mehrstöckige Steinhäuser,<br />

in dem aber nur Kommissare wohnten. Der Winter<br />

hat jetzt die Operationen still gelegt. An 2<br />

Tagen hatten wir schon 35° unter Null.« [38]<br />

»Mit seinem Leben bezahlt« –<br />

Mütterliche Suche nach dem Sohn<br />

Cäcilia Schmeyer sollte innerhalb von weniger als<br />

drei Jahren zwei von drei Söhnen verlieren. Ernst<br />

starb mit 21 Jahren, Otto mit 19. Als Ernst am 3. Mai<br />

1942 in russischer Kriegsgefangenschaft starb,<br />

wusste niemand von seinem Schicksal, nachdem<br />

er seit dem 22. Januar vermisst war. Ein Offizier<br />

schrieb der Mutter: »Ihr Sohn war mit einem Bautrupp,<br />

dem er seit längerer Zeit angehörte, in der<br />

Nacht vom 21. zum 22.1.42 bei einem Bataillonsstab<br />

in Krassny-Cholm, einem kleinen russischen<br />

Dorf an der Moskauer Front. Der Trupp<br />

hatte die Aufgabe, die zum Regiment führenden<br />

Fernsprechleitungen zu unterhalten. In den frühen<br />

Morgenstunden gelang es russischen Spähtrupps,<br />

unsere Posten an einer Seite des Dorfes<br />

zu überrennen und mit stärkeren Kräften in das<br />

Dorf einzudringen. Der Bataillonskommandeur<br />

mußte auf Grund dieser Lage das Absetzen vom<br />

Ort befehlen. Ihr Sohn lag nun mit seinem Trupp<br />

und mehreren Leuten des Bataillons in einem<br />

Hause an der Dorfstraße, in die die Russen mit<br />

Maschinengewehren hineinschossen. Keiner der<br />

Leute des Bataillons und auch der Kommandeur<br />

selbst nicht hat in der Hitze des entbrannten<br />

Gefechtes beobachtet, daß irgendeiner der<br />

Kameraden aus dem betreffenden Hause herausgekommen<br />

wäre. Es besteht nun – ich will es<br />

Ihnen ganz offen schreiben – die Möglichkeit, daß<br />

Ihr Junge, der ja immer zu den Tapfersten gehörte,<br />

mit den fünf Kameraden im Kampf gefallen ist,<br />

es ist jedoch auch möglich, daß er in Gefangenschaft<br />

geraten ist. Das Dorf wurde später von uns<br />

[38] Ebd. Best.3,13. Brief von Ernst Schmeyer an Familie Eggert<br />

vom 16. Dezember 1941.


saargeschichte|n 73<br />

aus taktischen Gründen nicht wieder genommen,<br />

so daß mir leider weitere Nachforschungen nicht<br />

möglich sind.« [39] Und dann folgten die üblichen<br />

Floskeln: »Der Verlust Ihres Sohnes trifft die Kompagnie<br />

deswegen besonders hart, weil er zu den<br />

zuverlässigsten Fernsprechern gehörte, und weil<br />

er bei Kameraden und Vorgesetzten stets beliebt<br />

war. Er hat seinen freudigen Einsatz für die Kompanie<br />

und damit für unser aller großes Ziel nun<br />

wahrscheinlich mit seinem Leben bezahlt.« [40]<br />

Nun begann ein Kampf für die Mutter. Nachdem<br />

auch der Kompaniechef, Oberleutnant Köhlhofer,<br />

einen Bericht abgegeben und weitere Vermisste<br />

benannte hatte [41] , wollte Cäcilia Schmeyer nichts<br />

unversucht lassen, das Schicksal ihres Erstgeborenen<br />

zu erforschen. So schrieb das Bischöfliche<br />

Offizialat Trier 1951 an die Mutter über Nachforschungen,<br />

die angestellt worden waren. [42]<br />

Es folgte ein Brief des Deutschen Caritasverbandes.<br />

[43] Cäcilia Schmeyer versuchte, den<br />

Verlust für sich zu verarbeiten und fügte ihren<br />

Papieren eine eigene Darstellung hinzu: »[…] in<br />

der Nacht vom 21.–22. Januar kam er verwundet<br />

in Gefangenschaft. Das habe ich durch einen<br />

Heimkehrer erfahren, kam in ein Sammellager<br />

bei Moskau, Lager 3 […]. Dort war er für zwei<br />

Monate. Von dort kam er in ein Lazarett wegen<br />

Wundfieber. Von der Zeit fehlt jede Spur.« [44] 1955<br />

wurde amtlich der Tod festgestellt und auf den 31.<br />

Januar 1942 datiert. [45] Vierzehn Jahre danach gab<br />

es Klarheit, dass Ernst Schmeyer am 3. Mai 1942<br />

in Gefangenschaft verstorben war. [46] Der traurige<br />

Kampf war für die Mutter zu Ende.<br />

Was Otto Schmeyer angeht, den zweiten<br />

Sohn, der sich an der Westfront befand, so war<br />

die Botschaft klar. Otto schrieb am 6. Januar<br />

1945 aus der Nähe von Wissembourg an<br />

seine Mutter – und er hatte nahezu eine Vorahnung:<br />

»Heute mittag geht es wieder weiter,<br />

und zwar gehen wir zum Angriff über. Hoffentlich<br />

geht alles gut. Es ist ja doch ein komisches<br />

Gefühl. Ihr braucht Euch aber keine Sorgen zu<br />

machen, es wird schon schief gehen. Behüt Euch<br />

alle Gott, auf Wiedersehen.« [47] Am Tag darauf<br />

war er tot, gefallen im Gefecht bei Stundviller.<br />

[48]<br />

Der Totenzettel berichtet über den Heldentod<br />

des Panzer-Grenadiers Otto Schmeyer. [49]<br />

Zwei Söhne einem unmenschlichen Regime<br />

opfern zu müssen, wird auch für eine fromme<br />

Katholikin aus Dillingen eine Anfechtung<br />

gewesen sein; aber der Glaube gab der Mutter<br />

den einzigen Halt. Der drittgeborene Sohn Josef<br />

sollte erwachsen werden und Kinder und Enkel<br />

erleben.<br />

[39] Ebd. Best. 3,20. Schreiben des Kompaniechefs, Adler (?),<br />

der 1. Kompagnie Nachrichtenabteilung 36 (Original<br />

und zwei hektografierte Fassungen) an Cäcilia Schmeyer<br />

vom 10. Februar 1942.<br />

[40] Ebd.<br />

[41] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,21.<br />

Schreiben des Oberleutnants und Kompaniechefs<br />

Köhlhofer, Einheit 18007, an Cäcilia Schmeyer vom 5.<br />

April 1942.<br />

[42] Ebd. Best. 3,22. Schreiben des Bischöflichen Offizialates<br />

Trier an Cäcilia Schmeyer vom 4. Oktober 1951.<br />

[43] Ebd. Best. 3,23. Schreiben des Deutschen Caritasverbandes<br />

an Cäcilia Schmeyer vom 6. Oktober 1951.<br />

[44] Ebd. Best. 3,25. Handschriftliche Notiz von Cäcilia<br />

Schmeyer zum Tod ihres Sohnes Ernst Peter.<br />

[45] Ebd. Best. 3,31. Urkunde des Standesamtes Saarbrücken<br />

Nr. 11/ 1955 über die amtliche Feststellung des Todes<br />

von Ernst Peter Schmeyer, festgelegt auf den 31. Januar<br />

1942, ausgestellt am 12. Januar 1955.<br />

[46] Ebd. Best. 3,33. Schreiben der Deutschen Dienststelle<br />

für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen<br />

von Gefallen der ehemaligen deutschen Wehrmacht,<br />

Berlin-Wittenau, an Cäcilia Schmeyer vom 3. Februar<br />

1969 und Mitteilung über den Tod von Ernst Peter<br />

Schmeyer am 3. Mai 1942 in russischer Kriegsgefangenschaft<br />

[Korrektur des Todestages!]<br />

[47] Ebd. Best.4,12. Feldpostbrief von Otto Schmeyer an seine<br />

Mutter und Bruder Josef vom 6. Januar 1945.<br />

[48] Ebd. Best.4,13. Brief des Feldwebels Robert Katthaus<br />

vom 11. Januar 1945 an Cäcilia Schmeyer betr. den Tod<br />

von Otto Schmeyer am 7. Januar 1945 im Gefecht bei<br />

Stundviller.<br />

[49] Ebd. Best.4,14. Totenzettel (stark beschädigt) über den<br />

Heldentod des Panzer-Grenadiers Otto Schmeyer sowie<br />

Fotokopie des Totenzettels.


der lange schatten<br />

des abstimmungskampfes<br />

Ein schwieriges Erbe: Zur Entstehungsgeschichte des Deutsch-Französischen Gartens<br />

von hans-christian herrmann<br />

Vor der offiziellen<br />

Eröffnung der<br />

Deutsch-Französischen<br />

Gartenschau<br />

im Deutschmühlental<br />

fand am Ehrenmal<br />

auf den Spicherer<br />

Höhen eine Gedenkfeier<br />

statt – als<br />

Zeichen der neuen<br />

Freundschaft zwischen<br />

Frankreich und<br />

Deutschland.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1142/11)<br />

Eröffnung ohne den Kanzler<br />

Samstag, der 23. April 1960 in Saarbrücken. Um<br />

13.00 Uhr öffnete die Deutsch-Französische<br />

Gartenschau ihre Tore für das Publikum. Ein wichtiger<br />

Tag in der Saarbrücker Stadtgeschichte. Ein<br />

paar Stunden vorher hatten sich fast 3000 Menschen<br />

bei trübem Wetter mit Temperaturen von<br />

wenig frühlingshaften 10° C zu einer, wie die<br />

Saarbrücker Zeitung schrieb, »ergreifenden Feierstunde«<br />

auf den Spicherer Höhen versammelt. Es<br />

sprachen der Bischof von Lourdes Pierre-Marie<br />

Théas (1894–1977) und der Ratsvorsitzende der<br />

Evangelischen Kirchen in Deutschland, Bischof Dr.<br />

Otto Dibelius.« [1]<br />

Am Ehrenmal auf den Spicherer Höhen legten<br />

die Landwirtschaftsminister Frankreichs und<br />

Deutschlands sowie der saarländische Minister-<br />

[1] Saarbrücker Zeitung vom 25. April 1960.<br />

präsident einen Lorbeerkranz nieder – so der<br />

Bericht. Diese Feierstunde stand ganz im Zeichen<br />

der Völkerverständigung und wollte ein Zeichen<br />

für eine deutsche-französische Freundschaft<br />

setzen. Und so lautete auch die Schlagzeile der<br />

Saarbrücker Zeitung für die Deutsch-Französische<br />

Gartenschau »Symbol der Freundschaft«.<br />

Einen symbolträchtigeren Ort wie die Spicherer<br />

Höhen konnte es für die Überwindung der<br />

deutsch-französischen Feindschaft nicht geben.<br />

Zugleich fand damit die Eröffnung der Deutsch-<br />

Französischen Gartenschau sowohl auf französischem<br />

wie auch auf deutschem Territorium statt.<br />

Die im Planungsstadium entwickelte Idee einer<br />

grenzüberschreitenden Seilbahnverbindung<br />

von der Gartenschau im Deutschmühlental bis<br />

zu den Spicherer Höhen wurde allerdings auf<br />

eine im Deutschmühlental verbleibende Variante<br />

reduziert. Monsignore Théas hob die völker-


saargeschichte|n 75<br />

verbindende Idee der Gartenschau hervor und<br />

Bischof Dibelius erinnerte an das unsägliche<br />

Leid der Vergangenheit. Mit ihm verbunden die<br />

Gefallenen bei der Schlacht von Spichern, die<br />

Saarbrücker Zeitung zitierte seine bewegenden<br />

Ausführungen: »An diesem Tage aber, da die Vertreter<br />

ehemals feindlicher Völker zu gemeinsamer<br />

Feier zusammengekommen seien, könne man<br />

sagen: Hier hat der Friede begonnen«. Die Landwirtschaftsminister<br />

beider Länder, Henri Rocherau<br />

(1908–1999) und Werner Schwarz (1900–<br />

1982) bekräftigten die Ausführungen der Bischöfe.<br />

Der Saarbrücker Oberbürgermeister Fritz Schuster<br />

(1916–1988) beschrieb in blumigen Worten,<br />

»das Schussfeld zwischen zwei Völkern sei in<br />

einen blühenden Garten verwandelt worden, an<br />

dem Gärtner aus dem Raum zwischen Berlin und<br />

der Riviera in friedlichem Wettbewerb und seltener<br />

Eintracht zusammengearbeitet hätten«.<br />

Damit sprach Schuster den symbolträchtigen Ort<br />

an. Am 16. Oktober 1870 war hier ein neuer Friedhof<br />

für die Gefallenen der Schlacht von Spichern<br />

unter dem Namen Ehrental eingeweiht worden.<br />

Und in der NS-Zeit verliefen nicht weit entfernt<br />

Teile des Westwalls. Auch wenn das Ehrental der<br />

erste Soldatenfriedhof für Deutsche und Franzosen<br />

war, so entwickelte sich der Ort bis 1945 zu<br />

einer nationalen Weihestätte. Ministerpräsident<br />

Dr. Franz-Josef Röder (1909–1979) zugleich<br />

seinerzeit Bundesratspräsident, dankte bei der<br />

Gedenkstunde in Spichern Bundeskanzler Konrad<br />

Adenauer (1876–1967) und dem französischen<br />

Ministerpräsidenten Michel Debré (1912–1996)<br />

für die Schirmherrschaft. Beide waren aber nicht<br />

nach Saarbrücken gekommen – warum eigentlich<br />

nicht? [2]<br />

Das weiße Kreuz, das als Mahnmal den Spicherer<br />

Berg überragte, schenkte der Veranstaltung eine<br />

besondere Würde und machte ihn zum zentralen<br />

Ort der Veranstaltung. [3]<br />

Ein Tag zuvor war übrigens die Französische Woche<br />

im Saarland eröffnet worden und zeitgleich lief<br />

die Saarmesse. Dazu war Frankreichs Botschafter<br />

in der Bundesrepublik, François Seydoux de<br />

[2] Ebda.<br />

[3] Bernd Loch, Der Deutsch-Französische Garten in Saarbrücken.<br />

Geschichte und Führer, Saarbrücken 2000, S. 21.<br />

Clausonne, nach Saarbrücken gekommen, der<br />

zugleich das neu errichtete Centre Culturel in der<br />

Saarbücker Cecilienstraße eröffnete. Saarbrücken<br />

und das Saarland standen im Zeichen der Tricolore<br />

und überall warben Michel und Marianne<br />

für die neue Zeit friedlicher Nachbarschaft. [4]<br />

Beide Figuren spielten die Hauptrolle bei der<br />

Deutsch-Französischen Gartenschau. Die Tochter<br />

von Philippe Koenig, damals Leiter der Kulturabteilung<br />

beim französischen Generalkonsulat<br />

in Saarbrücken, spielte die Marianne und der von<br />

den Städtischen Bühnen Köln kommende Joachim<br />

Liman den Michel. [5]<br />

Deutsch-Französische Freundschaft war kein<br />

Gründungsmotiv<br />

Wenn man auf die Spurensuche in die Archive<br />

geht, stellt man aber fest, dass die deutsch-französische<br />

Freundschaft nicht das Gründungsmotiv<br />

der Gartenschau gewesen ist. Am Anfang, im Juni<br />

1956, stand der Wunsch, die Bundesgartenschau<br />

nach Saarbrücken zu holen. Sie sollte der Stadt<br />

wie dem Saarland, das zum 1. Januar 1957 dem<br />

Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten<br />

würde, ein attraktives Forum bilden. Das junge<br />

Bundesland wollte sich der deutschen Öffentlichkeit<br />

präsentieren und Gäste aus der ganzen<br />

Bundesrepublik an die Saar locken. So wandte<br />

sich die Stadtverwaltung am 25. Juni 1956 an den<br />

Zentralverband des Deutschen Gemüse-, Obstund<br />

Gartenbaus in Bonn. Leider musste man<br />

erfahren, dass die Termine für die Bundesgartenschau<br />

schon verplant seien und Saarbrücken<br />

könne vor 1965 nicht berücksichtigt werden. In<br />

dieser Situation sattelte die Stadt um, und es entstand<br />

die Idee, die Saarmesse mit einer deutschfranzösischen<br />

Gartenschau zu verbinden. Das bot<br />

sich auch geradezu an, da das Deutschmühlental<br />

als Ort der Gartenschau im Norden an den Standort<br />

der Saarmesse angrenzte. Die in der Autonomiezeit<br />

gegründete Saarmesse präsentierte<br />

sich nach der Saarabstimmung als deutsch-französische<br />

Austauschmesse. Eine deutsch-französische<br />

Gartenschau konnte da reibungslos integriert<br />

und zugleich die Saarmesse aufgewertet<br />

[4] Saarbrücker Zeitung vom 23. und 25. April 1960.<br />

[5] Saarbrücker Zeitung vom 15./16. Mai 1980.<br />

An den Eröffnungsfeierlichkeiten<br />

nahmen neben den<br />

französischen und<br />

deutschen Landwirtschaftsministern<br />

Henri Rocherau und<br />

Werner Schwarz<br />

u.a. der französische<br />

Bischof Pierre-<br />

Marie Théas sowie<br />

der Ratsvorsitzende<br />

der evangelischen<br />

Kirche in Deutschland,<br />

Bischof Otto<br />

Dibelius, teil, ebenso<br />

der saarländische<br />

Ministerpräsident Dr.<br />

Franz-Josef Röder, der<br />

Saarbrücker Oberbürgermeister<br />

Fritz<br />

Schuster, Kurt Conrad,<br />

Vorsitzender der SPD-<br />

Landtagsfraktion,<br />

sowie Bundeswirtschaftsminister<br />

Werner<br />

Schwarz.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1142/36; Nl M 1142/26)


Die Delegation auf<br />

ihrem Weg durch die<br />

Deutsch-Französische<br />

Gartenschau.<br />

Bischof Pierre-Marie<br />

Théas und der SPD-<br />

Vorsitzende Curt<br />

Conrad bei ihrem<br />

Spaziergang am<br />

Eröffnungstag auf<br />

dem Gelände der<br />

Deutsch-Französischen<br />

Gartenschau.<br />

(Stadtarchiv SB,<br />

Nl M1143/8)<br />

werden. Sie war ab 19<strong>59</strong> mehr denn je darum<br />

bemüht, den deutsch-französischen beziehungsweise<br />

saarländisch-französischen Handel zu<br />

stärken. Mit Blick auf den zollfreien Warenverkehr,<br />

der auch nach der wirtschaftlichen Rückgliederung<br />

des Saarlandes zum Tag X (6. Juli<br />

Jungfernfahrt der<br />

Kleinbahn am<br />

Eröffnungstag der<br />

Deutsch-Französischen<br />

Gartenschau.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1143/7)<br />

19<strong>59</strong>) weiterbestand, war dies für das Saarland<br />

von existenziellem Interesse zur Stärkung seiner<br />

Wirtschaft. Die Stadt fand für ihre Idee der<br />

Deutsch-Französischen Gartenschau die Unterstützung<br />

der Landesregierung und der Landwirtschaftskammer.<br />

Ein solches Projekt erleichterte<br />

es zudem, Bonn und Paris finanziell in die Pflicht<br />

zu nehmen. Die Chancen auf französische Förderung<br />

standen gut, nachdem Tanguy de Courson<br />

de la Villeneuve, der Chef der französischen<br />

diplomatischen Vertretung im Saarland, seine<br />

Unterstützung zusagte. Richard Näcke als Zeitzeuge<br />

und ehemaliger städtischer Mitarbeiter<br />

behauptete im Rückblick 1985: »In der französischen<br />

Botschaft [Pingusson-Bau] in Saarbrücken<br />

ließ man die städtische Abordnung, die ihren<br />

Gedanken vortragen wollte, stundenlang warten.<br />

Im folgenden Gespräch wurde aber das Eis<br />

gebrochen – die Deutschen fanden ihren ersten<br />

französischen Alliierten.« Anlässlich der<br />

Eröffnung der Saarmesse 1957 fühlten die Saarbrücker<br />

dann auch bei Staatssekretär Masson vor<br />

und fanden ihren zweiten »französischen Alliierten«.<br />

[6]<br />

Die Stadt warb bei Courson de Villneuve insbesondere<br />

für eine Förderung der wirtschaftlichen<br />

Kontakte, eine kulturelle Präsentation<br />

Frankreichs bei der Gartenschau war nicht<br />

geplant, OB Schuster formulierte dies ganz diplomatisch<br />

gegenüber Courson de la Villneuve:<br />

»Mit Hilfe des französischen Pavillons könnten<br />

während des ganzen Jahres im Rahmen der<br />

Gartenbauausstellung Veranstaltungen durchgeführt<br />

werden, die zweifellos rein wirtschaftlichen<br />

Bestrebungen sehr dienlich sein würden.«<br />

Der deutsche Pavillon würde sich »auf den rein<br />

kulturellen Sektor beschränken«. [7]<br />

Nicht nur die Umwidmung des ursprünglichen<br />

Bundesgartenschauprojektes stützt die These,<br />

dass es am Anfang gar nicht um die deutschfranzösische<br />

Freundschaft ging, sondern um die<br />

[6] Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Dezernat II, Nr. 35.2.<br />

