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saargeschichte|n
58 | 59 hefte 1|2_20 magazin zur regionalen kultur und geschichte
hector und paris
ein spektakulärer fall zu beginn des »saarhunderts«
Einzelpreis 10,– EUR 16. Jahrgang
doppelausgabe
100
seiten
Erscheint
Dezember
2020
Kleine Abbildung:
Ausgabe I – 2017
Nach dem erfolgreichen Restart des Landkreis-Neunkirchen-Buches im Jahr 2017, wird
demnächst der zweite Band des beliebten Buches erscheinen. In der 2. Ausgabe finden Sie einen Sonderteil
zum 150-jährigen Bestehen der Kreissparkasse Neunkirchen sowie viele weitere spannende Berichte zur
Geschichte und Entwicklung des Landkreises.
Sie erhalten die Bände im Buchhandel, bei Amazon oder direkt www.edition-schaumberg.de
Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, Ausgabe I – 2017
288 Seiten, Festeinband, großes Format, durchgeh.farbig, ISBN 978-3-941095-47-2, 25,00 EUR
Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, Ausgabe II – 2020
288 Seiten, Ausführung wie Ausgabe I, ISBN 978-3-941095-70-0, 25,00 EUR; lieferbar ab August
Brunnenstraße 15 · 66646 Marpingen · Telefon 06853 502380 · info@edition-schaumberg.de
www.edition-schaumberg.de
das ding aus der saargeschichte
Er gehört zum vielleicht größten Kunstschatz, den Saarlouis
seit mehr als dreihundert Jahren in seinen Mauern
verwahrt. Gobelinbezüge aus der königlichen Manufacture
d’Aubusson schmücken Sitz und Rückenlehne dieses einen
von insgesamt zwölf chaises à la reine, die Ende des 17. Jahrhunderts
als Patengeschenk in die neu erbaute Festungsstadt
Ludwigs XIV. geliefert wurden. Wie die Sessel, so sind
auch die dazugehörigen Wandteppiche aus Gobelin mit
Schwertlilien geschmückt, den floralen Insignien des Herrschaftshauses
der Bourbonen. Einst verliehen Gobelinstühle
und Teppiche dem Präsidialgericht am heutigen Großen
Markt in Saarlouis besonderen Glanz, noch heute sind
die Prachtstücke fast am gleichen Ort, nämlich im Gobelinsaal
des Rathauses, zu bewundern.
Auch die goldfarbenen Holzgestelle der Stühle, einst in
einer Metzer Werkstatt gefertigt, mit ihren Blumen- und
Muschelapplikationen das Zeitalter des Rokoko vorwegnehmend,
haben Macht und Pracht des Sonnenkönigs bis
heute in der französischsten Stadt des Saarlandes erhalten.
Nur einmal, Anfang des 20. Jahrhunderts, war dieses kulturelle
Erbe Saarlouis‘ ernsthaft gefährdet. Nachdem die preußischen
Stadtväter selbst kurz mit dem Gedanken gespielt
hatten, die mittlerweile 18 Sessel zu verkaufen, um die leeren
Kassen zu füllen, machte die französische Besatzung im
Frühjahr 1919 kurzen Prozess. Sie requirierte das gesamte
Gobelin-Ensemble, weil sich Saarlouis in der nationalen
Frage nach dem Ersten Weltkrieg nicht »französisch«
genug gezeigt hatte.
Die chaises à la reine stehen damit am Beginn jenes
Säkulums, das wir heute als das erste Jahrhundert
saarländischer Eigenständigkeit feiern können.
Nach einer kurzen Odyssee kehrten die Sessel
nach Saarlouis zurück, möglicherweise auch
deshalb, weil dort ein Jahr lang der frankophile
Arzt und spätere Minister Jakob Hector
als Bürgermeister amtierte. Hector ist vor allem
mit einem nach ihm benannten Prozess in die
saarländische Geschichte eingegangen.
Wie sich dieser legendäre Prozess in die Historie
des Landes zwischen Deutschland und Frankreich
einordnen lässt, das wird in der Titelstory
dieser Ausgabe erstmals ausführlich thematisiert.
Foto: Sascha Schmidt
impressum
inhalt
Herausgeber Edition Schaumberg, Brunnenstr. 15,
66646 Marpingen, info@edition-schaumberg.de,
www.edition-schaumberg.de
Gegründet 2005 vom Historischen Verein für die
Saargegend e.V. und vom Landesverband der historisch-kulturellen
Vereine des Saarlandes e.V.
Redaktion Ruth Bauer, Dr. Paul Burgard, Tobias
Fuchs, Bernhard W. Planz, Dr. Jutta Schwan
Redaktionsanschrift Brunnenstraße 15, 66646
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ISSN 1866-573x
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September, Dezember.
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Jahresabonnement 22,– EUR (incl. Versand innerhalb
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Das Ding aus der Saargeschichte 3
Klaus-Peter Henz Fortuna im Wareswald 5
Bärbel Kuhn, Andreas Schorr Eine frühe Karte des Saargebiets 11
Paul Burgard Hector und Paris, Saarlouis und Berlin 14
Ein Minister vor Gericht: Was der spektakuläre »Fall Hector«
über die Anfänge des Saarlandes erzählt
Florian Bührer Mit dem Rütlischwur heim ins Reich! 44
Der Abstimmungskampf von 1935 und seine eidgenössischen Vorbilder
Ralph Schock Seines Zeichens Dichter 51
Der Kölner Expressionist Johannes Theodor Kuhlemann und Saarbrücken
Kristine Marschall Von der Industriebrache zum postmodernen Ökopark 56
Der Bürgerpark Hafeninsel in Saarbrücken-Malstatt
Joachim Conrad »Bei Kameraden und Vorgesetzten stets beliebt« 64
Das Schicksal der Dillinger Ernst und Otto Schmeyer –
nach ihren Feldbriefen erzählt
Hans-Christian Hermann Der lange Schatten des Abstimmungskampfes 72
Ein schwieriges Erbe: Zur Entstehungsgeschichte des
Deutsch-Französischen Gartens
Sabine Graf Europadämm(er)ung in Saarbrücken 83
Zwei Teppiche und ein Bildprogramm
Ausstellungen + Neue Publikationen 94
Ach du liebe Zeit … Die Glosse in den saargeschichte|n 96
saargeschichte|n bildet … 98
Hinweis zum Titelbild
Truppenparade auf dem Großen
Markt in Saarlouis am Französischen
Nationalfeiertag 1919. (Ausschnitt).
Im Mittelpunkt der Aufnahme und der
Parade steht die mit einer Tricolore
geschmückte Militärkommandatur.
(StA SLS, Bildersammlung)
fortuna im wareswald
saargeschichte|n 7
von klaus-peter henz
Seit 2001 finden nun schon archäologische Ausgrabungen
im gallo-römischen Vicus Wareswald
statt, einer kleinen, ländlichen Siedlung aus römischer
Zeit. Der Begriff Vicus meint eine ländliche
Siedlung, häufig entlang der nun in Stein ausgebauten
Handelsrouten. »Gallo-römisch« verweist
auf die auch nach der römischen Eroberung
des Gebietes weiterhin ansässige einheimischkeltische
Bevölkerung, die in einem »Romanisierung«
genannten Prozess römische Lebensart
annimmt ohne die keltischen Wurzeln gänzlich
abzulegen.
Gelegen am Fuße des Schaumbergs, erstreckt
sich der Ort auf Gemarkungen der Gemeinden
Tholey, Oberthal und Marpingen. Durchgeführt
werden die Ausgrabungen durch die Terrex
gGmbH, einer Grabungsgesellschaft des Landkreises
St. Wendel und der Gemeinden Marpingen,
Nonnweiler, Oberthal und Tholey. [1] Neben
[1] Die archäologischen Grabungen werden von der Terrex
gGmbH in Kooperation mit der WiAF gGmbH durchgeführt.
Die Grabungsgenehmigung erteilt das Landesdenkmalamt
des Saarlandes als Fachaufsichtsbehörde.
Wohnhäusern, teils mit Fußbodenheizungen,
Badezimmern und Wandmalereien ausgestattet,
konnten auch Gebäude ausgegraben werden, die
von Händlern und Handwerkern genutzt worden
waren, Berufsgruppen, die typischerweise
einen solchen gallo-römischen Vicus bewohnen.
In der Siedlung herrschte insbesondere im 2./3.
Jhd. ein relativer Wohlstand, der sich in der hohen
Anzahl der umlaufenden Münzen zeigt, die auf
regen Handel schließen lassen. Insbesondere die
Ausbeutung der Rötel-Vorkommen, die auf den
Gemarkungen Oberthal und Theley anzutreffen
sind und seine Weiterverarbeitung zu einem
einheitlich geformten Handelsgut, den »Rötel-
Stiften« war wohl ein bedeutender Produktionszweig
im Vicus. Hunderte solcher Stifte wurden
während der Ausgrabungen geborgen. [2]
Sicher spielte auch der Handel mit landwirtschaftlichen
Erzeugnissen eine bedeutende Rolle.
Die Produktion dieser Güter übernahmen landwirtschaftliche
Gehöfte, die sog. »villae rusticae«,
die sich um einen vicus gruppierten. Die
[2] Glansdorp (2011), 25f.
Der Wareswald in
der Landschaft. Ganz
rechts der heutige
Parkplatz mit Standort
des Pfeilergrabmals,
in der Mitte
die Tempelbauten
und das »Haus der
Fortuna«, links der
Siedlungskern mit
Wohnbebauung.
(Foto: A.Groß)
Die moderne Visualisierung
des Pfeilergrabmals
aus dem 2.
Jhd.n. Chr. Sie führt
dem Betrachter die
beeindruckende
Größe des ursprünglichen
Monumentes
vor Augen. (Foto:
A.Groß)
Rechts: Opfergabenbringer
mit Vogel auf
dem linken Arm. Das
kleine Sandsteinrelief
war sicher eine Weihung
in den Tempel.
(Foto: M. Schäfer)
Besitzer der Latifundien erlangten teilweise großen
Wohlstand, den sie auch präsentierten. So
entstanden etwa repräsentative Grabbauten um
den Reichtum einer solchen Familie zu zeigen.
Auch im Wareswald lassen sich solche Gehöfte
nachweisen, in deren unmittelbarer Nähe ein sog.
Pfeilergrabmal entdeckt wurde. Der ca. 12 Meter
hohe aus Sandstein erbaute Pfeiler war rundum
mit Reliefs verziert, die wohl Szenen der antiken
Mythologie zeigen, wohl auch die Familienmitglieder
abbildete und viele Darstellungen aus
einem Weinberg beinhaltete. [3] Die gründliche
Zerstörung des Monumentes – das immense
Steinmaterial weckte in nachantiker Zeit große
Begehrlichkeiten – lässt eine Rekonstruktion des
Dargestellten jedoch nicht mehr zu. Nach dem
Abbau der Steinblöcke wurden die störenden, da
vorspringenden Reliefs abgeschlagen und verblieben
am Ort. Das Monument war in eine ca.
12 x 12 m messende Umfriedung eingestellt und
stand in unmittelbarer Nähe einer Straße, die ver-
mutlich vom Gutshof kommend am Pfeilergrab
vorbei auf die Durchgangsstraße der Siedlung im
Wareswald führte. An der Straße zugewandten
Seite war eine Inschrift angebracht, von deren
Existenz lediglich ein erhaltener Buchstabe zeugt.
Die Überreste mindestens eines weiteren, aber
deutlich kleineren Grabmonumentes unweit des
großen Pfeilers weist darauf hin, dass hier die
verstorbenen Familienmitglieder aus der »villa
rustica« in Gräbern mit zum Teil monumentaler
Architektur innerhalb eines kleinen Friedhofs
beigesetzt worden sind. Vor allem die Stilanalyse
der figürlichen und vegetabilen Relieffragmente
legen eine Errichtung des Monumentes in der 2.
Hälfte des 2. Jhd. n. Chr. nahe. [4]
Der heutige Besucher kann an Ort und Stelle eine
sog. Visualisierung des Monumentes in Augen-
[3] Henz/Klöckner (2009), 69–88.
[4] Henz/Klöckner (2009), 87f.
Luftbildaufnahme der
Tempel im Wareswald.
der große
Tempels rechts war
dem Gott Mars (Cnabetius?)
geweiht.
Direkt daneben
(auf dem Bild links
anschließend) ist
seit der Grabungskampagne
2019 die
Existenz eines zweiten
Umgangstempels
bekannt geworden.
(Foto: A.Groß)
saargeschichte|n 9
schein nehmen und wird auf Infotafeln über die
Darstellungen informiert.
Die Heiligtümer im Wareswald
Bereits mehrere Jahrzehnte zuvor war ca. 150
Meter östlich des großen Pfeilers ein Tempel
errichtet worden, der dem Mars, wahrscheinlich
dem Mars Cnabetius geweiht war. 11,60 m x 14,20
m misst die Cella – der Hauptraum des Tempels
mit der Götterstatue –, um die mit einem Abstand
von ca. 3,80 m ein weiteres Mauergeviert von
19,50 m x 22,80 m angelegt wurde. Der so entstehende
Umgang verleiht diesem Tempeltyp
seinen Namen. Er gehört zu den sog. »gallo-römischen
Umgangstempeln, die auch und gerade
im Gebiet der Treverer weite Verbreitung fanden.
Funde bronzener Figürchen des Gottes Mars
im Tempel führen zur Zuschreibung des Heiligtums
an diesen Gott. Darüber hinaus erwähnt
eine Weiheinschrift, bereits im 19. Jhd. »aus dem
Varuswalde« gefunden, den »Mars Cnabetius«,
den lokalen Genius. Es ist daher durchaus wahrscheinlich,
dass diese Gottheit in unserem Tempel
verehrt worden ist.
Zahlreiche Funde, die im Tempel geborgen wurden,
beleuchten die Kultpraxis im Heiligtum.
Neben einem kleinen Sandsteinrelief, das einen
Adoranten mit Vogel als Opfergabe zeigt oder der
Darstellung eines Molossers, einem Kampfhund,
der auch im Krieg eingesetzt werden konnte und
sicher zu einer Figurengruppe gehörte, sind vor
allem eiserne Lanzenspitzen zu erwähnen, die in
großer Zahl geopfert worden waren. Sie belegen
die Fortführung der Weihungen solcher Lanzenspitzen
in der römischen Kaiserzeit im Gebiet des
keltischen Stammes der Treverer. [5]
Auch Münzen gehören zum Fundgut. Die große
Mehrzahl der Stücke stammt aus dem 2. bis 4.
Jhd. n. Chr. Die Münzreihe legt eine Gründung des
[5] Adler (2018), 66–69.
Tempels am Anfang des 2. Jhd. n. Chr nahe und
zeigt darüber hinaus, dass hier die Ausübung des
Kultes bis an das Ende des 4. Jhd. n.Chr. andauerte.
Der Mars-Tempel war nur eines von mehreren
Heiligtümern in einem »Heiligen Bezirk«. Aus
den aktuellen Grabungen der Kampagne 2019
stammen die Mauern eines zweiten Umgangstempels,
in Struktur und Ausdehnung dem Mars-
Tempel ähnlich. Sie werden von Studierenden der
Kennesaw State University of Georgia unter der
Leitung von Prof. Philip Kiernan untersucht. Seit
zwei Jahren besteht eine Kooperation der Terrex
gGmbH mit der amerikanischen Universität, die
ihren Sitz in Kennesaw, Atlanta hat.
Wann der Tempel gebaut wurde und wem hier
die Opfernden Gaben brachten, sollen weitere
Grabungskampagnen zeigen.
Das Gebäude »G«
Nach umfangreichen Rodungsarbeiten im
Gelände nördlich der Tempelanlagen ergab sich
die Möglichkeit, die Fläche archäologisch zu
sondieren und einige sog. Suchschnitte anzulegen.
Unmittelbar unter dem Waldboden, der
von einem Bagger entfernt wurde, tauchten
erste Mauersteine, Bruchstücke römischer Dachziegel
und Keramikscherben im Boden auf. Die
während der anschließenden Ausgrabungsarbeiten
gefundenen Mauerstücke ließen rasch
ein Gebäude erkennen, dessen Ausdehnung
allerdings noch unbekannt ist, da sich die Außenmauern
über die derzeitigen Grabungsgrenzen
hinaus erstrecken. Daher kann für eine nordöstlich
verlaufende Mauer lediglich eine Mindestausdehnung
von 15 m ermittelt werden. Die
Mauer verläuft parallel zur Hangkante. Eine
zweite Mauer geht im rechten Winkel davon ab
und läuft in südöstlicher Richtung hangaufwärts
unter die heutige Asphaltstraße. Auch hier lässt
sich die Ausdehnung noch nicht bestimmen. Die
Mauerstärke von durchgehend ca. 80 cm weist
Links: Bronzefigur
eines Molossers, eines
Kampfhundes, der in
römischer Zeit auch
in der Arena eingesetzt
wurde. Der
Hund allgemein gilt
als Attributtier des
Gottes Mars, dem die
Weihung wohl galt.
(Foto: M. Schäfer)
Rechts: Eiserne
Lanzenspitzen, die
meist mit dem hölzernen
Schaft im Tempel
geweiht wurden. Sie
belegen die Weiterführung
der an sich
keltischen Sitte des
Waffenopfes auch im
2. Jhd. n. Chr. bei den
keltischen Treverern.
(Foto: M. Schäfer)
Oben links: Das
neu aufgefundene
Gebäude »G« in
einer Luftaufnahme,
unmittelbar an und
vielleicht unter der
modernen Straße
gelegen. (Foto: A.
Groß)
Oben Mitte: Detailaufnahme
des
Gebäudes »G«. In der
Bildmitte rechts ist
der kleine Raum mit
Fußbodenheizung
zu erkennen, dessen
Boden aus Dachziegeln
in Zweitverwendung
besteht. In
der Bildmitte ist ein
wohl später hinzugefügter
Einbau zu
sehen.
dabei auf eine zweigeschossigen Bau hin. Die vorläufigen
Grabungsergebnisse lassen erkennen,
dass mindestens ein weiterer Raum zu einem
späteren Zeitpunkt dem Bau hinzugefügt und
mit einer Fußbodenheizung versehen worden
war. Das Gebäude wurde offensichtlich mehrfach
umgebaut und in seiner inneren Ausstattung
verändert, unter anderem durch den Einbau
mehrerer Mauern. Bemerkenswert ist auch, dass
der Außenbereich des Gebäudes, hangabwärts
gelegen, als Park oder Garten gestaltet gewesen
sein könnte. Während der Ausgrabungen jedenfalls
wurden eine Art Durchgang zu einer Freitreppe
aus großen, sorgfältig behauenen Sandsteinen)
sowie eine Trockenmauer aufgedeckt,
die als Terrassenmauer gedient haben könnte.
Gebäudemauern fanden sich in diesem Bereich
indes nicht. Auch hier hoffen die Archäologen auf
weitere Erkenntnisse durch die geplanten Untersuchungen
der Kampagne 2020.
Das Gebäude, soweit es bislang ausgegraben
wurde, war offensichtlich voll unterkellert, die
Kellerböden mehrfach erneuert, der Keller später
mit Brandschutt verfüllt worden In diesem
Bereich fanden sich auch viele Bruchstücke großer
Vorratsgefäße, aber auch ein Anteil an Feinkeramik
sowie die Reste einiger feiner Glasgefäße,
die meist in das 2./3. Jhd. n. Chr. datiert
werden können. In diese Zeit wird vorläufig auch
die Nutzung des Gebäudes datiert. Die einzige
bisher gefundene Münze, ist zwar ein Denar des
Kaisers Vespasian, geprägt 72/73 n. Chr.), allerdings
ist das Stück stark abgegriffen und war
sicherlich eine lange Zeit im Umlauf, bevor es im
Wareswald in den Boden gelangte.
Die Statue der Fortuna
Eine besondere Überraschung bot sich den Ausgräbern
dann beim Freilegen der Südwest-Ecke
des Gebäudes. Inmitten des Brandschuttes, wohl
Oben rechts: Die
Sandsteinfigur der
Fortuna in Fundlage
im Gebäude »G«.
Freitreppe aus großen
Sandsteinblöcken
gesetzt. Der Außenbereich
des Gebäudes
wies neben der
Treppe auch trocken
gesetzte Terrassenmauern
auf, die darauf
hinweisen, dass
das Gelände offensichtlich
als Gartenanlage
genutzt
wurde. (Fotos: Terrex
gGmbH)
saargeschichte|n 11
zwischen den Resten des hölzernen Inventars
eines abgebrannten Wohnraumes, lag eine noch
ca. 35 cm hohe Figur aus Sandstein, die sich nach
sorgfältiger Freilegung, Einmessung und Bergung
als eine Statue der Fortuna, der römischen
Göttin des Schicksals und des Glücks, herausstellte.
Zu erkennen gibt sich die Göttin durch
das Füllhorn, das sie an ihrer linken Seite trägt
sowie durch das, nur in Teilen erhaltene Steuerruder
zu ihrer Rechten. Einige Teile, so auch der
Kopf sind abgebrochen.
Die Figur weist deutliche Brandspuren auf, die
sich als bandförmige Verfärbung schräg über
den Rücken ziehen und auch auf der Vorderseite
am linken Arm, am linken Bein und am Saum
des Gewandes zu beobachten sind. Auch an den
Bruchstellen der Skulptur und am Halsansatz
des abgebrochenen Kopfes sind die Brandspuren
zu verfolgen, die Figur ist daher im bereits zerbrochenen
Zustand mit den heißen Materialien
des Brandschuttes in Berührung gekommen. Solche
Götter-Figuren wurden häufig in den sog.
Lararien aufgestellt, Hausaltären, die der täglichen
Religionsausübung dienten und in denen
neben dem Lar, dem Beschützer des Hauses,
mannigfaltigen Gottheiten Opfergaben dargebracht
wurden.
Das Füllhorn, das die reich gewandete Figur im
linken Arm hält, weist bereits auf die Göttin
Fortuna hin, zumal ihr als zweites Attribut an
ihrer Rechten ein Steuerruder eines Schiffes beigegeben
ist. Mit diesen Attributen ist die Göttin
auf zahlreichen Münzen der römischen Kaiserzeit
abgebildet und wird dann häufig als »fortuna
redux« bezeichnet, als die »Rückführende«,
die vor allem von Soldaten um eine gute Rückkehr
aus Krieg oder Stationierung in fernen Ländern
gebeten wurde. Jedoch scheint ein solch
»soldatischer« Aspekt nicht so recht in eine zivile
Kleinsiedlung, wie wir sie im Wareswald vor uns
haben, zu passen. Denkbar wäre immerhin ein
Veteran als Stifter, der sich im vicus Wareswald
nach seiner Entlassung niedergelassen hatte und
das Stück in einem Tempel aufstellen ließ.
Die einzige Münze,
die bislang geborgen
werden konnte: ein
Denar des Kaisers
Vespasian, geprägt
72/73 n. Chr. Die
Rückseite zeigt die
Kultwerkzeuge der
Auguren: simpulum,
aspergillum, Opferkanne
und lituus.
Foto: A. Didas
Unmittelbar nach
der Bergung zeigt
sich die vorzügliche
künstlerische Arbeit
an der Figur. Die
Beschädigungen
im Kopfbereich
und an der rechten
Körperseite sind
zu erkennen. (Foto:
Terrex gGmbH)
Links: Nach der Restaurierung
in den
Werkstätten des
Landesdenkmalamtes
treten die Brandspuren
deutlich zu
Tage. (Foto: N. Kasparek,
LDA)
Rechts: Die Statue
der Fortuna in der
Sonderausstellung im
Museum für Vor- und
Frühgeschichte Saarbrücken.
Restaurierter
Zustand.
Im Frühjahr 2020
wurde ein Köpfchen
aus Sandstein
im Bauschutt
der Ausgrabungen
gefunden. Ob er zur
ausgegrabenen Fortuna
gehört, wird sich
zeigen?
(Foto: LDA)
Die Figur ist aus gelblichem, hellem und feinkörnigem
Sandstein hergestellt. Die Provenienz
des Steines wurde bislang nicht ermittelt. Mit
großem Geschick und Können hat der Bildhauer
die Göttin geformt. Proportionen und die Standstellung
im sog. Kontrapost mit zurückgesetztem
linkem Fuß und rechtem Standbein, der darauf
ruhenden schräg gestellten Hüfte und dem in
Gegenrichtung schwingenden Oberkörper bis
in die Schultern gekonnt ausgeführt. Die sehr
gute Qualität der Bildhauerarbeit zeigt sich ins-
besondere in der Darstellung der Gewänder. Über
dem ärmellosen Chiton aus dünnem Stoff liegt
der Mantel, der über die linke gelegt ist und zur
rechten Hüfte hinabgeführt wird und von dort,
den Oberkörper freilassend zur rechten Schulter
verläuft. Das Gewand zieht in reichem Faltenwurf
bis zu den Füßen. Die übereinander liegenden
Kleidungsstücke sind in ihrer Stofflichkeit
herausgearbeitet, dünne Stoffbahnen von dickeren
unterschieden, die Faltenwürfe detailliert
dargestellt. Die hohe künstlerische Qualität der
Skulptur spricht dafür, die Entstehung in einer
renommierten Werkstatt, eventuell in Trier im 2.
Jhd. n. Chr., anzunehmen.
Der Kopf der Fortuna?
Seit Mai 2020 laufen die Grabungen im Gebäude
»G« weiter. Hochinteressante Ergebnisse sind
hierbei zu erwarten. Ganz aktuell wurde im
Brandschutt ein kleiner Frauenkopf aus Sandstein
gefunden, aus der Schicht also, aus der
auch schon die Fortuna-Statue stammt. Der Kopf
wurde umgehend in die Restaurierungswerkstätten
des Landesdenkmalamtes gebracht, wo
er nun zunächst restauriert wird. Erst danach
wird es möglich sein, die Zusammengehörigkeit
der Figur des letzten Jahres mit dem aktuellen
Fund zu vergleichen.
eine frühe karte des saargebiets
saargeschichte|n 13
von bärbel kuhn und andreas schorr
Mit dem Friedensvertrag von Versailles vom
28. Juni 1919 wurde das neu gebildete »Saarbeckengebiet«
für 15 Jahre vom Deutschen Reich
abgetrennt und unter die Verwaltung des frisch
konstituierten Völkerbunds gestellt. Die vorliegende
Karte aus Privatbesitz [1] darf wohl als ein
frühes regionales Zeugnis zur Popularisierung
des neuen Gebietes gelten. Sie erschien im Verlag
der Gebrüder Hofer in Saarbrücken, der auch
die »Saarbrücker Zeitung« herausgab. Die Karte
wurde zum Preis von 50 Pfennig angeboten,
wahrscheinlich in den Verkaufsstellen der »Saarbrücker
Zeitung«. Da die Karte nach ersten
Recherchen in regionalen Archiven nicht nachgewiesen
ist und bislang in einschlägigen Werken
nicht erwähnt wurde, war sie vermutlich
nicht in hoher Auflage gedruckt worden.