Saarbrücker Zeitung vom 14. Februar 1985.<br />

[7] StASB., Bestand Dezernat II, Nr. 35.2., Schuster an Courson<br />

de Villneuve vom 19. Juli 1957.


saargeschichte|n 77<br />

sich auch nach dem Ende der Gartenschau am 25.<br />

Oktober 1960 stellende Frage, wie die nun entstandene<br />

prächtige Grünanlage benannt werden<br />

sollte. Die Diskussion darüber steht für die politische<br />

Befindlichkeit jener Zeit, die aus der Retrospektive<br />

von heute vielen sehr fern ist.<br />

Um die Namensgebung stritt der Stadtrat in seiner<br />

Sitzung am 28. Februar 1961. Der DPS-Fraktionsvorsitzende<br />

Ludwig Bruch hielt »den Zeitpunkt<br />

für gekommen, den neugeschaffenen<br />

Anlagen im Deutschmühlen- und Mockenthal<br />

ihren endgültigen Namen zu geben«. Mit einem<br />

gewissen Pathos forderte der gelernte Journalist<br />

Bruch: »In Übereinstimmung mit der großen<br />

Mehrheit, vor allem der eingesessenen<br />

Bevölkerung unserer Stadt, ist die Fraktion der<br />

Auffassung, dass bei dieser Namensgebung<br />

die heimische Überlieferung nicht außer acht<br />

gelassen werden darf (…)«. Und so lautete der<br />

DPS-Vorschlag »Deutschmühlenpark«. Bruchs<br />

Position bekräftigte sein DPS-Kollege Dr. Keuth.<br />

Der Name »Deutschmühlenpark« besitze zudem<br />

»den Vorzug der Prägnanz und Kürze«. Im Gegensatz<br />

zu seiner eigenen Partei gab Oberbürgermeister<br />

Schuster zu bedenken, Saarbrücken<br />

habe erhebliche Mittel in die Bewerbung der<br />

Deutsch-Französischen Gartenschau investiert.<br />

Er deutete damit die Entwertung des Symbols<br />

von Michel und Marianne an, das die Gartenschau<br />

so prägend begleitet hatte. Auch der neue<br />

französische Generalkonsul im Saarland Philippe<br />

Koenig habe mit aller Zurückhaltung die Beibehaltung<br />

des Symbols und der Begrifflichkeit<br />

empfohlen. Hier sei daran erinnert, dass seine<br />

Tochter die Marianne spielte. Die DPS-Fraktion<br />

scherte die Linie ihres Parteifreundes und Oberbürgermeisters<br />

wenig. Dagegen stellte SPD-<br />

Stadtratsmitglied Roth verwundert fest: »(…) wir<br />

hatten keine Bundesgartenschau (…), sondern<br />

eine Deutsch-Französische Gartenschau (…), bei<br />

deren Zustandekommen wir eine Verpflichtung<br />

eingegangen sind«. Ebenso votierte die Saarländische<br />

Volkspartei (SVP) für die Bezeichnung<br />

»Deutsch-Französischer Garten«. Die SVP versammelte<br />

eine überschaubare Gruppe von früheren<br />

Anhängern der CVP, die 19<strong>59</strong> nicht der CDU<br />

beitreten wollten. Die DPS hielt dagegen und<br />

Fraktionschef Bruch berief sich auf Gespräche<br />

mit vielen Saarbrücker Bürgern: »Niemand habe<br />

sich für die Bezeichnung Deutsch-Französischer<br />

Garten ausgesprochen. Man solle bei dieser<br />

Namensgebung nicht alle Tradition über Bord<br />

werfen, sondern Saarbrücken geben, was Saarbrücken<br />

sei«. Die CDU-Fraktion bemühte sich<br />

Werbeschilder und<br />

Werbefahrten für die<br />

Deutsch-Französische<br />

Gartenschau.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1126/1; StA 67; Fotoalbum<br />

Klasen)<br />

Zu einem beliebten<br />

Markenzeichen der<br />

Gartenschau entwickelte<br />

sich die Seilbahn<br />

mit ihren Gondeln,<br />

in denen man<br />

den Park bis heute<br />

von oben betrachten<br />

kann. (Stadtarchiv SB,<br />

Nl M1154/6)


Zeitgenössischer Blick<br />

auf das Deutschmühlental.<br />

(Stadtarchiv SB, StA<br />

67; C 716-64)<br />

um Schadensbegrenzung und beantragte, die<br />

Ausschüsse sollten sich mit dieser Sache weiter<br />

befassen. Der Block Saarbrücker Bürger mit<br />

Brauereibesitzer Dr. Neufang unterstützte diesen<br />

Vorschlag ebenfalls, so dass die DPS dies akzeptieren<br />

musste. Die Ausschüsse einigten sich<br />

dann auf den Kompromiss »Deutsch-Französischer<br />

Garten im Deutschmühlental«. Darauf verständigte<br />

sich der Stadtrat in seiner Sitzung am<br />

21. März 1961. Auch die DPS-Fraktion stimmte zu,<br />

Fraktionschef Bruch gab aber zu Protokoll: »Sie<br />

[DPS] sei nach wie vor der Auffassung, dass die<br />

traditionsverbundene Bezeichnung ›Deutschmühlenpark‹<br />

der gegebene Name gewesen<br />

wäre«. [8]<br />

Die Menschen in Saarbrücken und im Saarland<br />

wählten aber schnell den Begriff »Deutsch-Französischer<br />

Garten«. Das Saarland entwickelte<br />

in den 1960er Jahren eine konstruktive Rolle<br />

in der Ausgestaltung der freundschaftlichen<br />

Beziehungen zwischen Bonn und Paris. Grundlage<br />

dafür war der Elysée-Vertrag von 1963,<br />

die Magna Charta der deutsch-französischen<br />

Freundschaft. Sie nahm ihren Anfang im Spätsommer<br />

19<strong>58</strong>. Am 14. September 19<strong>58</strong>, einem<br />

Samstag, folgte Bundeskanzler Adenauer der<br />

Einladung Charles de Gaulles, dem Präsidenten<br />

der neuen beziehungsweise V.Republik. De<br />

Gaulle hatte den Kanzler auf seinen Landsitz<br />

nach Colombey-les deux Eglises eingeladen. Auf<br />

der Autofahrt dorthin dachte Adenauer möglicherweise<br />

an einen Präsidenten, der ein Mann<br />

des Militärs war, den Ersten und Zweiten Weltkrieg<br />

erlebt hatte und von deutsch-französischer<br />

Feindschaft geprägt war. In Lothringen, im<br />

[8] StASB, Bestand V 18, Nr.21, Niederschrift zur Stadtratssitzung<br />

vom 28. Februar 1961 und 21. März 1961.<br />

Departement Haute Marne angekommen, dürfte<br />

sich die Stimmungslage rasch gewandelt haben.<br />

Beide Staatsmänner entwickelten ein Verständnis<br />

und eine Wertschätzung füreinander und<br />

wurden zu den Architekten freundschaftlicher<br />

Beziehungen und des Aufbaus einer Achse zwischen<br />

Bonn und Paris. Aber bis zum 22. Januar<br />

1963, der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages,<br />

war es noch ein langer Weg. Die Gründungsgeschichte<br />

der Deutsch-Französischen Gartenschau<br />

fällt in diese Phase Geschichte schreibender<br />

Veränderungen zwischen Deutschland und<br />

Frankreich. Interessant ist es zu sehen, wie Bonn<br />

und Paris das Saarbrücker Projekt begleiteten. [9]<br />

Poker um die Gartenschau zwischen Bonn und<br />

Saarbrücken<br />

Die Idee zur Bundesgartenschau soll im Juni 1956<br />

von Amtsrat Richard Näcke und Willy Reinkober<br />

geboren worden sein, engster Mitarbeiter von<br />

OB Schuster.10 Nachdem die Bundesgartenschau<br />

gescheitert war, folgte der Stadtrat am 18. Juni 1957<br />

der Vorlage der Verwaltung, eine deutsch-französische<br />

Gartenschau auszurichten. Schon am 9.<br />

Juli wurden eine Projektleitung und Arbeitsausschüsse<br />

gebildet. Innerhalb der Landesregierung<br />

war das Wirtschaftsministerium für die Gartenbauausstellung<br />

anzusprechen. Für die DPS-Hochburg<br />

Saarbrücken eine günstige Konstellation,<br />

denn DPS-Chef Heinrich Schneider (1907–1974)<br />

war seit 4. Juni 1957 Wirtschaftsminister, bis zum<br />

26. Februar 19<strong>59</strong> sollte er im Amt bleiben. Schneiders<br />

Präsenz im Kabinett brachte zwar Hilfe vom<br />

[9] Corine Defrance u. Ulrich Pfeil (Hg.), Der Elysée-Vertrag<br />

1945 – 1963 – 2003, Berlin 2016.<br />

[10] Heinrich Schneider, Das Wunder an der Saar, Stuttgart<br />

1974, S. 535.


saargeschichte|n 79<br />

Die 30 Meter lange<br />

Wasserorgel faszinierte<br />

die Besucher.<br />

Stündlich tanzten die<br />

Wasserfontänen zu<br />

einem Musikstück.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1156/8)<br />

Land, aber die Stadtverwaltung brauchte auch<br />

die Unterstützung der Bundesregierung. Schneider<br />

kam erst gar nicht auf die Idee im Kanzleramt<br />

anzufragen, sondern nutzte seine Kontakte zu<br />

Bundeslandwirtschaftsminister Heinrich Lübke,<br />

den er in seinen Memoiren als »warmherzigen<br />

Freund« beschreibt. [11] Angeblich soll Schneider<br />

bei einem gemeinsamen Flug zur Grünen Woche<br />

nach Berlin Lübke dafür gewonnen haben. [12]<br />

Auffällig ist die ausgesprochen zurückhaltende<br />

Reaktion der Bundesregierung, das Saarbrücker<br />

Projekt zu fördern. Im Januar 19<strong>58</strong> stellte<br />

Oberregierungsrat Klitscher als der zuständige<br />

Ministerialbeamte im saarländischen Wirtschaftsministerium<br />

fest, die Bonner Ministerien<br />

ließen »wenig Neigung« für eine finanzielle<br />

Unterstützung erkennen. Klitschers Hoffnung<br />

auf einen Bundeszuschuss war gering. Schneiders<br />

Ministerium und auch die Stadt Saarbrücken<br />

fanden Unterstützung nur bei den Bündnispartnern<br />

aus den Saarkampf-Zeiten. Das von<br />

Lübke geführte Landwirtschaftsministerium war<br />

durch das Bundeswirtschaftsministerium zur<br />

Förderung des Projektes angesprochen worden.<br />

Zusammen mit dem Gesamtdeutschen Ministerium<br />

und dem Auswärtigen Amt beabsichtigte<br />

das Landwirtschaftsministerium im November<br />

1957 Sonderzuschüsse im Kabinett durchzusetzen.<br />

Weitergekommen war diese Gruppe aber<br />

nicht, denn im Juni 19<strong>58</strong> gab es immer noch keine<br />

Zusage des Kabinetts. Die saarländische Landesregierung<br />

hatte bereits 150 Mio Franken bereit-<br />

gestellt, ohne Bundeszuschuss war das Projekt<br />

aber nicht realisierbar. [13]<br />

Schneider versuchte die Bundeshilfe direkt über<br />

seine Kontakte aus den Zeiten des Saarkampfes<br />

zu organisieren. Erst als sich der erhoffte Erfolg<br />

nicht einstellte, schrieb Egon Reinert (1908–<br />

19<strong>59</strong>), der im Juni 1957 Hubert Ney (1892–1984)<br />

als Ministerpräsident ablöste, am 25. Juni 19<strong>58</strong> an<br />

Adenauer. Reinert erläuterte die Sinnhaftigkeit<br />

eines gemeinsamen Protektorates der Bundesrepublik<br />

und Frankreichs, beide Staaten »könnten<br />

auf diese Weise in wirksamer Form zum Ausdruck<br />

bringen, dass die Erledigung der Saarfrage bei<br />

keinem Partner Verstimmung und Unbehagen<br />

hinterlassen hat, sondern dass die deutsch-französischen<br />

Beziehungen in eine neue Phase gutnachbarlicher<br />

Zusammenarbeit getreten sind.«<br />

Reinerts Hinweis, dass bereits mit dem Ministerium<br />

für Landwirtschaft und Ernährung, dem<br />

Gesamtdeutschen Ministerium und dem Auswärtigen<br />

Amt auf Referentenebene das Vorhaben<br />

erörtert worden sei, dürfte den Kanzler<br />

nicht gerade gewogen gestimmt haben, Reinerts<br />

Bitte zu entsprechen und zusammen mit dem<br />

französischen Ministerpräsidenten die Schirmherrschaft<br />

zu übernehmen. [14]<br />

Die Langzeitfolgen des Saarkampfes der 1950er<br />

Jahre<br />

Und dafür gab es nachvollziehbare Gründe. Für<br />

Heinrich Schneider und die DPS wie auch für Teile<br />

der Saar-CDU und SPD war Konrad Adenauer<br />

nach seiner sogenannten Bochumer Rede vom<br />

[11] Ebda.<br />

[12] Saarbrücker Zeitung vom 19. April 1960.<br />

[13] StASB, V 18, Nr, 19, Niederschrift der Stadtratssitzung<br />

vom 9. Juni 19<strong>58</strong>, gef. 11. Juni 19<strong>58</strong>.<br />

[14] Bundesarchiv, Bestand Bundeskanzleramt (B 136), Nr.<br />

8643, Reinert an Adenauer vom 20. Juni 19<strong>58</strong>.


Auch die Amerikaner<br />

präsentierten sich mit<br />

einem Ausstellungspavillon<br />

in der spektakulären<br />

Architektur<br />

eines »Fuller<br />

Domes«, benannt<br />

nach dem amerikanischen<br />

Architekten<br />

und Designer Richard<br />

Buckminster Fuller.<br />

(Stadtarchiv SB, StA<br />

67)<br />

Bei den Besuchern<br />

seit dem Tag der<br />

Eröffnung äußerst<br />

beliebt: eine Fahrt mit<br />

der Kleinbahn.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1141/16)<br />

2. September 1955 zum politischen Gegner, ja in<br />

der Emotion des Abstimmungskampfes, zum<br />

Feind geworden. Der Kanzler hatte seinerzeit die<br />

Annahme des Saarstatuts empfohlen. Für ihn<br />

war das eine Frage der Glaubwürdigkeit, hatte<br />

er sich doch zusammen mit Ministerpräsident<br />

Pierre Mendès-France seinerzeit auf das Statut<br />

verständigt und damit den letzten Bremsklotz<br />

für den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen<br />

zwischen Bonn und Paris beseitigt. Außerdem<br />

hoffte Adenauer auf Frankreichs Zustimmung<br />

zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.<br />

Adenauer hatte am 2. September 1955 die Saarländer<br />

direkt angesprochen: »An die Bevölkerung<br />

der Saar habe ich die herzliche Bitte zu richten:<br />

Ich verstehe, dass sie die Regierung Hoffmann<br />

nicht mehr will (…). Aber der Weg, zu einer<br />

anderen Regierung zu kommen, ist gerade, dieses<br />

Statut anzunehmen und dann in der darauf<br />

stattfindenden Landtagswahl einen Landtag zu<br />

wählen, der in seiner Mehrheit gegen die Regierung<br />

Hoffmann gerichtet ist. Wenn man das<br />

tut, dann wahrt man gleichzeitig auch die europäischen<br />

Interessen, die es nicht vertragen, daß<br />

(…) in Europa zwischen Deutschland und Frankreich<br />

wieder ein Unruheherd geschaffen wird.« [15]<br />

Damit konterkarierte er die Strategie der Statutgegner<br />

mit ihrem Slogan »Der Dicke muss weg«<br />

mit dem sie auf die Leibesfülle von Ministerpräsident<br />

Hoffmann anspielten. Nach Bochum<br />

schlossen sich DPS, SPD und CDU zum Deutschen<br />

Heimatbund zusammen. Schneider sprach<br />

mit Blick auf Adenauers Haltung noch in seinen<br />

Memoiren von einem »Dolchstoß in den Rücken<br />

der prodeutschen Parteien«. Und als Adenauer<br />

(1876–1967) am 1. Januar 1957 anlässlich des Beitrittes<br />

des Saarlandes Saarbrücken besuchte,<br />

wurde er mit Pfiffen empfangen. [16]<br />

Überhaupt war das Verhältnis zwischen der<br />

Bundesregierung und dem neuen Bundesland<br />

schwierig. Einen aus Bonner Sicht eher schlechten<br />

Eindruck hatten die Saarländer bei den Verhandlungen<br />

mit Paris über die Bedingungen der<br />

Rückkehr der Saar zur Bundesrepublik hinterlassen.<br />

Das Verhandlungsergebnis bildete der<br />

Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, dem<br />

die DPS ihre Zustimmung mit Stimmenthaltung<br />

verweigerte und der zum Rücktritt der DPS-<br />

Minister führte.<br />

Der Kampf zwischen den Ja- und Nein-Sagern<br />

schwel te weiter. Die Landtagswahlen am 18.<br />

Dezember 1955 und die Kommunalwahlen am<br />

13. Mai 1956 zeigen die Spaltung des christlichen<br />

Lagers an der Saar und ein von der Bonner Republik<br />

noch weit entferntes Parteiensystem. So<br />

wurde bei den Landtagswahlen die CDU zwar<br />

stärk ste Partei mit 25,4 Prozent, aber nur 1,2 Prozent<br />

trennten die Union von Heinrich Schneiders<br />

DPS. Die von Johannes Hoffmann (1890–1967)<br />

begründete CVP erreichte beachtliche 21,8 Prozent,<br />

angeschlagen waren die Sozialdemokraten<br />

mit etwa 15 Prozent. Für die DPS bot sich die Perspektive,<br />

stärkste Partei zu werden und den frisch<br />

gewählten CDU-Ministerpräsidenten Ney abzulösen,<br />

der mit markigen Worten die christliche<br />

Spaltung zum Leidwesen der Bonner CDU und<br />

Teilen der Saar-CDU verfestigte. Das schwächte<br />

die CDU auf Bundesebene und damit den<br />

Kanzler. Hochburg der DPS war die Stadt Saarbrücken.<br />

Die Partei erzielte hier deutlich über<br />

40 Prozent und bildete mit großem Vorsprung<br />

die stärkste politische Kraft. Sie war hier sozusagen<br />

eine Volkspartei, denn neben dem protestantischen<br />

Bürgertum mit Kaufmannschaft und<br />

Handwerkern wählten auch viele Arbeiter und<br />

[15] https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/eingliederung-dessaarlands-in-die-bundesrepublik.<br />

[16] Schneider, Wunder an der Saar, S. 456 ff.


saargeschichte|n 81<br />

Am Ufer des Deutschmühlenweihers.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1141/15)<br />

Angestellte DPS und sie stellte mit Fritz Schuster<br />

seit 1956 den Oberbürgermeister.<br />

Die Autonomiegegner genossen ihren Triumpf<br />

vom 23. Oktober 1955. Ja- und Nein-Sager<br />

beschimpften sich weiter. Offene Rechnungen<br />

wurden nun beglichen und die Übergangsregierung<br />

unter Heinrich Welsch (1888–1976)<br />

entließ einige Beamte der Hoffmann-Regierung.<br />

Aus Perspektive der Autonomisten eine Hexenjagd<br />

und die französische Regierung mahnte zur<br />

Zurückhaltung. Um weiteren Auswüchen entgegenzuwirken<br />

veranlasste die Westeuropäische<br />

Union (WEU), die Einrichtung eines Internationalen<br />

Gerichtshofes in Saarbrücken. Am 27.<br />

Juni 1956 nahm dieser seine Arbeit auf und war<br />

bis 19<strong>59</strong> tätig. [17]<br />

Die Regierung Hoffmann hatte Gegner der Autonomie<br />

durch Zensur unterdrückt, einige auch<br />

ausgewiesen. Für die DPS war dies Anlass, im Februar<br />

1957 einen Gesetzentwurf ȟber die Wiedergutmachung<br />

der von Personen deutscher Staatsangehörigkeit<br />

im Saargebiet erlittenen Schäden«<br />

einzubringen. Im Juli 19<strong>59</strong> wurde das Gesetz<br />

dann in dritter Lesung verabschiedet, ganz<br />

bewusst wählten die Parlamentarier den Begriff<br />

»Wiedergutmachung« und wählten damit eine<br />

fragwürdige Analogie zur Entschädigung und<br />

Wiedergutmachung der singulären Verbrechen<br />

der NS-Diktatur wie dem Holocaust, dem sechs<br />

Millionen Juden zum Opfer fielen. Das autonome<br />

Saarland war aber keine Diktatur, gleichwohl<br />

aber angesichts einer fehlenden unabhängigen<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit und Eingriffen in die<br />

[17] Alexis Andres, Edgar Hector und die Saarfrage 1920–<br />

1960, in: Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd<br />

Rauls (Hg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich<br />

und Deutschland 1945–1960, St. Ingbert 1997, S.<br />

172.<br />

Meinungsfreiheit allenfalls eine Demokratie mit<br />

Vorbehalt. [18]<br />

Zum Triumphgefühl trug auch eine Straßenumbenennungsaktion<br />

bei. Akteur in Saarbrücken war<br />

die DPS. In der Zeit der Abtrennung sei »mit einer<br />

wahren Idiosynkrasie gegen alles Preußische«<br />

vorgegangen worden. Rund 120 Namen aus vornationalsozialistischer<br />

Zeit seien zwischen 1945<br />

und 1950 geändert worden. Verantwortlich dafür<br />

seien gar nicht allein die Franzosen gewesen,<br />

sondern der CVP-Stadtverordnete Dr. von Brochowski.<br />

Er habe den damaligen Bürgermeister<br />

Dr. Singer entsprechend instruiert. Sie hätten<br />

»alle traditionellen Bindungen einer urdeutschen<br />

Stadt durchschneiden wollen«. Die DPS konnte<br />

sich weitgehend durchsetzen, Widerstand leistete<br />

die CVP mit ihrem Stadtverordneten Kessler,<br />

aber in einigen Fällen auch CDU und SPD. [19]<br />

Neben den Straßenumbenennungen setzte die<br />

DPS die Wiederrichtung von Erinnerungsstätten<br />

durch. Neben dem Denkmal der 138er in den<br />

Hindenburg-Anlagen und dem Ulanen-Denkmal<br />

in der Stadenanlage wurde die Gedenktafel an<br />

der Wartburg zur Saarabstimmung am 13. Januar<br />

1935 wieder angebracht. [20]<br />

Nach der Begegnung Adenauers und De Gaulles<br />

im September 19<strong>58</strong> kam Bewegung in die<br />

deutsch-französischen Beziehungen. Als Bundeskanzler<br />

die Deutsch-Französische Gartenschau<br />

gemeinsam mit dem französischen Ministerpräsidenten<br />

zu eröffnen, an sich eine gute Perspektive,<br />

aber einen Heinrich Schneider dabei<br />

[18] Rainer Möhler, Bevölkerungspolitik und Ausweisungen<br />

nach 1945 an der Saar, in: Ebda., S. 399.<br />

[19] StA SB, V 18, Nr. 19, Sitzung vom 25. September 1956, S.<br />

113–115.<br />

[20] Ebda., Niederschrift zur Stadtratssitzung vom 30. Oktober<br />

1956, S. 139.


im Vordergrund zu haben und dessen Polemik<br />

und Nationalismus zu riskieren – dieses Risiko<br />

brauchte Bonn nicht einzugehen. In der sich<br />

nun abzeichnenden Etappe, enge und freundschaftliche<br />

Beziehungen zwischen Bonn und<br />

Paris aufzubauen, konnte man keine Kakophonie<br />

von der Saar gebrauchen. Und die gab es aus<br />

Bonner Sicht seit 1955. Knapp vier Wochen nach<br />

Adenauers Treffen mit De Gaulle im September<br />

war im Bundestag am 16. Oktober 19<strong>58</strong> die<br />

wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Saarland<br />

großes Thema. Die Saarländer wollten ihre<br />

höheren sozialpolitischen Leistungen bewahren,<br />

Schneider führte auch hier das große Wort. Im<br />

Verlauf dieser Kontroverse griff Schneider auch<br />

den Kanzler persönlich an, in Analogie an den<br />

Schlachtruf gegen Johannes Hoffmann hieß es<br />

nun nicht mehr »Der Dicke muss weg«, sondern<br />

»Der Alte muss weg«. [21]<br />

Die Bonner Ministerialbürokratie sprach von der<br />

»Rosinentheorie« der Saarländer. Sie wollten<br />

einerseits Angleichung an bundesdeutsche Standards,<br />

aber die günstigeren saarländischen Sozialstandards<br />

aus der Autonomiezeit behalten. [22]<br />

Wenn von Schneider im Kanzleramt die Rede war,<br />

sprach Adenauer nur vom »Nationalsozialisten«<br />

und den bis Juni 1957 amtierenden saarländischen<br />

Ministerpräsident Ney bezeichnete er<br />

als »Dummkopf und Nationalisten«. [23]<br />

Schneiders unangemessene Rhetorik des nationalen<br />

Pathos und des Nationalismus sowie<br />

sein populistisch kalkulierter Umgang mit seiner<br />

NSDAP-Vergangenheit – das konnte das<br />

Klima zwischen Bonn und Paris belasten, wenn<br />

im Kontext einer offiziellen Veranstaltung entsprechende<br />

Töne für Schlagzeilen sorgten. Nicht<br />

nur für den Kanzler, auch für die Franzosen war<br />

Schneider eine Reizfigur – bezeichnend die Aussage<br />

von Jean François Poncet: »(…) Heinrich<br />

Schneider, ein alter Nazi, der auf seine hitlerische<br />

Vergangenheit stolz ist. Er handelt entsprechend<br />

den Methoden des Dritten Reiches. Er ist ein Extremist,<br />

der schamlos das Nationalgefühl ausbeutet.«,<br />

so äußerte sich Frankreichs ehemaliger<br />

[21] Schneider, Wunder an der Saar, S. 289.<br />

[22] Hans-Christian Herrmann, Sozialer Besitzstand und<br />

gescheiterte Sozialpartnerschaft. Sozialpolitik und<br />

Gewerkschaften im Saarland 1945–1955, Saarbrücken<br />

1995. Ders., Eine Bilanz der kleinen Wiedervereinigung:<br />

40 Jahre nach der wirtschaftlichen Rückgliederung des<br />

Saarlandes, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend<br />

48/2000, S. 309–328.<br />

[23] Hans-Peter Schwarz, Adenauer Bd. 2: Der Staatsmann<br />

1952–1957, Stuttgart 1991, S. 132–134.<br />

Hochkommissar und Botschafter in Bonn 1955 in<br />

der Zeitung »Le Figaro«. [24] Schneider prahlte mit<br />

seiner NSDAP-Mitgliedschaft und konnte sich<br />

damit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit<br />

der 1950er und 1960er Jahre angesichts von 11,5<br />

Millionen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und<br />

NSDAP-Anwärtern gewisser Sympathien sicher<br />

sein. Er hatte auch keine Skrupel, im Oktober 19<strong>59</strong><br />

auf einer Veranstaltung der »Hilfsgemeinschaft<br />

auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen<br />

Waffen-SS e. V.« (HIAG) als Redner aufzutreten. [25]<br />

Und so verwundert es auch nicht, dass im Oktober<br />

19<strong>58</strong> immer noch keine Finanzzusage der<br />

Bundesregierung für das Gartenschauprojekt<br />

vorlag. Heinrich Schneiders rechte Hand im Saarbrücker<br />

Rathaus, Willy Reinkober, setzte selbstbewusst<br />

auf Risiko: »Es sei daher notwendig, die<br />

Arbeiten so zu betreiben, als ob die Zusage des<br />

Bundes vorliegen würde, in den vorzubereitenden<br />

Verträgen müsse lediglich der Zusatz gemacht<br />

werden, dass die Rechtswirksamkeit erst mit der<br />

Zustimmung der Bundesregierung in Kraft trete«<br />

– im Nachhinein ein mutiger Schachzug, denn<br />

damit hätte der Bund ein Scheitern des Projektes<br />

verantworten müssen. [26]<br />

Im Lauf des Jahres 19<strong>59</strong> kam es dann zu verbindlichen<br />

finanziellen Zusagen der Bundesregierung.<br />

Strippenzieher war Lübke, der mehrfach bei<br />

Kanzleramtschef Hans Globke (1898–1973) für<br />

das Projekt warb und dabei behauptete, die<br />

finanzielle Beteiligung der französischen Regierung<br />

sei sichergestellt. Tatsächlich war dies<br />

aber noch unklar, ebenso wie die Frage einer<br />

Schirmherrschaft auch durch Frankreich. Darum<br />

bemühte sich der Bonner Botschafter in Paris<br />

Herbert Blankenhorn in Verhandlungen mit<br />

Pierre Joxe, dem Generalsekretär des französischen<br />

Außenministers. Teile der saarländischen<br />

Administration hofften auf das Ende von Adenauers<br />

Kanzlerschaft und damit auf mehr Förderung<br />

aus Bonn und Eröffnung der Garten-<br />

[24] Schneider, Wunder an der Saar, S. 470.<br />

[25] Schneider kokettierte mit ihr geradezu, betonte aber<br />

gelegentlich auch, als Anwalt Verfolgte des Nationalsozialismus<br />

verteidigt zu haben und deshalb Opfer eines<br />

Parteiverfahrens geworden zu sein. Wie wir durch<br />

Rainer Möhlers Studien wissen, scheiterte seine Parteikarriere<br />

aber an Gauleiter Bürckel, vgl. Rainer Möhler,<br />

Rechtsanwalt Dr. Heinrich Schneider: Trommler oder<br />

Mitläufer?, in: Peter Wettmann-Jungblut (Hg.), Rechtsanwälte<br />

an der Saar 1800–1960: Geschichte eines bürgerlichen<br />

Berufsstandes, Blieskastel 2003, S. 312.<br />

[26] StA SB, Dez II, Nr. 35.2, Niederschrift der Sitzung vom 9.<br />

Oktober 19<strong>58</strong>, gef. 25. Oktober 19<strong>58</strong>.


saargeschichte|n 83<br />

schau durch den neuen Kanzler, so äußerte sich<br />

Oberregierungsrat Marwede gegenüber Beamten<br />

des Kanzleramtes im Mai 19<strong>59</strong>. Hintergrund<br />

waren Adenauers damalige Ambitionen auf<br />

das Amt des Bundespräsidenten, so wird Marwede<br />

wie folgt zitiert: »Inzwischen könne man<br />

nach der Wahl des neuen Bundeskanzlers auch<br />

bezüglich der gemeinsamen deutsch-französischen<br />

Schirmherrschaft klarer sehen. Nach seiner<br />

Meinung komme eine Schirmherrschaft deutscher<br />

Bundespräsident/französischer Staatspräsident<br />

nicht in Betracht. Damit würde man<br />

die Ausstellung überbewerten, vielleicht sollte<br />

der neue deutsche Bundeskanzler zusammen<br />

mit dem französischen Premierminister die<br />

gemeinsame Schirmherrschaft antreten (…)«. [27]<br />

Hier deutet sich an, dass Teile der saarländischen<br />

Administration Adenauer auf keinen Fall in Saarbrücken<br />

sehen wollten.<br />

Adenauer blieb aber Kanzler und Lübke (1894–<br />

1972) wurde Bundespräsident. Im Saarland<br />

zeichneten sich aus Adenauers Sicht positive<br />

Entwicklungen ab. Durch die Vermittlung der<br />

bayerischen CSU war die CVP bereit, in der CDU<br />

Saar aufzugehen. Am 19. April 19<strong>59</strong> setzten sich<br />

auf einem Parteitag die innerhalb der CVP vermittelnden<br />

Kräfte durch und beschlossen mehrheitlich<br />

den Beitritt zur CDU. Einer der Gegner dieses<br />

Kurses, Hubert Ney, hatte die Partei schon im<br />

Februar 19<strong>59</strong> verlassen, ebenso der sogenannte<br />

Blutrichter von Prag und gesuchte Kriegsverbrecher<br />

Erwin Albrecht. Die Spaltung des christlichen<br />

Lagers war damit überwunden. Wie würde<br />

sie sich in der Praxis bewähren? Immerhin gab es<br />

einige Verweigerer in Reihen der CVP wie etwa<br />

Erwin Müller, er gründete die SVP. Für Heinrich<br />

Schneider war die Vereinigung eine erste Niederlage,<br />

schmolzen doch seine Chancen dahin, die<br />

DPS zur stärksten politischen Kraft nicht nur in<br />

Saarbrücken zu machen. Ende des Jahres 19<strong>59</strong><br />

verbesserte sich für das Saarland das Klima im<br />

Kanzleramt. Auf den tödlich verunglückten Reinert<br />

folgte Franz-Josef Röder (1909–1979) am<br />

30. April 19<strong>59</strong> als Ministerpräsident. Möglicherweise<br />

half Bundesaußenminister Heinrich von<br />

Brentano, der am 12. Oktober 19<strong>59</strong> an Adenauer<br />

schrieb, um das Kanzleramt zur aktiven Unterstützung<br />

zu bewegen. Brentano war zuvor in<br />

Saarbrücken gewesen: »Ich kann nur sagen, dass<br />

ich sowohl von dem Ministerpräsidenten [Röder]<br />

wie auch von seinem Kabinettskollegen [Schneider<br />

gehörte dem Kabinett nicht mehr an] einen<br />

[27] BA, B 136, Nr. 8643, Vermerk vom 5. Mai 1956 über Gespräch<br />

mit Marwede am 3. Mai 19<strong>59</strong>.<br />

sehr guten Eindruck gewonnen habe«. Weiter<br />

empfahl von Brentano, wohl auf Wunsch der<br />

saarländischen Landesregierung, das Patronat<br />

des Kanzlers und des französischen Ministerpräsidenten:<br />

»Ich halte diesen Vorschlag für einen<br />

glücklichen Gedanken,. Wir sollten gerade im<br />

Saarland die deutsch-französische Zusammenarbeit<br />

propagieren. (…) Die Übergangsschwierigkeiten,<br />

die notwendigerweise eintreten mussten<br />

und auch noch nicht behoben sind, werden<br />

dann an Bedeutung verlieren«. Am 19. Oktober<br />

19<strong>59</strong> vermerkte Globke, Adenauer übernehme<br />

die Schirmherrschaft, wenn auch der französische<br />

Ministerpräsident dies tue. Nun schien die<br />

Sache in trockenen Tüchern, da kam aus Paris im<br />

Dezember 19<strong>59</strong> die Nachricht, Ministerpräsident<br />

Debré verzichte auf die Schirmherrschaft. Er<br />

begründete dies mit Terminzwängen und teilte<br />

mit, der französische Landwirtschaftsminister<br />

werde die französische Regierung vertreten.<br />

Das Bundeskanzleramt teilte dies der Landesregierung<br />

am 16. Dezember 19<strong>59</strong> mit. Röder intervenierte<br />

wohl und als er Adenauer zu dessen<br />

Geburtstag am 5. Januar 1960 persönlich gratulierte,<br />

wurde vereinbart, Adenauer und Debré<br />

übernehmen die Schirmherrschaft. Röder sollte<br />

Debré nochmals persönlich darum bitten. Debré<br />

erklärte sich nun dazu bereit. Wegen eines wohl<br />

wirklich wichtigen anderen Termins vertrat ihn<br />

der französische Landwirtschaftsminister und<br />

sein deutscher Kollege den Kanzler. Die Saarbrücker<br />

Zeitung behauptete 1980 fälschlicherweise,<br />

Lübke sei der Schirmherr gewesen. Zur<br />

Freude der Saarbrücker Verwaltung besuchte er<br />

die Deutsch-Französische Gartenschau am 8. Juli<br />

1960. [28]<br />

Auch wenn es ursprünglich gar nicht beabsichtigt<br />

war, setzte die Deutsch-Französische Gartenschau<br />

ein Zeichen für eine neue Zeit deutschfranzösischer<br />

Beziehungen. Gut zwei Jahre<br />

nach der Eröffnung der Deutsch-Französischen<br />

Gartenschau besuchte Adenauer vom 2. bis 8.<br />

Juli 1962 Frankreich. De Gaulle (1890–1970) reiste<br />

im September 1962 in die Bundesrepublik. De<br />

Gaulles Staatsbesuch war eine historische Zäsur<br />

für die Deutschen, ein mediales Ereignis, das die<br />

bundesdeutsche Öffentlichkeit tief bewegte, ein<br />

Aufbruch in eine neue Zeit. Der Präsident eines<br />

Landes, das die Deutschen 1940 überfallen und<br />

besetzt hatten, reiste durch die Bonner Republik<br />

und sprach in deutscher Sprache zu den Menschen.<br />

Der von Deutschen zu verantwortende<br />

Zweite Weltkrieg mit mindestens 50 Millionen<br />

[28] Saarbrücker Zeitung vom 15./16. Mai 1980.