Auf der Karte wurden unterschiedliche Typen von
Grenzen beziehungsweise Grenzabschnitten eingezeichnet
und in der Kartenlegende benannt.
Unter anderem ist von einer »örtlich noch zu
bestimmenden Grenze« die Rede. Gemeint
ist die östliche Grenze des Saargebietes. Die
gestrichelte Linie bezeugt den damals noch provisorischen
Charakter dieses Abschnitts. Das wird
vor allem westlich von Zweibrücken sichtbar: Hier
hat die Grenze abgerundete Formen und gleicht
nicht einer Zickzacklinie wie etwa im Hochwald,
wo sie den Gemarkungsgrenzen der Gemeinden
folgt. Die Karte stammt damit aus der Zeit vor
dem Abschluss der Grenzvermessung, also zwischen
der Unterzeichnung des Versailler Vertrags
[1] Die Karte wurde erstmals publiziert in Kuhn, Bärbel: Beharrung
und Aufbruch in bewegten Zeiten. Wiesbach im
Saargebiet der Völkerbundzeit (1919–1935), in: Wiesbach.
Geschichte eines saarländischen Dorfes, hg. von der Gemeinde
Eppelborn durch Kuhn, Bärbel; Maas, Hans Günther;
Schorr, Andreas (St. Ingbert 2018) S. 223–239, hier S.
224 (Gesamtkarte in Verkleinerung) und S. 225 (Ausschnitt
mittleres Saarland).
(28. Juni 1919) und der urkundlichen Grenzfestlegung
für das »Saargebiet« (21. Dezember 1921),
als der östliche Grenzverlauf genau geregelt
wurde. Weiter gibt die Preisangabe in Pfennigen,
als Hundertstel-Unterteilung der zunächst weiter
geltenden Mark des Deutschen Reiches, einen
Hinweis auf die Entstehung in der frühen Phase
des Saargebiets, vor der Einführung des französischen
Franken als alleiniges Zahlungsmittel am
1. Juni 1923.
In § 48 des Versailler Vertrages wurden die Prinzipien
für die Grenzziehung des neuen Gebildes
festgelegt: »Ein Ausschuß von fünf Mitgliedern,
von denen eines von Frankreich, eines von
Deutschland und drei von dem Rate des Völkerbunds,
welch letzterer seine Wahl unter den
Staatsangehörigen anderer Mächte zu treffen
hat, ernannt werden, tritt binnen zwei Wochen
nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags
zusammen, um an Ort und Stelle den Verlauf
der […] Grenzlinie festzulegen. Wo dieser Verlauf
nicht mit den Verwaltungsgrenzen zusammenfällt,
wird der Ausschuß bemüht sein, dem
angegebenen Verlauf unter möglichster Berücksichtigung
der örtlichen Wirtschaftsinteressen
und der bestehenden Gemeindegrenzen nahezukommen.«
[2]
Der Ausschuss bestand dann neben dem französischen
und dem deutschen Delegierten aus
einem britischen, einem brasilianischen und
einem japanischen Vertreter. Mit der am 21.
Dezember 1921 in Paris unterzeichneten Urkunde
legte er die Grenzziehung fest. [3] Die Umgrenzung
[2] Hier zitiert nach: http://www.documentarchiv.de/wr/
vv03.html (zuletzt gesehen am 27. April 2020).
[3] Urkunde publiziert in: Amtsblatt der Regierungskommission
des Saargebietes 1928, S. 179–192, Landesarchiv
Saarbrücken, Inv.-Nr. 901/Z40, online: http://ndkio.homepage.t-online.de/grenzprotokoll.htm
(zuletzt gesehen
am 27. April 2020).
des Saargebiets richtete sich nicht nach den
preußischen und bayerischen Landkreisen, sondern
nach damals hochmodernen wirtschaftsgeografischen
Gesichtspunkten: den Kohlelagerstätten,
den Industriestandorten sowie den
Wohngebieten der Bergarbeiter. [4] Nach dem Versailler
Vertrag sollte die Grenze nach Süden und
Südwesten die im selben Vertragswerk nach den
Verhältnissen des Jahres 1870 wiederhergestellte
französische Staatsgrenze sein. Die Kriterien
für die Festsetzung der neuen Grenzabschnitte
gegen das Deutsch Reich waren unterschiedlich:
Die Grenze im Nordosten und Osten sollte nach
topografischen Punkten, im Nordwesten und Norden
entlang von Verwaltungsgrenzen gezogen
[4] Vgl. zu den Grenzziehungen auch Aust, Bruno; Herrmann,
Hans-Walter; Quasten, Heinz: Das Werden des Saarlandes
– 500 Jahre in Karten (= Veröffentlichungen des Instituts
für Landeskunde im Saarland. Band 45) (Saarbrücken
2008) Karten 30, 31, 57.
werden. Für die vorliegende Karte lässt der Titel
»Karte des Saarlandes« aufhorchen, denn offiziell
hieß die Region in der Zeit der Völkerbundverwaltung
»Saargebiet«, einer Klammerform
aus »Saarbeckengebiet«, französisch Territoire du
Bassin de la Sarre. Nach weiteren Überprüfungen
und technischen Korrekturen wurde die Grenzziehung
1928 im Amtsblatt der Regierungskommission
des Saargebietes veröffentlicht.
Neben der Bezeichnung »Saarland« lassen
sich auf der Karte einige weitere Hinweise finden,
die auf eine eigene, im damaligen Sinne
»deutsche« Perspektive des Saarbrücker Verlags
schließen lassen, die nicht im Einklang mit
den Auffassungen der Völkerbundverwaltung
sowie der französischen Wirtschaftsregierung
und Militärverwaltung stehen konnte: Auf eine
Beschriftung »Deutsches Reich« im nordwestlichen
Anschluss an das Gebiet wurde verzichtet.
Da sich die Bevölkerung des Saargebiets weiterhin
als deutsch und somit als Teil des Deutschen
Reiches verstand, könnte ein Motiv für diese wohl
bewusst gewählte Darstellungsweise sein, dass
eine Grenze zum »Reich« erst gar nicht benannt
werden sollte. Aber auch die Rückkehr des Reichslands
Elsass-Lothringen nach Frankreich war
offenbar noch zu neu, um bereits akzeptiert zu
werden. Es finden sich westlich der Saargebietsgrenze
sowohl die Bezeichnung »Elsass-Lothringen«
(und nicht etwa »Frankreich«) als auch die
damals allgemein geläufigen deutschen Ortsnamenformen
wie zum Beispiel »Busendorf«
statt Bouzonville und »Kammern« statt Lachambre.
Die neue beziehungsweise wieder errichtete
Grenze zu Frankreich wurde in der Kartenlegende
als »lothringische Grenze« bezeichnet.
Weiter fällt auf, dass die Grenzen der Landkreise
auf der Karte fehlen. Die Zerschneidung der seit
dem frühen 19. Jahrhundert bestehenden Kreise
schlug politisch hohe Wellen und wurde von vielen
Menschen beiderseits der neuen Trennungslinie
als schmerzlich empfunden. Die beim Deutschen
Reich verbliebenen Teile wurden dort ganz
bewusst als »Restkreise« verwaltet und ihre amtlichen
Namen erinnerten an die aus der Sicht des
Deutschen Reiches vorläufig eingebüßten Kreisstädte:
»Kreis Merzig-Wadern (Rest)« mit Sitz in
Wadern und »Kreis Sankt Wendel-Baumholder
(Rest)« mit Sitz in Baumholder. Ob die Grenzen
der Landkreise aus gestalterischen Gründen,
also der Übersichtlichkeit der Darstellung, oder
aus politischer Absicht nicht in die Karte aufgenommen
wurden, muss offenbleiben.
Eingezeichnet wurde hingegen als dünn
gestrichelte Linie die ehemalige, im Saargebiet
weitgehend bedeutungslos gewordene bayerisch-preußische
Grenze. Sie wurde in der
Kartenlegende als »Pfalzgrenze« bezeichnet und
damals offenbar noch als relevant angesehen.
Vielleicht war sie auch als Merkposten gedacht,
denn man stellte sich nichts Anderes vor als eine
Rückkehr der jeweiligen Teile des Saargebiets zu
Preußen und Bayern, was jedoch nach der Rückgliederung
ins Deutsche Reich im Jahr 1935 nicht
geschah. Anekdotisch und in Ortsneckereien wird
bis heute auf saarländische »Preußen« und »Bayern«
Bezug genommen. Anstatt der Kreisgrenzen
übernehmen auf der Karte die eingezeichneten
Straßen und Bahnlinien die orientierende Funktion
im Raum und verweisen – wohl ungewollt –
auf die französische Absicht, mit dem Saargebiet
eine neue politische Einheit auf wirtschaftsgeografischer
Grundlage zu schaffen und aus den
älteren Zusammenhängen herauszulösen.
saargeschichte|n 15
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hector und paris,
saarlouis und berlin
Ein Minister vor Gericht:
Was der spektakuläre »Fall Hector« über die Anfänge des Saarlandes erzählt
von paul burgard
Wer sich mit der saarländischen Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst, wird
mit Sicherheit ziemlich schnell auf seinen Namen stoßen. Allerdings hat sich
der Arzt und Politiker Jakob Hector nur in zweiter Linie durch seine Tätigkeit
als Bürgermeister von Saarlouis und Minister der internationalen Regierungskommission
im kollektiven Gedächtnis des Landes verewigt. Fast zum Mythos
gewordene Erinnerungen ranken sich vielmehr um eine gerichtliche Auseinandersetzung,
die im Jahr 1923 für internationales Aufsehen sorgte. Viele der
wichtigsten Kapitel des jetzt als »Saarhundert« gefeierten Säkulums lassen sich
am Beispiel dieses außergewöhnlichen Prozesses erzählen: die Entstehung eines
eigenen Saar-Staates, die Wechselfälle der deutsch-französischen Beziehungen,
die Grundlagen saarländischer Identität und nicht zuletzt der Wandel von
Erinnerung und Geschichtsbildern.
Niemand kann sagen, die Saarlouiser hätten keinen guten Platz für die
Erinnerung an ihren Doktor gefunden. [1] In einem gutbürgerlichen Viertel
haben sie sie benamt, die Dr.-Jakob-Hector-Straße, einseitig bebaut mit
18 Häusern, vom Verkehr der parallel verlaufenden Wallerfanger Straße
durch eine Doppelreihe Laubbäume abgeschirmt. Die hundert Meter
entfernte Klinik vom Roten Kreuz (dessen saarländischer Ehrenpräsident
Hector war) ist ein ebenso würdiger Nachbar wie die
Straße für Robert Koch, die unmittelbar neben Jakob Hector ganz
nebenbei auch zeigt, dass man mit Professur und Nobelpreis das
[1] Der Fall Hector ist in der Literatur bisher erstaunlich wenig beachtet worden.
Zwar wurde er in Abhandlungen zur Zeit des Völkerbundes quasi als Symptom
der Zeit immer wieder thematisiert, aber nie als eigenständiges Kapitel für den
Einblick in die 1920er Jahre analysiert. Nicht einmal eine etwas ausführlichere
faktische Darlegung hat seit der Darstellungen in den zeitgenössischen
Medien und Kampfschriften mehr stattgefunden. Am ausführlichsten
und durchaus quellennächsten ist noch die entsprechende Passage in
Hermann Röchling, Wir halten die Saar!, Berlin 1934, S. 81–88 gelungen.
Siehe zum Fall Hector auch Ludwig Linsmayer, Politische Kultur im
Saargebiet 1920–1932, St. Ingbert 1992, S.205f.; Peter Lempert, »Das
Saarland den Saarländern«. Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet
1918–1935, Köln 1985, hier v.a. S. 40–46. Beim »Klassiker« zur
Völkerbundszeit von Maria Zenner, Parteien und Politik im Saargebiet
unter dem Völkerbundsregime, Saarbrücken 1966, spielt der Fall
Hector nur am Rande eine Rolle. Auch bei Hans Jörg Schu, Chronik der
Stadt Saarlouis 1679–2005. Ein chronologischer Bericht über die Entwicklung
der Festungsstadt, Saarlouis 2010, wird Bürgermeister Hector
kaum und der Fall des Ministers überhaupt nicht thematisiert.
saargeschichte|n 17
kompensatorische »Dr.« vor dem Namen nicht
mehr braucht, um vor aller Welt zu dokumentieren,
dass der einzig wahre Doktor nur ein Mediziner
sein kann. Im Saarlouiser Straßennetz wird
Hector nicht nur in einen prominenten medizinischen
Kontext eingebettet. Parallel- und
Anschlussstraße bringen ihn auch in Verbindung
mit der kommunalen Politik, und zwar – ob
gewollt oder nicht – mit deren französischer
Variante. Ferdinand Heil und Michel Reneauld,
die Namensgeber besagter Straßen, führen den
Betrachter nämlich zurück in jene Zeit, als Saarlouis
von Paris aus regiert wurde, Heil als erster
Maire der Sonnenkönigsstadt überhaupt, Reneauld
als Stadtoberhaupt in der Ära Napoleons,
dessen General er auch war. Arzt und Politiker
zwischen Saarlouis und Paris, so könnte man die
Botschaft über die Vita Hectors also durchaus
aus dem Stadtplan der heimlichen Hauptstadt
des Saarlandes herauslesen. Was gar nicht so
weit von der historischen Wahrheit entfernt ist,
nicht einmal das mit der heimlichen Hauptstadt.
Jung, dynamisch, erfolgreich – und preußisch?
Dass er nach dem Ersten Weltkrieg zu den führenden
Männern gehören würde, die mit der
französischen Besatzungsmacht kooperierten,
dass er mit Unterstützung aus Paris zum Minister
werden und später an der Spitze frankophiler
Bewegungen stehen sollte, dass er bereits 1930 die
Staatsbürgerschaft der Grande Nation erwerben
würde und 1935 mit seiner Familie ins französische
Exil gehen musste: Das alles war Jakob Hector
keineswegs ins Stammbuch geschrieben. Als
Hector 1872 im heute zu Dillingen gehörenden
Dorf Pachten geboren wurde, grassierte auch an
der mittleren Saar eher das preußische als das
französische Fieber. Zwar gehörte Pachten bis 1815
zum Herzogtum Lothringen, besaß Dillingen mit
seinem Eisenwerk eine lange französische Tradition,
die wie jene des benachbarten Saarlouis
bis ins 17. Jahrhundert zurückführte. Aber das
alles war zur Zeit von Jakobs Geburt schon seit
sechs Jahrzehnten aus und vorbei. Längst hatten
die Preußen das Land in Besitz genommen und
auch kulturell »kolonisiert«, waren die französischen
durch preußische Truppen in der Garnison
Saarlouis abgelöst worden, hatte vor
allem die Reichsgründung den nationalen
Kompass an der Saar endgültig
in Richtung Berlin eingenordet. Wenn
eines den Menschen im Saarlouiser
Land in der nun beginnenden
Ära des Kaiserreichs besonders am Herzen
lag, dann war es zu zeigen, wie deutsch sie
waren – und wie sehr sie sich vom französischen
»Erbfeind« jenseits der Grenze unterschieden.
Leider sind die biografischen Überlieferungen
zum jungen Jakob Hector ziemlich dürftig. Insofern
ist es schwer zu sagen, wo und wie der aufstrebende
Mann aus Pachten seinen kulturellen
Standort im Zeitalter von Nationalismus und
Imperialismus fand. Fest steht, dass der Sohn
eines Bauern einen bildungsbürgerlichen Aufstieg
schaffte, der für einen wie ihn in dieser Zeit
und in diesem Saar-Land nicht alltäglich war. Das
Gymnasium besuchte er fernab der Heimat, im
westfälischen Rheine, das dortige Dionysianum,
eine ehemalige Franziskanerschule, seit 1861
preußisches Vollgymnasium, war vermutlich aus
konfessionellen wie aus ökonomischen Gründen
eine geeignete Lernstätte für das jüngste
von neun Kindern eines saarländischen Bauern.
Als er 1895 in der Stadt an der Ems sein Abitur
absolvierte, war der Pachtener bereits 23 Jahre
alt, der Weg von der saarländischen Dorfschule
zum westfälischen Gymnasium verlief also nicht
Die Dezennaltabelle
der Bürgermeisterei
Fraulautern, zu der
Pachten gehörte,
zeigt, dass Jacob
Hector an einem
ungewöhnlichen
Datum geboren
wurde: am 29. Februar
1872 (LA SB,
Bestand Dezennaltabellen)
Im dritten Haus von
links, am Großen
Markt 16, lebte und
arbeitete Jacob Hector
mit Familie bis
zu seiner Emigration
1935.
(StA SLS, Sammlung
Postkarten)
ganz geradlinig. Nach dem Abitur zog es Hector
zum Medizinstudium nach Deutschland und in
die Schweiz. An den renommierten Universitäten
von Heidelberg, Gießen, Würzburg, München und
Lausanne lernte er die ärztliche Heilkunst, ehe er
1900 in Berlin approbiert und ebendort 1901 promoviert
wurde. Nicht ganz gewöhnlich war ein
solch ausgedehntes akademisches Itinerar im
Kaiserreich, zumal für einen unbemittelten Dorfjungen,
was womöglich für eine Unterstützung
durch (katholische?) Stipendien spricht. Nicht
ganz gewöhnlich für einen jungen Arzt war es
aber auch, dass Hector das erste Jahr des neuen
Jahrhunderts, das erste seiner langen medizinischen
Karriere, auf Schiffen verbrachte. Auf den
Dampfern des Norddeutschen Lloyd hatte er
sich im August 1900 als Schiffsarzt verdingt, war
für das leibliche Wohl einer eher besser situierten
Gesellschaft auf Weltreisen nach Nord- und
Südamerika, Afrika und Fernost verantwortlich.
Zurück in der Heimat, ließ er sich kurz nach seiner
Heirat im Herbst 1901 mit Haus und Arztpraxis
am Großen Markt in Saarlouis nieder, im Zentrum
der französischsten Stadt des Saarlands. Mit
Ausnahme eines gut zehnjährigen Exils in Frankreich
hat Hector hier ein halbes Jahrhundert lang
als praktischer Arzt gewirkt, bis zur Emigration
1935 im Haus Nr. 16, nach der Rückkehr 1946 in der
Nummer 7. [2]
[2] Hans Peter Klauck, Die Bürgermeister der Stadt Saarlouis
1683–2005, in: Unsere Heimat 30, 2005, S. 12–30
(hier S. 23); ders., Jakob Hector, in: Saarland-Biografien
(www.saarland-biografien.de); ders., Die Einwohner der
Stadt Saarlouis 1851–1902. Teilband 6, A–H, Saarlouis
2012, S. 552f. Nachrufe waren in der in SVZ v. 6. Februar 54
und der SZ v. 7. Februar 54 abgedruckt. Vgl. auch Andres,
Hecor und die Saarfrage (wie Anm. 42). Zum Dionysianum
vgl. Festschrift des Gymnasium Dionysianum in
Rheine. Den Freunden der Schule als Erinnerungsgabe
an die Dreihundertjahrfeier im Jahre 1959, Rheine 1959.
Die Abiturientenliste von 1895 mit Hector S. 351. Die
Wohnungen Hectors am Großen Markt nach den Adressbüchern
von Saarlouis 1909 und 1925 sowie für die
Nachkriegszeit nach den Briefwechseln in der LEA-Akte
(LA SB, LEA 14261).
Nur ein paar Meter entfernt von Haus und Praxis,
zwei Häuser neben der Ludwigskirche, begann
auch Hectors politische Karriere. Hier befand
sich nämlich das alte Saarlouiser Rathaus, in dessen
Ratssaal er am 13. Januar 1913 als Stadtverordneter
einziehen konnte, in dem er allerdings,
anders als hie und da zu lesen, niemals als Beigeordneter
agierte. Die Wahl zu einem von 26
Saarlouiser Stadtverordneten zeigt dennoch, wie
schnell sich Hector in der Stadtgesellschaft etabliert
hatte, vor allem in deren besseren Kreisen:
Kommunalpolitik war vor dem Ersten Weltkrieg
in Preußen noch eine Honoratioren vorbehaltene
Veranstaltung. Dass ein Arzt mit gut gehender
Praxis zu eben dieser besseren Gesellschaft
gehörte, war spätestens im 20. Jahrhundert allerdings
quasi zur Selbstverständlichkeit geworden.
Bei diesem Werdegang ist es eigentlich kaum
ersichtlich, wie der junge Jakob Hector seine
»Liebe« zu Frankreich entdeckt haben könnte.
Eine Vita mit den beschriebenen Stationen
schloss im Gegenteil die Entfaltung einer wie
auch immer gearteten Frankophilie im Normalfall
sogar aus. Sowohl die höheren Schulen (auch
vor dem katholischen Dionysianum in Rheine
stand ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal) als auch
die Universitäten waren im Kaiserreich eher
Brutstätten eines mehr oder weniger aggressiven
Nationalismus, den man unter dem Einfluss
genau so gesinnter Kommilitonen fern
der Alltagserfahrungen in der deutsch-französischen
Heimat nicht anders als selbstverständlich
empfinden mochte. Sollte – wovon wir ebenfalls
nichts wissen, was aber vor dem Start einer
akademischen Ausbildung in den 1890ern fast
als must have galt – Hector auch seinen Militärdienst
als Einjährig-Freiwilliger abgeleistet
haben, müsste das einen preußisch-deutschen
Patriotismus noch stärker fundamentiert haben.
Auch das Jahr mit dem Norddeutschen Lloyd hat,
anders als das heute gerne kommuniziert wird,
nicht per se zum Erlernen von Weltoffenheit im
modernen Sinne beigetragen: Sogar die zivilen
Passagierschiffe dampften im Zeitalter der wilhelminischen
Flotteneuphorie und der kurz vor
Hectors Dienstantritt beim Lloyd gehaltenen
Hunnenrede Wilhelms II. vor allem mit imperialistisch-kolonialem
Antrieb. Schließlich dürfte
es im Sinne eines beruflichen und kommunalpolitischen
Fortkommens im kaiserzeitlichen
Saarlouis besser gewesen sein, wenn man nicht
saargeschichte|n 19
zu sehr mit den französischen Stadtgründern
und deren Nachkommen sympathisierte. [3]
Wenn die zeitgenössischen Aussagen und in
deren Gefolge die Lokalgeschichte der historischen
Wahrheit nur einigermaßen nahekommen,
dann war Jakob Hectors »frankophile
Einstellung« schon recht bald nach dem verheerenden
Weltkrieg im Saarlouiser Land allseits
bekannt. Möglicherweise hat also der Weltkrieg
selbst zu einem Gesinnungswandel beigetragen.
Aber auch das muss vor dem Hintergrund des
allgemeinen Szenarios eine fast schon kontrafaktische
Spekulation bleiben. Denn erstens wissen
wir nicht, ob – und wenn ja: in welcher Form
– Hector überhaupt am Ersten Weltkrieg teilgenommen
hat; im August 1914 war er bereits 42
Jahre alt, damit allerdings prinzipiell noch wehrpflichtig.
Zieht man die Protokolle der Stadtverordnetenversammlungen
zu Rate, dann zeigt
sich, dass Hector – nachdem er bis dahin nie
gefehlt hatte – zwischen Juli 1914 und Herbst
1915 nur zweimal an Sitzungen teilnahm und wie
andere Kollegen während des Krieges des Öfteren
absent war. Möglich also, dass er als Arzt
jenseits der Front zeitweise gebraucht wurde,
unwahrscheinlich hingegen, dass er selbst – wie
das bei anderen manchmal vermerkt wurde –
[3] Zur Entstehung von Nationalismus in Schulunterricht:
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte.
Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis
zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München
1995, S. 405ff.; 938-945; 1002ff.; zum Lloyd vgl. Reinhold
Thiel. Die Geschichte des Norddeutschen Lloyd 1857–
1970 in fünf Bänden. Band II, 1884–1899, Bremen 2002;
Arnold Kludas, Die Seeschiffe des Norddeutschen Lloyd
1920 bis 1970. Band 2, Herford 1992.
fehlte, weil er »im Felde« [4] stand. Aber selbst
wenn Hector im aktiven Einsatz gewesen wäre,
hätte das nicht zwangsläufig »friedensstiftend«
gewirkt, haben die grausamen Fronterfahrungen
im Ersten Weltkrieg bekanntlich sogar eher dazu
beigetragen, die feindlichen Gefühle zwischen
Deutschen und Franzosen zu vergrößern, als sie
abzubauen. Kluge und humanitär gesinnte Köpfe
mochten damals, nach dieser »Urkatastrophe«,
über neue Wege der Völkerverständigung nachdenken.
Ohne allerdings die nationalen Prioritäten
dabei aufzugeben. Die Visionen des durch
und durch deutschen Sozialdemokraten Max
Braun haben dafür im Saargebiet ein gutes Beispiel
gegeben. Freilich glaubte Braun an ein
runderneuertes Europa mit seinen revolutionierten
Kernstaaten: einem (sozial)demokratisch
gewandelten Deutschen Reich und einem Frankreich,
in dem die imperialistisch-kapitalistischen
Kräfte endlich aus der bereits existierenden
Demokratie verschwunden sein würden. [5]
[4] Schon vor der Mobilmachung, am 16. Juli 1914, fehlte
Hector allerdings zum ersten Mal überhaupt. Die Frequenz
der Versammlungen nahm während des Krieges
nicht ab, die Zahl der abwesenden Verordneten lag jedoch
oft zwischen fünf und zehn Personen. In den späteren
Kriegsjahren wurden auch die entschuldigt und
unentschuldigt fehlenden Verordneten notiert, zu letzteren
gehörte Hector hie und da. (StA SLS, Beschlussbücher
1913–1920, S. 197 u. 481 als Beispiele für differenzierte
Anwesenheitslisten).
[5] Zu Max Braun, seinen nationalen und frühen europäischen
Vorstellungen vgl. ders., Unsere Hoffnungen und
Ziele, in: Fritz Kloevekorn (Hg.), Das Saargebiet, seine
Struktur, seine Probleme, Saarbrücken 1929, S. 549–555.