Strahlende Besucher<br />

bei der Eröffnung der<br />

Deutsch-Französischen<br />

Gartenschau<br />

am 23. April 1960.<br />

(Stadtarchiv SB, Nl M<br />

1143/6)<br />

Toten war noch keine 20 Jahre vorbei, da würdigte<br />

der Staatsmann eines überfallenen Landes<br />

die deutsche Kultur und appellierte, ein neues<br />

Kapitel in den Beziehungen beider Länder aufzuschlagen,<br />

ihre Erbfeindschaft zu überwinden<br />

und eine deutsch-französische Freundschaft aufzubauen.<br />

De Gaulles Auftritt gab den Deutschen<br />

ihre Würde zurück, Kritiker sahen De Gaulles<br />

Rede als eine Bestätigung all derer, die die deutsche<br />

Schuld zu verdrängen neigten. Diese Sichtweise<br />

ist nachvollziehbar, andererseits war es<br />

für den Aufbau der westdeutschen Demokratie<br />

wie auch für die angestrebte Freundschaft nicht<br />

förderlich, NSDAP-Mitglieder auf Dauer auszuschließen,<br />

diese Gruppe war mit mindestens 11,5<br />

Millionen Mitgliedern viel zu groß, da zu ihr Millionen<br />

von Mitläufern noch hinzuzurechnen sind.<br />

So hatte auch der Vorsitzende des Preisgerichts,<br />

das über die zur deutsch-französischen Gartenschau<br />

eingereichten Beiträge zu entscheiden<br />

hatte, eine belastete Vergangenheit. Alwin Seifert<br />

(1890–1972) war seinerzeit einer der führenden<br />

deutschen Landschaftsarchitekten, und galt<br />

als einer der Gründerväter der Ingenieurbiologie<br />

und einer der ersten Verfechter der Ökologiebewegung<br />

seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren.<br />

Während der Zeit des Nationalsozialismus<br />

gehörte er zum Beraterstab Fritz Todts und war<br />

als Reichslandschaftsanwalt für die landschaftliche<br />

Eingliederung und den Streckenverlauf der<br />

Reichsautobahn sowie die landschaftliche Tarnung<br />

des Westwalls zuständig. Seifert hatte seit<br />

den 1920er Jahren engen Kontakt zu Rudolf Heß,<br />

Martin Bormann, Heinrich Himmler, Richard Walther<br />

Darré, Albert Speer und anderen NS-Granden.<br />

1938 verlieh ihm Adolf Hitler den Ehrentitel<br />

»Professor«. 1940 war er zum »Reichslandschaftsanwalt«<br />

ernannt worden.<br />

[29]<br />

Das Fernsehen begleitete De Gaulle bei<br />

seinen Besuchen in Bonn, Düsseldorf,<br />

Duisburg, Hamburg, München, Stuttgart<br />

und Ludwigsburg. Der Besuch<br />

des französischen Präsidenten zählt<br />

zu den Ereignissen der jungen Bonner<br />

Republik, das Tausende von Menschen<br />

voller Begeisterung auf die Straßen<br />

trieb. Im Garten des Ludwigsburger<br />

Schlosses sprach der französische Präsident<br />

vor über 10.000 jungen Menschen<br />

in deutscher Sprache. Die Begeisterung<br />

war zu spüren, als er vor allem die Jugend aufforderte,<br />

die Freundschaft zwischen beiden Völkern<br />

in die Hand zu nehmen.<br />

Das Saarland sollte ab den 1960er Jahren in<br />

der Entwicklung der deutsch-französischen<br />

Beziehungen eine führende und konstruktive<br />

Rolle spielen. Röder genoss hohes Ansehen in<br />

Frankreich und wurde als Ministerpräsident 1974<br />

zu einem Staatsbesuch nach Paris eingeladen<br />

– eine ungewöhnliche und zugleich wertschätzende<br />

Geste. Bei den Landtagswahlen 1965<br />

war die starke Stellung der DPS passé. Heinrich<br />

Schneider hatte keine Zugkraft mehr, wohl aber<br />

der neue Landesvater Franz-Josef Röder, der über<br />

20 Jahre regierte und bis heute der dienstälteste<br />

saarländische Ministerpräsident ist. Auch er war<br />

wie Schneider NSDAP-Mitglied, zog aber aus dieser<br />

Erfahrung für sein weiteres politisches Leben<br />

andere Konsequenzen.<br />

[29] Im Entnazifizierungsverfahren gelang es Seifert zunächst<br />

als Mitläufer und später als unbelastet eingestuft<br />

zu werden. 1950 nahm er seinen Lehrauftrag an<br />

der TH München wieder auf, 1954 erhielt er einen Lehrstuhl<br />

für Landschaftspflege, Landschaftsgestaltung<br />

sowie Straßen- und Wasserbau. Seifert hatte maßgeblichen<br />

Anteil an der Professionalisierung des Berufsstandes<br />

des Landschaftsarchitekten. Er war Berater<br />

bei großen Wasserbauprojekten und von 19<strong>58</strong> bis<br />

1963 Leiter des Naturschutzbundes in Bayern. 1961 war<br />

er einer der 16 Unterzeichner der »Grünen Charta von<br />

der Mainau«. Sein 1971 erschienenes Buch »Gärtnern,<br />

Ackern ohne Gift« avancierte zu einer Bibel der ökologischen<br />

Bewegung. Der Vf. dankt Ruth Bauer für diesen<br />

Hinweis. https://www.deutsche-biographie.de/<br />

sfz120993.html (Stand 18. Februar 2019).


europadämm(er)ung in saarbrücken<br />

saargeschichte|n 85<br />

Zwei Teppiche und ein Bildprogramm<br />

von sabine graf<br />

In der Empfangshalle des als Französische Botschaft<br />

im Saarland geplanten Gebäudes hängen<br />

zwei Wandteppiche. Sie gelten als Inventar, ohne<br />

dass bislang ihre Bedeutung genauer betrachtet<br />

wurde. Genau besehen bezeugen sie einen Wechsel<br />

in der Funktion des Gebäudes. Im November<br />

1954 bot Botschafter Gilbert Grandval das<br />

noch nicht komplett fertiggestellte Gebäude als<br />

einem möglichen Sitz für die Institutionen der<br />

Montanunion an. Seit 1952 hatte Saarbrücken für<br />

sich als Hauptstadt der Montanunion geworben.<br />

Der 23. Oktober 1955 beendete die französischen<br />

wie auch die europäischen Pläne für das Saarland.<br />

»Die Botschaft der Botschaft« (Barbara<br />

Renno, SR2 Kulturradio) lautete daher: Zu vermieten<br />

als Raum für Illusionen. Das galt 1954 und<br />

gilt auch heute noch. Die Indizien dafür liegen<br />

auf der Hand, Pardon: hängen an der Wand.<br />

Die Bildteppiche in der Empfangshalle der Residenz<br />

des französischen Botschafters im Saarland<br />

Die beiden Wandteppiche im Foyer der ehemaligen<br />

französischen Botschaft werden wie<br />

folgt beschrieben: Auf gewebtem Untergrund<br />

finden sich »abstrakte Formen«, »Hell-Dunkel<br />

Kontraste«, die den »unregelmäßigen Rhythmus<br />

der Komposition« bestimmen und ein »in<br />

sich unruhige(s) Muster« darstelle, das in der<br />

großzügigen Weite des Foyers gut zur Geltung<br />

(komme) und »dessen puristisch gestaltete<br />

Architektur mit Leben (erfülle). Das gelte auch für<br />

den zweiten der beiden Teppiche, der ein Ȋhnlich<br />

abstraktes Muster« zeige. [1]<br />

Das ist eine zutreffende Darstellung des Sachverhalts,<br />

sofern es sich ausschließlich auf den architektonischen<br />

Entwurf von Georges-Henri Pingusson<br />

bezieht. Jedoch darf bei diesem Gebäude der<br />

zeitliche Kontext nicht außer Acht gelassen werden.<br />

Vor allem dann nicht, wenn ihm eine neue<br />

Funktion zugewiesen wurde, wie es im November<br />

1954 der Fall war. Am 24. Juli 1952 stellten<br />

die Außenminister der sechs der zur Montanunion<br />

zusammengeschlossenen Länder Belgien,<br />

[1] Kunst im öffentlichen Raum. Saarland. Band 1: Saarbrücken,<br />

Bezirk Mitte. Herausgegeben von Jo Enzweiler. Institut<br />

für aktuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden<br />

Künste Saar Saarlouis. Saarbrücken 1997, S. 137.<br />

Der größere Wandteppich<br />

von François<br />

Arnal an der Ostseite<br />

der Empfangshalle<br />

der Französischen<br />

Botschaft in Saarbrücken.(Foto:<br />

Mechthild<br />

Schneider, LPM)


Das Botschaftsensemble<br />

von Henri<br />

Georges Pingusson<br />

mit Verwaltungshochhaus<br />

und<br />

Botschafterresidenz,<br />

mit der Tricolore<br />

beflaggt, um 1957.<br />

(Foto: Joachim Lischke,<br />

Landesbildstelle)<br />

Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Italien und<br />

Deutschland in Aussicht, dass Saarbrücken zum<br />

Sitz der europäischen Institutionen der Montanunion<br />

werden könnte. In Saarbrücken reagierte<br />

man sofort und begann, nach Unterbringungsmöglichkeiten<br />

für Arbeiten und Wohnen der im<br />

Dienst der europäischen Institutionen stehenden<br />

Mitarbeitenden und deren Familien zu suchen.<br />

Der Entwurf der im Oktober 1952 erschienenen<br />

Broschüre »Warum nicht Saarbrücken«, die das<br />

Informationsamt der Stadt Saarbrücken herausgab,<br />

verzeichnet unter »IV: Unterbringungsmöglichkeiten,<br />

Punkt 3: das in den Saaranlagen<br />

gelegene, nur noch bis 1952 von der französischen<br />

diplomatischen Mission benutzte Bürogebäude<br />

mit über 200 Büroräumen.« [2] Dabei<br />

handelte es sich um die ehemalige Oberfinanzdirektion<br />

in der Alleestraße 21–23, dem heutigen<br />

Sitz des Sozialministeriums, in der das Hohe<br />

Kommissariat damals untergebracht war. Bereits<br />

im Juni 1952 hatte man in Saarbrücken, wie aus<br />

einem Schreiben an das Amt für Auswärtige und<br />

Europäische Angelegenheiten hervorgeht, die<br />

Errichtung der Schuman-Behörde in Saarbrücken<br />

gefordert. [3] Damals rechnete man damit, dass<br />

das seit 1951 im Bau befindliche neue Botschaftsgebäude<br />

an der Saaruferstraße im »Spätherbst<br />

1952« bezugsfertig sei und daher das bisherige<br />

Gebäude für die Montanunion genutzt werden<br />

könne. Das war ebenso eine Fehleinschätzung<br />

wie die Zuversicht, dass die Voraussetzung erfüllt<br />

werde, die Saarbrücken zur Hauptstadt der<br />

Montanunion machen sollte: Dafür musste es zu<br />

[2] LASB, AA 567: Typoskript Broschüre »Warum nicht Saarbrücken?«<br />

Herausgegeben vom Informationsamt der<br />

Stadt Saarbrücken, ohne Seitenangabe.<br />

[3] LASB, AA 565: Schreiben Generalsekretär Dr. Adams an<br />

Direktor Lorscheider, Amt für Auswärtige und Europäische<br />

Angelegenheiten, 13. Juni 1952.<br />

einer Verständigung über die Saarfrage zwischen<br />

Deutschland und Frankreich kommen. In beiden<br />

Fällen dauerte es jedoch länger als anfangs<br />

angenommen.<br />

Die Verhandlungen zwischen Deutschland und<br />

Frankreich zogen sich hin. Am 23. Oktober 1954<br />

unterzeichneten Bundeskanzler Adenauer und<br />

der französische Ministerpräsident Mendès-France<br />

die Pariser Verträge und damit das europäische<br />

Saarstatut für das Saarland, über das nach exakt<br />

einem Jahr die Saarländerinnen und Saarländer<br />

abzustimmen hatten. Die neue Botschaft harrte<br />

zu diesem Zeitpunkt noch ihrer Fertigstellung. Im<br />

August war das Verwaltungsgebäude bezogen<br />

worden, während an der Botschafterresidenz<br />

noch gearbeitet wurde, wie aus der erhaltenen<br />

Korrespondenz zwischen dem Ministerium für<br />

öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau des Saarlandes<br />

und dem französischen Botschafter Gilbert<br />

Grandval hervorgeht. [4] Ungeachtet dessen<br />

stellte Grandval die noch nicht fertiggestellte<br />

Botschaft in einem Schreiben vom 8. November<br />

1954 an Ministerpräsident Hoffmann als ersten<br />

Verwaltungssitz für die Montanunion zur Verfügung.<br />

[5] Stattdessen wollte er mit seiner Landes-<br />

[4] LASB, AA 1375: Schreiben Oberregierungsrat Metzger, Ministerium<br />

für öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau an<br />

Botschafter Gilbert Grandval, 29. November 1954: Darin<br />

ist von dem Wunsch des Botschafters die Rede, der die<br />

Fertigstellung der Residenz zwischen dem 8.und 10. Januar<br />

1955 wünsche. Siehe auch LASB, AA 543: Schreiben<br />

Oberregierungsrat Metzger, Ministerium für öffentliche<br />

Arbeiten und Wiederaufbau an Botschafter Gilbert<br />

Grandval, 1. Dezember 1954: Darin ist von Elektro- und<br />

Glaserarbeiten die Rede, die noch in der Botschafterresidenz<br />

auf Wunsch von Grandval vorgenommen wurden.<br />

[5] LASB, AA 544: Schreiben des französischen Botschafters<br />

Gilbert Grandval an Ministerpräsident Johannes Hoffmann,<br />

8. November 1954.


saargeschichte|n 87<br />

vertretung in die noch zu errichtende »Maison de<br />

France« einziehen. Diese sollte auf einem Grundstück<br />

neben dem Union-Filmtheater (dem heutigen<br />

Saarcenter mit den UT-Kinos und dem Saarufer<br />

an der Ecke Dudweilerstraße (heute: Höhe<br />

Rabbiner-Rülf-Platz) entstehen und das in Höhe<br />

der Bahnhofstraße 55–<strong>59</strong> geplante Bauprojekt<br />

»Europahaus« ersetzen. [6]<br />

Bereits am folgenden Tag schlug der im Februar<br />

1953 installierte »Aktionsausschuss Montanunionstadt<br />

Saarbrücken« unter dem Rubrum<br />

»Sofortmaßnahmen des Aktionsausschusses<br />

Montan unionstadt Saarbrücken« mit Bezug<br />

auf Artikel 13 des deutsch-französischen Saarabkommens<br />

vom 23. Oktober 1954 dieses ihm<br />

bei seiner Sitzung am 5. November bereits –<br />

offenkundig noch vor dem Ministerpräsidenten<br />

– vorliegende Angebot als »Sofortmaßnahme«<br />

vor. Derart, dass nun »die Notwendigkeiten bei<br />

einer sofortigen Übersiedlung der Europäischen<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl von<br />

Luxemburg nach Saarbrücken, zum anderen die<br />

Erfordernisse bei einer Sitzverlegung nach hier<br />

nach Fertigstellung der Verwaltungs- und Wohngebäude<br />

– ausgerichtet nach den Wünschen dieser<br />

Behörde« in die Tat umzusetzen sind. [7] Mit<br />

dem vom Botschafter »spontanement à votre<br />

disposition« [8] dem Projekt »Hauptstadt der<br />

Montanunion« überlassenen Gebäude glaubte<br />

man, nun endlich einen großen Schritt auf das<br />

angestrebte Ziel hin getan zu haben.<br />

Aufgrund dieser Entwicklung und des damit eingeläuteten<br />

Funktionswandels erscheinen die<br />

beiden Wandteppiche im Foyer der Botschafter-<br />

[6] Ebd., dazu auch LASB AA 544, Schreiben Regierung<br />

des Saarlandes, der Direktor der Präsidialkanzlei, 17.<br />

Dezember 1954.<br />

[7] LASB, StK 2747: Schreiben Aktionsausschuss Montanunionstadt<br />

Saarbrücken an Ministerpräsident Johannes<br />

Hoffmann, 9. November 1954.<br />

[8] Siehe Anm. 5.<br />

residenz alles andere als rein dekorativ und ohne<br />

Bezug zum Ort. Sie abstrahieren die neue Funktion<br />

des Gebäudes. Ihr Urheber war der »Maler<br />

und Entwurfszeichner für Wandteppiche« [9] François<br />

Arnal (1924–2012). Der studierte Jurist und<br />

Literaturwissenschaftler hatte sich im Zweiten<br />

Weltkrieg der Résistance angeschlossen und<br />

hatte dort den niederländischen Maler und Galeristen<br />

Conrad Kickert kennengelernt. Durch ihn<br />

fand er zur Kunst, der er sich nach seiner Übersiedlung<br />

nach Paris im Jahr 1948 mit großem<br />

Erfolg zuwandte. 1949 erhielt er den Prix de la<br />

Jeune Peinture, nahm in den Folgejahren an den<br />

Kunstbiennalen in Sao Paolo und Venedig teil. In<br />

Deutschland vertrat ihn die in den Nachkriegsjahren<br />

bis in die 1960er Jahre für die Kunst der<br />

Bundesrepublik wichtigen Galerie Parnass in<br />

Wuppertal. Galerist Rudolf Jährling gab nicht nur<br />

den Malern Richter, Polke, Baselitz sowie Joseph<br />

Beuys oder dem Videokünstler Nam June Paik<br />

Raum, sondern richtete Werkschauen für Le Corbusier<br />

aus und holte aus Amerika den für seine<br />

Metallmobiles berühmten Alexander Calder erstmals<br />

nach Europa.<br />

1950 zeigte Parnass bereits Arbeiten von François<br />

Arnal. Dieser war ein Mann seiner Zeit und vertrat<br />

eine Bildsprache zwischen Informel, abstraktem<br />

Expressionismus und dem fröhlichen Eklektizismus<br />

Fernand Légers. Das war aktuell und ent-<br />

[9] Kunst im öffentlichen Raum. Band 1, a.a.O., S. 368.<br />

Der kleinere der beiden<br />

Wandteppiche<br />

von François Arnal<br />

an der Westseite<br />

der Empfangshalle<br />

des Pingusson-Baus<br />

entstand in einer<br />

künstlerischen Auseinandersetzung<br />

mit<br />

Impressionen aus der<br />

Stahlindustrie.(Foto:<br />

Mechthild Schneider,<br />

LPM)<br />

Das sogenannte<br />

Behördenhaus, später<br />

Finanzamt, am St.<br />

Johanner Saarufer im<br />

Bau, um 1949. (Foto:<br />

Landesarchiv Saarbrücken,<br />

Sammlung<br />

PhotoPressAct)


Anzeige in der Saarbrücker<br />

Zeitung zur<br />

geplanten Europäisiserung<br />

der Saar<br />

kurz vor den Landtagswahlen,<br />

am 25.<br />

November 1952.<br />

sprach den Sehgewohnheiten und Erwartungen<br />

der Nachkriegsmoderne in Frankreich. Demgemäß<br />

beschrieb Arnal seine Bildsprache: Informel<br />

mit Anklängen an Figuren und Landschaften. [10]<br />

Das trifft, so allgemein es auch vom Künstler formuliert<br />

ist, auf die beiden Teppiche zu. Der größere<br />

Teppich an der Ostseite zeigt Motive aus<br />

dem Bereich »Kohle«. Mächtige Flöze lagern in<br />

Schwarz, Weiß, Blau und Rot kreuz und quer im<br />

Bildraum, flankiert von wuchernden pflanzenartigen<br />

Organismen, den Urstoffen der Kohle.<br />

Ebenso lassen sich Strebe oder die kreisrunde<br />

Walze eines abstrahierten Walzenschrämladers<br />

erkennen, also die Technik, mittels der Kohle<br />

abgebaut wird. Der kleinere Teppich an der Westseite<br />

des Foyers beschäftigt sich mit der Eisenund<br />

Stahlerzeugung. Kreisformen erinnern an<br />

glühendes Eisen, das zudem an mehreren Stellen<br />

durch den Bildraum läuft. Abstrahierte Figuren<br />

halten Coquillen und andere Formen, in denen<br />

Roheisen gefangen und zur Stahlerzeugung<br />

transportiert wird. Im Zusammenhang mit der<br />

neuen Funktion des Gebäudes ist diese abstrahiert-assoziative<br />

Darstellung von Kohle und<br />

Stahl naheliegend. Sie entspricht zudem der<br />

Darstellung der Eisen- und Stahlindustrie und<br />

des Bergbaus in der Industriemalerei der 1950er<br />

Jahre, die sich durch eine »stärkere Abstraktion«<br />

auszeichnete, »um dem unverändert ästhetischen<br />

Reiz vor allem der Eisenerzeugung nachzugeben.«<br />

[11] Es zeigte sich eine »formale Abstraktion,<br />

ohne die Gegenständlichkeit aufzugeben.« [12]<br />

Der Soziologe Klaus Türk stellt in einer Untersuchung<br />

»Bilder der Arbeit« für die Industriemalerei<br />

der 1950er Jahre fest: »Das Industriebild<br />

der fünfziger Jahre war regional orientiert. Nicht<br />

Industrie an sich ist das Thema, sondern konkrete<br />

empirische Einzelobjekte oder -ereignisse. Dieser<br />

Sachverhalt ist vielleicht als ein mehr oder weniger<br />

bewusster Beitrag zu den Bemühungen um<br />

eine neue Identifikation mit den Leistungen und<br />

Ereignissen des Wiederaufbaus einzuordnen. Das<br />

Saarland und das Ruhrgebiet treten dabei quantitativ<br />

hervor.« [13] Das trifft auf die beiden Bild-<br />

[10] Pascale Thorel: Dans l’atelier de François Arnal. In: Le<br />

Magazine. La Gazette de l‘hotel Drouot, Nr. 16, 23. April<br />

2010 zit. in Pressereader über das Schaffen von François<br />

Arnal der Galerie E.G.P., Paris: http://artegp.com/<br />

dev/wp-content/uploads/2012/11/Arnal-press-Gazette-<br />

Drouot.pdf (gelesen am 31. Dezember 2019).<br />

[11] Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonografische Anthologie.<br />

Wiesbaden 2000, S. 329.<br />

[12] Ebd., S. 331.<br />

[13] Ebd., S. 330.<br />

teppiche zu. Sie geben in der Tat ein Bild ihrer Zeit<br />

ab.<br />

Als ihr Entstehungsjahr wird das Jahr 1954<br />

angegeben. Da es sich um großformatige Teppiche<br />

handelte, die aufwändig bestickt und gewebt<br />

wurden, war das nicht in ein paar Tagen getan.<br />

Die Maße mögen dafür sprechen: Der Teppich auf<br />

der Ostseite der Empfangshalle misst 5,00 Meter<br />

mal 8,10 Meter. Der an der Westseite, neben<br />

dem Treppenaufgang zum Büro des Botschafters<br />

(dem späteren Ministerbüro) hat die Maße 5,00<br />

Meter auf 4,70 Meter. Das könnte heißen, dass<br />

die Wandteppiche offenkundig schon geraume<br />

Zeit vor dem Angebot des Botschafters in Voraussicht<br />

darauf in Auftrag gegeben worden waren.<br />

Die Teppiche wären somit ein Geschenk Grandvals<br />

für das sich in Richtung Europa orientierende<br />

Saarland. Das wäre zu einer Zeit gewesen,<br />

als die französische Botschaft noch im Bau war,<br />

und er, ließe sich daraus folgern, dort nicht mehr<br />

einziehen wollte. Oder decken die Teppiche am<br />

Ende die These, dass »die eigentlich viel zu große<br />

Ambassade im kleinen Saarland von Anfang an<br />

mit ihrer möglichen europäischen Zukunft zu tun<br />

hatte.« [14]<br />

1952 – Das Jahr, in dem man Kontakt aufnahm?<br />

Der Plan, Saarbrücken zur Hauptstadt der<br />

Montanunion zu machen, reifte in Saarbrücken<br />

bereits vor dem 26. Juli 1952, als die Außenminister<br />

der Europäischen Gemeinschaft für<br />

Kohle und Stahl einen entsprechenden Vorschlag<br />

formulierten. Bereits am 9. Juni 1951 richtete der<br />

Saarbrücker Bürgermeister Peter Zimmer ein entsprechendes<br />

Ansinnen an den damaligen Außenminister<br />

Robert Schuman. [15] Diese Forderung<br />

wurde ein Jahr später in einem Schreiben an Gotthard<br />

Lorscheider, Direktor des Amtes für europäi-<br />

[14] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt.<br />

Die Schlösser des Monsieur Grandval (Teil 2). In: <strong>Saargeschichten</strong><br />

Heft 1, 2017, S. 20–34; S. 33 .<br />

[15] LASB AA 527: Schreiben Peter Zimmer, Bürgermeister<br />

der Landeshauptstadt Saarbrücken an Robert Schuman,<br />

9. Juni 1951.


saargeschichte|n 89<br />

sche und auswärtige Angelegenheiten erneuert<br />

und bereits entsprechende Räumlichkeiten aquiriert:<br />

Darunter waren der Neubau der Landesversicherungsanstalt,<br />

das Behördenhaus Am Stadtgraben,<br />

das spätere Finanzamt und das Hohe<br />

Kommissariat in der Alleestraße, das wegen des<br />

geplanten Neubaus frei werde. [16] Auch der von<br />

dem Saarbrücker Architekten Otto Renner am 21.<br />

Juli 1952 im »Bau-Anzeiger«, Nr. 13/14 vorgelegte<br />

Entwurf für »die Unterbringungsmöglichkeiten«<br />

der Montanunion in Saarbrücken – wie die Hohe<br />

Behörde, der Gerichtshof, der Ministerrat und das<br />

Plenum – siedelte diese links und rechts des Neubaus<br />

der französischen Botschaft an. In einem<br />

Beitrag des »Bau-Anzeigers«, einer Sonderseite<br />

in der »Saarbrücker Zeitung« vom 29. November<br />

1952, die sich mit der Eignung Saarbrückens<br />

als Sitz der Montanunion befasste, legte Renner<br />

nach und prognostizierte: Dass die Botschaft<br />

»nach entsprechenden Begründungen und Verhandlungen<br />

wohl mit in den Gebäudekomplex<br />

des endgültigen Sitzes der Montanunion eingegliedert<br />

werden könnte.«<br />

Der Druck, das Projekt Hauptstadt der Montanunion<br />

voranzutreiben, hatte sich seit Juni 1952 stetig<br />

aufgebaut, befeuert unter anderem von einer<br />

AFP-Meldung vom 28. Juni 1952. Darin war von<br />

einem Treffen von Außenminister Schuman und<br />

Ministerpräsident Pinay die Rede, die gegenüber<br />

einer Delegation von Bas-Rhin sich für Straßburg<br />

als Sitz der Montanunion ausgesprochen hätten.<br />

Darüber informierte das Amt für auswärtige<br />

und europäische Angelegenheiten Botschafter<br />

Grandval. Umso entschlossener ging man in<br />

Saarbrücken ans Werk. So hieß es in einer Anzeige<br />

der Saarbrücker Zeitung vom 25. November 1952:<br />

»Wenn das Saarland europäisiert wird, dann wird<br />

Saarbrücken die Hauptstadt der Montanunion.<br />

Das ist schon jetzt beschlossen. Die Europäisierung<br />

kommt nur, wenn alle Saarländer einverstanden<br />

sind.« Um sicher zu gehen, dass dies der<br />

Fall ist, ließ die saarländische Regierung einen<br />

Tag vor der Landtagswahl am 30. November 1952<br />

aus einem Flugzeug Flugblätter abwerfen. Sie<br />

zeigten den Rohbau des Botschaftsgebäudes.<br />

Dabei war die Bezeichnung »Französische Botschaft«<br />

durchgestrichen und mit einem »Nein!«<br />

bekräftigt und zugleich die eigentliche Funktion<br />

des Gebäudes genannt: »Sitz der Montan-Union«.<br />

Damit war auch eine Begründung dafür gegeben,<br />

dass das für das Saarland im Grunde zu große<br />

Botschaftsgebäude von vorneherein für ganz<br />

[16] LASB AA 565: Schreiben Dr. Adams an Direktor Lorscheider,<br />

13. Juni 1952.<br />

andere Aufgaben vorgesehen war. Paul Burgard,<br />

der die Baugeschichte der französischen Botschaft<br />

vollumfänglich aufgearbeitet hat, ordnet<br />

diese Behauptung als »nachgeschobene Sinnstiftung<br />

aus »JoHos Wahlkampfmaschine« [17] ein.<br />

Längst hatte der Plan, aus Saarbrücken die Hauptstadt<br />

der Montanunion zu machen, eine Eigendynamik<br />

entwickelt. Am 25. Februar 1953 konstituierte<br />

sich unter dem Vorsitz des Saarbrücker<br />

Bürgermeisters Peter Zimmer der Aktionsausschuss<br />

»Montanunionstadt Saarbrücken«. Dieser<br />

kanalisierte den Aktionismus in einer Stadt,<br />

in der die Wohnungsnot groß war und gleichzeitig<br />

unablässig Neubauten für die erhofften<br />

europäischen Institutionen zur Verfügung stellte.<br />

Ungeachtet dessen schuf Luxemburg Fakten<br />

und hielt einen Neubau für die Hohe Behörde<br />

bereit, die die »Saarländische Volkszeitung« am 5.<br />

Januar 1953 vermeldete. Zudem habe Luxemburg<br />

den Auftrag für den Bau einer »Schumanplan-<br />

Gartenstadt« erteilt und dafür 100 Millionen<br />

Franc bereitgestellt. Die ersten Gebäude sollten<br />

im November des gleichen Jahres bezugsfertig<br />

sein. Schon am nächsten Tag sandte die Landesregierung<br />

ein Schreiben an Robert Schuman mit<br />

der Erinnerung daran, dass die Entscheidung<br />

über den Sitz der Hauptstadt der Montanunion<br />

noch offen sei. [18]<br />

Die Antwort an Ministerpräsident Johannes<br />

Hoffmann kam am 3. Februar 1953 vom französischen<br />

Außenminister Bidault und erinnerte<br />

diesen daran, dass die Entscheidung für Saarbrücken<br />

abhängig sei von den deutsch-französischen<br />

Verhandlungen über das Saarstatut.<br />

Da dies noch offen sei, so ließe sich der weitere<br />

Inhalt des Schreibens übersetzen, habe<br />

man in Luxemburg schon mal angefangen. [19]<br />

Dem wollte man in Saarbrücken nicht nachstehen,<br />

ungeachtet der Fakten, die bereits<br />

durch Gebäude in Luxemburg und Straßburg<br />

geschaffen worden waren. Das Protokoll der 3.<br />

Sitzung des Aktionsausschusses Montanunionstadt<br />

Saarbrücken vom 18. Mai 1953 bewertet<br />

daher die Chance für Saarbrücken, Hauptstadt<br />

der Montanunion zu werden, als »sehr groß« [20] .<br />

[17] Siehe Anm. 14.<br />

[18] LASB AA 565: Schreiben des Ministerpräsidenten an Außenminister<br />

Robert Schuman, 6. Januar 1953.<br />

[19] LASB AA 565: Schreiben Außenminister Bidault an Ministerpräsident<br />

Johannes Hoffmann, 3. Februar 1953.<br />

[20] St A, Bestand Großstadt Saarbrücken, Nr. 4276, Akte<br />

»Aktionsausschuss Montanunionstadt Saarbrücken«, 3.<br />

Sitzung vom 18. Mai 1953.


Brief von Le Corbusier<br />

mit einer<br />

abschlägigen Antwort<br />

auf die Anfrage<br />

der Landesregierung,<br />

ob Corbusier Mitglied<br />

einer Jury für<br />

den bevorstehenden<br />

Architekturwettbewerb<br />

sein könne.<br />

(LA SB, InfA)<br />

Doch begleiteten den Aktionismus und die Euphorie<br />

auch Zweifel, wie das Rücktrittsschreiben Peter<br />

Zimmers vom Vorsitz des Aktionsausschusses am<br />

23. September 1953 belegt. Darin bemängelt er<br />

die Unentschiedenheit im Vorgehen und bei der<br />

Bereitstellung eines entsprechenden Etats. Es<br />

gebe nur »ein paar schöne Fotos von besetzten<br />

Hochhäusern, die wir »evtl.« frei machen könnten.<br />

(…), dass wir mit dem gleichen Recht und der<br />

gleichen Wurstigkeit mit ein paar schönen Fotos<br />

von unseren Kasernen im Saarland den Nachweis<br />

führen könnten, dass bei uns im Saarland<br />

alle Voraussetzungen zur Abwehr einer russischen<br />

Invasion bestehen könnten.« [21] Auch der<br />

Vertreter des Wirtschaftsministeriums, Dr. Krause-Wichmann<br />

gab in einem Vermerk für den<br />

Direktor des Amtes für auswärtige und europäische<br />

Angelegenheiten vom 1. Dezember 1953 zu<br />

Protokoll, dass Saarbrücken wenig Chancen als<br />

Hauptstadt der Montanunion habe, »da es nicht<br />

den Ruf einer schönen Stadt genießt« [22] Offenbar<br />

hatte er sich in der immer noch vom Krieg<br />

gezeichneten Stadt umgesehen und geahnt,<br />

dass es noch andere Herausforderungen als die,<br />

Hauptstadt der Montanunion zu werden, zu<br />

meistern galt. Er riet daher dazu, die Trümmer<br />

[21] LASB AA 570: Schreiben Peter Zimmer, 23. September<br />

1953.<br />

[22] LASB AA 544: Vermerk Dr. W. Krause-Wichmann für Direktor<br />

Lorscheider, 1. Dezember 1953.<br />

aus der Stadt zu entfernen und die Infrastruktur<br />

zu verbessern. Das sollte ein paar Monate später<br />

auch einem weiteren Minister auffallen. Doch zur<br />

selben Zeit entstand der Entwurf eines Schreibens<br />

an Jean Monnet, Präsident der Europäischen<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der für die<br />

Bestimmung Saarbrückens »zum endgültigen<br />

Sitz der Behörden der Gemeinschaft« warb, weil<br />

dies »ein maßgeblicher Schritt und eine wesentliche<br />

Förderung des Zustandekommens einer<br />

europäischen Saarlösung darstellen würde.« [23]<br />

Das Schreiben bekundet den Willen und ein großes<br />

Entgegenkommen, das die von Zimmer kritisierten<br />

wortreichen Versprechungen formuliert.<br />

So wolle man »in allen Punkten den Wünschen<br />

der EGKS entgegen (…) kommen und sowohl<br />

den Bau von Verwaltungsgebäuden als auch<br />

der Wohnsiedlungen nach den Wünschen Ihrer<br />

Behörde (…) unternehmen. Es stehen uns verschiedene<br />

Gebäude am Rande und in der Stadt<br />

Saarbrücken zur Verfügung, auf denen das Saarland<br />

gerne bereit ist, auch eine eigene »europäische<br />

Stadt« zu errichten.« [24] Entsprechendes<br />

hatte der Saar-Landtag bereits am 1. Oktober<br />

1953 beschlossen, vor der endgültigen Entscheidung<br />

für Saarbrücken, dort mit dem Bau<br />

von Gebäuden zu beginnen. Dazu wurde am 1.<br />

Juni 1954 ein Ideenwettbewerb ausgelobt. Die<br />

Begründung »für diese Umkehr der zeitlichen<br />

Reihenfolge« lieferte eine Pressemeldung im<br />

Auftrag des Ministerpräsidenten vom 19. Januar<br />

1954. Das sei im »Geist der Verständigung zwischen<br />

Deutschland und Frankreich« geschehen<br />

und finde seinen Ausdruck im Bau einer »kleinen<br />

europäischen Stadt« am südlichen Stadtrand. [25]<br />

Bereits am nächsten Tag vermeldete die »Saarbrücker<br />

Zeitung«: »Saarland zur Aufnahme der<br />

Montanunion bereit«. [26] Ob es die Montanunion<br />

auch war, war eine andere Frage.<br />

Das Saarland ging unverdrossen in Vorlage,<br />

um der Konkurrenz in Luxemburg und Straßburg<br />

zuvorzukommen. Der Ideenwettbewerb<br />

wurde am 1. Juni 1954 ausgerufen. Die Jury, der<br />

anstelle des zuerst genannten Le Corbusier dann<br />

auch Georges-Henri Pingusson angehörte, kam<br />

Anfang Mai 1955 zusammen, um über die 34 Ein-<br />

[23] LASB AA 570: Undatierter Entwurf eines Schreibens an<br />

[24] Ebd.<br />

Jean Monnet, der zwischen Schreiben aus dem November/Dezember<br />

1953 abgelegt wurde.<br />

[25] LASB Bestand Informationsamt (Infa) Nr. 146: Pressemeldung<br />

vom 19. Januar 1954.<br />

[26] Saarbrücker Zeitung, 20. Januar 1954: »Saarland zur<br />

Aufnahme der Montanunion bereit«.


saargeschichte|n 91<br />

reichungen aus Deutschland und Frankreich zu<br />

beraten. Derweil war auch mit Brüssel ein weiterer<br />

Mitbewerber erwachsen, worauf ein Telex<br />

mit der Überschrift »Brüssel will die Hauptstadt<br />

Europas werden« vom 29. Juli 1954 verweist, das<br />

sich in Akten des Amtes für auswärtige und europäische<br />

Angelegenheiten erhalten hat. [27] In Saarbrücken<br />

war man sich mittlerweile im Klaren,<br />

dass die Verkehrsverbindungen von und nach<br />

Saarbrücken aus Richtung Brüssel oder Den Haag<br />

nicht ideal waren und wenig für Saarbrücken als<br />

künftigen Standort sprachen. [28] Derweil nahm<br />

der Ideenwettbewerb für ein Verwaltungszentrum<br />

mit Hoher Behörde und Gerichtshof<br />

der Montanunion sowie Verwaltungsgebäude<br />

für zehn weitere europäische Institutionen seinen<br />

Lauf. Dabei gab es allenfalls »vage Absichtserklärungen«<br />

[29] in Bezug auf die Etablierung<br />

europäischer Institutionen in Saarbrücken, die<br />

jedoch als solche nicht wahrgenommen wurden.<br />

Auch gab es von Seiten des französischen Botschafters<br />

vor seinem Angebot vom 8. November<br />

1954 »keinerlei Anzeichen«, worauf Paul Burgard<br />

bereits verwiesen hat. [30]<br />

Das Gegenteil war der Fall, betrachtet man die<br />

Aktenlage. In einem Schreiben vom 29. Juli 1952<br />

empfahl Grandval, der seit dem 25. Januar 1952<br />

als Botschafter Frankreichs an der Saar fungierte,<br />

Ministerpräsident Johannes Hoffmann<br />

wegen des Neubaus der Botschaft, den Kohlehafen<br />

der gegenüber dem Neubau gelegenen<br />

Hafeninsel zu verlegen. Das diene zum einen<br />

der Entlastung des Bahnhofsviertels und sorge<br />

vor allem dafür, dass »der geographische Mittelpunkt<br />

der Stadt Saarbrücken mehr zur Geltung«<br />

komme, da die geplante Nord-Südachse mitten<br />

durch die Hafeninsel verlaufen sollte. Zur Amortisierung<br />

der dafür anfallenden Kosten solle das<br />

Saarland die Pachtgelder für die Saargruben nutzen,<br />

schlug der Botschafter vor. [31] Dabei sei ihm<br />

wohl bewusst, so Grandval, dass er sich in saarländische<br />

Angelegenheiten einmische. Aber das<br />

seien solche, »die mich nur insoweit angehen,<br />

als sie die Nachbarschaft der französischen Botschaft<br />

betreffen.« [32] Von Europa war nicht die<br />

Rede, sondern von der Repräsentanz Frankreichs,<br />

die möglichst frei von störenden, die Aussicht<br />

trübenden Industrieerzeugnissen des Landes<br />

gehalten werden sollte. Überflüssig zu erwähnen,<br />

dass es die Kohle war, welche die Aussicht des<br />

Botschafters aus seiner Residenz verschandelte.<br />

Der Rohstoff, der nur wenige Jahre später zur<br />

Rechtfertigung der Stadt als Sitz der Hauptstadt<br />

der Montanunion hinreichen sollte.<br />

Die Kohleninsel als Sitz des Verwaltungszentrums<br />

[33] und die Botschaft als unübersehbarer<br />

Mittelpunkt, an der Kreuzung der Nord-<br />

Südachse sowie der Ost-Westachse des Verkehrs<br />

entsprachen den zu diesem Zeitpunkt längst ad<br />

acta gelegten Planungen Georges-Henri Pingusson<br />

für das Nachkriegssaarbrücken . Der Neubau<br />

der Botschaft als deren Restbestand bilde »das<br />

Rückgrat des Saartals« [34] hieß es in der »Saarbrücker<br />

Zeitung« aus Anlass der Fertigstellung<br />

und des Bezugs des Verwaltungsteils der französischen<br />

Botschaft.<br />

Daher war die Botschaft von Anfang an groß<br />

gedacht und daher von ihrem Hausherrn, »der<br />

Schlechte Aussichten<br />

für Seine Exzellenz:<br />

Der Saarbrücker<br />

Kohlehafen prägte<br />

das Stadtbild auf der<br />

anderen Seite der<br />

Saar, gegenüber von<br />

Pingussons Botschaft.<br />

(LA SB, PhotoPressAct)<br />

[27] LASB AA 570, Telex vom 29. Juli 1954: »Brüssel will die<br />

Hauptstadt Europas werden«.<br />

[28] LASB AA 570: Schreiben Erwin Müller, Minister für Finanzen<br />

und Forsten an Oberregierungsrat Ganster, Aktionsausschuss<br />

Montanunionstadt Saarbrücken, 2. Juli<br />

1954.<br />

[29] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,<br />

a.a.O., S. 33.<br />

[30] Ebd.<br />

[31] LASB AA 1747, Schreiben Botschafter Gilbert Grandval<br />

an Ministerpräsident Johannes Hoffmann, 29. Juli 1952.<br />

[32] Ebd.<br />

[33] Siehe dazu: Ulrich Höhns: Saarbrücken – Verzögerte<br />

Moderne einer kleinen Großstadt. In: Neue Städte aus<br />

Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit. München<br />

1992, S. 283–299; S. 294.<br />

[34] N.W.: »Eine schmale, hochgestellte Scheibe«. In: Saarbrücker<br />

Zeitung, August 1954.