Im alten Saarlouiser
Rathaus (links, heute
ist hier die Buchhandlung
Bock &
Seip) lenkte Jacob
Hecor ein Jahr lang
als kommissarischer
Bürgermeister die
Geschicke der Stadt
Saarlouis. Im Haus
Nr. 7 (rechts neben
der Ludwigstraße;
heute Gebäude der
Sparkasse) befanden
sich nach 1946 Wohnung
und Praxis von
Dr. Hector. (StA SLS,
Sammlung Postkarten)
Beginn der
Besatzungszeit: Franz.
Truppen zu Fuß und
zu Pferde haben mit
Geschützen und
Fahrzeugen am 23.
November 18 auf dem
Großen Markt Aufstellung
genommen.
(StA SLS, Bildersammlung)
Zwischen Compiègne und Versailles
Als die französischen Truppen wenige Tage nach
dem Waffenstillstand im Saarland einzogen,
schienen diese Bataillone eher den alten Kräften
in Paris zu gehorchen. Obwohl mit Georges
Clemenceaus ein linksbürgerlicher Politiker die
Regierungsgeschäfte lenkte, blieben rechtskonservative
Kräfte mit oder ohne Regierungsamt
einflussreich, sie waren es vor allem auch,
die auf einen harten Kurs gegenüber dem Kriegsverlierer
Deutschland drängten. Ganz davon
abgesehen spielten die Militärs aller Nationen
ohnehin oft gerne nach eigenen, nicht unbedingt
auf friedliche Völkerversöhnung zielenden Regeln,
ein kalter Nachkrieg, der nicht selten auf Kosten
der Bevölkerung ging. Im Saargebiet, dessen
besondere Rolle in der Nachkriegsordnung sich
bereits in den ersten Monaten des Waffenstillstands
abzeichnete, gab es derartige Übergriffe
auch. Freilich hielten sie sich bei genauerem Hinschauen
doch in sehr viel zivilisierteren Grenzen,
als es die Zeitgenossen empfunden haben mochten
und als es der propagandistische Nachhall
der zwanziger Jahre nach außen vermittelte.
Was dem Konflikt seine besondere Schubkraft
gab, was ihn nachhaltig mit negativer Energie
auflud und die öffentliche Meinung mit den
schlimmsten Phantasien konfrontierte, das war
vor allem die nationale Frage. Oder präziser die
Frage des Nationalgefühls, jenes eigentlich erst
im 19. Jahrhundert entstandenen Sentiments,
das umso explosiver wirkte, je mehr es in einer
gleichsam physisch aggregierten Form daherkam.
Also buchstäblich körperlich spürbar war
und dementsprechend aus und mit der Natur des
Menschen begründet werden konnte. »Was denn
für Blut eigentlich in seinen Adern rollt«, fragte
der Leitartikler in der Saar-Zeitung mit einer
damals überhaupt nicht anders als rhetorisch zu
verstehenden Frage an die Adresse eines Kollegen
im frankophilen Saarlouiser Journal, »Internationales?«
[6] Weil Nationalität über Fleisch
und Blut definiert wurde, war es auch »natürlich«,
dass man nur eine einzige nationale Identität
haben konnte, und zwar diejenige, die einem
angeboren war, deren Wahrung aufs engste mit
der persönlichen Ehre zusammenhing und die es
notfalls unter Einsatz von Leib und Leben zu verteidigen
galt. Umgekehrt gab es in einer solchen
Gedanken- und Gefühlswelt, in einer buchstäblich
verkörperten Nationalität, viele Gefahren
der Verunreinigung und Infizierung mit Fremdkörpern,
die bis hin zu jener »Perversion« führen
konnten, die eigene Nationalität in Frage zu stellen
oder gar zu wechseln.
Um nationale Identität, um deren ehrenhafte
Verteidigung und die vielfältigen Gefahren,
denen sie ausgesetzt war, ging es auch in der
saarländischen Besatzungszeit 1918/19 – gerade
im preußisch-französischen Saarlouis. Am
21. November 1918, so erzählen es die Quellen
im Weißbuch der Regierung von 1921, verließen
die letzten deutschen Truppen Saarlouis, verabschiedet
von den Einheimischen mit Blumen,
Girlanden und Ehrenpforten. Wenige Stunden
später standen schon die Soldaten des französischen
Kriegsgewinners vor den Toren der Stadt,
um hier jedoch alles andere als einen triumphalen
Empfang bereitet zu bekommen. Nur wenige
Einheimische seien auf den Straßen gewesen, ein
einziger habe es gewagt, Vive la France zu rufen
– und der sei deshalb, so behauptete zumindest
die vox populi später, verprügelt worden. Das
Spiel um die Wahrung der nationalen Ehre, die es
umso mehr aufrecht zu erhalten galt, als man um
den militärischen Sieg scheinbar betrogen worden
war, ging am nächsten Tag weiter. Der von
den Franzosen geforderte Empfang von General
Lecomte am Saarlouiser Stadttor durch Bürgermeister
und Stadtverordnete wurde jedenfalls
verweigert, mit der bauernschlauen Begründung,
dass man auch preußischen Militärs niemals derart
entgegen gekommen sei. Im Gobelinsaal des
Rathauses standen Bürgermeister Dr. Peter Gilles,
der an diesem Tag in sein Amt eingeführt worden
war (nachdem tags zuvor die Amtszeit von
Dr. Karl-August Kohlen abgelaufen war) sowie
die Beigeordneten später aber doch zum Rencontre
mit dem General bereit. Der sprach zwar
demonstrativ von den ungezählten »Schandtaten
der Deutschen« im vergangenen Krieg,
[6] Saarlouis in Wahrheit – nicht Dichtung, in: Saar-Zeitung
Nr. 83 v. 12. April 20, S.1.
saargeschichte|n 21
zeigte ansonsten aber viel Entgegenkommen,
das die Saarlouiser Stadtväter mit der Versicherung
des loyalen Verhaltens ihrer Kommune
erwiderten. Der friedliche Neuanfang lief also gar
nicht so schlecht, wenngleich die Saarlouiser Bürger
auf den Straßen der Stadt den neuen Machthabern
eher die kalte Schulter zeigten. [7]
Um die Jahreswende 1918/19 wurden verschiedene
Sollbruchstellen in der vermeintlich
festgefügten »deutschen Front« des Saarlouiser
Landes immer deutlicher. Das hatte
zum einen seine historischen beziehungsweise
grenzüberschreitenden Gründe, wenn zum Beispiel
einige Familien sich ihrer französischen
Herkunft beziehungsweise des französischen
Ursprungs der Stadt Saarlouis erinnerten oder
auch deutsche Bewohner mit ehemals lothringischem
Wohnsitz und guten (wirtschaftlichen)
Beziehungen zur Grande Nation die Nähe der
Militärverwaltung suchten. Das hatte zum anderen
damit zu tun, dass diese Militärverwaltung
nun auf offiziellen und inoffiziellen Wegen, mal
mit Zuckerbrot, mal mit Peitsche, versuchte, die
Saarlouiser Bevölkerung auf einen Kurs heim ins
Frank-Reich zu bringen. Ob das kurzfristig auf
dem Weg der Annexion oder mittelfristig durch
das Votum der Saarländer selbst geschehen
sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch offen, war
außerdem eine Frage, deren international und
friedensvertraglich geregelte Sanktionierung
ja noch ausstand. Und so lange noch nicht klar
war, in welche nationale Zukunft das Land gehen
würde, war vieles möglich, sowohl bei den französischen
Machthabern wie bei den Bürgern von
Saarlouis.
Es ist schwer zu sagen, ob und inwieweit die
profranzösischen Aktivitäten dieser Übergangszeit
von oben gesteuert wurden oder auf die
persönlichen Initiativen frankophiler Persönlich-
[7] Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens
und des Vertrags von Versailles. Als
Weißbuch von der deutschen Regierung dem Reichstag
vorgelegt, Berlin 1921, hier die Nr. 3, S. 19–21. Die Amtseinführung
von Gilles nach StA SLS, Beschlussbuch der
Stadtverordnetenversammlung 1913–1920, S. 483ff.
keiten vor Ort zurückgingen.
Nicht selten wird beides
zusammen gewirkt haben,
wie es sich besonders bei
der Familie Fabvier nachvollziehen
lässt, deren Name
uns im Zusammenhang
mit der frankophilen Agitation
der ersten Nachkriegsjahre
immer wieder begegnet. Das sogenannte
schwarze Schloss, ein ursprünglich den Villeroys
gehörendes Wallerfanger Rittergut, bewohnten
die Fabviers seit dem 19. Jahrhundert, sie waren
im Saarlouiser Land von gewissem Einfluss und
griffen seit 1918 in Person des Leutnants Fabvier
als französische Militärverwalter aktiv ins
Geschehen ein. Das war auch im Rahmen jener
konzertierten Aktionen der Fall, mit denen man
Saarlouis und Umgebung Anfang 1919 auf einen
antipreußischen und profranzösischen Kurs zu
bringen gedachte. Aufrufe zum Boykott der Wahlen
zur Nationalversammlung, Unterschriftenlisten
für den Anschluss des Kreises Saarlouis an
Frankreich, Anträge auf Erhalt der französischen
Staatsbürgerschaft, diese allgemeinen und viele
individuellen Maßnahmen gehörten ins Portfolio
der aktiven Frankreichstrategie der Jahre
nach 1918. Argumentativ unterfüttert wurden
diese Initiativen stets mit historischen, rechtlichen,
politischen und ökonomischen Gründen:
mit dem französischen Ursprung Saarlouis’, mit
dem »widerrechtlichen Raub« von 1815, mit der
preußischen Unterdrückung des katholisch-französischen
Landkreises, nicht zuletzt mit den düsteren
wirtschaftlichen Perspektiven, die im Fall
eines Verbleibs im Deutschen Reich drohten.
Quantitativ betrachtet fand die französische
Werbung im Saarlouiser Landkreis nur einen
ziemlich bescheidenen Widerhall. Gleichwohl
stieg die Unruhe mit der Ungewissheit
über die eigene Zukunft; sie wurde zudem
befeuert von der dramatischen Zuspitzung bei
den Saarverhandlungen von Versailles. Frankreichs
Annexionsansprüche und Wilsons Selbstbestimmungsvision
waren hier ziemlich schroff
aufeinandergeprallt und konnten erst nach harten
Kontroversen in eine Kompromisslösung
gegossen werden.
Clemenceaus Diktum von den angeblich 150.000
im Saargebiet lebenden Franzosen hallte lange
nach, bot vor allem in den ersten Monaten des Jahres
1919 den Hintergrund für die gesteigerten Agitationen
im französischen Saarlouis. Ob sie nun
als gesamtsaarländische Nachkommenschaft
der »ursprünglichen« Saarfranzosen gedacht
Im »Schwarzen
Schloss« in Wallerfangen
lebte die
franz. Familie Fabvier
seit dem 19.
Jahrhundert. Das
Bild aus den 1920er
Jahren zeigt das
Anwesen in marodem
Zustand.
(LA SB, Bildersammlung)
Im Mittelpunkt des
Großen Marktes, der
seinerseits das Zentrum
der Stadt des
Sonnenkönigs war,
stand die französische
Militärkommandatur.
Der Stich aus dem 19.
Jahrhundert zeigt den
alten Paradeplatz zu
einem Zeitpunkt, als
er bereits in preußische
Herrschaft übergegangen
war. (LA SB,
Bildersammlung)
wurden oder ob man sie mit den Bewohnern
des Landkreises identifizierte, jedenfalls ergab es
durchaus einen Sinn, wenn man entsprechende
Bekenntnisse für die Pariser Politik ausgerechnet
in Saarlouis suchte. Denn hier konnte man auf
gewisse historische Fakten verweisen, hier konnte
der Wunsch nach Angliederung an Frankreich
zumindest einigermaßen glaubhaft als Ausübung
des Selbstbestimmungsrechtes interpretiert
werden. [8]
Von März bis Mai 1919, während in Versailles
die kontroversen Verhandlungen und die
schwierigen Entscheidungen über die Saarfrage
anstanden, spitzte sich die Lage in Saarlouis
dramatisch zu. Auf der einen Seite erhöhte
die Militärkommandantur erheblich den Druck,
forderte Loyalitätsbekundungen ein, nahm
Einfluss auf die Berichterstattung der Presse,
behauptete öffentlich, dass die Entscheidung
für eine französische Zukunft Saarlouis’ bereits
gefallen sei, wollte einen vorgesehenen Empfang
für Marschall Foch so gestaltet wissen, dass
Saarlouiser Kinder Blumen überbrächten und
Gedichte aufsagten, während ein Chor von Einheimischen
die Marseillaise singen sollte. Auf
der anderen Seite begegneten Parteien, Verbände
und Verwaltungen den französischen
Herausforderungen mit Bekenntnissen ihres
[8] Zu den Saarverhandlungen auf der Friedenskonferenz
vgl. Helmut Hirsch, Die Saar in Versailles. Die Saarfrage
auf der Friedenskonferenz von 1919, Bonn 1952; jetzt
auch die Einordnung im Rahmen des gesamten Friedensprozesses:
Saarland und Fiume, Schantung und
Kleinasien. Die Krise der Konferenz im April 1919, in: Jörn
Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die
Welt 1918–1923, München 2018, S. 819–837.
Deutschtums. So etwa in einer Kundgebung am
7. März, in dem der »unabänderliche Willen der
Bevölkerung, am deutschen Vaterland festzuhalten«
artikuliert wurde. »Weder die zwangsweise
Einführung des französischen Unterrichts
in allen Schulen, weder die Zusicherung finanzieller
und wirtschaftlicher Vorteile, weder die
französischerseits veranstalteten Propagandaversammlungen
und Werbungen, weder die
gewaltsame Unterdrückung von Äußerungen
deutscher Gesinnung, noch die Knebelung
unserer Presse (…) werden uns in unserer
Anhänglichkeit und Treue gegen das Deutsche
Reich wankend und zum Anschluß an Frankreich
zu bewegen vermögen.« Ein Bekenntnis, das der
Kreistag von Saarlouis gut drei Wochen später
»in der jetzigen Schicksalsstunde« mit ähnlichen
Worten bekräftigte. [9]
Der spektakuläre Höhepunkt der Kontroverse
um die nationale Frage von Saarlouis hatte allerdings
bereits zwei Wochen zuvor in und um das
Rathaus der Kreisstadt stattgefunden. Am 14.
März war Major Delévaque, Adjutant des Stadtkommandanten
Poulet, bei Bürgermeister Gilles
erschienen. Er behauptete, dass Saarlouis faktisch
bereits französisch sei, dass Marschall Foch kommen
würde, um die entsprechende Proklamation
zu vollziehen, und fragte das Stadtoberhaupt,
was die Stadt in diesem Fall zu tun gedenke. Gilles
erwiderte, dass er diese Frage nur nach Konsultation
mit dem Stadtrat beantworten könne,
der Adjutant stimmte zu und sagte sein persönliches
Kommen zur Entgegennahme dieser Antwort
in der Stadtverordnetenversammlung am
[9] Weißbuch (wie Anm. 7), Nr. 9, S.31f.; die Kundgebung des
Kreistages vom 31. März in Nr. 16, S. 40.
saargeschichte|n 23
17. März zu. In den Tagen dazwischen
tagte das städtische Kollegium drei
Mal, um eine entsprechende Resolution
zu verabschieden. Keine leichte
Aufgabe, zumal es auch innerhalb des
Rates disparate Meinungen dazu gab.
Nachdem ein diplomatisch ziemlich
geschickter Entwurf gefunden war,
der sowohl der Größe der französischen
Nation huldigte als auch, daraus
abgeleitet, eine Lanze für das
(deutsche) Selbstbestimmungsrecht
der Saarlouiser brach, fiel der Showdown
im letzten Moment doch aus. Oberst
Poulet verbot die von ihm nicht genehmigte
Stadtverordnetenversammlung und rügte das
eigenmächtige Vorgehen seines Adjutanten.
Hunderte Saarlouiser Bürger, die sich auf dem
Markt vor dem Rathaus versammelt hatten, ließen
daraufhin vielfache Hurra-Rufe hören und
sangen Deutschland, Deutschland über alles. [10]
Der nur knapp verhinderte Eklat und die eindeutige
Positionierung der Saarlouiser Stadtväter
hatten Konsequenzen politischer und
persönlicher Art. General Andlauer, seit dem 24.
Januar Chef der französischen Militärverwaltung
im Saargebiet, erschien an mehreren Tagen in der
Stadt, um sich in persönlichen Gesprächen ein
Bild von der Lage zu machen. Adjutant Delévaque
und sein Helfer, Leutnant Collong, wurden sofort
von ihren Aufgaben entbunden, später auch der
Stadtkommandant Poulet. Bürgermeister und
Landrat von Saarlouis, die beiden ranghöchsten
Saarlouiser in diesem Drama, sollten zwei Monate
später ebenfalls ihr Amt verlieren: Wiewohl bis
zum Mai noch einige schwerwiegende Konflikte
gefolgt waren, dürfte seit dem neuralgischen
Märztag ihr Weg ins politische Abseits vor-
[10] A.a.O., S. 32.
gezeichnet gewesen sein. Auf
der anderen Seite begann an diesem Tag vermutlich
der politische Aufstieg jenes Mannes,
der mit der Resolution seiner deutschen Stadtratskollegen
vom 17. März nicht so ganz einverstanden
gewesen war.
Dr. Hector oder: wie er gelernt haben könnte,
den Erbfeind zu lieben
Wann und wo ist der Funke übergesprungen?
Wie kam es, dass Jakob Hector nach einer eindeutig
preußischen Sozialisation und in einem
Nachkriegsklima, das im Saarlouiser Land ein
kerndeutsches Bekenntnis fast gebieterisch verlangte,
mit französischen Stellen zu kooperieren
begann? Waren es persönliche Erlebnisse als Arzt
während des Weltkrieges gewesen, die ihn frankreichfreundlich
stimmten? Brachte ihn, ähnlich
wie den aus Saarlouis stammenden Geheimrat
Muth zur gleichen Zeit, sein tiefer Katholizismus
dazu, im Vergleich mit dem protestantischen
Preußen die Vorzüge des katholischen Frankreich
zu entdecken? Immerhin stammte Jakob
aus einer strenggläubigen Familie, immerhin war
er selbst Präsident katholischer Studentenverbindungen
gewesen, immerhin hatten sich einige
Kreise im katholischen Saarlouis schon lange
General Andlauer,
Chef
der französischen
Militärregierung
an
der Saar seit Januar
1919, war ursprünglich
als Präsident
der Regierungskommission
im
Gespräch und blieb
dem Saarland lange
verbunden. Die Aufnahme
zeigt Andlauer
zusammen
mit dem französischen
Außenminister
Bidault bei einem
Festakt auf Schloss
Halberg am 20.
Dezember 1952. (LA
SB, Sammlung NPress
Act)
Gedruckte Proklamation
General
Andlauers vom 20.
April 1919 (LA SB,
Plakatsammlung)
Das »neue« Landratsamt
am Kaiser-
Friedrich-Ring war
ein Epizentrum
preußisch-deutscher
Nationalkultur – auch
während der Auseinandersetzungen
um die Zukunft
Saarlouis‘ nach dem
Ersten Weltkrieg.
(StA SLS, Postkartensammlung)
gegen die Bevormundung durch das protestantische
Saarbrücken gewehrt. Hatte der bestens
vernetzte »Stadtarzt« Hector im Laufe seiner (bis
dahin) fast zwanzig Saarlouiser Jahre besondere
Beziehungen zu französischen und frankophilen
Familien der Region aufgebaut? Oder nutzte er
einfach »nur« die Gunst der Stunde, um einen
ihm notwendig erscheinenden Politikwechsel
einleiten zu können und dabei selbst an die Spitze
der Stadt vorzurücken? [11]
Dass »die Ursachen des Falles Hector (…) nichts als
die verständlich menschliche Schwäche des biederen
praktischen Landarztes (waren), einmal aus
der Enge des täglichen ärztlichen Einerlei herauszukommen,
ins Rampenlicht der Öffentlichkeit
zu rücken und eine politische Rolle zu spielen«,
das scheint aber dann doch viel zu kurz und zu
pejorativ gegriffen. Namentlich dokumentiert
tritt Hector erstmals im Zusammenhang mit
der eben zitierten Note der Stadtverordneten
vom 17. März 1919 als »frankophiler« Politiker in
Erscheinung. Neben dem jüdischen Kaufmann
Henry Cahn, so wird es im »amtlichen Bericht«
[11] Tatsächlich könnte der Katholizismus bei frankophilen
Bestrebungen der Nachkriegszeit eine größere Rolle
gespielt haben, als das meist gesehen wird. Geheimrat
Johann Peter Muth hatte im Frühsommer 1919 bereits
ein entsprechendes Schreiben nach Paris gesandt,
in dem die Segnungen französischer Politik seit der
Zeit Ludwig XIV. aufgezählt und den »Unterdrückungen«
durch das protestantische Preußen gegenübergestellt
wurden. Muth war als Bürger von Saarlouis im
August 1870 aus seiner Heimatstadt ausgewiesen worden,
weil er mit seiner Verwandtschaft zuvor an einer
Marschall-Ney-Feier teilgenommen hatte. Im Juni 1919
unterzeichneten die führenden Zentrumsfunktionäre
von der Saar ein Schreiben, in dem dafür plädiert wurde,
Muth zum saarländischen Mitglied der künftigen
Regierungskommission zu küren. Vgl. dazu: Dokumente
zur Zeitgeschichte des Saarreviers, in: SZ v. 18. April
1920 sowie als Replik darauf : Veröffentlichung von Dokumenten,
in: Saarzeitung v. 20. April 1920.
festgehalten, sei er der einzige aus dem Kreis von
25 Ratsherren gewesen, der zunächst gegen das
Papier gestimmt hatte, bei der Endfassung dann
aber doch zur einstimmigen Geschlossenheit des
Stadtrates beitrug. [12]
In den Wochen danach wurde das Klima der
nationalen Konfrontation noch rauer, trotz der
bereits erwähnten Ablösung der Saarlouiser
Militärkommandanten. Während in Versailles
die Saarfrage auf des Messers Schneide stand,
begann auf den Saargruben eine weitere große
Streikwelle, es ging um Lohnfragen und Arbeitszeit.
Die Militärverwaltung ließ die Bergleute
requirieren, erklärte den Belagerungszustand,
wies schließlich Anfang April über 400 Streikende
aus, darunter etwa 100 aus dem Landkreis
Saarlouis. Und in der Kreisstadt selbst ging
es weiter mit einer Politik der Nadelstiche, diesmal
mit überaus symbolträchtigen Angriffen auf
das Kulturgut der Stadt. Die 18 Gobelinstühle
aus der Zeit Ludwigs XIV. ließ der neue Kommandant
de Job requirieren, einige Tage später
sogar die Wandbehänge aus Gobelin im Rathaus
abmontieren, außerdem sollten ein Schrein
mit Medaillons sowie das Stadtarchiv mit alten
Bildern und Urkunden in die Hände der Franzosen
übergehen. Mit Gobelinstühlen und Wandbehängen
war das beschlagnahmt worden,
was die Stadt »1/4 Jahrtausend als ihren wertvollsten
Schatz gehütet und geschätzt« hatte. [13]
So jedenfalls bezeichnete es Bürgermeister Gilles,
der die Wegnahme nur unter scharfem Protest
zuließ, die die Deutsche Waffenstillstandskommission
darüber benachrichtigte, worauf
diese eine offizielle Protestnote bei der interalliierten
Kommission einreichte.
[12] Undatiertes und unbenamtes Schreiben, in: LA SB, NL
Schneider 239; Weißbuch Nr. 14, S.38. Interessanterweise
sind die entsprechenden Passagen über diese Dissonanz
in der Stadtversammlung nicht in den Beschlussbüchern
festgehalten.
[13] Weißbuch Nr. 17, S. 42.
saargeschichte|n 25
Sechs der damals insgesamt
18 Gobelinsessel
aus dem
Saarlouiser Rathaus,
die als eine Folge
der gescheiterten
Frankreichpolitik der
Besatzungszeit für
eine Weile aus der
Stadt verschwanden
waren. Die Aufnahme
stammt aus der Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg.
(LA SB, Bildersammlung
HV)
Die Beschlagnahmung der kostbaren Kulturgüter
aus der französischen Gründungszeit von
Saarlouis war eine in ihrer Deutlichkeit kaum zu
überhörende politische Botschaft. Nachdem sich
Bewohner und Offizielle der Stadt zuvor mit vielen
kerndeutschen Worten stets gegen die französischen
Werbungen gewehrt hatten, nachdem
in Versailles über die nationale Zukunft des Landkreises
de facto bereits entschieden war, zeigten
die Militärs vor Ort, dass die Saarlouiser dann
künftig auch nicht mehr mit der besonderen
Unterstützung aus Paris zu rechnen hatten. Das
war genau der Zeitpunkt, zu dem sich der Stadtverordnete
Hector offenbar genötigt sah, aktiv zu
werden und für eine neue Stadtpolitik einzutreten.