Empfang des Ständigen<br />

Vertreters Frankreichs<br />

im Saarland<br />

am französischen<br />

Nationalfeiertag 19<strong>58</strong>.<br />

Im Hintergrund sind<br />

ein kleiner Ausschnitt<br />

des kleineren Arnal-<br />

Teppichs sowie der<br />

Aufgang zum Zimmer<br />

des Botschafters zu<br />

sehen. (Foto: Landesarchiv<br />

Saarbrücken,<br />

Sammlung Photo-<br />

PressAct)<br />

Inkarnation Frankreichs an der Saar« [35] auch groß<br />

geplant. Saarbrücken als »europäische Metropole«<br />

[36] kam erst in Gespräch, als man sich dort<br />

anschickte, sich um den Sitz der Montanunion<br />

zu bewerben. Gilbert Grandval schwenkte dazu<br />

erst Anfang November 1954 über, nachdem er am<br />

25. Oktober 1954 bei einem Treffen am Quai d‘Orsay<br />

das Angebot erhielt, eine andere Stellung zu<br />

übernehmen, die ebenfalls der eines Botschafters<br />

entspräche. [37] Grandval wusste daher im<br />

November 1954, dass er das Saarland verlassen<br />

würde. [38] Am 30. Juni 1955 verließ er Saarbrücken,<br />

um in Marokko das Amt des Generalresidenten<br />

zu übernehmen. Daher konnte er großzügig das<br />

noch nicht ganz fertiggestellte Gebäude dem<br />

Aktionsausschuss Montanunionstadt Saarbrücken<br />

anbieten. Er wolle daher mit der Botschaft<br />

in die geplante »Maison de France« einziehen.<br />

Auch dieses Gebäude hatte bereits eine<br />

Vorgeschichte. Bereits 1952 reifte der Plan ein<br />

Gebäude auf der freien Fläche zwischen der Saarufer-<br />

und der Bahnhofstraße zu errichten. [39] Dort<br />

sollte zuerst die »Maison de France« entstehen.<br />

Die Regierung des Saarlandes zeigte sich damit<br />

einverstanden, jedoch schlug<br />

Ministerpräsident Hoffmann<br />

dem Botschafter Grandval<br />

vor, man möge das Gebäude<br />

»Europa-Haus« nennen. [40]<br />

Auch dieses Bauprojekt ging<br />

auf Kosten des Saarlandes,<br />

weswegen Ministerpräsident<br />

Hoffmann in einem Schreiben<br />

vom 12. März 1954 avisierte,<br />

dass es keine weiteren<br />

Extras für den Bau der Botschaft<br />

geben sollte und das<br />

geplante Europa-Haus nicht<br />

mehr als 300 Millionen Franc kosten dürfe. [41] Das<br />

war bereits im November in Folge des Angebot<br />

Grandvals hinfällig, so dass das Kabinett in<br />

einer außerordentlichen Sitzung beschloss, das<br />

Bauprojekt »Europa-Haus« in der Bahnhofstraße<br />

55–<strong>59</strong> fallen zu lassen und »stattdessen<br />

der Errichtung eines entsprechenden Gebäudes<br />

auf dem neben dem Uniontheater gelegenen<br />

Grundstück zuzustimmen.« [42] Doch auch hier<br />

gab es ein Nachspiel. Dergestalt, dass sich der<br />

mit der Planung befasste Saarbrücker Architekt<br />

Hans Baur, der schon beim Umbau des<br />

Schlosses Halberg die Baukosten in exorbitante<br />

Höhen getrieben hatte [43] , darüber bei Botschafter<br />

Gilbert Grandval beschwert hatte, dass er bei<br />

einer Besprechung mit Oberregierungsrat Metzger<br />

vom Ministerium für Öffentliche Arbeiten<br />

und Wiederaufbau zu hören bekommen habe,<br />

das »Europahaus (gemeint war die »Maison de<br />

France«, S.G.) brauche nicht gebaut zu werden,<br />

da es noch völlig ungewiss sei, ob die Montan-<br />

Union nach Saarbrücken käme.« [44] Es stellte<br />

sich heraus, dass die Regierung lediglich den für<br />

[35] Marlis Steinert: Die Europäisierung der Saar: Eine echte<br />

Alternative? In: Grenz-Fall. Das Saarland zwischen<br />

Frankreich 1945–1960. Herausgegeben von Rainer Hudemann<br />

u.a. St. Ingbert 1997, S. 63–80; S. 78.<br />

[36] Ulrich Höhns: Saarbrücken – Verzögerte Moderne einer<br />

kleinen Großstadt, a.a.O., S. 297.<br />

[37] Stefan Martens: Gilbert Grandval. Frankreichs Prokonsul<br />

an der Saar. In: Stefan Martens (Hg.): Vom »Erbfeind«<br />

zum »Erneuerer«: Aspekte und Motive der<br />

Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Sigmaringen<br />

1993, S. 201–242; Anm. 181.<br />

[38] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,<br />

a.a.O., S. 34.<br />

[39] LASB AA 544: Schreiben Dr. Jäger, Amt für auswärtige<br />

und europäische Angelegenheiten an den Direktor der<br />

Präsidialkanzlei, 25. Juli 1952.<br />

[40] LASB AA 543: Schreiben Botschafter Gilbert Grandval<br />

an Ministerpräsident Johannes Hoffmann, 22. September<br />

1953.<br />

[41] LASB AA 543: Schreiben Ministerpräsident Johannes<br />

Hoffmann an Botschafter Gilbert Grandval, 12. März<br />

1954.<br />

[42] LASB AA 544: Protokoll außerordentliche Kabinettsitzung<br />

der Regierung des Saarlandes vom 30.11.1954;<br />

Siehe AA 544 auch: Mitteilung Regierung des Saarlandes,<br />

17. Dezember 1954.<br />

[43] Siehe dazu: Paul Burgard: Die Schlösser des Monsieur<br />

Grandval. Teil 1: Die Metamorphose des Halbergs. In:<br />

<strong>Saargeschichten</strong>, Heft 45, 4, 2016, S. 20–34.<br />

[44] LASB AA 1379: Schreiben Staatskommissar Dr. Schütz,<br />

Ministerium für Öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau<br />

an Botschafter Gilbert Grandval, 26. Januar 1955.


saargeschichte|n 93<br />

seine Etatüberziehung bekannten Architekten<br />

abgelehnt hatte.<br />

Der 23. Oktober beendete auch diese Projekt,<br />

wobei eine gewisse Ironie nicht von der Hand zu<br />

weisen ist, als man das Projekt »Europahaus« im<br />

Namen Europas erledigte, um dafür die »Maison<br />

de France« zu errichten. Diese kam 19<strong>59</strong> in stark<br />

reduzierter Gestalt, als das Generalkonsulat in<br />

ein Gebäude hinter der Johanniskirche umzog<br />

und dort unter der Leitung des bereits in Zeiten<br />

Grandvals für kulturelle Angelegenheiten<br />

zuständigen Pierre Wölfflin ein »Centre Culturel«<br />

etablierte. [45]<br />

Ohnehin erwiesen sich die Europapläne des Saarlandes<br />

als weitgehend wolkig beziehungsweise<br />

»surreal« [46] und alles andere als modern, da sie<br />

in der Vorstellung von Ministerpräsident Hoffmann<br />

mehr dem christlichen Mittelalter als der<br />

europäischen Aufklärung zugetan waren. Auch<br />

die Historikerin und Zeitzeugin Marlis Steinert<br />

sah in den mit der Montanunion verknüpften<br />

Europa-Plänen für das Saarland »keine Alternative«.<br />

[47] Die Montanunion als »Restbestand<br />

großer Ideen«, wie es Heinrich Küppers formulierte<br />

[48] , vermochte wenig auszurichten, nachdem<br />

das französische Parlament die Europäische<br />

Verteidigungsunion verworfen hatte. Doch noch<br />

aus diesen »Restbestand« sog die Saar-Regierung<br />

Hoffnung, den Saarstaat zu retten und sich<br />

zum Herzen Europas zu erklären. Die Krise war<br />

erst 1957 mit Abschluss der »Pariser Verträge«<br />

behoben, als das Saarland längst Bundesland der<br />

Bundesrepublik Deutschland geworden war. Mit<br />

dem »Restbestand europäischer Ideen« war im<br />

Saarland nichts mehr zu gewinnen. Der Rest war<br />

Autosuggestion einer europäischen Vision unter<br />

Ausblendung der Wirklichkeit. Es war nur ein<br />

Gespinst, eingewebt in zwei Teppiche, in denen<br />

sich Wunsch und Wirklichkeit verfingen. Bleibt<br />

die Frage, wann das geschehen ist.<br />

Die Teppiche – Gespinste Europas an der Saar<br />

Dass der Teppich vor dem 8. November 1954<br />

von Botschafter Grandval bestellt wurde, damit<br />

er die neue Funktion des Botschaftsgebäudes<br />

beglaubigen sollte, ist unwahrscheinlich und<br />

[45] Peter Scholl-Latour: Das »Schmale Handtuch« wechselt<br />

seine Bewohner. In: Saarbrücker Zeitung, 6. Juni 19<strong>59</strong>.<br />

[46] Paul Burgard: Das Saarland und Europa. Reales und Surreales<br />

aus einer erstaunlichen Geschichte. In: Man Ray –<br />

zurück in Europa (Katalog) Saarbrücken 2019, S. 130–137.<br />

[47] Siehe Anm. 34.<br />

[48] Heinrich Küppers: Johannes Hoffmann (1890–1967).<br />

Biographie eines Deutschen. Düsseldorf 2008, S. 496.<br />

ausgeschlossen. Auch eine Bestellung direkt am<br />

8. November oder kurz danach macht eine Fertigstellung<br />

noch im Jahr 1954 unwahrscheinlich.<br />

Zumal »der Herr Botschafter die Fertigstellung<br />

seiner Residenz zwischen dem 8. und 10. Januar<br />

1955 wünsche«, wie ein Schreiben des Ministeriums<br />

für öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau<br />

vom 29. November 1954 referiert. [49] Als Datum der<br />

Fertigstellung des »Empfangsteiles (Mittelteil)<br />

wird der 5. Dezember 1954 genannt, während der<br />

»restliche Ausbau bis 8. Januar 1955 abgeschlossen<br />

sein müsse.« Das bedeutete, wie das Schreiben<br />

vermerkte, zahlreiche Überstunden. Dazu<br />

gehörten Elektro- und Glaserarbeiten [50] in der<br />

Eingangshalle, wobei in Abänderung der Planung<br />

dort veredeltes Glas inklusive der Vergoldung, für<br />

die ein französischer Maler von der Botschaft<br />

beauftragt worden war. Am 29. Januar 1955 stellte<br />

der ausführende Architekt Hans Bert Baur die<br />

Rechnung über die gesamte Baumaßnahme, also<br />

der Bauabschnitte I, dem Verwaltungsbaus und<br />

dem Bauabschnitt II, dem »Hotel des Herrn Botschafters<br />

mit Empfangs- und Wirtschaftsräumen,<br />

einschließlich Schwimmbad, Gewächshaus und<br />

Einfriedung«. [51] Dafür hatte die Regierung des<br />

Saarlandes 880.000.000 Francs zur Verfügung<br />

gestellt, deren Verwendung Baur nun aufschlüsselte:<br />

Grundstück, Geländeerschließung<br />

sowie für die Errichtung der »Büroscheibe« wurden<br />

insgesamt 304.560.000 Francs aufgewendet.<br />

Die »restlichen Baumittel«, spricht <strong>58</strong>5.440.000<br />

Franc wurden für die Botschafterresidenz verwendet.<br />

Die Innenausstattung mit Mobiliar<br />

und damit auch den beiden Wandteppichen<br />

war in dieser Summe nicht enthalten. Die Aufträge<br />

dazu hatte Grandval selbst unter anderem<br />

dem Gestalter Jacques Dumand erteilt. [52]<br />

Dass Grandval selbst auch François Arnal beauftragt<br />

hat, ist daher wahrscheinlich. Dass dies<br />

erst nach der Fertigstellung der Botschafterresidenz<br />

der Fall war, liegt im Verfahren der Herstellung<br />

von Wandteppichen begründet. Das<br />

erläuterte kein geringerer als der für seine – auch<br />

[49] LASB AA 1375: Schreiben Oberregierungsrat Metzger an<br />

Herrn Botschafter Gilbert Grandval, 29. November 1954.<br />

[50] Siehe Anm. 4.<br />

[51] LASB AA 544: Schreiben Hans Bert Baur an Ministerpräsident<br />

Johannes Hoffmann, 29. Januar 1955.<br />

[52] Simon Texier: Die französische Botschaft in Saarbrücken.<br />

In: Die ehemalige Französische Botschaft in<br />

Saarbrücken von Georges-Henri Pingusson. Hg. Vom<br />

Deutschen Werkbund Saarland und dem Institut für<br />

aktuelle Kunst im Saarland. Saarbrücken 2014, S. 48–53;<br />

S. 48.


Der Cours d’honneur<br />

der Botschaft beim<br />

Empfang des französischen<br />

Generals<br />

Lafaille am 13. Februar<br />

1957. An der Wand ist<br />

deutlich das Sgraffito<br />

von Otto Lackenmacher<br />

zu sehen. (Foto:<br />

Landesarchiv Saarbrücken,<br />

Sammlung<br />

PhotoPressAct)<br />

in Saarbrücken [53] zahlreich vorhandenen – Wandteppiche<br />

berühmte Jean Lurcat. Das geschah<br />

im Vorwort zum Katalog der Ausstellung von<br />

50 Bildteppichen von der Gotik bis zu Moderne<br />

unter dem Titel »Französische Bildteppiche«,<br />

die das Hohe Kommissariat der Französischen<br />

Republik in Deutschland 1949 in Baden-Baden<br />

veranstaltet hatte. Darin erklärte Lurcat das Vorgehen<br />

eines Tapissiers: »Für den Wandteppich ist<br />

im Gegensatz zum Gemälde die Abhängigkeit<br />

eine Notwendigkeit. In der Tat kann der Wandteppich<br />

– unter idealsten (sic!) Bedingungen- nur<br />

»a priori« im Maß, in seiner Farbgebung und oft<br />

in seinem Gegenstand von vorneherein durch<br />

das Gebäude, das er schmücken soll bestimmt<br />

werden. (…) Wir müssen uns über das Gebäude<br />

genau im Klaren sein, in das wir ‚eingeladen‘ werden.<br />

Wir dürfen nicht vergessen, das wir Gäste<br />

sind, und ein Gast muss immer darauf halten (,)<br />

taktvoll zu bleiben und sich anzugleichen, in welcher<br />

Umgebung es auch sein mag.« [54] Das hieß<br />

für die Wandteppiche in der Botschaft, dass die<br />

Räumlichkeiten fertig gestellt und ihnen ihre<br />

Plätze zugewiesen werden konnten. Die unter-<br />

[53] Dazu sei angemerkt: Der Bruder von Jean Lurcat war<br />

der Architekt André Lurcat. Marcel Roux, einer der im<br />

Saarland wirkenden Stadtplaner war dessen Assistent<br />

gewesen.<br />

[54] Jean Lurcat: Vorwort. In: Französische Bildteppiche. (Katalog).<br />

Baden-Baden 1949, S. 14.<br />

schiedlichen Maße der Teppiche sprechen für dieses<br />

Vorgehen.<br />

Zugleich bezeugen die Wandteppiche nicht nur<br />

den Geschmack des Botschafters, sondern markieren<br />

auch die Vorreiterrolle Frankreichs in<br />

Sachen Kultur und Repräsentanz, wie schon der<br />

massive Einsatz von Wandteppichen auf Schloss<br />

Halberg, der Residenz Grandvals als Hoher Kommissar<br />

und späterem Botschafter zeigte. [55]<br />

Nicht anders ging es in der Botschafterresidenz<br />

an der Saar zu. Die eigens für die hohen Wände<br />

der Empfangshalle bestellten Teppiche hatten<br />

nicht nur die schnöde Funktion Schall zu dämmen,<br />

sondern markierten auch die Vorreiterrolle<br />

der französischen Kultur. Denn der Wandteppich<br />

aus Frankreich war stilbildend für alle fürstlichen<br />

Behausungen und betonte damit die Dominanz<br />

des französischen Geschmacks bei der Innenraumgestaltung<br />

im Europa des 18. Jahrhunderts,<br />

erklärt Dora Heinz in ihrer Publikation über<br />

»Europäische Tapisseriekunst des 17. und 18. Jahrhunderts«.<br />

Wandteppiche bezeugten »die tonangebende<br />

Rolle Frankreichs im Bereich höfischer<br />

Kultur und Lebensführung im Zeitalter Ludwig XIV.<br />

Das wurde auf dem Gebiet des kostbaren Wandteppichs,<br />

der seine größte Bedeutung stets in den<br />

Aufgaben der höfischen Repräsentation hatte,<br />

[55] Siehe Anm. 42.


saargeschichte|n 95<br />

besonders deutlich.« [56] Das galt auch noch im<br />

20. Jahrhundert, als der Franzose Jean Lurcat, den<br />

traditionellen Produktionsstätten in Aubusson<br />

zu neuer Bedeutung verhalf. Ob in einer Republik<br />

oder sogar in der NS-Diktatur, der Wandteppich<br />

galt weiterhin als »feudales Repräsentationsmedium«<br />

[57] und war eine Demonstration von<br />

Macht. Auch Gilbert Grandval war sich dieser<br />

Macht bewusst, die von einem die Wände überspannenden<br />

Teppich ausging. Selbst wenn er den<br />

Auftrag gab, um damit Saarbrücken als europäische<br />

Stadt für die Montanunion zu empfehlen,<br />

war darin eine andere Botschaft eingewoben: die<br />

von der Vormacht Frankreichs.<br />

Nach Saarbrücken war die Baden-Badener Ausstellung<br />

der Bildteppiche nicht gekommen. Dafür<br />

zeigte das Saarbrücker Möbelhaus River im Mai<br />

1954 Teppichkunst aus Frankreich. [<strong>58</strong>] François<br />

Arnal kam jedoch erst ein Jahr später mit dem<br />

Saarland in Kontakt. Die von seiner Pariser Galerie<br />

E.G.P. verfasste Ausstellungsliste nennt für das<br />

Jahr 1955: »Tapestry, Neuenkirchen, commissioned<br />

by the French Embassy« [<strong>59</strong>] Dabei handelt es<br />

sich um eine Verbindung zweier Projekte Arnals<br />

im Saarland. Denn Arnal, der bereits 1950 in der<br />

Wuppertaler Galerie Parnass ausgestellt hatte,<br />

hatte im September 1955 eine Ausstellung in der<br />

Villa des Prokuristen des Neunkircher Eisenwerks.<br />

Die Ehefrau des Prokuristen, Ursula Rietschel<br />

lud in der Goethestraße 39 in Neunkirchen seit<br />

Juni 1955 bis in das Jahr 19<strong>59</strong> regelmäßig zu Ausstellungen:<br />

»Nunmehr hat es Frau Ursula Rietschel<br />

übernommen, in ihrer Wohnung, Goethestraße<br />

39, zeitgenössische Werke junger Künstler<br />

einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich<br />

zu machen. Wir sehen etwa 40 Gouachen und<br />

Ölbilder der Engländerin Helen Ashbee, geboren<br />

1915 in Camdean.(...) In Deutschland hat sich die<br />

Wuppertaler Galerie »Parnass« des Werkes der<br />

englischen Malerin angenommen. Von Wupper-<br />

[56] Dora Heinz: Europäische Tapisseriekunst des 17. und 18.<br />

Jahrhunderts. Die Geschichte ihrer Produktionsstätten<br />

und ihrer künstlerischen Zielsetzungen. Wien, Köln,<br />

Weimar 1995, S. 247.<br />

[57] Anja Prölß-Kammerer: Die Tapisserie im Nationalsozialismus.<br />

Propaganda, Repräsentation und Produktion.<br />

Facetten eines Kunsthandwerks im »Dritten Reich«.<br />

Hildesheim 2000, S. 27.<br />

[<strong>58</strong>] W. Weber: »Französische Teppich-Webkunst«, Ausstellung<br />

im Möbelhaus River. In: Saarbrücker Zeitung, 7.<br />

Mai 1954, Nr. 105.<br />

[<strong>59</strong>] Internetauftritt der Galerie E.G.P.: http://artegp.com/<br />

dev/wp-content/uploads/2012/11/Arnal-FullBio-EN.pdf<br />

(gelesen am 31. Dezember 2019).<br />

tal aus kamen die Bilder nach Neunkirchen in die<br />

Obhut von Frau Ursula Rietschel.« [60] Die Galeristin<br />

stand in Verbindung zu Parnass und zeigte<br />

Künstler der Galerie in Neunkirchen, so auch<br />

François Arnal, der dort im September 1955 seine<br />

Ölbilder ausstellte. [61]<br />

Es handelt sich daher um zwei unterschiedliche<br />

Projekte im Saarland: Die Ausstellung mit Malerei<br />

in »Neuenkirchen« beziehungsweise Neunkirchen/Saar<br />

und der Auftrag »Tapestry (…)<br />

commissioned by the French Embassy« für die<br />

Wandgestaltung der Französischen Botschaft.<br />

Das Jahr 1954 erweist sich daher als Entstehungsjahr<br />

der beiden Wandteppiche im Foyer des Botschaftsgebäudes<br />

als nicht korrekt. Ein ähnlicher<br />

Fehler ist auch bei der zeitlichen Zuordnung des<br />

Sgraffito von Otto Lackenmacher festzustellen.<br />

Das soll im Jahr 19<strong>58</strong> entstanden sein. [62] Eine Aufnahme<br />

von einer Truppenparade im Ehrenhof der<br />

Botschaft am 13. Februar 1957 zeigt bereits das<br />

fertige Wandbild im Hintergrund. [63]<br />

Die beiden Wandteppiche François Arnals: falsches<br />

Datum, falscher Ort. Ob Neunkirchen oder<br />

Saarbrücken. Das große Frankreich im kleinen<br />

Saarland, da kann es zu Verwechslungen kommen.<br />

Im Grunde war und ist das unerheblich.<br />

Was bleibt, ist ein Restposten der saarländischen<br />

Europaträumereien à la Française: feudal, nicht<br />

demokratisch. Das ist die Botschaft.<br />

[60] W. Weber: Im Dienst der modernen Kunst – Ausstellung<br />

in Neunkirchen« In: Saarbrücker Zeitung, 16. Juni<br />

1955, Nr. 137, S. 7.<br />

[61] Meldung »Aus dem saarländischen Kulturleben« In:<br />

Saarbrücker Zeitung, 28. September 1955, Nr. 225, S. 8:<br />

Ausstellung in Neunkirchen: In Neunkirchen, Goethestraße<br />

39 findet zur Zeit in den Räumen von Ursula<br />

Rietschel eine Ausstellung von Ölbildern von François<br />

Arnal, Paris sowie von Graphiken Willibald Kramms,<br />

Heidelberg statt.<br />

[62] Kunst im öffentlichen Raum. Band 1, a.a.O., S. 225<br />

[63] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,<br />

a.a.O., S. 28. Die Internetseite http://www.oberkirchensaar.com/Kunst-am-Bau<br />

(gelesen am 6. Januar <strong>2020</strong>),<br />

die Leben und Werk Otto Lackenmachers würdigt,<br />

führt das Bilderverkaufsbuch der Ehefrau von Otto Lackenmacher,<br />

Katja Lackenmacher-Sorg auf. Dort sind<br />

der Auftrag, das Honorar und der Beginn der Arbeit dokumentiert.<br />

Als Datum wird »1955-« genannt.


ausstellungen + + + neue publikationen<br />

... Lorenzetti, Perugino, Botticelli ... –<br />

Italienische Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg<br />

Saarbrücken, Saarlandmuseum, Alte Sammlung, Schlossplatz<br />

16. Bis 15. November <strong>2020</strong><br />

Das Saarlandmuseum – Alte Sammlung präsentiert Hauptwerke italienischer<br />

Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg. Diese außergewöhnliche<br />

Sammlung, weltweit eine der größten und bedeutendsten<br />

zur italienischen Malerei des 13. bis 15. Jahrhunderts, wurde von dem Politiker,<br />

Kunstliebhaber und Philanthropen Bernhard von Lindenau im 19.<br />

Jahrhundert in seiner thüringischen Heimatstadt Altenburg zusammengetragen.<br />

Lorenzetti, Perugino, Fra Angelico, Filippo Lippi, Ghirlandaio, Botticelli… –<br />

auf rund 40 große Künstlernamen lässt sich diese Aufzählung erweitern,<br />

die am Saarbrücker Schlossplatz zu sehen ist. Anhand herausragender Beispiele<br />

der Tafelmalerei aus den bedeutenden Kunstzentren Oberitaliens<br />

wie Florenz, Siena und Perugia wird die Entwicklung des Bildes vom späten<br />

Mittelalter zur Renaissance nachgezeichnet.<br />

Tabatieren des 18. Jahrhunderts –<br />

Eine Schenkung aus Privatbesitz<br />

Saarbrücken, Saarlandmuseum, Alte Sammlung, Schlossplatz<br />

16. Bis 31. Dezember <strong>2020</strong><br />

Die Alte Sammlung des Saarlandmuseums hat eine bedeutende Schenkung<br />

erhalten, die nicht weniger als 16 Tabatieren – kostbare Tabaksdosen<br />

– umfasst, allesamt Stücke von höchster Qualität, größter handwerklicher<br />

Präzision. Die meisten der kleinen Tabakdosen aus Gold, Silber und Email<br />

wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Paris gefertigt. Sie<br />

sind mit geometrischen Mustern, vegetabilen Dekorationen und Miniaturen<br />

(Porträts, mythologische Szenen, Landschaften) geschmückt. Mit dieser<br />

Schenkung werden die kulturgeschichtlichen Bestände des Hauses<br />

entschieden gestärkt. Zu verdanken ist dies der Großzügigkeit der in Völklingen<br />

geborenen Mäzenin Ibeth Biermann, Frankfurt a. M.<br />

Tabatieren kamen im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Mode, als das Schnupfen<br />

die vornehmste Weise des Tabakkonsums war. Wenngleich Tabatieren<br />

auch in bürgerlichen Kreisen verwendet wurden, waren sie doch besonders<br />

wichtig für den Adel: sowohl als materieller Ausdruck von Kultiviertheit<br />

und Exklusivität, als auch als Sammelobjekte. So eigneten sie sich vorzüglich,<br />

um Hierarchien und Abhängigkeiten bei Hofe deutlich zu machen.<br />

Auch kamen die Döschen als subtile Instrumente von Diplomatie und Politik<br />

zum Einsatz.<br />

Die 20er Jahre – Leben zwischen Tradition und<br />

Moderne im internationalen Saargebiet<br />

Saarbrücken, Historisches Museum Saar, Schlossplatz 15<br />

Bis 30. August <strong>2020</strong><br />

Die Zwanzigerjahre verbindet man mit Bubikopf, Charleston und Art déco.<br />

Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages im Januar 1920 schlug die<br />

Geburtsstunde des Saarlands. Die Ausstellung »Die 20er Jahre« beleuchtet<br />

die Anfangsjahre des Saarlandes und erweitert den Blick bis zum Anschluss<br />

des Saargebietes an das Deutsche Reich. Neben der gut erforschten politischen<br />

Geschichte rund um die Besatzungszeit, die französische Grubenverwaltung<br />

und den Abstimmungskampf widmet sich ein großer Teil der<br />

Ausstellung erstmals dem alltäglichen Leben im Saargebiet.<br />

Im Fokus der Ausstellung stehen Themen wie zunehmende Mobilität und<br />

Elektrifizierung, die neuen Freizeitmöglichkeiten wie das Kino, die Mode<br />

sowie die Frage nach Realität und Mythos der »Neuen Frau«. Aber auch<br />

soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit werden thematisiert.<br />

Unter den Ausstellungsstücken befinden sich Leihgaben aus dem UN-<br />

Archiv in Genf sowie Motorräder, Charleston-Kleider und elektronische<br />

Haushaltsgeräte, die den Besuchern das Lebensgefühl vermitteln. Lebendig<br />

werden die 20er Jahre außerdem durch den umfangreichen Medieneinsatz<br />

und interaktive Stationen. Die Inszenierung ahmt eine Straßenszene<br />

mit simuliertem Tag-Nacht-Wechsel nach.<br />

60 Jahre Deutsch-Französischer Garten.<br />

Eine historische Bilderschau<br />

Saarbrücken, Stadtarchiv, Deutschherrnstraße 1<br />

Bis 15. September <strong>2020</strong><br />

Er gilt als Symbol der deutsch-französischen Freundschaft und der Völkerverständigung<br />

und er ist einer der größten und beliebtesten Parks der<br />

Region: der Deutsch-Französische Garten in Saarbrücken. Vor 60 Jahren,<br />

am 23. April 1960, wurde er offiziell eingeweiht und entwickelte sich<br />

zu einem attraktiven Ausflugsziel, für Deutsche und Franzosen gleichermaßen,<br />

nicht nur sonntags. Die Ausstellung nimmt Sie mit auf einen fotografischen<br />

Spaziergang durch die Geschichte der einstigen Gartenschau,<br />

von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, weckt Erinnerungen und zeigt<br />

Wandel und Beständigkeit eines Gartens unmittelbar an der deutsch-französischen<br />

Grenze.<br />

Was bin ich? Berufe in Porzellan<br />

Saarlouis, Ludwig Galerie, Alte Brauerei-Straße, Kaserne VI.<br />

Verlängert bis 9. August <strong>2020</strong><br />

In der Ausstellung »Was bin ich?« steht die Festtafel als Ganzes im Mittelpunkt.<br />

Für die Tischdekoration ihrer Festtafeln gab die Aristokratie im 18.<br />

Jahrhundert ein Vermögen aus. Der gedeckte Tisch war einer der Höhepunkte<br />

luxuriöser Prachtentfaltung. Mit Porzellanfiguren holte man sich<br />

ganze Miniaturwelten auf die Desserttafel, beispielsweise Exotengruppen,<br />

Jagdszenen oder Allegorien. Zu den beliebtesten Themenwelten gehörte<br />

jedoch das Leben der einfachen Menschen. Ein besonderer Fokus liegt auf<br />

der Arbeitswelt des 18. Jahrhunderts mit Berufen, die längst der Vergangenheit<br />

angehören wie den Bänkelsänger, den Frettchenhändler oder die<br />

Galanteriewarenkrämerin. In einer Region, die über Jahrhundert von Bergbau<br />

und Hüttenwesen geprägt war, ist es wesentlich, die Veränderungen<br />

der Arbeitswelt – ausgehend von den Porzellanfiguren – zu thematisieren.<br />

Heute gilt es uns!<br />

Zweibrücken, Stadtmuseum, Herzogstraße 9–11<br />

Verlängert bis auf Weiteres<br />

Der verheerende Bombenangriff vom 14. März 1945 ließ das historische<br />

Stadtzentrum Zweibrückens zu 82 Prozent in Trümmern zurück. Kurz nach<br />

acht Uhr abends warf die kanadische Luftwaffe (RCAF) in 12 Minuten ca.<br />

800 Tonnen Sprengbomben auf die Altstadt ab. Zielpunkt war der Schlossplatz,<br />

keine wichtigen Verkehrswege oder Industrieanlagen. Trotz der Evakuierung<br />

im Spätjahr 1944 erlebten noch ca. 3.000 Menschen das Inferno<br />

in der Stadt. Dank eines großen Luftschutzkellers im Himmelsberg waren<br />

mit ca. 95 Toten weniger Menschenopfer zu beklagen als bei vergleichbaren<br />

Bombardierungen. Fassungslos stand die Bevölkerung vor den Ruinen,<br />

als sie die Bunker und Keller verließ. So hatte sie fünf Jahre zuvor die<br />

Worte von Gauleiter Josef Bürckel nicht verstanden, der versprochen hatte,<br />

»die Heimat werde nach dem Krieg noch schöner, als sie vorher war«.<br />

Die Sonderausstellung zum 75. Jahrestag der Zerstörung der alten Herzogsstadt<br />

befasst sich nicht nur mit der Zerstörung, dem Leben in der Trümmerzeit<br />

sowie der Wiederaufbauleistung der 1950er und 1960er Jahre. Es ist an<br />

der Zeit auch nach den Ursachen für die Bombardierung zu fragen und sie<br />

in den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu stellen. Im Fokus<br />

steht auch die Vorgeschichte, ohne die die Bombardierung nicht gesehen<br />

werden darf: der Siegeszug der Nationalsozialisten in einer Region, die von<br />

den Folgen des Ersten Weltkrieges besonders betroffen war, sowie die Aufrüstungs-<br />

und Kriegspolitik des NS-Regimes.<br />

Variations – Ein Museum für alle<br />

Luxemburg, Villa Vauban, 18, avenue Émile Reuter<br />

Bis 17. Januar 2021<br />

Unter dem Titel »Variations« wird mit ca. 70 Gemälden, Skulpturen, Grafiken<br />

und Zeichnungen, vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, eine farbenfrohe Auswahl<br />

aus den Sammlungen des Hauses gezeigt. Unter den ausgestellten<br />

Werken stechen mehrere Neuerwerbungen sowie eine Schenkung der


saargeschichte|n 97<br />

Amis des Musées Luxembourg hervor: zwei monochrome Portraits des<br />

Antwerpener Malers Abraham van Diepenbeeck aus dem 17. Jahrhundert.<br />

Die Ausstellung widmet sich verschiedenen spannenden Fragen rund um<br />

die Kunstgeschichte und künstlerische Techniken: Wie wurden Stiche oder<br />

Grisaillen nach einem Gemälde angefertigt? Wie kann man Fälschungen<br />

klassischer Kunstwerke erkennen? Warum und wie fertigten die Künstler<br />

Skizzen oder Zeichnungen an, ehe sie ihre Bilder malten? Parallel dazu<br />

erwarten den Besucher mehrere thematische Ensembles: u.a. bürgerliche<br />

Portraits des 19. Jahrhunderts von Karl von Pidoll und Jean-Baptiste Fresez,<br />

Landschaften und Seestücke (u.a. Canaletto, Dagnan, Calame) sowie ein<br />

»Kindermuseum« mit den Familienportraits des Impressionisten Corneille<br />

Lentz (1879–1937).<br />

Folklore<br />

Metz, Centre Pompidou, 1, parvis des Droits-de-l‘Homme<br />

Bis 21. September <strong>2020</strong><br />

Von den Anfängen der modernen Kunst bis zur Gegenwartskunst zeigt<br />

diese Ausstellung, die vom Centre Pompidou-Metz in Zusammenarbeit<br />

mit dem Mucem (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée)<br />

konzipiert wurde, die manchmal ambivalenten Beziehungen auf, die<br />

Künstler zur Folklore unterhalten, und von der formalen Entlehnung bis<br />

zur Nachahmung einer Methode, von der Faszination bis zur kritischen<br />

Ironie reichen. Die Ausstellung Folklore, die sich im Wesentlichen auf eine<br />

europäische Definition und Geschichte dieses Begriffs konzentriert, bietet<br />

auch eine Begegnung von Kunstgeschichte und Geschichte der Geisteswissenschaften,<br />

da sie parallel dazu – insbesondere dank der Bestände des<br />

Mucem, Erbin des Musée National des Arts et Traditions Populaires – die<br />

Erfindung und allmähliche Institutionalisierung einer Disziplin offenbart.<br />

Der Himmel als Atelier.<br />

Yves Klein und seine Zeitgenossen<br />

Metz, Centre Pompidou, 1, parvis des Droits-de-l‘Homme<br />

Bis 2. November <strong>2020</strong><br />

Yves Klein, einem der Hauptakteure der europäischen Nachkriegskunst,<br />

widmet das Centre Pompidou-Metz eine umfangreiche Ausstellung.<br />

Bekannt ist Yves Klein für seine blauen monochromen Bildkompositionen,<br />

in Kontakt stand er mit zahlreichen europäischen Künstlern, Mitgliedern der<br />

Gruppe NUL in den Niederlanden sowie mit der Gruppe ZERO in Deutschland.<br />

Besucher können Yves Klein ab April <strong>2020</strong> in einem internationalen<br />

Kontext neu bzw. wiederentdecken. Die Werke dieser Künstlergeneration,<br />

die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von einem Elan an Freiheit<br />

ergriffen wurde, richten ihren Blick auf Raum und Weite und bieten eine<br />

Annäherung an Kunst und Universum, die sich von jeglicher Materialität<br />

distanziert. Yves Klein steht in engem Austausch mit ZERO, um während<br />

Ausstellungen Farbe, Licht und Vibration zu erkunden. Durch die Verwendung<br />

der natürlichen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft versuchen<br />

Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker eine Leere zu erzeugen.<br />

Mit seinem Freund Lucio Fontana erkundet Yves Klein den Spatialismus,<br />

eine Kunstbewegung, die eine Zeit- und Raumeinheit abbildet, wie sie<br />

aus der Interaktion mit dem Beobachter entsteht. Angeregt durch die<br />

Eroberung des Weltraums eignen sich diese Künstler den Himmel durch<br />

ihre Darstellungen des Kosmos sowie durch die Schaffung von Luftskulpturen<br />

an. So entwickelt Yves Klein 19<strong>58</strong> bis 1961 eine »Architecture de<br />

l‘air« (»Luftarchitektur«), für die Himmel, Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit<br />

und Immaterialität zu seinem Atelier werden. Die Ausstellung zeigt zeitgenössische<br />

Werke, ergreift aber auch die Gelegenheit, ältere, nur wenig<br />

bekannte Performances zu präsentieren. Präsentiert werden daneben<br />

Werke von Bernard Aubertin, Lucio Fontana, Oskar Holweck, Eikoh Hosoe,<br />

Fumio Kamei, Piero Manzoni, Otto Piene, Jean Tinguely, Günther Uecker, Jef<br />

Verheyen und vielen anderen.<br />

Lokale Geschichte<br />

Backes, Dirk: Der Hauptfriedhof Scheib (Neunkirchen 2019), 140 Seiten,<br />

Reihe: Als alles noch in Sütterlin geschrieben wurde, Bd. 14.<br />

Bergholz, Thomas: Die Ludwigskirche zu Alt-Saarbrücken. (Saarbrücken<br />

2019), Kunstführer, hg. von der ev. Kirchengemeinde Alt-Saarbrücken, 34<br />

Seiten, illustriert.<br />

Echt, Rudolf: Von der Steinzeit bis zur Gegenwart – Nachforschungen zur<br />

Wallerfanger Geschichte. Festschrift Theodor Liebertz zu Ehren, (Verein für<br />