Am 16. April, einen Tag nach der Konfiszierung der
Gobelinstühle, erschien er bei Bürgermeister Gilles
»und erklärte ihm, es sei an der Zeit, die von
der Stadt zu vertretende Politik endlich anders
zu orientieren. Er habe den Eindruck, daß nach
den Vorgängen vom 17. März das Verhältnis zwischen
Besatzung und Stadt getrübt sei.« Da Hector
die unmittelbare Zukunft seiner Stadt noch
für offen hielt, meinte er sogar, dass im deutschen
Saarlouis noch starke Erinnerungen an die
französische Zeit herrschten und dass, falls die
Stadt an Frankreich fallen sollte, in 10 bis 15 Jahren
niemand mehr merken würde, dass die Kommune
einmal deutsch gewesen sei. Schließlich
verlautbarte er gegenüber Bürgermeister Gilles
sogar »die Überzeugung, daß Sie zum Nachteil
von Saarlouis die Stadt regieren«. [14]
Solche Worte waren im April 1919 natürlich ziemlich
starker Tobak – sowohl, was den Frontalangriff
gegen das Stadtoberhaupt betraf, als auch
und vor allem hinsichtlich der Gewissheit, die
preußisch-deutschen Nationalfarben von Saarlouis
problemlos wieder gegen die blau-weißroten
zurücktauschen zu können. In den darauffolgenden
Tagen forcierte Hector sogar noch
seinen politischen »Borderline«-Kurs, wollte bei
Gilles die Einrichtung einer städtischen Kommission
erreichen, die in Versailles antichambrieren
sollte, um für alle der drei möglichen Zukunftsfälle
von Saarlouis gewappnet zu sein. Im Fall
der Rückkehr zu Frankreich sollte die Saarlouiser
Abordnung die größtmögliche Unterstützung für
die Stadt in Paris erwirken, im Falle der Neutralität
für einen Anschluss an Frankreich werben (weil
sonst Saarlouis binnen 15 Jahren wirtschaftlich
ruiniert sei), im Falle des Verbleibs bei Deutschland
gar nichts tun müssen. Die Beigeordneten
der Stadt und ihr Bürgermeister waren, wie nicht
anders zu erwarten, gegen die politische Strategie
des Jakob Hector. Der sich daraufhin, so
erzählt es der amtliche Bericht, »frostig« aus dem
Rathaus entfernt habe. [15]
Die plötzliche Vorliebe des Dr. Hector scheint
ungeachtet aller zeitgenössischen und historischen
Unkenrufe eher einer pragmatischen Einsicht
in Notwendigkeiten und Möglichkeiten
der Stadtpolitik als einem quasi libertären
Umgang mit nationalen Gefühlen geschuldet
gewesen zu sein. Trotz aller auch unter französischer
Militärherrschaft riskant bleibender
Exponierung in der nationalen Frage respektierte
Hector in letzter Konsequenz eben doch
die deutsche Staatsräson von Saarlouis, wollte
sich ebenso selbstverständlich dem schicksalshaften
Urteil von Versailles fügen, suchte nicht
bedingungslos den Anschluss an Frankreich,
trat auch bei den vielen Bemühungen franko-
[14] Weißbuch Nr. 18, S. 44.
[15] ebda.
Die Karte vom Cours
de la Sarre von 1703
zeigt die französische
Saarprovinz mit ihrer
»Hauptstadt«, der
Festungsstadt Saarlouis
(LA SB, Kartensammlung
Hellwig)
philer Kräfte bis zum Frühjahr 1919 nie namentlich
in Erscheinung. Nicht einmal nach der
Abfuhr, die er sich bei Bürgermeister Gilles und
den Beigeordneten geholt hatte: Die Saarlouiser
Abordnung, die am 19. April für eine Woche mit
Unterstützung der Militärregierung nach Paris
reiste, tat dies ohne den sich immer deutlicher
Frankreich nähernden Arzt vom Großen Markt. [16]
Dass diese Annäherung in einem reziproken Verhältnis
zur Distanzierung von Gilles’ »deutschem«
Konfrontationskurs (so dürfte ihn jedenfalls Hector
gedeutet haben) geschah, ist mehr als wahrscheinlich.
Ebenso wie die nicht durch Quellen zu
stützende Vermutung, dass Hector bei der zweiten
Saarlouiser Delegationsreise nach Paris, die
nur wenige Tage nach der ersten stattfand, mit
an Bord gewesen sein könnte.
Jedenfalls kam es genau nach diesem zweiten
Saarlouiser Bittgang gen Süden zu einem von
Frankreich gewünschten Machtwechsel im Rathaus.
Am 28. April hatte Dr. Gilles noch seine
Protestnote gegen die Requierierung der Wandbehänge
und eine entsprechende Eingabe an die
deutsche Delegation in Versailles unterschrieben,
wenige Tage später war er bereits abgesetzt und
durch Dr. Hector kommissarisch ersetzt worden.
Am 12. Mai wurde er gar gemeinsam mit
dem Saarlouiser Landrat ins Rechtsrheinische
ausgewiesen, folgte damit einigen unbeliebt
[16] Weißbuch Nr. 19, S. 45f. Allerdings wird ebda., Anm. 2,
auch erläutert, dass man sich bei einer Vorbesprechung
dieser Reise darauf geeinigt hatte, dass nach den Vorkommnissen
des 17. März kein Stadtverordneter unter
den Delegierten sein solle.
gewordenen Mitbürgern, die schon eine Woche
zuvor die Reise ins unfreiwillige Exil hatten
antreten müssen. Wie sehr der neue Bürgermeister
Hector die Unterstützung Frankreichs
besaß, wurde spätestens am nächsten Tag ganz
klar. Am 13. Mai nämlich wurde er auch offiziell
vom Stadtrat zum neuen Stadtoberhaupt
gewählt, nachdem der in der Sitzung anwesende
Leutnant Fabvier zuvor erklärt hatte, dass General
Andlauer wünsche, dass Hector in dieses Amt
gewählt würde. 20 von 22 anwesenden Stadtverordneten
folgten diesem »Wunsch« und der
gebürtige Saarlouiser Fabvier sprach danach
seine Hoffnung aus, dass nun in der Stadt wieder
mehr Ruhe einkehren möge. Jakob Hector nahm
das Ergebnis der geheimen Abstimmung dankbar
an. [17]
Das gute Jahr, das Hector als Saarlouiser Bürgermeister
verbrachte, war nicht gerade eines, in
dem man die Stadt vom Ruhekissen aus regieren
konnte. Erst recht nicht dann, wenn man wie Hector
weiterhin auch seinem bürgerlichen Beruf als
praktischer Arzt nachging. Da waren zum einen,
wie die überlieferten Protokolle und Berichte
von den Stadtverordnetenversammlungen ausweisen,
die vielen elementaren Probleme, die die
Kommune nach dem langen Krieg zu bewältigen
hatte. Lebensmittelknappheit, Wohnungsnot,
die mangelhaften Verhältnisse von Straßen und
Infrastruktur, die Not der Gewerbetreibenden,
verschärft durch die Folgen von Streiks und
[17] Weißbuch Nr. 24, S.49. Dieser Bericht entspricht dem
Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 13.
Mai 19, vgl. Beschlussbuch 1913–1920, S. 540ff.
saargeschichte|n 27
Teuerungskrise, schließlich auch noch ein Hochwasser
im Januar 1920, das Teile der Stadt regelrecht
absaufen ließ. Nicht zu vergessen die
Umstellung auf Friedenswirtschaft und -politik,
was erst im Frühjahr 1920 erreicht wurde,
nachdem die Militärregierung auf Kreis- und
Kommunalebene ihre Verwaltung aufgegeben
hatte. Über all dem schwebte die große nationale
Frage, die Hector offenbar stets in sozio-ökonomischer,
in landes- und kommunalpolitischer
Perspektive begriff. Und von der er daher glaubte,
dass sie zum Wohle seiner Stadt am besten gelöst
wäre, wenn sie im engen Schulterschluss mit
dem französischen »Heimatland« von Saarlouis
realisiert würde. In diesem Fall, so dachte Hector
wohl tatsächlich, könnte es sogar gelingen, die
Vorherrschaft des preußisch-protestantischen
Saarbrücken zu beenden und Saarlouis von der
heimlichen zur wirklichen Hauptstadt der neuen
Saar-Lande zu machen.
In Saarlouiser Optik ergab ein nationaler Salto
rückwärts in die französische Vergangenheit
genau deshalb einen Sinn, weil die erhoffte kapitale
Zukunft so in der Geschichte ihre Legitimation
erhielt: Schließlich war Saarlouis ja schon
zwischen 1680 und 1815 die »Hauptstadt« eines
französisch dominierten Saarraumes gewesen.
Exakt auf dieser Basis argumentierte auch eine
Denkschrift sowie ein Begleitschreiben, die Hector
wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf
den Weg nach Paris bringen ließ. »Diese Stadt«,
so heißt es in dem Schreiben vom 24. Juli 1919,
»die nach Absicht ihres Gründers die gegebene
Hauptstadt der Saarprovinz war, steht Gefahr,
durch die unbestreitbar preußische Stadt Saarbrücken
aus ihren Rechten verdrängt zu werden.«
Deswegen baten Bürgermeister und Stadtverordnete
in der Denkschrift die »hohe Regierung«
– Adressat war die damals erst noch zu schaffende
Regierungskommission – »Saarlouis zum
Sitz des Regierungsausschusses und des obersten
Gerichtshofes des neuen Saarstaates zu
machen.« Außerdem wünschten die Saarlouiser,
auch Bischofssitz, (französische) Garnisonsstadt,
Verkehrsknotenpunkt und schließlich Sitz einer
neu zu errichtenden technischen Fach(hoch)
schule zu werden. Wäre all dies wie von Hector
1920 gewünscht Realität geworden,
würde wahrscheinlich auch das Saarland
von heute ein anderes Gesicht
haben. [18]
Es war also nicht gerade wenig, was
man sich da an der mittleren Saar für
die staatliche Zukunft mit der wohlwollenden
Unterstützung aus Paris
erhoffte. Um der Sache den nötigen Nachdruck
zu verleihen, wurde deshalb auch die Übergabe
der Denkschrift in Versailles beziehungsweise
Paris zur Chefsache erklärt. Hector stand selbst
an der Spitze einer kleinen Saarlouiser Delegation,
um Premierminister Clemenceau und seinem
engsten Mitarbeiter auf der Friedenskonferenz,
André Tardieu, am 1. August 1919 persönlich die
Wünsche der Stadt Louis’ XIV. darzulegen. [19]
Die Eisenbahnfrage, die auf der Saarlouiser Agenda
nicht zuletzt wegen der gewünschten Direkt-
[18] Das Begleitschreiben zitiert nach: N.N., Prozeß Dr. Hector
gegen die »Saarbrücker Zeitung«, in: SZ v. 23. März
23; ein gedrucktes Exemplar der Saarlouiser Denkschrift
(»Die Zukunft der Stadt Saarlouis«) in: LA SB, NL
Schneider 239.
[19] Nach Schu, Chronik (wie Anm. 1) , S. 109, verweigerten
die (meisten) Stadtverordneten dem Bürgermeister die
Begleitung anlässlich der Übergabe in Paris. Das deutet
bereits auf das Zerwürfnis zwischen Versammlung
und Hector hin, das im Prozess von 1923 dann in aller
Öffentlichkeit dargelegt wurde.
Ausweisung von Saarländern
durch die
französische Militärverwaltung,
hier in
Sulzbach im Sommer
1919. (LA SB, BSlg HV)
Der französische
Premier- und Kriegsministers
Georges
Clemenceaus, Widerpart
des amerikanischen
Präsidenten
Wilson auf der Versailler
Konferenz, ist
mit seinem Diktum
von den »150.00
Saarfranzosen« auch
in die saarländische
Geschichte eingegangen.
(wiki commons)
verbindung nach Paris einen besonderen Platz
einnahm, wurde auf einen entsprechenden französischen
Vorschlag hin sogar mit einer eigenen
Denkschrift kommuniziert; auch das ein sicheres
Indiz für den kurzen Draht, der damals zwischen
der saarländischen Möchtegern- und der französischen
Hauptstadt existierte. Um das große Ziel
zu erreichen, hängte sich die Stadtführung unter
Hector ziemlich weit aus dem nationalen Fenster,
betonte nicht nur ständig die historische Verbindung
zwischen Paris und Saarlouis, sondern
ließ in der französischen Version der Denkschrift
auch Sätze fallen, die so in der Urschrift nie zu
lesen waren und die ganz klar eine viel weitergehende
Liaison für die Zukunft assoziierten. Zu
klar wurden damit die damals gültigen nationalen
»Grenzwerte« überschritten, mit Folgen, die
Jakob Hector schon bald zu spüren bekommen
sollte.
Hectors Jahr als Bürgermeister war das Jahr, in
dem sich die Zukunft des Saargebietes und diejenige
von Saarlouis konkretisierten. Und in beiden
Fällen geschah das in einer Richtung, die
der Pachtener nicht unbedingt gewünscht hatte,
gegen die sich seine grenzüberschreitenden
politischen Aktivitäten eigentlich gerichtet hatten.
Im Sommer 1919 war es das Saarstatut des
Versailler Vertrages, das ihn zur Intervention in
Paris motiviert hatte, im Januar 1920 das Inkrafttreten
des Statuts und der Regierungsantritt der
Mandatsverwaltung, die ihn noch einmal zur
Grenzüberschreitung animierten. Fast schon ein
wenig verzweifelt klang es am 15. Januar 1920 –
zu einem Zeitpunkt, da die Würfel längst gefallen
waren –, wenn in einem handschriftlichen Brief
Hectors, den vorgeblich alle Saarlouiser Stadtväter
an den »Herrn Ministerpräsidenten und
Kriegsminister« Clemenceau richteten, wenn
also scheinbar alle Saarlouiser Ratsherren ihrer
»sicheren Hoffnung Ausdruck (gaben), daß Frankreich
ihrer Stadt, die über ein Jahrhundert lang
wegen ihres Ursprungs und ihrer Zuneigung zu
Frankreich von Preußen boykottiert wurde, helfen
wird, wieder in ihre historischen Rechte eingesetzt
zu werden.« Wenn in einem an die französische
Regierung adressierten Brief darum
gebeten wird, Saarlouis dabei zu helfen, wieder
in seine historischen Rechte eingesetzt zu werden,
dann war das zweifelsohne mehr als eine
geschichtliche Reminiszenz, und entsprechend
eindeutig wurde dieser Hilferuf später auch von
jener Seite verstanden, die alles andere als eine
Annäherung an Frankreich wünschte. [20]
[20] Zitat nach »Prozeß Dr. Hector«, a.a.O. (wie Anm.18).
Immerhin hat die Regierungskommission unter
ihrem französischen Präsidenten Victor Rault
das Saarlouiser Flehen insoweit erhört, als der
im Versailler Vertrag für das Saargebiet vorgesehene
Oberste Gerichtshof tatsächlich in die
alte Festungsstadt kam. Einen Tag nach ihrem
Amtsantritt, am 27. Februar 1920, wurde diese
Entscheidung der Reko publiziert, und natürlich
wurde das in der Saarlouiser Öffentlichkeit
auch als Punktsieg gegen den preußischen Rivalen
aus Saarbrücken gefeiert.[21] Gleichwohl war
das höchstens ein Trostpflaster im Vergleich zu
dem Programm, das in Hectors Denkschrift für
die Zukunft der Stadt des Sonnenkönigs entworfen
worden war. Von einem Regierungs- oder
Bischofssitz blieb Saarlouis weit entfernt, und
auch eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen
Situation war durch französische Protektion
nicht zu erwarten. Vielleicht hat dieses
magere Ergebnis mit dazu beigetragen, dass sich
der lokale Widerstand gegen Hectors riskanten
Kurs just seit diesem Zeitpunkt formieren und
bald lautstark artikulieren konnte. Allerdings
konnte sich die volle Wucht des kerndeutschen
Nationalgefühls erst gegen den Bürgermeister
und späteren Minister entladen, als die französische
Militärmacht langsam an Bedeutung verlor
– und Stück für Stück bekannt wurde, wie sehr Dr.
Hector mit den Franzosen 1919/20 geflirtet hatte.
Rücktritt kommt vor dem Fall
Der politische Fall des Dr. Hector nahm bereits Formen
an, als sein politischer Aufstieg noch bevorstand.
Nur durch die Gerichtsverhandlungen von
1923 wissen wir überhaupt, was da wie zu Beginn
des Jahres 1920 seinen Lauf nahm und warum es
schließlich nicht mehr zu stoppen war. Das Verhängnis
begann mit den beiden Begleitschreiben
zu den Pariser Eingaben, die Hector ohne Wissen
und Wollen der gewählten Stadtverordneten
schrieb oder verfassen ließ. Letztlich fatal waren
für ihn außerdem seine mangelhaften, eigentlich
kaum existenten Französischkenntnisse, die
ihn zum einen von kompetenten Übersetzern
abhängig, zum anderen die persönliche Kontrolle
über das Ergebnis der Übersetzung unmöglich
machten. Schon von daher gab es zu viele Mitwisser
von einem Unternehmen, das zumindest
im Saargebiet eigentlich als undercover-Aktion
angelegt war. Wenigstens zwei Übersetzerinnen
waren allein für das zweite Schreiben im Spiel, und
außerdem gab es da auch noch die Stenotypistin
[21] Vgl. den Leitartikel »Saarlouis – Saarbrücken« in der
Saarzeitung vom. 13. März 20.
saargeschichte|n 29
Auch die Sozialisten
im Reich protestierten
energisch gegen
den »Raub des deutschen
Saargebiets«,
hier auf einem Plakat
des »Werbedienstes
der sozialistischen
Republik« von 1919.
(Sammlung Gerhard
Paul)
Frau Jost, die im Prozess 1923 aussagte, dass es
»empörend für eine deutsche Frau (gewesen
sei), solche Briefe schreiben zu müssen«. [22]
Die Empörung über »solche Briefe«, die sich für
einen »deutschen Saarlouiser« nicht gehörten,
teilten wohl noch so einige Mitbürger der Stadt.
Sogar vor der unmittelbaren Umgebung des
Bürgermeisters machte sie nicht halt, schuf
undichte Stellen im Zentrum der städtischen
Macht. Aus dem Schreibtisch des Bürgermeisters
wurden jedenfalls irgendwann zwischen Januar
und März 1920 einige delikate Briefe gestohlen,
darunter auch die beiden hier angezeigten
Begleitschreiben, das eine sogar in Hectors
[22] Der Hectorprozeß. Fünfter Verhandlungstag, in: SZ v. 6.
März 23.
Originalhandschrift. Und diese beiden »Briefbomben«
landeten dann auf unbekanntem Wege
ausgerechnet in den Händen des jungen Joseph
Goergen, damals Jurastudent und Mitarbeiter
eines juvenilen Redaktionsteams der Saarzeitung,
die ebenso forsch die Sache des katholischen
Zentrums wie die eines kerndeutschen
Saargebiets vertrat.
Der ältere Bruder von Joseph Goergen, auch er
Jurist, war als Justitiar von Saarlouis pikanter
Weise die rechte Hand von Dr. Hector und Autor
der deutschen Fassung jener Denkschrift, die
im Sommer 1919 zwar an die kommende Saarregierung
adressiert war, recht eigentlich aber
Augen und Ohren der französischen Regierung
erreichen sollte. Honi soit qui mal y pense, aber
in diesem Fall lag das Schlechte einfach zu nahe,
Kleinanzeigen
und redaktionelle
Erklärung aus der
Saarlouiser Saar-Zeitung
vom April 1920.
weswegen der ältere Goergen quasi selbstverständlich
in Verdacht geriet, die kompromittierenden
Briefe gestohlen und seinem jüngeren
Bruder zugespielt zu haben. Er mochte sich gegen
diesen Verdacht noch so sehr wehren (und später
im Prozess auch unter Eid beschwören, dass er die
Schriften nicht geleakt hatte), der Bürgermeister
und die französische Militärregierung glaubten
ihm offenbar nicht, und so wurde der ältere
Goergen nicht nur seinen Job, sondern für sieben
Monate auch seine Aufenthaltsgenehmigung
im Saargebiet los. Eine Ausweisung, die die Zahl
von Hectors Gegenspielern aber im Endeffekt
erhöhte – statt sie wie beabsichtigt zu reduzieren.
Vielleicht war auch die politische Naivität
eines Nebenberufspolitikers dafür verantwortlich,
wenn Hector nicht bedacht hatte, dass die
gefährlichsten Gegner oft die werden, die man
aus dem gemeinsamen Haus vertrieben hat.
Außer Frage steht jedenfalls, dass Hectors politische
Demontage in der medialen Öffentlichkeit
stattfand, ausgetragen vor allem als Zeitungskrieg
zwischen dem frankophilen Saarlouiser
Journal und der deutschen Saarzeitung von
Redakteur Goergen. Im März oder April 1920, so
gab es Hector im Prozess zu Protokoll, habe Goergen
in zwei Artikeln die Pariser Briefe herangezogen
und ihm damit – will wohl sagen: mit
deren Veröffentlichung – gedroht. Der Redakteur
meinte hingegen, er habe keineswegs gedroht,
sei vielmehr von Hector als »alldeutscher Hetzer«
beschimpft worden und habe lediglich am
Ende des zweiten Artikels konstatiert, dass er im
Gegensatz zum Bürgermeister eine weiße Weste
habe, die nicht durch zwei nach Paris geschickte
Briefe befleckt sei. [23] Es ist nicht ganz einfach,
die einzelnen Stationen einer langsam eskalierenden
Auseinandersetzung zu benennen. Oft
wurden die Artikel in der damaligen Zeit nicht
namentlich gekennzeichnet, wurden Argumente
literarisch-metaphorisch sublimiert oder Stellvertreterkriege
geführt, indem man einen anonymen
Leserbrief (nach dem Muster: Eingesandt –
Ein Rodener) zum Ausgangspunkt für die jeweils
[23] Prozeß Dr. Hector gegen »Saarbrücker Zeitung«, wie
Anm. 18.
nächste Eskalationsstufe nutzte. Deutlich nachvollziehbar
ist jedoch, dass die nationale Tonlage
auf der »deutschen« Presse-Seite seit Ende der
Militärherrschaft insgesamt strammer wurde
und nationale Abweichungen jetzt offen attackiert
werden. Man positioniert sich nun eindeutig,
vor allem in Saarlouis, das wegen seiner
französischen Geschichte im Reich in den Ruf der
»Unzuverlässigkeit« gekommen sei. In dem allerdings
nur einige »Dunkelmänner« und »räudige
Schafe« innerhalb der »Herde« guter Deutscher
für Unruhe oder gar für die »Anstiftung zum
Landesverrat« gesorgt hätten, wie er namentlich
in den erschlichenen Anträgen zur Naturalisierung
von Saarlouisern greifbar geworden sei.
»Die Elemente aber«, so urteilt die Saarzeitung
am 19. April 1920, »die zum Landesverrat verleitet
haben, verdienen die größte Verachtung
aller anständigen Deutschen. Sie müßten aus der
deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen
werden, wenn sie sich nicht schon selbst ausgeschlossen
haben. An alle gutgesinnten deutschen
Saarlouiser aus Stadt und Land richten wir
die dringende und herzliche Bitte: Schließt euch
zusammen zu einer heiligen Gemeinschaft, um
Euer edelstes Gut, die deutsche Nationalität … zu
schützen. Ihr, die Ihr Deutsche seid und bleiben
wollt, pflanzt die Liebe zum Vaterland in die Herzen
Eurer Kinder …« [24]
Im Klima dieser nationalen Polarisierung von
Saarlouis wurde auch die Kritik am Bürgermeister,
die zuvor in der Regel nur »mitgedacht« worden
war, mehr oder weniger konkret. Abermals
war der Auslöser ein Eingesandt, eine Zuschrift,
für deren Form und Inhalt die Redaktion nur
die »preßgesetzliche Verantwortung« zu über-
[24] Der Tiefstand des nationalen Geistes, in: Saarzeitung Nr.
90 v. 19. April 20; die »Dunkelmänner« und »räudigen
Schafe« sowie die »nationale Unzuverlässigkeit« nach
einer am 31. März 20 abgedruckten Zuschrift: »Saarlouis‘
Ruf in Wahrheit und Dichtung«. Die vom Autor
über sich selbst in dem Text gemachten Angaben könnten
darauf hindeuten, dass hinter ihm der ehemalige,
ausgewiesene Saarlouiser Bürgermeister Dr. Gilles
steckte – und dass seine implizite Kritik an den »Dunkelmännern«
(auch) seinem Nachfolger Hector galt.
saargeschichte|n 31
Die erste und einzige
Meldung vom Rücktritt
Jacob Hectors als
Saarlouiser Bürgermeister
in der Saar-
Zeitung vom 29. Mai
1920.
nehmen hatte. Der Briefeschreiber kritisiert darin
zunächst lediglich den etwas despektierlichen
Ton gegenüber den Rodener Stadtverordneten in
der Ratsversammlung und die »Tatsache«, dass
der Stadtteil gegenüber der Stadtmitte in der
Kommunalpolitik stets vernachlässigt werde.
Bei der Gelegenheit glaubt er aber auch darauf
hinweisen zu müssen, dass es Zeit werde, »daß
die Stadt wieder einen Berufsbürgermeister
bekommt, der mehr Zeit hat, um nach dem
Rechten zu sehen.« Und der überhaupt als Verwaltungsfachmann
professioneller im Bürgermeisteramt
arbeiten könne, als es der gelernte
Arzt Hector tue. Im Übrigen habe Bürgermeister
Hector »doch bestimmt erklärt, am 1. April sein
Amt niederzulegen«. [25]
Tatsächlich warfen die ersten Kommunalwahlen
im Saargebiet Ende Mai 1920 bereits ihre Schatten
voraus, tatsächlich unterschrieb Hector oft
als »kommissarischer Bürgermeister«, war also
das Statement des offenkundig eingeweihten
»Rodeners« zum angekündigten Rücktritt Hectors
sicher nicht aus der Luft gegriffen. Gleichwohl
wurde aus der Normalität eines kommunalen
Amtswechsels im Furor des nationalen
Bekenntniseifers ein lokales Politikum. Hector
habe in der Stadtverordnetenversammlung das
Rodener Eingesandt zur Debatte gestellt, habe
sich über die »Haß und Zwietracht« verbreitende
Zentrumspresse, namentlich die Redaktion der
Saarzeitung beklagt, habe schließlich die Vertrauensfrage
gestellt, die nach namentlicher
Abstimmung einstimmig für ihn ausfiel. Ein deutlicher
Hinweis, wie prekär die Situation im Saarlouiser
Rathaus mittlerweile war. Und die Saarzeitung,
höchstwahrscheinlich in Person Joseph
Goergens, goss weiter Öl ins Feuer. Eine öffentliche
Stellungnahme erwarte die Zeitung nach den
Anschuldigungen des Bürgermeisters, sie fahre
im Gegensatz zu diesem nicht auf einem Karren
»der je nach der politischen Konjunktur Berliner
oder Pariser Richtung« einschlage, habe »Zeit
und Nerven und vor allem keine Veranlassung
unsere schwer belastenden Karten vorzeitig aus-
zuspielen«. Der bedrohlichen Anspielung auf die
gelakten Paris-Papers folgte ein verbales Finale,
das man aus heutiger Perspektive fast wie eine
finstere Prophezeiung auf das Jahr 1935 lesen
kann. Der Geist der nationalen Unzuverlässigkeit,
so heißt es da, »wird eines Tages, wenn der
Gerechtigkeit und vor allem dem Recht, das der
Welt innewohnt und sich letzten Endes doch
Bahn brechen muß, zur Rechenschaft gezogen
werden; er wird, wenn einmal das sogenannte
Selbstbestimmungsrecht zur Wirksamkeit werden
sollte, seinen Verrat am Volkstum bitter zu
büßen haben.« [26]
Wenige Tage nach der Veröffentlichung dieser
Zeilen war Jacob Hector als Bürgermeister
zurückgetreten. In wenigen, allerdings sehr fett
gedruckten Buchstaben verkündete die Saarzeitung
am 29. Mai in ihrem Lokalteil: »Herr
k. Bürgermeister Dr. Hector hat, wie uns mitgeteilt
wird, sein Amt mit dem 28. Mai niedergelegt.«
Danach herrschte erst einmal langes
Schweigen in Saarlouis: in der Saarzeitung, über
Dr. Hector und über die frankophilen Affären, die
man mit ihm in Verbindung brachte. Zum nächsten
Bürgermeister von Saarlouis wurde nach
den Kommunalwahlen vom 11. August 1920 Dr.
Johann Josef Latz gekürt. Er bekleidete dieses
Amt bis in das Jahr 1936 und war danach noch
neun Jahre lang Stadtoberhaupt in Sulzbach. An
nationaler Zuverlässigkeit, wie man sie in den
saarländischen 1920ern verstand, hat es ihm
bestimmt nicht gefehlt.
Plötzlich Minister
Als Jacob Hector nach den Turbulenzen im Frühjahr
1920 seinen Platz im Saarlouiser Rathaus
räumte und in den einstweiligen politischen
Ruhestand trat, hätte er wohl selbst nicht vermutet,
schon wenige Monate später noch viel
stärker im Rampenlicht des jungen »Saarstaats«
zu stehen. Denn der Posten des saarländischen
Ministers in der Regierungskommission, den
Hector am 20. September 1920 übernehmen sollte,
war Ende Mai gerade einmal seit vier Mona-
[25] Eingesandt, in: Saarzeitung v. 20. Mai 20.
[26] Zu dem Angriff des Bürgermeisters Dr. Hector, in: Saarzeitung
v. 23. Mai 20.
Dieses Entree
im Gebäude des
heutigen Saarbrücker
Landgerichtes
passierten
Minister, Beamte
und Mitarbeiter
der Regierungskommission
auf
dem Weg zu ihren
Amtsstuben. (LA SB,
Bildersammlung)
ten besetzt von Alfred von Boch. Einem alten
Bekannten aus Saarlouis also, der bis zum Jahresbeginn
noch als Landrat des Kreises amtiert
hatte und dort, wenn die Nachrichten von seiner
Verabschiedung zutreffen, durchaus beliebt
war. Es war wohl alles andere als ein Zufall, dass
die ersten drei saarländischen Minister in der
Reko aus Saarlouis stammten. Zwar wurden die
Kommissare offiziell vom Völkerbundrat ernannt.
Aber gerade in den frühen Zwanzigern war man
dort offenkundig bereit, den französischen Wünschen
nach Hegemonie in diesem Gremium zu
entsprechen. Ein Kandidat aus der französischsten
Stadt des Saarlandes passt jedenfalls sehr
gut in diese Konstellation, die mit dem mächtigen
Präsidenten Rault, dem seit Jahrzehnten in
Paris lebenden Dänen Moltke-Huitfeld und dem
Belgier Jaques Lambert ohnehin mehr als frankophil
eingefärbt war. [27]
Aber schon bei dem Wohlfahrts- und Landwirtschaftsminister
von Boch wurde, wie bei seinen
Nachfolgern dann auch, deutlich, dass die
saarländischen Vertreter in der Reko keineswegs
willfährige Mitspieler in einer von französischen
Interessen gelenkten Saarpolitik sein
wollten. Zum frühen Bruch der ersten Kommission
kam es anlässlich der Beschlüsse über das
saarländische Beamtenstatut, die erste große
Bewährungsprobe der Reko seit ihrem Amtsantritt
im Februar. Es ging bei dem Streit zwi-
[27] Zur französischen Reko-Macht der ersten Jahre vgl.
Zenner, Parteien und Politik (wie Anm. 1), S. 40f..
schen Regierung und (deutschen) Beamten um
soziale, um Prestige- und nicht zuletzt um politisch-nationale
Fragen, ein Paket, über das man
sich bis August 1920 nicht einig werden konnte,
so dass am 6. August ein großer Streik fast
aller saarländischer Beamten begann. Rault verhängte
den Ausnahmezustand, ließ das Militär
aufmarschieren, es folgte eine Woche mit den
bis dahin schlimmsten Zusammenstößen im
Saargebiet, mit Verhaftungen, Ausweisungen,
Entlassungen. Am Tag des Streikbeginns reichte
von Boch seine Demission beim Generalsekretär
des Völkerbundes ein. Schon in der an diesem
6. August 1920 stattfindenden Sitzung der
Regierungskommission fehlte von Boch, sogar
ohne Angabe von Gründen. Der saarländische
Stuhl am Regierungstisch sollte damit für mehrere
Wochen leer bleiben, ausgerechnet in dieser
sehr turbulenten Zeit. [28]
Zu viert und ohne Saarländer musste also die
Reko die erste große Staatskrise durchfechten,
aber vielleicht war die lange Vakanz der französischen
Kommissionsführung gar nicht so unrecht.
Da erst in der dritten Septemberwoche im Völkerbundrat
über die Akzeptanz von Bochs Demission
entschieden werden konnte und dieser wiederum
nur dann selbst einen Ersatzmann benennen
durfte, wenn die Gründe für sein Fernbleiben von
seinen vier Kollegen akzeptiert wurden, blieben
die »Internationalen« bis zur Sitzung vom 11. September
unter sich. Am 25. August endlich einigte
sich das Gremium darauf, dass von Bochs Fernbleiben
wegen »Krankheit und aus persönlichen
Gründen« akzeptabel sei und man deshalb bis zur
Entscheidung des Völkerbunds mit dem von ihm
benannten »Übergangsminister« arbeiten könne.
Die Wahl des ehemaligen Landrats fiel nicht etwa
auf einen Saarlouiser Landsmann, sondern auf
den Eppelborner Bartholomäus Koßmann, ehemaliger
Reichstagsabgeordneter, ehemaliges
Mitglied der Weimarer National- und der preußischen
Verfassungsgebenden Versammlung, einflussreicher
Politiker des Zentrums. [29]
[28] Zum Beamtenstreik Zenner, a.a.O., S. 50f. und den Quellentext
in: Weißbuch, Nr. 143, S.213–215. Exemplarisch
die Denkschrift über die ungünstige finanzielle Lage
der vom Deutschen Reich, Preußen und Bayern in die
Dienste der Saarregierung beurlaubten Beamten, in: LA
SB, EBD 550.
[29] Vgl. zu den entscheidenden Sitzungen der Reko: Commission
de Gouvernement de la Sarre, Procès-verbeaux
vom 6., 7., 17. und 25. August sowie vom 11. September
1920, in: LA SB, NL Koßmann 1, S. 99; 112; 116; 119; 195.
saargeschichte|n 33
Die zweite
Regierungskommission
des Saargebiets
mit Hectors Nachfolger
Julius Land
(o.l.) sowie sitzend
Präsident Victor Rault
(links) und George
Washington Stephens
(r.); stehend
neben Land Graf von
Moltke-Huitfeldt und
Jacques Lambert. (LA
SB, BSlg)
Obwohl Koßmann schon 1920 ein, wenn nicht das
politische Schwergewicht des Saargebiets war
und er gerade für das Wohlfahrtsministerium der
geradezu prädestinierte Ressortchef gewesen
wäre, blieb er in der Regierungskommission
zunächst eine politische Eintagsfliege. Historiker
Koßmanns haben sich bis heute immer wieder
gefragt, warum der ausgewiesen erfahrene
Sozialpolitiker 1920 aus den Höhen der Berliner
Luft freiwillig in die verräucherten Niederungen
des Saargebiets zurückgekehrt ist, um dort als
Oberregierungsrat in eine Ministerialverwaltung
einzutreten, deren Chef er eigentlich sein konnte.
Vielleicht war das zumindest aus saarländischdeutscher
Perspektive aber ganz anders geplant
gewesen, stand der im Juni aus der Nationalversammlung
ausgeschiedene Koßmann im August
1920 bereits Gewehr bei Fuß, um von Boch dauerhaft
zu beerben. Immerhin sollte es beim Ausscheiden
Hectors drei Jahre später ja dann genau
so kommen, dass der vom demissionierten Minister
benannte Ersatzmann zum echten Nachfolger
aufstieg. Auch Koßmanns biographische Daten
sprechen dafür, dass er nicht unbedingt freiwillig
als Subalterner ins Wohlfahrtsressort einzog.
Exakt drei Tage, nachdem seine Nominierung
zum Ersatzmann Bochs von der Reko abgenickt
worden war, verlegte er seinen langjährigen
Wohnsitz von Neunkirchen nach Saarbrücken. Im
Übrigen soll das Verhältnis zwischen Koßmann
und seinem Minister Hector später ziemlich frostig
gewesen sein, am Ende sei der Eppelborner
sogar regelrecht kalt gestellt gewesen. Und als
1922 Koßmanns Wahl zum ersten Präsidenten des
Landesrats anstand, war Hector der einzige in der
Reko, der nicht für seinen Ex-Mitarbeiter votierte:
Auch das könnte nicht nur im politischen Dissens,
sondern ebenso in der Konkurrenzsituation von
1920 begründet gewesen sein. [30]
[30] Sitzung der Reko mit dem Ersatzmann Koßmann am 11.
September 20, in NL Koßmann 1, S. 119–124; zum »kaltgestellten«
Koßmann vgl. Philipp W. Fabry, Bartholomäus
Koßmann. Treuhänder der Saar 1924–1935, Merzig
2011, S.67; Reinhold Bost, Bartholomäus Koßmann.
Christ – Gewerkschaftler – Politiker 1883–1952, Blieskastel
2002, S. 178. Nach den Erkenntnissen aus den
Reko-Akten müsste über die Umstände des Wechsels
von Koßmann aus Berlin nach Saarbrücken neu nachgedacht
werden. Vgl. auch meinen Beitrag in den saargeschichten
3/19, hier v.a. S. 19. – Zur Designation Koßmanns
zum Landesratspräsidenten am 11. Juli 22, vgl. NL
Koßmann 25, S. 192f.
Paris gegangen war. Mit machiavellistischem
Auge betrachtet konnte es sogar von Nutzen
sein, mit Hector einen Saarländer im Kabinett
zu haben, der wegen seiner heiklen Aktionen als
Bürgermeister in seiner Heimat auf unsicherem
Terrain stand. Jedenfalls lobte Präsident Rault
bei Hectors Amtseinführung am 23. September
1920, dass »les circonstances de ce choix …
des plus favorables« seien und dass »sa désignation
répondait à leur désir«, also der Wunsch
aller Minister der Reko gewesen sei – soweit sie
die französischen Interessen im Gremium unterstützten,
möchte man hinzufügen. [31]
Die zweieinhalb Jahre, die Jacob Hector als
Minister für Wohlfahrt und Landwirtschaft in
der Regierungskommission verbrachte, waren
zweifelsohne der Höhepunkt seiner politischen
Karriere. Sie umfassen aber auch die Zeit zwischen
Beamten- und Hunderttagestreik, die oft
konfliktreiche Phase also, in der das Saargebiet
und seine internationale Mandatsregierung
»das Laufen« lernten, eine Zeit also, aus der man
viel darüber erfahren könnte, wie die Implementierung
des neuen Systems funktionierte – und
inwiefern der Saarländer in diesem System die
Das Schreiben aus
Hectors Ressort zum
Übergang der Heilanstalt
Homburg in
staatliche Verwaltung
markiert den Beginn
des Universitätsklinikums.
(LA SB, LRA
IGB).
Neun Tage nach Koßmanns erstem und für einige
Jahre letzten Auftritt am Saarbrücker Regierungstisch
fand in Paris eine Sitzung des Völkerbundrates
statt. Monsieur Caclamanos, der Vertreter
Griechenlands, legte dabei den Bericht über die
Regierungskommission des Saargebietes vor, in
dem er die Demission von Bochs und die Nachfolgerfrage
thematisierte. Letztbezüglich habe er
»Erkundungen eingezogen und einige mögliche
Kandidaten erwogen. Ich bin stehen geblieben
bei dem Namen des Dr. Hector, ehemals Bürgermeister
von Saarlouis, wo er seinen Beruf als
Arzt ausübt.« Caclamanos’ Statement zu Hector
klang nicht unbedingt wie ein unwiderstehliches
Plädoyer für den fraglos besten Kandidaten –
zumal mit Koßmann ein unzweifelhaft höher
qualifizierter Saarländer schon auf der Matte
stand. Man kann sich also sehr leicht vorstellen,
dass Harr Calcamanos bei seiner Kandidatensuche
tatkräftige Unterstützung vor allem in
eine gewünschte Richtung erhielt. Und dass die
französischen Protektoren dieser Richtung sich
noch lebhaft daran erinnerten, wie sehr Dr. Hector
in den Nachkriegsjahren auf Tuchfühlung mit
[31] Bericht über die Sitzung des Völkerbundrates v. 20. September
20 nach SDN, Journal Officiel 1, 7, S. 44ff, hier zitiert
nach der deutschen Übersetzung in Weißbuch Nr.
156, S. 234; Sitzung v. 23. September 20, NL Koßmann 25,
S. 125.
saargeschichte|n 35
ihm zugedachte Rolle ausfüllte. In der landesgeschichtlichen
Literatur erfährt man darüber
erstaunlich wenig, zu sehr scheint diese frühe
Phase im Schatten der großen (nationalen) Nachkriegskrisen
zu stehen oder wie selbstverständlich
als die Zeit der autokratischen Herrschaft
Victor Raults abgehandelt zu werden. Von der
Arbeit Hectors als Ressortminister erfährt man
allenfalls den auch in seinen Nekrologen stets
hervorgehobene Aufbau der Homburger Heilund
Pflegeanstalt zum Landeskrankenhaus, die
Fundamentierung der heutigen Universitätskliniken
also (was ja per se durchaus als großes
Verdienst zu belobigen ist). Praktisch nichts
wurde hingegen zu seiner Rolle im Kollegium der
Regierungskommission verlautbart, zu selbstverständlich
ging man wohl davon aus, dass Hector
stets am Pariser Tropf hing und sich dementsprechend
passiv verhalten habe. [32]
Schon eine flüchtige Durchsicht der Protokollbände
der Reko vermittelt jedoch ein anderes
Bild – das den Saarlouiser nicht nur immer mit
einer durchaus eigenständigen Stimme im internationalen
Diskurs agierend zeigt, sondern auch
deutlich macht, dass er vor der sachlichen Konfrontation
mit dem scheinbar übermächtigen
Präsidenten Rault nicht zurückschreckte. Selbst
der Vorwurf eines Verstoßes gegen den Geist des
Versailler Vertrages steht da mal gegen den Präsidenten
im Raum und eine scharfe Replik, die sich
Hector deshalb vom Regierungschef einhandelt.
Auch »saarländische« Minderheitenvoten, später
eine »Spezialität« von Bartholomäus Koßmanns
Reko-Politik, tauchen da auf, Voten, mit denen er
sich einsam gegen die Mehrheit seiner Kollegen
aus den Völkerbundstaaten stellte, um seine Mission
im Sinne des »Saarvolkes« zu erfüllen. Als es
seit 1922 um die konfliktreiche Zusammenarbeit
mit dem Landesrat und die Einsetzung eines
Studienausschusses ging, meinte Rault gar, dass
sich Hector nicht über die diesbezüglichen Probleme
wundern müsse, da er es ja gewesen sei
»qui a toujours defendu le principe de la collaboration
avec la population«. Überhaupt könnte
sich das, in Parallelität zur Zeit im Bürgermeisteramt,
als Maßstab für das politische Handeln
[32] Vgl. zum Beispiel: den Nachruf »Zum Gedächtnis von Dr.
med Jakob Hector« in der SZ v. 6. Februar 54. – Der Übergang
der Klinik aus dem Provinzialverband der Rheinprovinz
und der Pfalz in saarländische Obhut erfolgte
nach Verhandlungen mit der Reko unter Hectors Verantwortung
zum 1. November 1921. Vgl. das in Saarlouis
(!) datierte Schreiben vom 20. September 21 in LA SB,
LRA IGB 6030.
Hectors herauskristallisieren: das Bestmögliche
für die Menschen seiner Heimat, seines »Wahlbezirks«
zu erreichen, ob es sich dabei um die
Bürger_innen seiner Stadt oder die seines neuen
»Landes« handelte. Die Sache hatte freilich einen
Haken: Dass er im Einsatz für die Heimat sogar
bereit war, nationale Schranken zu überspringen,
mag für uns heute sympathisch wirken, war
damals für die meisten Menschen jedoch genau
das Gegenteil davon. [33]
Weil die nationale Selbstvergewisserung in
der Folge von Versailles für die vom Reich
abgetrennten Saarländer eine überragende
Bedeutung quer durch alle Parteien bekam, ist es
fast erstaunlich, wenn Hector seine ersten beiden
Amtsjahre als Regierungskommissar relativ
unbeschadet überstand. Zwar soll es, wie es spätere
Aussagen im Prozess belegen, immer wieder
belastende Anschuldigungen gegeben haben, die
nicht nur gerüchteweise durchs Land zogen, sondern
auch in der Öffentlichkeit ausgesprochen
wurden. Aber richtigen Gegenwind bekam der
Wohlfahrtsminister erst, als die saarländischen
Parteien mit dem Landesrat ein institutionelles
Gehäuse für die Artikulation ihres Protestes
erhalten hatten, der nun auch in Genf legitimer
Weise vorgetragen werden konnte. Dann aber
kam die Kritik umso heftiger. Nur wenige Tage
nach der konstituierenden Sitzung am 19. Juli
1922 richteten die saarländischen Parteien und
26 von 30 Landesratsmitgliedern an den Völkerbundsrat
die Bitte, Hectors Amtszeit nicht mehr
zu verlängern und den nächsten Saarländer am
Regierungstisch entweder nach allgemeinen
Wahlen oder auf Vorschlag des Landesrats zu
ernennen. Demokratische Teilhabe und nationale
Selbstbestimmung: Das war der offizielle Rahmen,
in dem die deutsche Opposition gegen den
Minister mit »anrüchig« frankophiler Vergangenheit
Fahrt aufnehmen konnte. [34]
Nachdem weder Genf noch die Reko in Saarbrücken
auf die Eingabe reagiert hatten, legten
die Saarländer nach. Als die turnusgemäße Ver-
[33] Hector als engagierter Wortführer schon in den ersten
Verhandlungen am Reko Tisch, zum Beispiel in der
Sitzung vom 13. Oktober 20, NL Koßmann 1, S.140. Der
Streit mit Rault – es ging hier um die Frage der Renten
für die Beamten der Zentralverwaltung in der Sitzung
vom 24. Juni 22, NL Koßmann 25, S. 179ff., hier v.a. S.180;
die Bemerkung Raults zu Hectors Bedürfnis nach ‚demokratischer
Rückbindung’ in der Sitzung vom 11. Juli
22, a.a.O., S.203.
[34] Der Fall Hector und seine Konsequenzen. Die Fraktionen
des Saargebietes, Saarbrücken 1922.
Im »neuen« Landgericht
(dem Vorgängerbau
des
heutigen) an der
damaligen Saarbrücker
Alleestraße
(heute: Franz-Josef-
Röder-Straße) fand
der Prozess gegen SZ-
Redakteur Adolf Franke
wegen Beleidigung
von Minister Hector
statt. (LA SB, BSlg)
längerung von Hectors Mandat im September
1922 anstand, erschien ein Artikel in der Saarbrücker
Zeitung, der diesmal wirklich ganz großes
Geschütz auffuhr. Redakteur Adolf Franke
bezog sich in seinen Ausführungen über den
»Fall Hector« explizit auf die Eingabe der saarländischen
Parteien, die diese »dieser Tage dem
Völkerbundsrat auf dem vorschriftsmäßigen Weg
über die Saarregierung übersandt« hätten. Und
er übte sich in der Beurteilung von Hectors Politik
der Jahre 1919/20 nicht gerade in Zurückhaltung:
»Herr Dr. Hector hat schmachvollen Landesverrat
verübt durch einen gemeinen Betrug«. Noch
bevor Franke diese seine Anklage überhaupt
ausgesprochen oder gar begründet hatte, hatte
er bereits das Urteil über seinen »Angeklagten«
gesprochen: »Herr Dr. Hector mag seine Sachen
packen und das Saargebiet im Eiltempo und für
immer verlassen. Ob er vielleicht nun noch in
Frankreich irgendwo ein Dankasyl findet, das zu
erwägen ist nicht unsere Sache. Vielleicht heißt
es auch: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan
...« Unüberhörbar war da bereits der Ton der spöttischen
Ausgrenzung, der den (nationalen) Diskurs
der 1920er Jahre von allen Seiten dominierte.
Die Nazis haben ihn später aufgenommen und
bis zur mörderischen Konsequenz perfektioniert.
[35]
Unmittelbar unter dem Artikel Frankes erschien
die Meldung, dass Hector abermals vom Völkerbund
für ein weiteres Jahr in seinem Amt bestätigt
worden sei. Die saar-deutsche Öffentlichkeit wird
es als weitere Provokation verstanden und deshalb
mit Genugtuung zur Kenntnis genommen
haben, dass die Saarparteien drei Wochen nach
dem Angriff in der Saarbrücker Zeitung ein zweites
Mal beim Völkerbundsrat antichambrierten,
diesmal auch, um Redakteur Franke dezidiert den
Rücken zu stärken. Spätestens jetzt war der Zeitpunkt
gekommen, dass der schwer beschuldigte
[35] Adolf Franke, Der Fall Hector, in: SZ v. 4. September 1922.
Dr. Hector reagieren musste. Nachdem
er die vorausgegangenen Verbalattacken
offenkundig ignoriert hatte,
war der jetzt im Raum stehende Vorwurf
so schwerwiegend, dass ihm
nichts anderes übrig blieb, als Anzeige
gegen Adolf Franke zu erstatten. Gerade
die nationale Frage war, wie bereits
erwähnt, eine Ehrenfrage, die anders
als im 19. Jahrhundert nun nicht mehr
im Duell, sondern in dessen domestizierter
Form vor Gericht ausgetragen
wurde. Der politische Beleidigungsprozess
gegen den Redakteur Adolf Franke wurde
am 23. Februar 1923 vor der Strafkammer des
Landgerichts Saarbrücken eröffnet. [36]
Verkehrte Welt: der Kläger als Angeklagter
Eigentlich hätte der Prozess gegen Franke und
die Saarbrücker Zeitung schon vier Wochen vorher
stattfinden sollen. Ein Termin war sogar
bereits festgelegt, wurde dann aber wieder aufgehoben.
Die ungewöhnliche Verlegung hatte
einen gewichtigen Grund: Nach einem vorangegangen
politischen Verfahren, deren es so
viele in der Völkerbundszeit gab, musste vom
Obersten Gerichtshof die Frage der Unabhängigkeit
des Gerichts in solchen Fällen geklärt werden.
Erst nachdem die im rechtsstaatlichen Sinne
gewünschte Stärkung der richterlichen Autorität
höchstinstanzlich fixiert worden war, Richter also
nicht mehr durch die Intervention der Regierung
bei politischen Verfahren ausgetauscht werden
konnten, wurde der Franke-Prozess eröffnet.
Schon am ersten Verhandlungstag sollte er de
facto zu einem Hector-Prozess werden.
[36] Zur Logik der Politischen Strafprozesse in den 1920er
Jahren vgl. Linsmayer, Politische Kultur (wie Anm. 1), S.
205–208. Die Prozessakten zum Fall Hector sind wie
die meisten frühen Unterlagen des Saarbrücker Landgerichtes
bedauerlicher Weise durch Kriegseinwirkung
oder Hochwasser verloren gegangen. Zum Glück (und
in dem Fall natürlich auch aus Eigeninteresse) hat die
Saarbrücker Zeitung den Fall damals sehr intensiv begleitet;
dass sie als Betroffene oft auch in eigener Sache
interpretierte, schmälert den insgesamt objektiven
Gesamtbestand der damit erhaltenen Dokumentation
kaum. Die folgenden Seiten beziehen ihre Informationen
aus der ausführlichen Berichterstattung über
die sechs Verhandlungstage in: SZ v. 23./27. Februar 23;
1./4./6./9. März 23 sowie der medialen Würdigung des
Prozesses im Leitartikel: »Ein Sieg der Wahrheit« am 9.
März 1923.
saargeschichte|n 37
Es begann alles wie gewöhnlich vor den Schranken
eines Gerichts: Die Feststellung der Prozessbeteiligten
des Verfahrens unter der Leitung
von Landgerichtsdirektor Dr. Messinger, die
Benennung und Frage der Zulässigkeit der Zeugen,
die Verlesung der Anklageschrift. Hector,
der als Zeuge und Nebenkläger auftrat, wurde
von Rechtsanwalt Donnevert aus Saarlouis vertreten,
der als Stadtverordneter aber auch als
Zeuge geladen war und daher Dr. Schmidt in
seiner Vertretung ins Rennen schicken musste.
Der Beklagte Franke erschien mit den Rechtsanwälten
Dr. Steegmann und Dr. Lehmann vor
Gericht, beide waren auch politische Schwergewichte,
der eine als Vorsitzender des Saar-Zentrums,
der andere im Vorstand der Saar-SPD. Und
beide waren, um das gleich vorwegzuschicken,
keine deutschnationalen Hard liner, das Gegenteil
war der Fall, Lehmann musste als Jude später
sogar vor den Nazis fliehen. [37] Hectors Anwalt
bemühte sich vergeblich darum, Joseph Goergen
als Zeugen der Gegenseite nicht vor Gericht
zuzulassen, aus formalen Gründen, wahrscheinlich
ahnte man bereits, dass von ihm besonderes
Ungemach drohte. Die zur Verhandlung stehende
öffentliche Beleidigung Hectors gründete sich
vor allem, so hielt es das Gericht fest, auf Frankes
Diktum vom schmachvollen Landesverrat verübt
durch einen gemeinen Betrug. Der Angeklagte
begründete dies, wie in seinem Beitrag für die
SZ, mit dem Hinweis auf die Denkschrift der Parteien
und die darin festgehaltene Tatsache, dass
aus einer ökonomisch motivierten Bittschrift
der Stadt Saarlouis durch absichtlich gefälschte
Übersetzung eine Ergebenheitsadresse der Verwaltung
einer deutschen Stadt entstanden sei
– womit sowohl die französische Seite als auch
die Stadtverordneten betrogen worden sein. Zu
seiner Anschuldigung gegenüber Hector, so gab
es Franke zum Abschluss seines einführenden
Statements zu Protokoll, habe er sich demnach
»als Vertreter der Öffentlichkeit und als Deutscher
verpflichtet gefühlt.«
Die Zeugenbefragungen des ersten Verhandlungstages
drehten sich vor allem um die
Entstehung der Saarlouiser Denkschrift, um die
Modalitäten der Übersetzung, die Verhandlungen
darüber in der Stadtverordnetenversammlung
[37] Zu den Viten kurz: Peter Wettmann-Jungblut, Rechtsanwälte
an der Saar 1800–1960. Geschichte eines bürgerlichen
Berufsstandes, Blieskastel 2004, S. 512 u. 537
sowie in LA SB, MJ-PA 308 (Lehmann); LG SB 218 (Steegmann).