Heimatforschung Wallerfangen 2019), 265 Seiten, illustriert.<br />

Fontaine, Arthur: Das große Nordfenster in St. Peter Merzig im Wandel<br />

der Zeit: Zur Bau- und Ausstattungsgeschichte der Kirche, (Norderstedt<br />

<strong>2020</strong>), 45 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-7528-9629-9.<br />

Jacobs, Ulrike und Manfred; Gundelwein, Tom (Fotos): Saarbrücken<br />

und sein barockes Erbe, (Saarbrücken <strong>2020</strong>), 192 Seiten, reich illustriert,<br />

ISBN 978-3-946036-02-9.<br />

Philippi, Nikolaus: Grenzsteine rund um die Gemeinde Saarwellingen,<br />

(Saarwellingen 2019), 75 Seiten, illustriert, Karten, Reihe: Veröffentlichung<br />

des Gemeindearchivs Saarwellingen, Bd. 3.<br />

Schönberger, Christiane: Mauern und Gräben von Wallerfangen –<br />

Hauptort der deutschen Ballei des Herzogtums Lothringen, (Tholey 2019),<br />

<strong>58</strong> Seiten, illustriert, Reihe: Archäologische Funde im Saarland, Bd. 3, ISBN<br />

978-3-946313-16-8.<br />

Stein, Jakob: Mein Onkel. Der Maler, Zeichner und Objektkünstler Willi<br />

Spiess, (Frankfurt 2019), 72 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-9437<strong>58</strong>-66-5.<br />

Saarland allgemein<br />

Burgard, Paul; Linsmayer, Ludwig: Eisenzeit in SaarLorLux: Röchling,<br />

ARBED, Saarstahl (1960-1990), (Saarbrücken 2019), 413 Seiten, illustriert,<br />

Reihe: Echolot, Bd. 15 Landesarchiv Saarbrücken, ISBN 978-3-945087-04-6.<br />

Bussmann, Frédéric; Mönig, Roland (Hg.): ... Lorenzetti, Perugino, Botticelli<br />

...: italienische Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg, (Saarbrücken<br />

<strong>2020</strong>), 128 Seiten, ISBN 978-3-947554-01-0.<br />

Dölemeyer, Barbara; Jung, Heike: Die Napoleonische Gesetzgebung<br />

im politischen Widerstreit in Bern und Hessen. Kleine Schriftenreihe der<br />

Siebenpfeiffer-Stiftung Nr. 18 (Homburg <strong>2020</strong>), ISBN 978-3-9814460-6-7.<br />

Enzweiler, Jo (Hg.): Landkreis Merzig-Wadern 1945-2012: Aufsätze und<br />

Bestandsaufnahme: Gemeinde Beckingen, Gemeinde Losheim am See,<br />

Kreisstadt Merzig, Gemeinde Mettlach, Gemeinde Perl, Stadt Wadern,<br />

Gemeinde Weiskirchen, (Saarbrücken 2019), 413 Seiten, illustriert, Reihe:<br />

Kunst im öffentlichen Raum – Saarland, Bd. 5, ISBN 978-3-9819664-0-4.<br />

Mönig, Roland (Hg.): Tabatieren des 18. Jahrhunderts: eine Schenkung<br />

aus Privatbesitz. (Saarbrücken <strong>2020</strong>), 87 S., illustr., ISBN 978-3-947554-02-7.<br />

Neumann, Andreas Phelan: Brauereikultur im Saarland. Becker, Donnerbrauerei,<br />

Schloss &Co, (Luxemburg 2019), 472 Seiten, illustriert, ISBN 978-1-<br />

08-272667-5.<br />

Sander, Eckart: Saarland: die schönsten Schlösser und Burgen, (Gudensberg-Gleichen<br />

2019), 87 Seiten, illustriert, 978-3-8313-3244-1.<br />

Schäfer, Franz-Josef: Einmal Theresienstadt und zurück: Familie Lansch<br />

wehrt sich gegen die Nazis, (St. Ingbert 2019), 167 Seiten, illustriert, Reihe:<br />

Röhrig Lebensbilder Bd. 4, ISBN 978-3-86110-746-0.<br />

Über die Grenze<br />

Hildisch, Volker: Als Rotkäppchen Frankreich verlassen musste: Champagner<br />

und Sekt – eine deutsch-französische Geschichte, (Saarbrücken 2019),<br />

142 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-9818850-3-3.<br />

Höfchen, Heinz (Hg.): All the Best: 100 Jahre Graphische Sammlung im<br />

Museum Pfalzgalerie. (Kaiserslautern 2019), 190 Seiten, illustriert, ISBN<br />

978-3-89422-226-0.<br />

Loew, Benedikt; Reyter, Isabelle; Touveron, Bruno: Versailles 1919:<br />

Moselle et Sarre, Moselle und Saargebiet, (Thionville 2019), 120 Seiten, illustriert,<br />

Karten, Französisch / Deutsch, Konferenzschrift.


ach du liebe zeit … (PB 40/41)<br />

Dieses <strong>2020</strong>ste Jahr der christlichen Zeitrechnung ist in die<br />

Geschichte eingegangen, bevor es überhaupt seinen Zenit<br />

erreicht hat. Schon seit längerem war abzusehen, dass eine<br />

völlig neuartige Krankheit auf die Menschheit zurollte, die<br />

die Weltgemeinschaft in nie dagewesener Form herausfordern<br />

musste. In viraler Geschwindigkeit nahm sie die<br />

Erde in Besitz, hochansteckend und vor allem die Teile der<br />

Gesellschaft niederwerfend, die das Leben auf unserem Planeten<br />

extrem aktiv gestalten. FOMO nannten die Experten<br />

aus Epidemiologie und Psychopathologie das neuartige<br />

Virus, eine Abkürzung des englischen fear of missing out,<br />

auf gut Deutsch: die Angst, irgendetwas zu verpassen.<br />

In der globaldigital beschleunigten Welt des 21. Jahrhunderts<br />

hatte FOMO beängstigende Ausmaße angenommen. Waren<br />

es zunächst nur einzelne Hipster oder Influencer, die fürchteten,<br />

wichtige Dinge und Trends zu verpassen, so befiel das<br />

Virus sehr bald alle halbwegs aktive Menschen zwischen 5<br />

und 55, und es betraf alle nur denkbaren Dinge und Situationen.<br />

Vulkanausbruch, Kreuzfahrt, Grillparty, Netflix-Serie,<br />

der letzte Tweet von Trump und das allerletzte Youtube-<br />

Video von Heidi Klum, eine ranzige Frikadelle oder die öde<br />

Glosse in den saargeschichte|n: Nichts und niemand durfte<br />

mehr verpasst werden, wenn man und frau noch einigermaßen<br />

sinnvoll durchs Leben gehen wollten. Da es nun<br />

aber schlichtweg unmöglich ist, dass alle alles überall und<br />

jederzeit miterleben, waren die Folgen der pandemischen<br />

Verbreitung von FOMO absehbar. Extremste Psychosen und<br />

Depressionen machten sich breit, kollektive Suizidwellen<br />

schwappten über den Globus, Paralysen und Dystopien<br />

gewannen Kontur. Es stand nichts weniger auf dem Spiel<br />

als die Zukunft der Menschheit.<br />

In dieser existenziellen Krise des homo sapiens hatten die<br />

Götter Ende des Jahres 2019 endlich ein Einsehen. Sie beauftragten<br />

ihre Stellvertreter auf Erden – als da wären: der<br />

Papst, Bill Gates, der chinesische Volkskongress und Angela<br />

Merkel –, eine Strategie zu suchen, mit der sich FOMO<br />

überlisten ließ. Die Lösung, die die glorreichen Vier fanden,<br />

war ebenso genial wie einfach; neben ihr erschien die List<br />

des Odysseus wie ein biederes Schaukelpferdchen neben<br />

Pegasus. Der Trick bestand darin, ein Virus zu kreieren, das<br />

noch viel gefährlicher und ansteckender zu sein schien<br />

als FOMO. Ein Virus, das nur dadurch zu stoppen war, dass<br />

man die gesamte Welt zum vollkommenen Stillstand verdonnerte.<br />

Die medizinnobelpreisverdächtige Idee dahinter:<br />

Wenn überall auf der Erde zu jeder Zeit stets das gleiche<br />

passiert – nämlich absolut gar nix –, dann kann auch niemand<br />

mehr irgendwo irgendetwas verpassen. Das mit göttlicher<br />

Inspiration erfundene Virus musste nur noch einen<br />

seiner Bedeutung gemäßen Namen erhalten. Wie konnte<br />

der anders lauten als Corona: die Krönung aller Viren.<br />

Die Erfindung von Corona war das eine, die Implementierung<br />

der Phantasiegeburt in der Gesellschaft das andere,<br />

noch ungleich schwierigere Problem. Der Aufwand, der<br />

dafür betrieben wurde, war gewaltig, wie das bundesdeutsche<br />

Beispiel prototypisch zeigt. Erst erhöhte man die<br />

Schlagzahlen der Schlagzeilen, die das noch nach Monaten<br />

»neuartige« Virus kommunizierten, bis aus den Nachrichten<br />

Coronachrichten geworden waren. Dann ließ man<br />

den virtuellen Erreger auf den uns Deutschen besonders<br />

vertrauten Reiserouten von Fernost über Italien und Österreich<br />

immer näher an die Bundesgrenzen rücken, um die<br />

noch aus Migrationszeiten virulenten Bedrohungsvorstellungen<br />

bis zur unerträglichen Spannung zu steigern.<br />

Schließlich revitalisierte man Cary Grant und Heinz Rühmann,<br />

die fortan tagtäglich aufs glaubwürdigste Dr. Drosten<br />

und Mr. Wieler mimten, ein populärwissenschaftliches<br />

Erfolgsduo, das das gesunde Gewissen aller Deutschen<br />

ebenso einzunehmen verstand wie einst Simon and Garfunkel<br />

die Herzen der 68er.<br />

Fast wäre das grandiose Experiment zur Überwindung<br />

der weltweiten FOMO-Krise von totalem Erfolg gekrönt<br />

gewesen, fast wären alle Menschen bereit gewesen, sich<br />

jeder Lockerungsverlockung zum Trotz freiwillig einen ewigwährenden<br />

Lockdown zu verordnen. Dummerweise zeigte<br />

sich aber, dass ausgerechnet diejenigen, die den Kampf<br />

gegen das gefährliche Virus lenken sollten, selbst die größten<br />

Fomoisten waren. Gesundheitsjens zum Beispiel verpasste<br />

zwar das rechtzeitige Verschließen von Fußball- und<br />

Karnevalshochburgen sowie ordentlich viele Fettnäpfchen,<br />

dafür aber keine Ansprache und keine Pressekonferenz.<br />

Armin, das rein westfälische Cheruskerchen, verpasste sich<br />

zunächst das shakespearianische Outfit eines Leben-und-<br />

Tod-Dramaturgen, um kurz darauf ins Gewand des Schiller‘-<br />

schen Freiheitshelden zu schlüpfen und das von ihm selbst<br />

errichtete Schreckensregiment zu bekämpfen. Auch Tobi,<br />

unser noch jugendlich strahlender Saar-König, präsentierte<br />

sich als Großmeister coronöser Kommunikation, verpasste<br />

keinen sehr persönlich gestalteten Social-Media-Auftritt<br />

und kaum eine Talkshow bei Anne und Maybritt. Bereits<br />

zu Beginn der Krise hatte er einen Super-Scoop gelandet,<br />

indem er als weltweit erster Politiker plakativ das Aussehen<br />

eines Coronavirus demonstrieren konnte, das – wie es sich<br />

in solchen Katastrophen schon oft bewährt hatte – die<br />

Größe des Saarlands zeigte.<br />

Nach so viel politischer Briilanz wundert’s niemanden, dass<br />

auf- und rechte Bürger, die verschwörungstheoretisch eben-


saargeschichte|n 99<br />

so versiert sind wie alternativfaktenmedizinisch, damit<br />

begonnen haben, die wahren Hintergründe des Fomocoronakomplotts<br />

zu recherchieren und offenzulegen. Was dabei<br />

jetzt ans Tageslicht kam, muss jeden vernünftigen Menschen<br />

tief beunruhigen. So ist zum Beispiel bereits seit Jahren<br />

unser kollektives Immunsystem absichtlich geschwächt<br />

worden, vor allem durch die Impfkampagnen von Bill Gates,<br />

der seine Kompetenz zur flächendeckenden Gesundheitssubversion<br />

zuvor an der Fertilität afrikanischen Frauen<br />

getestet hatte. Die mittlerweile hinlänglich bekannten<br />

Corona-Hotspots zwischen Norditalien, Nordrhein-Westfalen<br />

und Nordamerika sind nicht etwa auf unzählige Viren,<br />

sondern auf intensive 5-G-Bestrahlung zurückzuführen, die<br />

die Chinesen in Kooperation mit der Telekom lanciert haben.<br />

Da allen aufgeklärten Bürgern, die trotz staatsvirologischer<br />

Blendungsversuche ihre Augen stets offenhielten, noch nirgends<br />

ein einziges Coronavirus in freier Wildbahn begegnet<br />

ist, liegt die Vermutung nahe, dass es Corona gar nicht gibt<br />

(womit die Aufklärer der auf diesen Seiten entlarvten ganzen<br />

Wahrheit beängstigend nahekommen). Der Lockdown ist in<br />

Wirklichkeit nichts anderes als der durch einen angeblichen<br />

Notstand legitimierte Versuch, unsere Grund- und Freiheitsrechte<br />

schrittweise zu liquidieren. Damit das System (in<br />

längst vergangenen linken Zeiten noch als Schweinesystem<br />

bekannt), das geheime Kartell aus Politikern, Wirtschaftsbossen<br />

und IT-Moguln, unter der Anleitung von Angela Merkel<br />

und Papst Franziskus seine Macht endlos steigern und<br />

uns bis zum Jüngsten Tag lückenlos kontrollieren kann.<br />

Wenn Sie, liebe Leser_innen, nun etwa glauben, dass die<br />

unglaublichen Enthüllungen auf den noch immer fortwährenden<br />

Demonstrationen unserer neuen Demokratiebewegung<br />

in verschrobenen Hirnen entstanden seien oder<br />

aus sehr fadenscheinigen Gründen nur als Alternativen aus<br />

und für Deutschland formuliert wurden, dann muss ich<br />

Ihnen sagen: Weit gefehlt! Wie ein Rückblick auf die vergangenen<br />

500 Jahre zeigt, haben diese mutigen Damen<br />

und Herren nur das gemacht, was wir eigentlich alle tun<br />

sollten. Sie haben aus der Geschichte gelernt.<br />

In Mittelalter und Früher Neuzeit hieß Corona noch Pest,<br />

und auch das war natürlich nur eine Erfindung des klerikofeudalen<br />

Schweinesystems, um renitente Leibeigene und<br />

aufmüpfige Bürgersleut unter der Knute aristokratischer<br />

Allmacht zu halten. Die 5-G-Strahlen kamen damals, wie<br />

überlieferte Pestbilder zeigen, in Form von vergifteten Pfeilen<br />

auf die Erde, die ein Erzengel als Exekutor des göttlichen<br />

Strafgerichts von einer Wolke (aus einer Cloud!!!) auf die<br />

Menschen schoss. Statt einen Schulmediziner aufzusuchen<br />

oder sich vom verseuchten Acker zu machen (das durften<br />

nämlich nur die reichen Systemleute), empfahl die Saarbrücker<br />

Pestordnung von 1574 vor allem reumütiges Beten<br />

und Büßen aller kleinen Sünderlein in möglichst vollen Kirchen,<br />

in denen Feuer aus gigantischen und wohlriechenden<br />

Räucherstäbchen für gute Luft sorgten. Noch besser klingen<br />

die zahllosen Rezepte aus einem Pestbuch, das der Leibmedicus<br />

des Saarbrücker Grafen Philipp 1553 verfasst hatte.<br />

So empfahl er zum Beispiel sehr erfolgreich diverse Preservativa<br />

(nein, es ging noch keineswegs um Aids), die jeder<br />

Bewohner des Saarbrücker Schlosses beim allmorgendlichen<br />

Verlassen desselben am Tor verabreicht bekam, um<br />

der Pest in den stinkenden Niederungen der Stadt trotzen<br />

zu können. In solchen Preservativa befanden sich in der<br />

Regel Blüten, Wurzeln und Gewürze nebst diversen Pulvern,<br />

die bisweilen aus den Knochen eines Einhorns gewonnen<br />

waren, das »zwischen zwei Frauentagen« gefangen worden<br />

sein musste. Kein Wunder, dass das so gut funktionierte.<br />

Kein Wunder dass so viel Expertise noch heute jeden alternativmedizinischen<br />

Guru vor Neid erblassen lässt.<br />

Die schönsten Lehren für die coronöse Gegenwart sind<br />

fraglos aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert. Just<br />

damals, als sich die Pest langsam aus der westlichen Welt<br />

verabschiedete, wuchs die Skepsis an den staatlichen Pestvorkehrungen<br />

ins Unermessliche. So formulierte ein englischer<br />

(!) Zeitgenosse namens John (! leider ohne son) seine<br />

Bedenken an den Quarantänevorschriften dahingehend,<br />

dass Luftveränderungen eine viel wichtigere Infektionsursache<br />

darstelle als die Ansteckung von Mensch zu<br />

Mensch. Die Abriegelung der verpesteten Stadt Königsberg<br />

musste abgebrochen werden, nachdem maßgebliche<br />

Preußen versichert hatten, die kollektive Quarantäne bringe<br />

mehr Menschen um als die Epidemie selbst. Und als 1720<br />

eine der letzten großen Pestwellen in Marseille wütete,<br />

publizierte ein königlicher Arzt seine eindeutige Erkenntnis,<br />

dass die Krankheit nicht ansteckend sei. Dass aber die<br />

mittels Quarantäne »der Freiheit zugefügte Gewalt« sowie<br />

die damit einhergehenden »Beleidigungen der Rechte der<br />

Menschen« durch eine »offenkundige Vorspiegelung falscher<br />

Tatsachen« zustande gekommen seien.<br />

Liebe Götter und Göttinnen! Falls ihr manchmal meint, ihr<br />

hättet auf uns Menschen nicht immer genug aufgepasst,<br />

falls ihr glaubt, zu oft weggeschaut und euch zu wenig für<br />

unser Schicksal interessiert zu haben, falls ihr vielleicht<br />

sogar befürchtet, im Laufe eines jahrtausendlangen Tiefschlafs<br />

wichtige Dinge in der Entwicklung der Menschheit<br />

verpasst zu haben, dann kann ich euch heute versichern: Ihr<br />

habt absolut nix verpasst! Also kein Grund zur Panik! Nie<br />

wieder Angst vor FOMO!


saargeschichte|n bildet …<br />

Wussten Sie übrigens, dass die<br />

Saarländische Regierung schon vor<br />

Jahrzehnten vorbildliches Verhalten<br />

bei der Bekämpfung von Epidemien<br />

demonstrierte? Beim Empfang der<br />

französischen Staatsgäste zeigte man<br />

1952, wie die Übertragung gefährlicher<br />

Viren vermieden wird:<br />

vorbeugende Haltung, gebührende<br />

Distanz, angedeuteter Händedruck<br />

(gegebenenfalls mit vorgestreckter<br />

Handatrappe) und auf keinen Fall<br />

den zu Begrüßenden anschauen!<br />

Die Barockresidenz Saarbrücken<br />

Von Thomas Martin<br />

Ein Rundgang auf den fürstlichen Spuren des<br />

18. Jahrhunderts<br />

Thomas Martin hat in seinem kompakten<br />

Begleiter die wichtigsten Spuren der Barockzeit<br />

in Saarbrücken zu einem Spaziergang<br />

zusammengefasst.<br />

Erhältlich im Buchhandel, bei Amazon oder<br />

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