Zu Landesgerichtsdirektor Messinger die umfängliche
Personalakte MJ-PA 359.
und schließlich die Überbringung der Schriften
zur Saarabteilung der Friedenskommission in
Versailles sowie den hohen Politikern und Militärs
in Paris. Es lässt sich bereits in dieser Phase
der Verhandlungen erkennen, dass es von Anfang
an Widerstände gegen die Diktion der französischen
Fassung seitens der Stadtverordneten
gegeben hatte – und dass an mehr als einer Stelle
getrickst worden war, um eine Version nach Paris
bringen zu können, die deutlich frankophiler ausfiel
als das Original. Vor allem jene Stelle in der
zweiten, bedeutend kürzeren französischen Version
(die vom Wallerfanger Urban Fabvier besorgt
worden war), in der »Le Maire et le conseil de Sarrelouis
(…) vous assurer en meme temps de sa
fidèlité et de sa loyauté« erregte stark die deutschen
Gemüter. Es klingt schon nach ziemlichen
Taschenspielertricks, wenn man die Stadtverordneten
wechselweise dadurch zu beruhigen
suchte, dass man fidèlité und loyauté als Rechtschaffenheit
und Wahrheit übersetzte, dass man
Glauben machen wollte, diese Bekundungen
gälten der neuen Saarregierung (die formal
der Adressat der Denkschrift war) oder schlicht
die Verordneten in dem Glauben ließ, dass die
Begriffe vor der Übergabe in Paris entfernt würden.
Auch viele andere, neuen Sinn stiftende
Abweichungen brachten deutlich mehr französischen
Esprit in die Übersetzung, als er im Original
jemals erwünscht gewesen wäre. So zum
Beispiel die besonders heikle Konzedierung einer
l’annexion de la Lorraine im Bezug auf die Grenzziehung
von 1871, ein Verständnis der Geschichte,
das in Deutschland selbst in den Weimarer Parteien
verpönt war. Kurzum, das Gericht konnte
im Grunde schon in diesem frühen Stadium bei
einer objektiven Würdigung der gehörten Dinge
eigentlich nur zu der Auffassung kommen, dass
da einiges faul gewesen sein musste in der von
Dr. Hector verantworteten Stadtpolitik. Und dass
die französische Botschaft, die 1919 den Pariser
Machthabern übermittelt wurde, so zumindest
nicht von den Saarlouiser Stadtverordneten
abgesegnet worden sein konnte. [38]
Die Verteidigung des Ministers und ehemaligen
Bürgermeisters stand bei kritischen Fragen von
[38] Die Parteien des Landesrats hatten ihrer Eingabe von
1923 Hectors Denkschrift zur »Zukunft der Stadt Saarlouis«
angefügt, in einer synoptischen Druckform, die
die Unterschiede zwischen deutscher und französischer
Fassung schon bildlich klarmachte, in dem besonders
anzufechtende Passagen der französischen
Übersetzung zudem gesperrt gedruckt waren. Vgl dazu
das Druckexemplar in: NL Schneider (wie Anm. 18).
André Tardieu, Berater
Clemenceaus auf der
Versailler Konferenz
und später mehrfach
französischer Minister
und Ministerpräsident,
war ein
wichtiger Ansprechpartner
für die Saarlouiser
Delegationen
in den Jahren 1919/20.
(wiki commons)
Anfang an auf schwachen Füßen. So erklärte er
beispielsweise zur eklatanten Diskrepanz zwischen
deutscher und französischer Denkschrift,
dass sein Französisch »damals« - also drei Jahre
vor dem Prozess – so schlecht gewesen sei, dass
»er nicht in der Lage gewesen sei, die Unterschiede
zwischen dem deutschen und französischen
Texte zu erkennen.« Ungeachtet der Tatsache,
dass eine solche Uneinsichtigkeit schon
wegen der quantitativ gravierend voneinander
abweichenden Textcorpora schwer nachvollziehbar
ist, enthob das Hector natürlich nicht der
politischen Verantwortung für die schlechterdings
kaum übersehbaren Differenzen. Ebenso
kurios war Hectors Replik auf die Frage von
Frankes Verteidigern, warum er die Denkschrift
nicht – wie eigentlich verabredet – auch in französischer
Fassung zur Kontrolle an die Stadtverordneten
gegeben hätte? Weil, so Hector, er nach
seiner Parisreise, auf der er sehr vielen maßgeblichen
Franzosen das Druckwerk überreicht habe,
keine Exemplare mehr zur Verfügung gehabt
hätte. Vielleicht hatte Hector tatsächlich gar
nicht damit gerechnet, vor einem Tribunal, das ja
eigentlich einen anderen anklagte, in die Defensive
zu geraten. Eine Einstellung, die freilich für
einen Minister auch reichlich naiv gewesen wäre.
Jedenfalls war und blieb die Verteidigungslinie
Hectors so brüchig, dass ihr Zusammenbruch
absehbar war.
Der kam dann tatsächlich bereits mit der Vernehmung
des zwölften und letzten Zeugen am
ersten Verhandlungstag. Das war eben jener
junge Joseph Goergen, der ehemalige Redakteur
der Saarzeitung, mit dem Hector schon
1920 im Clinch gelegen hatte und der bereits
in den Artikeln jener Monate vor dem Rücktritt
des Bürgermeisters hatte ahnen lassen, dass er
schwergewichtiges Beweismaterial in Händen
hatte. An diesem 23. Februar 1923 wurde es von
Goergen der Öffentlichkeit präsentiert, mit dreijähriger
Verspätung, ganz so, als habe Hectors
Gegenspieler nur auf diesen Moment gewartet.
Zwei Schreiben aus dem Bürgermeisteramt, so
der Zeuge, seien ihm aus dritter Hand zugespielt
worden. Es handelte es sich dabei um jene beiden
bereits oben erwähnten Briefe vom 23. Juli
1919 und vom 15. Januar 1920, die als Begleit- und
Bittschreiben nach Paris gebracht worden waren
und bis zum Zeitpunkt des Prozesses in der saarländischen
Öffentlichkeit offenkundig noch
völlig unbekannt waren. Als Rechtsanwalt Dr.
Steegmann sie nun vor Gericht in ihrer französischen
Übersetzung verlas, gab es im Saal »eine
ungeheure Erregung«, die sich noch steigerte,
nachdem die deutsche Fassung gefolgt war.
Die Bombe, die da gerade geplatzt war, hatte
verheerende Wirkungen. In der hochgradig
emotionalisierten und nationalisierten
Öffentlichkeit, weil hier erstmals ein handfester
Beweis dafür auftauchte, dass die kerndeutsche
Identität der Saarländer tatsächlich von Frankreich
bedroht sein könnte, und zwar durch die
»Untergrundtätigkeit« von Kollaborateuren aus
den eigenen Reihen. Anders als bei den allermeisten
sonstigen Injurienfällen, in denen sich
fast immer zeigte, dass da etwas konstruiert worden
war, um dem Ruf des politisch missliebigen
Kontrahenten zu schaden. Entsprechend hochgradig
erregt zeigte sich zum Ende des ersten
Verhandlungstages vor allem der unversehens
zum Hauptbeschuldigten gewordene Dr. Hector.
Unter Eid könne er beschwören, so der Doktor
mehrfach, dass er das erste Schreiben nicht
kenne, nicht verfasst und nicht dem französischen
Premierminister Clemenceau überreicht
habe. An das zweite Schreiben, dessen deutsches
Original seine Handschrift tragen solle, könne er
sich nicht erinnern. Um den Dingen möglichst
zügig auf den Grund gehen zu können, ordnete
das Gericht an, dass sich sofort eine dreiköpfige
Delegation mit einem Auto der Regierungskommission
auf den Weg nach Saarlouis machen
solle, um das Stadtarchiv nach den Originalschriften
und allen Hinweisen auf die Entstehung
der Denkschrift zu untersuchen und gegebenenfalls
zu beschlagnahmen.
Die Vorlage für den Brief vom 15. Januar 1920
mit der Handschrift Hectors wurde tatsächlich
gefunden. Anhand des Ausgangsjournals für
1920 ließ sich sogar nachvollziehen, wann er unter
saargeschichte|n 39
Der Landesrat war der
wichtigste institutionelle
Gegenspieler
des frankophilen Kurses
von Jacob Hector.
Hier ein Bild aus der
letzten Sitzung des
Landesrats im Saarbrücker
Rathaus,
Dezember 1934. (LA
SB, BSlg.)
welcher Nummer an den Ministre de La Guerre
nach Paris geschickt worden war. Dieser Fund ließ
die letzten Dämme brechen. Als am Montag nach
der samstäglichen Durchsuchung in Saarbrücken
wieder verhandelt wurde, überschlugen sich die
Ereignisse. Hector war nicht mehr vor Gericht
erschienen, hatte ein ärztliches Attest vorlegen
lassen, nach dem er aufgrund von Grippe, nervösen
Beschwerden und Herzleiden für eine Woche
krankgeschrieben war. Auch Hectors Anwalt Donnevert
erschien nicht mehr, hatte nach der neuen
Erkenntnislage sein Mandat niedergelegt, da er
in Kenntnis der ihm bisher vorenthaltenen Informationen
nichts mehr verteidigen könne. Frankes
Anwälte hingegen gingen in die Offensive. Lehmann
erklärte, dass ihn der physische und psychische
Zusammenbruch Hectors angesichts der
erdrückenden Beweislast nicht wundere. Steegmann
hatte bereits am ersten Verhandlungstag
betont, dass er die von Hector reklamierte
Erinnerungslücke für unmöglich halte: Wer
einen solchen Brief an Clémenceau geschrieben
habe, erinnere sich sein ganzes Leben daran. Es
bestünde, so die quasi zu Staatsanwälten mutierten
Verteidiger Frankes, der starke Verdacht, dass
Hector einen Meineid geschworen habe. Sie legten
daher vor Gericht seine Verhaftung nahe, da
Fluchtgefahr bestünde. Außerdem solle sein Haus
durchsucht, seine Privatkorrespondenz beschlagnahmt
und weitere Zeugen gehört werden. Viele
Indizien sprächen dafür, dass Hector auch der Initiator
des ersten, des Begleitschreibens der Denkschrift
gewesen sei.
Mit jedem weiteren Verhandlungstag wuchs der
von ihm selbst initiierte Prozess zu einem völligen
Alptraum für Hector, in politischer wie in
persönlicher Hinsicht. Nur seine, am zweiten Verhandlungstag
durch Gerichtsbeschluss erst sanktionierte
Immunität als quasi »exterritorialer«
Beamter des Völkerbundes, verhinderte seine
sofortige Strafverfolgung. Eine amtsärztliche
Untersuchung Hectors sollte nun feststellen, ob
er weiter verhandlungsfähig sei – und eventuell
am Krankenbett befragt werden könne. Dass
der buchstäbliche Fall eines Ministers auch das
Gericht zunehmend nervös machte, zeigte sich
am dritten Prozesstag. Als der Noch-Angeklagte
Franke angeblich wenige Minuten zu spät vor
Gericht erschien, erhielt er eine scharfe Rüge des
Vorsitzenden. Und an Verteidiger Lehmann richtete
Dr. Messinger die hier vollkommen unangemessen
ironische Frage, ob er deshalb nun
auch die Verhaftung Frankes beantragen wolle.
Der derart aus der Rolle gefallene Richter dokumentierte,
dass der Fall Hector längst zum Politikum
geworden war, dessen Auswachsen zur
Staatskrise man befürchten konnte. Als die Verteidigung
Frankes immer weitere Zeugen vor
Gericht bestellen wollte, um das ganze Ausmaß
der Saarlouiser »Frankreichpolitik« der Jahre
1919/20 zu beleuchten, schob der Regierungschef
persönlich einen Riegel vor: Seinen höchsten
Beamten, die vor die Saarbrücker Schwurkammer
geladen werden sollten – darunter auch der
Generalsekretär und nachmalige Reko-Minister
Morize –, erteilte er Aussageverbot. Da zeitgleich
jener große Bergarbeiterstreik begonnen hatte,
der hundert Tage währen sollte und zur »nationalen«
Kraftprobe wurde, wollte Rault offenbar
nicht noch eine zweite offene Flanke haben.
Sein bisheriger Wohlfahrtsminister hatte da
allerdings schon die Konsequenzen gezogen
und endgültig das Handtuch geworfen. In einer
Erklärung, die sein neuer Rechtsanwalt Flesch am
vierten Verhandlungstag verlesen ließ, gab Hector
an, sich nun doch erinnern zu können, den
ersten Brief seinem Oberstadtsekretär diktiert
und den zweiten selbst geschrieben zu haben.
Die Zeitungslektüre der Namen seiner städtischen
Angestellten, die an der Aktion damals
beteiligt waren, habe seiner Erinnerung auf die
Sprünge geholfen. Im Fall des zweiten Briefes
Mitglieder der
Regierungskommission
unter Präsident
Rault (m.) und französische
Militärs
besuchen das Festgelände
auf dem Großen
Exerzierplatz in
Saarbrücken anlässlich
des französischen
Nationalfeiertages.
(LA SB, BSlg.)
revidierte er ebenfalls seine erste eidliche Aussage,
begründete die fehlende Erinnerung am
ersten Verhandlungstag mit dem Stress einer
zehnstündigen Gerichtsverhandlung und der Tatsache,
dass ihm, einem Menschen, der sich ständig
mit geistigen Materien zu befassen habe, die
Erinnerung an das ein oder andere Detail schnell
eingetrübt werden könne. Im Übrigen habe er
aber beide Aussagen in dem subjektiven Bewusstsein
getätigt, die Wahrheit zu sagen. So wackelig
– oder eher: vorgeschoben – diese Aussagen auch
wirken mochten, sie kamen doch noch gerade
rechtzeitig, um den juristisch begründeten Vorwurf
eines vollzogenen Meineids loszuwerden. [39]
Noch am gleichen Tag erklärte Hector in einem
Schreiben an die Regierungskommission, dass er
sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht
mehr wahrnehmen könne. Als seinen Stellver-
treter benannte er Julius Land, ehemaliger Landrat
des Kreises Saarlouis. [40]
Nur das Ende des Prozesses in Saarbrücken verhinderte,
dass noch viel mehr Details über die
Beziehungen zwischen Saarlouis und Paris in
Hectors Amtszeit als Bürgermeister ans Licht
kamen. Und die Liste der Zeugen, die noch aufgeboten
worden waren, sprach dafür, dass da
noch so einiges zu sagen gewesen wäre. Am
sechsten und letzten Verhandlungstag erschien
aber kein einziger der Zeugen mehr vor Gericht,
ob sie nun krank gemeldet waren oder ein Aussageverbot
von höchster Stelle hatten. Außerdem
erklärte Dr. Flesch, der Anwalt des ursprünglichen
Nebenklägers Hector, dass der Strafantrag
seines Mandanten gegen Franke zurückgezogen
worden sei. So gab es nichts mehr zu verhandeln.
Damit fehlte allerdings nun auch das Forum für
die weitere öffentliche Aufarbeitung. Immerhin
sorgten die Verteidiger Frankes noch für einen
unüberhörbaren Schlussakkord. Steegmann
taxierte Frankes mediale Enthüllung im Nachhinein
als »eine höchst verdienstvolle Tat, (…) die
[39] Hectors Revision seiner ersten Aussagen und sein dazu
gemachter Kommentar zielte v. a. auf die §§ 158 und 163
StGB, nach denen die Strafe bei Meineid auf die Hälfte
bis ein Viertel reduziert wurde beziehungsweise Straflosigkeit
zur Folge hatte, wenn eine gegenläufige Aussage
vor der Anzeige wegen Meineids erfolgte, wenn
der »Meineid« niemand geschadet hatte und er aus
Fahrlässigkeit erfolgt war.
[40] In seinem Schreiben an die Regierungskommission
heißt es, dass Hecors Krankheit ihn hindere, »pour
plusieurs semaines« an der Arbeit der Reko teilzunehmen,
und dass er daher Julius Land, »ancien Landrate
de Sarrelouis«, als seinen Stellvertreter benenne. Hector
kannte Land auch als Stadtverordneten, er gehörte
dem Rat bereits vor Hector an. Vgl. Procès-verbal du
Conseil de Gouvernement vom 3. März 23 (LA SB, NL
Koßmann 35, S.73) sowie: StA SLS das Beschlussbuch
Stadtverordnetenversammlung 1913–1920.
saargeschichte|n 41
der ganzen Saarbevölkerung zum Wohle
gereicht und für die sie ihm immer dankbar
sein wird«. Und Kollege Lehmann plädierte
entgegen der ursprünglichen Vorstellung
des Gerichts, dass der Staat die Kosten des
Verfahrens trage, dafür, dass alle Kosten
von Hector übernommen werden müssten,
einschließlich jener Unkosten, die dem
Angeklagten entstanden waren. Genau so
beschloss es dann das Gericht. [41]
Vollständiger als Hector konnte man ein
Gerichtsverfahren eigentlich kaum verlieren.
Der Prozess hatte als Beleidigungsklage
gegen einen Redakteur begonnen
und endete als völliges Debakel für einen
Minister. Der Nachhall dieses spektakulären
Verfahrens war noch lange zu hören,
weit über das Prozessende, ja über das
Ende der Völkerbundszeit hinaus.
Ein asiatisches
Gesicht in blau-weißrot,
die Kokarde auf
dem Kopf und eine
(falsche) Schlange,
die das Saargebiet
vergiftet: Die Attribuierung
des frankophilen
Saarbundes
auf einem »deutschen«
Plakat anlässlich
der Landesratswahlen
von 1932 war
eindeutig. (Sammlung
Gerhard Paul)
Vom Nachbeben zum Nachleben
Vor einigen Jahren hat Alexis Andres, französischer
Diplomat und Enkel des früheren saarländischen
Innenministers Edgar Hector, einen
Artikel über die politische Vorstellungswelt seines
Großvaters publiziert. Auf der Suche nach
den frankophilen Wurzeln von Hectors saarländischer
Politik im teilautonomen Saarstaat
kommt Andres zu Beginn auch kurz auf das Wirken
seines Urgroßvaters Jakob Hector zu sprechen.
Ein Grund für dessen Rücktritt aus der
Reko im März 1923 sei die Sorge des Urgroßvaters
gewesen, sein Familienleben vor den politischen
Spannungen schützen zu müssen. Spannungen,
die vor allem auf die »scharfen Angriffe« der
»prodeutschen Opposition« im Saarland gegen
die »frankophilen Neigungen« Jakobs zurückzuführen
gewesen seien. [42]
Nach dem bisher zum Fall Hector Dargelegten
möchte man den einen oder anderen Widerspruch
gegen diese etwas einseitige Begründung
erheben. Im unmittelbaren Handlungszusammenhang
der frühen 1920er Jahre waren
es vorderhand und zuallererst natürlich nicht
familiäre Gründe, die den Rücktritt verursachten,
[41] Infos und Zitat nach: Der Hectorprozeß. Der sechste
Verhandlungstag, in: SZ v. 9. März 23.
[42] Alexis Andres, Edgar Hector und die Saarfrage 1920-
1960, in: Rainer Hudemann u.a. (Hgg.), Grenz-Fall. Das
Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–
1960, St. Ingbert 1997, S. 163–176, hier S. 164. Vgl auch die
Straßburger Maîtrise d’histoire des gleichen Autors:Edgar
Hector et la question sarroise 1920–1957.
sondern die in einem einwandfrei rechtsstaatlichen
Verfahren nachgewiesenen ‚Grenzüberschreitungen’
während Hectors Amtszeit als
Bürgermeister von Saarlouis und sein haarscharf
am juristisch sanktionierten Meineid vorbeischrammendes
Verhalten vor Gericht. Als Minister
einer Regierungskommission, die ohnehin
ständig im Kreuzfeuer der (inter)nationalen Kritik
stand, war er so schlechterdings nicht mehr
haltbar, sein Rücktritt kam also quasi zwangsläufig.
Dennoch wäre es nicht gerechtfertigt,
Andres’ Darstellung einfach als pure Apologetik
im Dienst einer möglichst ungetrübten Familienbiografie
zu qualifizieren. Das Narrativ der Familie
Hector hat in diesem Punkt nämlich durchaus
auch seine historisch berechtigten Seiten. Zum
einen, weil völlig überzogene Anfeindungen der
Hectors durch eine »deutsche Opposition« tatsächlich
stattfanden – diese ihre aggressiv-ausgrenzenden
Wirkungen aber erst später und in
anderem Kontext entfalteten. Zum anderen, weil
die öffentliche (Selbst-)Demontage einer politischen
Führungsfigur wie Jakob Hector auch ein
unmittelbares Nachbeben in der Völkerbundszeit
verursachte. Dass davon er und seine Familie
persönlich betroffen sein würden, war kaum
anders zu erwarten, gerade bei nationalen Fragen,
die in den 1920ern stets in unmittelbarer
Verbindung mit denen der Ehre verhandelt wurden.
Mit welcher Hypothek Hector den Neustart in
Privat- und Berufsleben schaffen musste, machte
schon die Eingabe der Saarparteien an den
Völkerbund vom 13. März 1923 klar. »In den Augen
An einem Umzug
frankophiler Organisationen
des Saargebietes
durch Paris
nahm Anfang der
1930er Jahre der
junge Edgar Hector,
Sohn Jakob Hectors
und nachmaliger
saarländischer Innenminister,
als Gallionsfigur
der »Sarre« in
tragender Funktion
teil.
der gesamten Saarbevölkerung«, heißt es da, »ist
und bleibt Dr. Hector allzeit ein Meineidiger und
ein Verräter. Jedermann ist empört, dass ein derartiger
Mann eine so lange Zeit der Vertreter der
Saarbevölkerung in der Regierungskommission
des Saargebietes sein konnte.« Da wir keinen
unmittelbaren Einblick in die Familiengeschichte
jener Zeit besitzen, können wir nur ahnen, was
eine solche Belastung für das Leben in und um
den Großen Markt 16 in Saarlouis bedeutete.
Fest steht zunächst einmal nur, dass Jakob Hector
nach seinem knapp dreijährigen Intermezzo
als Berufspolitiker wieder in seine Arztpraxis
zurückkehrte. Und wenn die Taxierungen späterer
Jahre über diese Zeit zutreffen, dann hatte
Hector nach 1923 wieder eine gut gehende Praxis,
die ein ordentliches Familieneinkommen garantierte.
Eine solche erfolgreiche Reintegration war
keineswegs selbstverständlich nach dem öffentlichen
Absturz, bringt in solchen Fällen der politische
Niedergang doch oft einen harten Einschnitt
in der sozialen Reputation mit sich. Aber vielleicht
war es auch genau umgekehrt. Nach verschiedenen
Erzählungen war Jakob ein guter und
beliebter Arzt, und es könnte genau diese Positionierung
in der lokalen Gesellschaft gewesen sein,
die ihn die Demontage als politische Führungsfigur
relativ schadlos überstehen ließ. [43]
Eine andere Frage ist, wie die dramatischen Ereignisse
von 1923 auf die Kinder der Hectors wirkten.
Die drei ältesten waren Jungen, Arno, Kurt
und Edgar, zum Zeitpunkt des Prozesses knapp
17, 15 und 12 Jahre alt, in einem Alter also, da die
Vaterfigur eine doppelt wichtige Rolle spielt.
Zumal in einer Zeit wie damals, als die Welt der
männlichen Sozialisation von lauter (nationalen)
Heroen bevölkert war. Es braucht nicht viel
Phantasie, um sich vorzustellen, welches Echo die
öffentliche Brandmarkung des Vaters als nationaler
»Verräter« und »Meineidiger« in dieser
[43] Die Eingabe vom 13. März 23 zitiert nach LA SB, NL
Schneider 239; die Einschätzung der Einnahmen aus
dem Praxisbetrieb von Hector in der Völkerbundszeit
nach: einer Taxierung der Ärztekammer in den Entschädigungsakten
der Hectors: LA SB, LEA 14216, Bl. 24.
pubertären Welt ausgelöst hat. Und dass der tägliche
Gang zur deutschen Schule zu einem Spießrutenlauf
werden konnte. Was wiederum ein
Grund dafür gewesen sein mag, dass der Vater
den jüngsten Sohn Edgar für seine letzten Schuljahre
aufs Kolleg der Jesuiten nach Metz schickte.
Die Fürsorge für die Kinder, sie spielte im Hause
Hector sicher eine besonders große Rolle, nicht
zuletzt seit den Erfahrungen aus der ›Gründerzeit‹
der Familie, als dem jungen Paar 1905 binnen
drei Wochen die ersten drei Kinder im Alter von
wenigen Monaten bis zwei Jahren verstarben. [44]
Obwohl man Anfang des 20. Jahrhunderts mit
einem solchen ›schnellen Kindstod‹ viel häufiger
rechnen musste als heute, war das für einen
Arzt und tiefgläubigen Katholiken fraglos eine
traumatische Erfahrung. Umso mehr wird sich
der Vater nach den Ereignissen der frühen 20er
bemüht haben, Schaden von seinen verbliebenen
Kindern abzuhalten. Gemeinsam mit seinem in
Paris auf das Jurastudium wartenden Sohn Edgar
erwarb er 1930 sogar die französische Staatsbürgerschaft.
Vermutlich deshalb, weil das sonst
für den noch minderjährigen Edgar nicht so ohne
weiteres möglich gewesen wäre.
Was von außen – und das heißt: in der historischen
Rückschau wie in der Perspektive von
Hectors Gegenspielern – wie die konsequente
Fortführung eines frankophilen Lebensweges
aussah, das könnte also auch hier noch in eine
andere Richtung weisen. Ähnlich wie bei seinen
profranzösischen Entscheidungen der Nachkriegsjahre
könnte der Weg zur französischen
Staatsbürgerschaft vor allem pragmatischen
Gründen geschuldet gewesen sein, Einsicht in
jene Notwendigkeiten dokumentieren, die man
zu beachten hatte, wenn man die beste Lösung
für seine »Schutzbefohlenen« finden wollte.
Umgekehrt bedeutete dies allerdings auch, dass
Hector nicht die gleichen unverrückbaren Vorstellungen
von Nation und Nationalgefühl teilte
wie die allermeisten seiner (deutschen) Zeitgenossen.
Dass alles Nationale bei ihm nicht jenes
zunehmend ethnisch-völkisch grundierte Fundament
besaß, das die Volksgemeinschaft gerade
nach den Fronterlebnissen des Ersten Weltkriegs
entwickelt hatte. Dass ihm seine Nation
mithin nicht in Fleisch und Blut übergegangen,
nicht untrennbar mit seiner physischen Existenz
verbunden, sondern im Notfall eben auch
austauschbar war. Wäre Hectors Leben einfach
einem frankophilen Muster gefolgt – und zwar in
[44] Vgl.: Klauck, Einwohner Saarlouis (wie Anm.2), Nr. 22270,
S. 553.
saargeschichte|n 43
unserem heutigen, eher positiv konnotierten Verständnis
ebenso wie im durchweg negativen seiner
Zeitgenossen – dann hätte diese Biographie
in vielen Dingen sicher anders ausgesehen. Dann
wäre er bestimmt nach dem GAU von 1923 und
erst recht nach dem Super-GAU von 1935–45
nicht in Saarlouis geblieben beziehungsweise
dorthin zurückgekehrt. Dann hätte er ohne Zweifel
auch sprachlich schon viel früher eine größere
Annäherung an Frankreich gesucht (Hector, so
wird berichtet, hatte hingegen noch in der Exilzeit
aus sprachlichen Gründen Schwierigkeiten,
seinen Arztberuf in Frankreich auszuüben) und
wäre nach den schlimmen Erfahrungen mit großer
Wahrscheinlichkeit dauerhaft in der Grande
Nation geblieben. [45]
Das Beispiel der Frankophilie deutet an, dass
wir sehr viel intensiver über die Kategorien des
Nationalen nachdenken müssen, wenn wir all
das verstehen wollen, was mit dem Fall Hector
verbunden ist. Wir müssen diese Kategorien historisieren,
kontextualisieren, anthropologisieren,
quasi verflüssigen, um nicht durch ein statisches
Begriffsverständnis die Geschichte der 1920er
Jahre zu vernebeln, anstatt sie aufzuklären. Das
gilt für das Selbstverständnis der historischen
Akteure von einst ebenso wie für die wechselnden
Bilder, die wir Nachgeborenen uns von ihnen
machen. Dass das Verdikt vom frankophilen Dr.
Hector, mit dem die Saardeutschen in den Zwanzigern
ihren Zeitgenossen belegten, etwas ganz
anderes konnotierte, als wenn wir heute – aus
der Sicht eines Deutschen – von einem frankophilen
Saarländer sprechen, ist unmittelbar
nachvollziehbar. Der Unterschied von gestern zu
[45] Zur Entwicklung des Nationalismus in Deutschland vgl.
Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland
1790–1990, München 1993, S. 173; Erich Hobsbawm, Nation
und Nationalismus, S. 212ff. Die Informationen zu
Hectors Berufstätigkeit in Frankreich und den mangelnden
Französischkenntnissen nach seiner Entschädigungsakte
in: LA SB, LEA 14216, Bl. 18ff.
heute liegt vor allem darin,
dass bei buchstäblichem
Gleichklang die Frankreichliebe
heute nicht nur denkbar,
sondern möglich, gar
wünschenswert geworden
ist.
Insofern hat die Frankophilie
eine verblüffend ähnliche
Karriere gemacht wie
jene Diskurse über Leib und
Körper, die mit den Vorstellungen
von Nation – wie bereits angedeutet
– so eng verbunden waren. Nichts hat den Körper
in seinen möglichen und verbotenen Äußerungsformen
so eindeutig definiert wie eine scheinbar
ewig festgefügte Ordnung der Geschlechter.
Alles, was von dieser sexuell codierten Ordnung
abwich, wurde als Perversion empfunden, als
widernatürliche Abweichung von jener selbstevidenten
Norm, die die Welt zusammenhielt.
Auf dieser gedanklichen Metaebene betrachtet,
funktionierten Norm und Abweichung in der
Geschlechterordnung ebenso wie in der Ordnung
nationaler Identitäten. Und so nimmt es
kaum Wunder, dass man die Frankophilie lange,
zum Teil noch immer, sprachlich ebenso kategorisierte
wie Homosexualität: Von Neigungen
ist in dem einen wie in dem anderen Fall bis
heute die Rede. Wobei es diese Neigungen früher
zu unterdrücken, gar auszumerzen galt, während
sie mittlerweile als eine von vielen Möglichkeitsformen
gelebt werden wollen. Überspitzt
formuliert entspricht heutige Diversität der
Lebensstile der Internationalisierung, Europäisierung,
Globalisierung politischer Identitätsvorstellungen.
Der Vergleich von nationalen Fragen und Körperbildern
lässt ahnen, wie schwer es ist, eine adäquate
Beurteilung des Falles Hector, seiner Folgen
und der mit ihm verbundenen Erinnerung zu finden.
Weil hier gerade das, was scheinbar ewig gültigen
Naturgesetzen unterliegt, sich in Wirklichkeit
als den Gesetzen der Relativität gehorchend
offenbart. Tatsächlich ergibt sich je nach Standpunkt
ein ganz anderes Bild, einschließlich
jener Ausblendungen und Verfälschungen, die
Perspektivwechsel eben mit sich bringen. So war
bereits die zeitgenössische Auseinandersetzung
von vielen kognitiven Dissonanzen begleitet. Die
saardeutschen Gegenspieler Hectors, infiziert
von der Sozialisation im Kaiserreich und befeuert
von den Erfahrungen des Weltkriegs, konnten
des Doktors Aktivitäten kaum anders deuten
denn als schändlichen Verrat und Betrug – wie
Ein beredtes Zeugnis
für den Wandel der
saarländischen Vorstellung
von Frankophilie
stellte der
erfolgreiche Wahlkampf
des nachmaligen
Ministerpräsidenten
Oskar
Lafontaine im Jahr
1985 dar: Das »savoir
vivre« war staatstragend
geworden.
(LA SB, Plakatsammlung)
Edgar Hector bei
einem Empfang
des saarländischen
Ministerpräsidenten
im Ministerpräsidium
in der Saarbrücker
Schillerstraße 1949.
Neben Hector Josef
Kurtz (l.) und Emil
Weiten (r.)
sonst hätte man eine Politik erklären können, sie
so offenkundig der natürlichen Ordnung widersprach?
Sie übersahen dabei ganz (und vermutlich
auch gerne), dass Hector sehr wohl im Interesse
des (lokalen) Gemeinwohls handelte, dass
er diese Gemeinschaft aber ganz offenkundig
nicht als vom nationalen Blut schicksalhaft
zusammengehaltenen Volkskörper begriff. Dass
gerade er als Arzt dem engen Konnex von Körper
und Nation skeptisch gegenüberstand, ist vielleicht
kein Zufall, zumal solche transzendenten
Gemeinschaftsvorstellungen in einem unmittelbaren
Konkurrenzverhältnis zu denen »seiner«
heiligen katholischen Kirche standen.
Ob man Hectors Politik der Jahre 1919/20 im
juristischen Sinne überhaupt als »Landesverrat«
hätte sanktionieren können, ist eine andere
Frage. Immerhin befand sich die Saar damals in
so etwas wie einem nationalen Schwebezustand,
schufen das Besatzungsregime, die Möglichkeiten
einer friedensvertraglichen Neuregelung
und schließlich der internationale Status der
Völkerbundsregierung ganz andere Voraussetzungen
als es vor 1919 oder nach 1935 der Fall
gewesen wäre. Selbst wenn aber Hector in diesem
Punkt einen Freispruch vor einem virtuellen
Gericht und der realen Geschichte erreichen
könnte, so war doch sein Verhalten nicht frei von
Schuld, von Fehlern und Fehlwahrnehmungen.
Denn so sehr er sich mit seiner Frankreichpolitik
eigentlich für das Wohl seiner Stadt einsetzen
wollte, so sehr übersah er dabei gut und gerne,
dass er sich über die nationalen Gedanken und
Gefühle der allermeisten Mitbürger_innen in seiner
Kommune recht eigenmächtig hinwegsetzte.
Dass er damit die demokratischen Spielregeln im
Saarlouiser Rathaus missachtete. Dass er sogar
bereit war, den großen Mehrheitswillen mit
einem Doppelspiel zu delegitimieren. Ob er dabei
wissentlich trickste oder nur in wohlmeinender
Absicht Dinge zuließ, von denen er selbst lieber
nichts wissen wollte, ist letztlich nur ein gradueller
Unterschied. Vermutlich glaubte er einfach,
auch da ganz Arzt, die einzig richtige Medizin für
seine politischen »Patienten« zu haben.
Die kollektive Erinnerung des Saarlandes an den
Fall Hector hat sich sehr lange gehalten, teils
namentlich, noch viel mehr aber als Metapher für
jenes Feld der deutsch-französischen Wechsellagen,
in dem das Land seine nationale, staatliche
und kulturelle Identität gesucht und gefunden
hat. Die langlebige Erinnerung hat sicher damit
zu tun, dass der Fall Hector den Anfang unseres
»Saarhunderts« beschreibt, dass er genau an jener
Schnittstelle stattfand, an dem staatliche Identitäten
– erstmals einschließlich einer solchen des
Saarlandes selbst – neu verhandelt und nationale
Gefühlslagen neu befeuert wurden. Im Fall Hector
steckte damit bereits die gesamte Potenzialität
des saarländischen »Sonderwegs«, der im
deutsch-französischen Antagonismus begann
und im Zeichen deutsch-französischer Freundschaft
bis heute fortlebt. Die unterschiedliche
Perspektivierung der nationalen Frage, die schon
den Hectorprozess so explosiv gemacht hatte,
bestimmt auch die historische Rückschau auf den
Fall. Die einen, deren nationales Blut die Frankophilie
bereits in den 1920ern in Wallung gebracht
hatte, sahen in ihm so etwas wie die Erbsünde
des Separatismus’ und der patriotischen Unzuverlässigkeit.
Der Fall Hector stand deswegen
ganz folgerichtig stets am Anfang jenes deutschnationalen
Narrativs vom Saarland, das nach
den nationalsozialistischen Monstrositäten zwar
modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage
gestellt werden musste. Mit dem Innenminister
Edgar Hector hatte die »deutsche« Opposition
auch im frankophilen Nachkriegssaarland einen
glänzend funktionierenden Gegenspieler aus der
gleichen Familie gefunden, der damit die alten
Vorstellungen vom Zusammenhang von Blut und
Nation quasi ex negativo spiegelte.
saargeschichte|n 45
Der seit 1930 französische
Saarländer Jacob
Hector (3.v.l.) unter
Franzosen: Hoher
Kommissar Gilbert
Grandval, General
Joseph Louis Marie
Andlauer, Madame
Christine Grandval
(erste Reihe, v.l.n.r.).
(LA SB, NPressPhA)
Auf der anderen Seite der saarländischen Sonderwegsgeschichte
stand die Fraktion derer,
deren nationale Identitätsvorstellungen entweder
bereits nach dem Ersten Weltkrieg Flexibilitäten
zuließen (eine winzige Minderheit)
oder nach den schlimmen Erfahrungen der
Nazizeit einem leiblich-völkisch begründeten
Nationalismus endgültig abgeschworen hatten.
In dieser bis heute lebendigen Tradition hat die
Erinnerung an Jakob Hector einen neuen Platz
erhalten. Seine frankophile Politik wurde nicht
nur vom Ruch des Vaterlandsverrats befreit, sondern
retrospektiv geadelt: durch Hectors Beitrag
zum Widerstand gegen Hitler (der 1933 mit
der Gründung der von Frankreich unterstützten
Saarländischen Wirtschaftsvereinigung begann),
durch seine Emigration nach Frankreich, durch
seinen Status als Verfolgter des Nationalsozialismus.
Dass auch die Umstände des Falles Hector
vor diesem Hintergrund unter eine Art Generalamnestie
gestellt wurden, ist moralisch absolut
verständlich, historiographisch aber fragwürdig.
Nicht nur, weil der Prozess bereits zehn Jahre
vor der nationalsozialistischen Machtergreifung
stattgefunden hatte, sondern auch, weil diese
Überblendung nicht unbedingt zu einer intensiveren
Beschäftigung mit diesem wichtigen Kapitel
saarländischer Geschichte beigetragen hat.
Und heute, was ist geblieben in der saarländischen
Erinnerung an Jakob Hector und seinen Fall?
Man hat auch nach längerer Beschäftigung das
Gefühl, dass es abgesehen von der bereits eingangs
benannten Fanalwirkung seines Namens
wenige Fakten aber viele moralische Grautöne
gibt. Weil die »deutsche« Tradition ihn nicht
gänzlich zur Antifigur aufbauen konnte (dagegen
stand sein antinazistisches Engagement) und
die antinazistische Tradition ihn nicht rundweg
positiv vereinnahmen konnte (dagegen stand
sein undemokratisches Verhalten am Beginn des
»Saarhunderts«), wurde er in eine Ecke des saarländischen
Geschichtsraumes gestellt, die man
am besten nur wenig, ganz diskret beleuchtet.
Selbst in Saarlouis, jener Stadt, in der er sein halbes
Leben gewohnt und gearbeitet und für die
er riskante Reisen nach Paris unternommen hat,
selbst in dieser »seiner« Stadt stammt die heutige
Erinnerungskultur eigentlich von gestern.
Wäre der frankophile Saarstaat nicht gewesen,
würde man Hectors Namen in der Saarlouiser
Öffentlichkeit vermutlich vergeblich suchen.
Denn nur damals gab es für ihn eine öffentliche
Rehabilitation, er erhielt die Ehrenbürgerschaft
der Stadt und schon ein Jahr später (1951), noch
zu seinen Lebzeiten, wurde eine Straße nach
ihm benannt. An der vielleicht deswegen wiederum
das Erstaunlichste ist, dass sie die »Kulturrevolution«
von 1956/57 überlebt hat.
Aber wer weiß, vielleicht gibt es in Saarlouis
ja irgendwann ein Hector-Revival. In Zeiten, in
denen Kulturmanagement und Stadtmarketing
den Reiz der Frankophilie neu entdeckt haben,
in denen man mit strahlenden Augen und ohne
nationale Störfeuer seine französische Festungsgeschichte
präsentieren kann (natürlich auf
Deutsch), in denen man savoir vivre zu Füßen
eines saarlouis-französischen Generals zelebriert,
der nicht nur zu leben, sondern natürlich auch zu
töten verstand – in diesen verrückten, schönen,
modernen Zeiten könnte man sich doch eigentlich
auch wieder mehr an jenen frankophilen
Mann erinnern, der vor hundert Jahren ganz
heimlich große Pläne für seine Stadt entwickelt
hatte. Wären sie aufgegangen, die Saarlouiser
müssten heute nicht mehr nur von der heimlichen
Hauptstadt des Saarlandes schwärmen.
Sie könnten sogar auf das Adjektiv verzichten.
mit dem rütlischwur heim ins reich!
Der Abstimmungskampf von 1935 und seine eidgenössischen Vorbilder
von florian bührer
Toni Zepf, Saarkundgebung
am Niederwalddenkmal
27.
August 1933, Farblithographie,
100 x
155 cm, Auftraggeber:
Saarvereine. (Institut
für Zeitungsforschung
Dortmund)
An der Saar kam es 1935 zu regelrechten Plakatschlachten.
Der Grund: Wie im Versailler Vertrag
vorgesehen, fand am 13. Januar 1935 unter Aufsicht
des Völkerbunds eine Volksabstimmung
statt. Die Saarländer und Saarländerinnen sollten
über ihre Zukunft entscheiden. Vor allem von
deutscher Seite ging der Abstimmung eine massive
Propagandakampagne voraus. Unter Führung
der NSDAP hatten sich 1933 im Saarland
rechte Parteien zur »Deutschen Front« formiert,
die vom Deutschen Reich auch finanziell unterstützt
wurde. Egal ob Befürworter oder Gegner
eines Anschlusses an das Dritte Reich – ihre visuellen
Argumente ähnelten sich stark. Blickt man
aus der Schweiz auf die eingesetzten Bildmotive
ist man überrascht. Denn die sind auch im eidgenössischen
Bildgedächtnis omnipräsent.
An der Saar sei es bei der Saarabstimmung 1935
zu »regelrechten Plakatschlachten« [1] gekommen,
schreiben die Historiker und Autoren Gerhard
Paul und Ralph Schock. Das verwundert insofern,
da in Deutschland Volksabstimmungen nur selten
stattfinden und folglich das Abstimmungsplakat
hier ein Nischendasein fristet. Anders
in der Schweiz. Flaniert man dort vor einem
Abstimmungssonntag durch den öffentlichen
Raum, wird man von der Vielzahl an Plakaten
förmlich erschlagen. Mit Beginn des
Schweizer Bundesstaates und der ersten eidgenössischen
Volksabstimmung 1848 tauchten
allmählich immer mehr Plakate an Häuserund
Plakatwänden auf. Nicht so in Deutschland.
Denn zur gleichen Zeit wurde hier das politische
Plakat verboten. Das Zensurgesetz blieb
bis 1918 in Kraft, politische Plakate waren in
Deutschland bis 1914 in Gänze verboten. [2]
Es dauerte beinahe 20 Jahre, bis im Saarland der
besondere Plakattypus des Abstimmungsplakats
auf deutschem Bode eine kurze Blütezeit erfuhr.
Die beiden Abstimmungskämpfe von 1935 und
1955 zeigen die wechselvolle Geschichte des Saar-
[1] Gerhard Paul; Ralph Schock, Saargeschichte im Plakat
1918–1957, Saarbrücken 1987, S. 7.
[2] Kai Artinger, Das politische Plakat – Einige Bemerkungen
zur Funktion und Geschichte. In: ders (Hg.), Die Grundrechte
im Spiegel des Plakats von 1919 bis 1999, Berlin
2000, S. 15–22, hier S. 19.
landes zwischen Deutschland und Frankreich,
zwischen Demokratie und diktatorischer Herrschaft
und zwischen militärischer Besatzung und
vermeintlicher Befreiung. Jeder dieser Punkte
würde meterweise historische Bücherregale füllen.
Die Bildwissenschaft interessiert sich jedoch
mehr für die eingesetzten Bildmotive. Denn sie
sind es, die die stummen Plakate zum Sprechen
bringen. Wie sich zeigt, waren vor allem bei der
ersten Abstimmung 1935 an der Saar Bildmotive
beliebt, die in ihrer ästhetischen Gestaltung
und in ihrer ikonographischen Aussage im kollektiven
schweizerischen Bildgedächtnis einen
festen Platz haben, und die auch in den eidgenössischen
Abstimmungskämpfen seit mehr
saargeschichte|n 47
als hundert Jahren eine große Rolle spielen. Nämlich
die Gründermythen Wilhelm Tell oder der
Rütlischwur. Sie sind so genannte »Schlagbilder«,
die der Hamburger Kunst- und Bildhistoriker
Aby Warburg während des Ersten Weltkriegs
als Reaktion auf die gestiegene Bildproduktion
prägte. Er meinte damit den gesteigerten affektiven
Gehalt von Bildern, die besonders in politischen
Streitfragen mit Kalkül eingesetzt wurden.
[3]
Durch sie werden politische Vorstellungs- und
Erscheinungsbilder geformt und propagiert. Die
saarländischen Plakate zeigen, dass diese Schlagbilder
länderübergreifend ihre Wirkung in der
politischen Propaganda entfalten. Egal bei welch
politischer Couleur. Egal ob an der Saar, an der
Prims oder eben an der Limmat.Der Duft der Freiheit
weht nur wenige Jahre an der Saar Nach
der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten
Weltkrieg trat am 10. Januar 1920 der Versailler
Vertrag in Kraft. Da sich Frankreich mit der Annexion
des Saarreviers nicht durchsetzten konnte,
einigten sich alle Parteien auf den Kompromiss,
dass das Saargebiet fünfzehn Jahre lang vom
Völkerbund verwaltet werden sollte. Der französische
Staat übernahm als Ersatz für die im
Ersten Weltkrieg zerstörten nordfranzösischen
Kohlengruben und als Reparationsleistungen
die Kontrolle über die Gruben an der Saar. Unter
dem Vorsitz des Franzosen Victor Rault nahm die
Regierungskommission am 26. Februar 1920 ihre
Amtsgeschäfte auf. Rault drang darauf, die französischen
Rechte an der Saar auszubauen und
kritische Stimmen zu unterdrücken. Erst 1922
wurde auf Drängen der Bevölkerung ein Länderrat
eingerichtet, der politisch aber nur eine
beratende Funktion hatte. Nach fünfzehn Jahren
musste also die saarländische Bevölkerung
darüber entscheiden, ob sie zu Frankreich oder
Deutschland gehören wollte, oder ob der Status
Quo, das Mandat des Völkerbundes, aufrechterhalten
werden sollte. Der überwiegende Teil
der Saarbevölkerung neigte der Rückgliederung
an Deutschland zu. Am Tag der Abstimmung war
dann die vaterländische Gesinnung des Volkes
stärker als alle wirtschaftlichen Erwägungen, die
gegen den Anschluss sprachen. Über 90 Prozent
der Wähler stimmten für die Wiedervereinigung
mit dem Deutschen Reich. [4]
Im Herbst 1933 setzte in den saarländischen
Städten und Dörfern ein regelrechter »Plakat-,
Transparenten- und Fahnenkrieg« [5] ein. Zwischen
Befürwortern und Gegnern einer »Heimkehr ins
Reich« entbrannte ein heftiger Kampf auf den
Plakatwänden. Die »Deutsche Front« stand an
der Spitze jener politischen Kräfte, die für die
Rückkehr des Saargebiets in ein diktatorisch
regiertes, faschistisches Deutsches Reich eintraten.
Sie war eine Sammelbewegung aus konservativen,
rechtsgerichteten und bürgerlichen
Parteien und setzte auf die Zugkraft nationaler
Parolen. [6] Auch Gebrauchsgraphiker wie der
Saarbrücker Toni Zepf stellten ihre Arbeit in den
nationalen Dienst. Sein 1933 entworfenes Plakat
»Saar Kundgebung am Niederwald-Denkmal«
wirbt mit einer gewaltig senkrecht in den Himmel
ragenden, schwarz-weiß-rot eingefärbten
Schwurhand, hinter der aufrecht und herrschaftlich
auftretenden Germania für die Rückkehr
des Saarlands nach Deutschland. Inmitten einer
heimisch anmutenden, grau schattierten Landschaft
steigt jene Schwurhand empor, die in der
Schweiz eine wohl Bekannte ist. Als Insigne der
Qualität ziert sie seit vielen Jahren Lebensmittelverpackungen
und der Legende nach sollen
drei freiheitsliebende Eidgenossen sie auf einer
Anonym, Wählt Liste
3 zu den Grossratsund
Regierungsratswahlen
im Kanton
Bern vom 5./6. Mai
1934, Auftraggeber:
Nationale Front, Farblithographie,
100 x 71
cm. (Plakatsammlung
Bern, SNL_POL_333)
[3] Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagungen in Wort
und Bild zu Luthers Zeiten (1920). In: Horst Bredekamp;
Michael Diers; Kurt W. Forster; Nicholas Mann; Salvatore
Settis; Martin Warnke (Hg.): Aby Warburg. Gesammelte
Schriften. Erste Abteilung, Band I.2. Die Erneuerung der
heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge
der europäischen Renaissance, Berlin 1998, S. 487–558,
hier S. 513.
[4] Peter Rütters, Landesparlamentarismus – Saarland, In:
Siegfried Mielke; Werner Reuter (Hg.): Landesparlamentarismus.
Geschichte – Struktur – Funktionen, 2. durchgesehene
und aktualisierte Auflage, Wiesbaden, S. 471–
508, hier S. 472.
[5] Paul; Schock, 1987, S. 61.
[6] Wolfgang Behringer; Gabriele Clemens, Geschichte des
Saarlandes, München 2009, S. 101.
Anonym, Nur Status
Quo schützt unsere
Heimat, Auftraggeber:
Status-quo-
Bündnis 1934, Farblithographie
50 x 66
cm. (Deutsche Bibliothek
Frankfurt am
Main)
Wiese am Vierwaldstättersee im ausgehenden
15. Jahrhundert gen Himmel gereckt haben. Die
Hand rekrutiert auf den Rütlischwur – jener
Gründungsmythos der Schweiz, mit dem sich die
Eidgenossen gegen die Habsburger Tyrannei zur
Wehr gesetzt haben. [7] Im populären Geschichtsbild
der Schweizer Bürger ist der Schwur Symbol
der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung.
Im »Weissen Buch von Sarnen«, einer Sammlung
eidgenössischer Urkunden, hieß es 1470:
»und swüren einandern truw und wahrheit und
ir lib und güt ze wagen und sich der herren zu
[7] Ausführlich zum Rütlischwur und den historischen Begebenheiten:
Jean-François Bergier, Wilhelm Tel – Realität
und Mythos, Zürich 2012.
werren.« [8] Hunderte Jahre später aktualisierte
Zepf den Schwur vor einem Hakenkreuz, wahrlich
dem Symbol schlechthin für Unfreiheit und
Unterdrückung: »Schwört und sprecht: Recht
bleibt Recht, Wahr bleibt wahr: Deutsch die Saar.«
Zepf hat den Treueschwur nationalsozialistisch
aufgeladen und macht das nicht zuletzt durch
die Farbkombination schwarz-weiß-rot deutlich.
In seiner Darstellung schwört das Volk nicht der
Freiheit, sondern der nationalsozialistisch Tyrannei
die Treue. Diese faschistische Umdeutung des
[8] Zit. in: Georg Kreis; Josef Wiget, Mythos Rütli: Geschichte
eines Erinnerungsortes, Zürich 2001, S. 77. Sinngemäße
Übersetzung: und schwören gegenseitige Treue und
Wahrheit, Leib und Leben zu wagen und sich gegen die
Herren zu wehren.
saargeschichte|n 49
Schwurs hat das Saarland aber nicht exklusiv. In
der politischen Agitation der Schweiz erlebte der
Rütlischwur vor allem während der Geistigen
Landesverteidigung einen Höhepunkt. Die Geistigen
Landesverteidigung war eine politisch-kulturelle
Bewegung von den 1930er bis in die 60er
Jahre, die »schweizerische« Werte stärken und
das Land gegen die Bedrohung von Nationalsozialismus,
Faschismus und später Kommunismus
schützen sollte. Freilich war die Bewegung
nicht vor faschistischen Tendenzen sicher. Beinahe
zeitgleich warb die »Nationale Front« im
Kanton Bern zu den Grossrats- und Regierungsratswahlen
mit der Schwurhand. Beide
Bewegungen waren in ihrer politischen Haltung
identisch. Auch die »Nationale Front« lehnte sich
an die NSDAP an und machte aus ihrer Liebe
zum Nationalsozialismus keinen Hehl. [9] Statt
schwarz-weiß-rot sollte auf dem Plakat eine rote
Schwurhand samt weißem Kreuz die patriotischem
Gefühle ansprechen. In beiden Plakatbeispielen
ging der freiheitsstrebende Schwur und
der Nationalsozialismus eine unheilvolle Symbiose
ein.
Die Gegner der Rückgliederung des Saarlandes
traten für den Staus Quo ein. Sie mussten im
Abstimmungskampf gegen eine Welle des
[9] Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert,
München 2015, S. 234.
Nationalgefühls ankämpfen. Da die
Befürworter einer Rückkehr zum Großdeutschen
Reich die nationale Unzuverlässigkeit
der Linken betonten,
mussten die Anhänger des Status Quo
ihre Liebe für die Heimat und ihr nationales
Bekenntnis unter Beweis stellen.
»Nur Status Quo schützt unsere
Heimat« verkündet das bekannteste
Plakat der Einheitsfront aus Sozialisten,
Antifaschisten und Kommunisten.
Wie auch ihre politische Kontrahenten
vertrauten sie der Wirkmacht der
Schwurhand. Mit ihr in tiefer Nacht
über einem stilisierten Saargebiet
voller Kirchtürme und Fördergerüste
wollten sie die Propaganda der Gegner
vereinnahmen und das Nationalgefühl
von links instrumentalisieren.
In der Schweizer Plakatgeschichte ist
es keine Seltenheit, dass dasselbe Plakatsujet
während einer Abstimmung
von rechts, wie auch von links vereinnahmt
wird. [10] Der Rütlischwur
hat viele Zungen. Er ist länderübergreifend
offen für unterschiedliche, mitunter
divergierende Interpretationen. Auch an der
Saar.Auch auf ihrem Plakat »Volksfront für Status
Quo« stellte die Einheitsfront den schweizerischen
Gründungsmythos in ihre Sache. Die
drei Eidgenossen wurden ab dem 18. Jahrhundert
zu einem beliebten Motiv im eidgenössischen
Kunstschaffen. Eine der prominentesten Visualisierungen
der freiheitsgewillten Eidgenossen
ist sicherlich Johann Heinrich Füsslis Gemälde
»Die drei Eidgenossen beim Schwur auf dem
Rütli« von 1781. Anfang des 20. Jahrhunderts vollzog
sich die schrittweise Ablösung vom konkreten
Ort und die Ausdrucksfähigkeit der Gruppe
wurde für einen allgemeinen politischen Kontext
vereinnahmt. [11] Auf dem Plakat des Status-Quo-
Bündnisses haben die drei Schwörenden ihre historische
Kleidung zugunsten des »Dresscodes«
der vorkriegszeitlichen Drei-Klassen-Gesellschaft
eingetauscht. Sie verkörpern die Vereinigung des
Bürgertums, der Arbeiter- und der Bauernschaft.
In ähnlicher Tonlage hat Friedrich Schiller in sei-
[10] Siehe hierzu etwa: Bruno Margadant, Das Schweizer Plakat:
1900–1983, Basel 1983 oder auch Bruno Margadant,
»Für das Volk – gegen das Kapital«: Plakate der schweizerischen
Arbeiterbewegung von 1919 bis 1973: 99 Plakate,
Zürich 1973.
[11] Florian Bührer, Die Ikonographie Schweizer Abstimmungsplakate,
Berlin 2015, S. 49.
Anonym, Volksfront
für Status
Quo, Auftraggeber:
Status-quo-Bündnis,
1934, Schwarzer
Druck auf weißem
Grund, 91 x 61 cm.
(Hoover Institution
Library & Archives,
Stanford University,
XX343.8994)
Hans Schweitzer
(Mjölnir), Deutsche
Mutter - heim zu Dir!,
Auftraggeber: Deutscher
Front 1934, Farblithographie,
84 x 119
cm. (Bundesarchiv
Koblenz, Plak 003-
004-019)
nem Drama Wilhelm Tell den Rütlischwur formuliert:
Dort versprechen sich die drei Eidgenossen:
»Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.« [12] Der
Gefahr des Nationalsozialismus begegneten die
Anhänger des Statue Quo allerdings ganz und gar
nicht geeint. In ihrem Plakatschaffen ignorierten
sie ganze Bevölkerungsgruppen wie Anhänger
der katholischen Kirche oder Frauen. So ist die
Selbstbeschreibung »Volksfront« mit Vorsicht zu
[12] Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Tübingen 1804, S. 147.
genießen, wie Gerhard Paul und Ralph Schock
anmerken. [13] Immerhin: Frauen durften bei der
Abstimmung ihre Stimme abgeben. Dieses »Privileg«
war den Schweizer Frauen noch jahrelang
vergönnt. Die Mutter der Nation Ein »optischer
Schrei« [14] , der Aufmerksamkeit erzeugt, ist Hans
Schweitzers Plakat »Deutsche Mutter – heim
[13] Paul; Schock, 1987, S. 67.
[14] So beschreibt der Kunsthistoriker Kai Artinger die wesentliche
Aufgabe eines Plakats. Sieht hierzu: Artinger,
2000, S. 19.
saargeschichte|n 51
zu dir«. Es erfüllt im besten Sinne ein wesentliches
Merkmal politischer Plakate, wie es in der
Schweiz von Plakatkennern vor vielen Jahren
formuliert wurde: »Es wird an unterschwellige
Regungen appelliert, und es werden Emotionen,
manchmal Aggressionen ausgelöst.« [15]
Die »Nationale Front« zielte mit ihrem Plakat
auf die »Ausschaltung des kalt rechnenden Verstandes«
und die »Eroberung des Herzens«. [16] Für
Schweitzer, der unter dem Pseudonym Mjölnir
gestaltete, ist die Rückkehr des Saarlandes zum
Dritten Reich etwas sehr persönliches. Es ist, als
komme der Sohn heim und falle in die Arme der
Mutter. Mjölnir, einer der bekanntesten nationalsozialistischen
Plakatkünstler, proklamierte
unmissverständlich: Deutscher Sohn, komm
heim ins Reich! Der Sohn hat auf dem Plakat die
französische Fabrikkulisse hinter sich gelassen
und überquert die saarländisch-französsiche
Grenze. Erschöpft fällt er in seiner deutschen Heimat
seiner Mutter vor dem Trier Dom in die Arme.
In einer Zeit voller Ungewissheit greift Mjölnir
die latenten Bedürfnisse der saarländischen
Bevölkerung nach Geborgenheit und Sicherheit
auf. Das großdeutsche Reich als hilfsbereite Mutter
versprach in Zeiten der großen Wirtschaftskrise
den Menschen an der Saar vermeintlich
Arbeit und Brot. Die enge Koppelung der Begriffe
Mutter und Heimat bot, wie die beiden Publizis-
[15] Willy Rotzler; Fritz Schärer; Karl Wobmann, Das Plakat
In der Schweiz, Zürich 1991, S. 11.
[16] Paul; Schock, 1987, S. 61.
tinnen Maruta Schmidt und Gabi Dietz
aufzeigen, den Nationalsozialisten
eine entsprechende Projektionsfläche,
um die Begeisterung und Bindung
der Volksgemeinschaft an die eigene
Nation und deren vermeintliche
Größe anzufachen. [17] Die gesellschaftliche
Überhöhung des Mutterbildes
und vor allem der Bildtypus der liebevoll
und schützenden Mutter, die
sich dem Kind zuneigt und es schützend
umfaßt, ist in der politischen
Ikonographie wohlbekannt. In der
Schweiz ging die »Matrona Helvetia«
als mütterliche Personifikation in der
Ikonographie des 19. Jahrhunderts ein.
Im Konflikt mit Preußen um den Kanton
Neuenburg 1856 und zur Zeit der
ersten Gesamtrevision der Verfassung
1874 trat die Helvetia als gerüstete
Mutter wehrhafter Söhne mit Speer,
Schild und Panzer auf. [18] Dieses Bild
der angriffslustigen Helvetia hat sich während
des Ersten Weltkriegs gewandelt. Von nun an
hat sich die Helvetia Schild und Speer abgelegt.
Ganz im Sinne des Zeitgeists zeigt eine Postkarte
des Roten Kreuz zur Bundesfeier 1917 sie in
ihrer mütterlichen Rolle. Nach einem Gemälde
von Eugène Burnand gibt sie sich als einfache
Bürgersfrau, gekleidet in einen groben Mantel,
und hilft den Schwachen und Verfolgten. Barmherzig
nimmt sie ihre Landeskinder unter den
Mantel. Die häufige Darstellung der Helvetia als
Mutter für bedrängte Kinder, Alte und Flüchtende
in der Not ist ein typisches Schlagbild der Schweizer
Ikonographie. Jedoch tritt sie immer jung
und aufrecht auf. Mjölnirs Darstellung der älteren
Frau in gebückter Haltung und grauem Haar
zeugt von den Qualen, die der verlorene Weltkrieg
und der Versailler Vertrag über sie – also über
Deutschland – gebracht haben. Macht weit auf
die Tore Ein besonderes Plakat ist Sepp Semars
»Zu Deutschland«. Am oberen Rand prangt ein
lichtdurchflutetes Hakenkreuz. Es ist eines der
wenigen Plakate, das mit nationalsozialistischer
Symbolik wirbt. Ansonsten verzichtete die »Deutsche
Front« darauf, derart offen ihre politische
Heimat zur Schau zu stellen. Die Plakate sollten
den Eindruck erwecken, es handle sich bei der
[17] Maruta Schmidt; Gabi Dietz, Frauen unterm Hakenkreuz.
Eine Dokumentation, München 1985, S. 56–67.
[18] Ted Stoll, Helvetia und ihre Schwestern: Trouvailles aus
der Rumpelkammer der Geschichte: ein inoffizieller
Beitrag zum Jubeljahr 1991, Bern 1990, S. 76.
Sepp Semar, Zu
Deutschland, Auftraggeber:
Deutsche
Front 1934, Zweifarbendruck,
82 x 117
cm. (Bundesarchiv
Koblenz, Plak 003-
004-020)
Rolf Gfeller, Wählt
freisinnig, Für eine
starke freie Demokratie,
Auftraggeber:
Freisinnig-
Demokratische
Partei der Schweiz,
1951, Farblithographie
127,5 x
90,5cm. (Plakatsammlung
Bern,
SNL_POL_586)
Abstimmung um eine nationale Entscheidung
unabhängig politischer Rahmenbedingungen. [19]
Der Zweibrücker Gebrauchsgrafiker Semar stellte
sein künstlerisches Talent regelmäßig in den
Dienst des Nationalsozialismus. Sein Aushang
»Zu Deutschland« strahlt eine enorme Entschlossenheit
und Siegeszuversicht aus. Ein muskulöser,
ganz in schwarz gekleideter Arbeiter in
Rückansicht stößt mit einem mächtigen Kraftakt
ein schweres Tor auf. Es ist das Tor zum Dritten
Reich. Endlich tritt der junge Mann aus der französischen
Unterdrückung heraus und in das wärmende
Licht des Hakenkreuzes. Für Semar stand
ohne Zweifel fest, wo die Zukunft des Saarlandes
liegen sollte.
In seiner ästhetischen Gestaltung erinnert das
Plakat unweigerlich an ein Plakat des Berner
Künstler Rolf Gfeller. Für die Freisinnig-Demokratische
Partei der Schweiz gestaltete er in den
Fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein
[19] Franz Maier; Sylvain Chimello; Charles Hiegel, Krieg auf
Plakaten – La Guerre par l‘Affiche, Koblenz 2000, S. 77.
nahezu identisches Plakat. Zumindest
aus formalen Gesichtspunkten. Ebenfalls
in Rückansicht stößt ein hermsärmeliger
junger Mann, nicht ganz
so muskulös, in zeitgenössischer Kleidung
kraftvoll zwei Türflügel auf und
eröffnet sich und dem Betrachter den
Weg in die Zukunft. Anders als bei
Semar liegt die Zukunft aber nicht im
nationalsozialistischen Terrorregime,
sondern in einer starken und freien
Demokratie. Es ist wohl gewiss, dass
Gfeller nicht Semars Plakat zum Vorbild
nahm. Vielmehr erinnern die beiden
Plakate in ihren Kompositionen und
der malerischen Stile an ein bekanntes
Schweizer Gemälde. Wären statt
der Türflügel schroffe Felsen und Wolken,
würde man unweigerlich an den
Hodlerschen Tell denken. Der Schweizer
Nationalmaler Ferdinand Hodler
erschuf um 1896 den überlebensgroßen
»Wilhelm Tell«. Der Schweizer
Freiheitskämpfer steht frontal auf
einer Anhöhe, fixiert den Betrachter
mit grimmigem Ausdruck, in der linken
Hand trägt er die Armbrust als
Zeichen der Kampfbereitschaft. Links
und rechts sind die bekannten Wolken,
aus denen er hervortritt. Durch
die Kehrtwende der Figur verändern
beide Künstler die Aussage. Sie sprechen
den Betrachter nicht mehr direkt an, sondern
zeigen ihm den künftigen Weg. Der könnte
unterschiedlicher nicht sein. Bei Semar endet
der Weg im Nationalsozialismus endet, Gfeller
macht sich für eine freie Demokratie stark. Am
18. Januar beschloss der Völkerbund die Wiedervereinigung
des Saargebiets mit dem Deutschen
Reich zum 1. März 1945. An jenem Tag fanden an
der Saar große Feierlichkeiten statt und Adolf
Hitler nahm vor dem Saarbrücker Rathaus den
Vorbeimarsch der »Deutschen-Front«-Formation
ab. »Getreu bis in den Tod« hatten sich die Saarländer
dem nationalsozialistischen Deutschland
verschworen und leisteten diesen Schwur noch
einmal auf einem Plakat vom 1. März. Wie wir
wissen, kam der Tod bereits wenige Jahre später.
Was aber bis heute blieb sind die Bildmotive – die
Schlagbilder – die ihre Kraft aus den Varianten
langer Überlieferungen gewinnen und die an der
Saar, weit weg der eidgenössischen Heimat, offen
für unterschiedliche, mitunter divergierende
Interpretationen sind.
seines zeichens ein dichter
saargeschichte|n 53
Der Kölner Expressionist Johannes Theodor Kuhlemann und Saarbrücken
von ralph schock
Unter dem Titel »Also heraus und weit weg!
– Expressionismus, eine Epoche und die Saarregion«
wird im Sommer 2020 im Conte-Verlag
ein Lese- und Bilderbuch erscheinen, in dem
Ralph Schock Spuren expressionistischer Schriftsteller
und Künstler mit einem Bezug zur Saarregion
dokumentiert.
Zu ihnen gehört der am 4. November 1891 in Köln
geborene und am 9. März 1939 dort gestorbene
Lyriker, Kabarettist, Mundartautor und Musikkritiker
Johannes Theodor Kuhlemann.
Wir drucken einen Auszug aus dem Kapitel über
ihn.
Der 77-seitige Gedichtband »Consolamini«, 1919
im Kairos-Verlag in Köln-Ehrenfeld erschienen,
ist das Hauptwerk dieses rheinischen Expressionisten.
Die Illustrationen des Bandes stammen
von Max Ernst, der im gleichen Jahr zusammen
mit Johannes Baargeld und Hans Arp die Kölner
Dada-Gruppe gründete. Die fünf Zeichnungen
waren die ersten Buchillustrationen des damals
noch weitgehend unbekannten Künstlers. Kuhlemann
und Ernst, gleichaltrig, waren befreundet.
Als Max Ernst seine erste Frau Luise Straus heiratete,
verfasste Kuhlemann ein dreiteiliges Hochzeitscarmen
mit dem Titel »Hymne«. Mit folgender
Nachschrift wurde es in »Consolamini«
aufgenommen: »Gesprochen am 7. Oktober 1918
auf der Hochzeit meiner Freunde Max Ernst und
Lou Straus.« (S. 65).
Schon 1915 hatte Max Ernst versucht, Kuhlemann
an den »Sturm«-Herausgeber Herwarth Walden
zu vermitteln, wo er selbst schon zahlreiche Illustrationen
veröffentlicht hatte. Am 19. Dezember
jenes Jahres übersandte er Walden ein Kuhlemann-Gedicht
mit der Bitte um Publikation: »Ich
schicke Ihnen ein sehr erhabenes Gedicht meines
Freundes Joh. Th. Kuhlemann«. Doch Walden war
der Text möglicherweise zu erhaben, zu einer Veröffentlichung
kam es jedenfalls nicht.
Zu dem Band »Consolamini« hatte Max Ernst
Federzeichnungen beigesteuert, obwohl ihm
der »symphonische, leicht hölderlinsche« Ton der
Gedichte inzwischen »bereits fremd geworden«
sei, wie Werner Spies weiß, der in den Zeichnungen
Ernsts »Klee-Reminiszenzen« erkennt. Da der
Lyrikband nahezu unverkäuflich blieb, wurde fast
die gesamte Auflage 1920 eingestampft. Seine
ersten Gedichte hatte Kuhlemann bereits 1913
in der in Heidelberg erschienenen Anthologie
»Fanale« veröffentlicht, in der auch Lyrik des in
Saarlouis geborenen Expressionisten Richard
Maximilian Cahén abgedruckt war.
Der mehrfach unter dem Pseudonym »Ithaka«
(abgeleitet aus den Anfangsbuchstaben seines
Namens) veröffentlichende Autor verließ
1919 Köln, um eine Stelle als Schriftleiter einer
Saarbrücker Musikzeitschrift zu übernehmen.
Er wohnte laut Eintrag im Saarbrücker Melderegister
vom 11. Dezember 1919 bis zum 20.
August 1920 in der Blumenstraße 33, danach, bis
zu seiner Abmeldung aus Saarbrücken am 27. Mai
1922, in der Lebacher Straße 17. Als Beruf ist auf
der Meldekarte »Schriftsteller« angegeben.
In Köln wurde Kuhlemann vor und nach seinem
Aufenthalt an der Saar von dem Tabakgroßhändler
Josef Feinhals (Collofino) gefördert, einem vermögenden
Kunstsammler und Mäzen der Kölner
und Rheinischen Kunst- und Kulturszene. Der
Autor, der sieben Fremdsprachen beherrschte
und sich exzellent in europäischer Geschichte,
Kunst, Literatur und Musik auskannte, wurde von
Feinhals als Sekretär angestellt und arbeitete als
Kulturhistoriker in dessen Tabakmuseum. Der gut
vernetzte Unternehmer Feinhals war auch mit
Hermann Hesse befreundet, der ihn unter seiner
latinisierten Namensform Collofino in mehreren
Erzählungen und im »Glasperlenspiel« erwähnte.
Leider ist über eine Beziehung zwischen Hesse
und Kuhlemann nichts bekannt. Die umfangreiche
Korrespondenz von Feinhals, die darüber
Saarbrücker Meldekarte
des Johannes
Kuhlemann. (StA SB)
vielleicht hätte Auskunft geben können, wurde
mit der Villa des Unternehmers Anfang Juli 1943
bei einem Bombenangriff auf Köln zerstört. Feinhals-Collofino
starb am 1. Mai 1947, und zwar auf
Schloß Randegg, dem Wohnsitz seines Freundes,
des in St. Avold geborenen expressionistischen
Schriftstellers und Kunstsammlers Hans Koch.
In einer biographischen Skizze, der Einleitung
zu einer Ausgabe von Gedichten Kuhlemanns in
Kölner Mundart, geht Otto Brües kurz auf dessen
Saarbrücker Zeit ein: »Er wird dort Schriftleiter,
und die Weite seiner Bildung ermöglicht
ihm, sich auf vielerlei Gebieten zu tummeln, vor
allem kann er seiner Neigung zur Musik nachgehen.
Seine Musikkritiken gehören zum Besten,
was er wertend hinterlassen hat.« Brües erwähnt
auch dunkle Seiten Kuhlemanns: »Daß sein äußeres
Leben nun gesichert scheint, bedeutet ihm
wenig. In seinem Innern ist er, der leicht Verletzliche,
zutiefst verwundet, auch die Freundschaft
vieler junger Menschen, die sich um ihn
scharen, bringt ihm keinen Trost. […] Er wird nun
im Übermaß der Eindrücke leiblich und seelisch
krank, und die Freunde finden ihn manchmal auf
dem Bette wie tot.« (S. 11) Dies scheint auf eine
depressive Veranlagung Kuhlemanns hinzudeuten,
zudem war er offenbar dem Alkohol nicht
gänzlich abgeneigt. Das legt ein seinem Gedicht
»Der Botengänger« beigefügtes Motto des französischen
Lyrikers Charles-Louis Philippe nahe: »Il
y a un bon Dieu pour les ivrognes« (Gott sei auch
den Trunkenbolden, den Säufern, gnädig …)
Der Schriftsteller Karl Willy Straub (1880–1971),
der nach dem Ersten Weltkrieg in Saarbrücken
lebte, begegnete dort Kuhlemann. In einem drei
Jahrzehnte später entstandenen Gedenkartikel
erinnerte er sich recht herablassend an ihn: »Seines
Zeichens ein Dichter. Ein schmächtiger, mit
einer Hornbrille bewaffneter junger Mensch, der
es nicht dabei bewenden ließ, selbst in die Saiten
seiner etwas verstimmten Lyra zu greifen, sondern
auch die vor ihm und neben ihm dichtenden
Kollegen von Goethe bis Stefan George einer
ihm lauschenden Gemeinde nahe zu bringen
versuchte. Einen besonderen Kreis von Hörern
bildete eine Anzahl junger Menschen beiderlei
Geschlechts, meistens Pennäler und höhere
Töchter der oberen Schülerklassen. Da es Kuhlemann,
dem Vermittler besserer Literatur, an
einem geeigneten Raum fehlte (in seine Mietbude
konnte er wirklich niemanden einladen,
ohne missverstanden zu werden), so verlegte er
seine wöchentlich einmal abzuhaltenden Privatissima
kurzerhand in das Schloßcafé. Hier in
einer stillen Ecke versammelten sich die Adepten
einer brotlosen Kunst und lauschten bei Kaffee
und Kuchen den Ausführungen des vom Nymbus
[!] der Dichtkunst umgebenen Meisters. War die
Stunde abgelaufen, dann türmte sich das Honorar
in Gestalt von Crèmeschnitten, Nußschiffchen
und Mohrenköpfen auf Kuhlemanns Teller. Aber
wohin mit dem Segen? Der Meister wußte sich
zu helfen. Er verschwand geheimnisvoll im W.C.
Wenn er wiederkam, entnahm er seiner Rocktasche
mehrere Meter des bekannten schmalen
grauen oder rosanen Kreppapiers und begann,
dem Naturalien-Honorar einen Verband anzulegen,
um dessen Kunstfertigkeit ihn mancher
Sanitäter hätte beneiden können. Für die Speisekammer
der nächsten Tage hatte Johannes Kuhlemann
gesorgt.
Zehn Jahre später schlug mir ein Teilnehmer der
Rheinischen Dichtertagung in Freiburg [1931] auf
die Schulter. Es war ein sehr korpulenter Mann
mit dicker Hornbrille und Baskenmütze. Die Art
der Begrüßung eines mir völlig Fremden ging
mir auf die Nerven, weshalb ich wohl etwas
zurückhaltend meinen Namen nannte. ›Sie kennen
mich nicht mehr?‹, lachte der Dicke. ›Ja, ich
habe mich ein bißchen verändert, das muß ich
zugeben: Johannes Kuhlemann aus dem Schloßcafé
in Saarbrücken.‹ ›Ach, Sie sind es‹, rief ich
nun, versöhnt mit der burschikosen Begrüßung.
saargeschichte|n 55
Inneres des Schlosscafés
an der Viktoriabrücke
in Saarbrücken
1900.
Urheber: Kunstanstalt
Demetz, St. Ingbert.
(LA SB; B 1686/8 C)
›Da scheinen Sie ja der Währung des Schloßcafé-Honorars
treu geblieben zu sein!‹ Wir feierten
das unverhoffte Wiedersehen ausgiebig.«
Zwanzig Jahre später wurde in der Zeitschrift
»Saarheimat« ein weiterer Text Straubs
abgedruckt, in dem er erneut etwas überheblich
auf Kuhlemann zu sprechen kommt. Leider fehlt
dem Beitrag eine Quellenangabe. Ich vermute,
dass er im Auftrag von Karl-August Schleiden
entstand, dem Herausgeber der »Saarheimat«,
und dann in dessen Redaktionsschreibtisch lag,
bis er zwei Jahre nach Straubs Tod schließlich
gedruckt wurde. Straub schreibt:
»Neben diesen mehr oder weniger ernst zu nehmenden
Künstlern [Fritz Grewenig, Christoph
Voll, Richard Wenzel] machten in diesen Jahren
zwei junge Menschen den untauglichen Versuch,
in Saarbrücken sogar so etwas wie eine Bohème
heimisch werden zu lassen. Der eine kam aus dem
Rheinland und hieß Johannes Taddäus [recte:
Theodor] Kulemann [recte: Kuhlemann]; der
andere hatte seiner tschechischen Heimat Valet
gesagt und hörte auf den Namen Mischa Szenkar.
Kuhlemann war der typische Kaffeehausliterat.
Wo er nächtigte, war unbekannt. Tagsüber saß
er im ›Schloßcafé‹ im Kreise literaturhungriger
Gymnasiasten und las ihnen aus einem Bande
George’scher Lyrik vor, die schon deshalb auf die
Jünger Apolls ihren Eindruck nicht verfehlten,
weil sie die Interpunktion und Orthographie auf
den Kopf stellten und damit die Autorität ihres
Deutschlehrers ad absurdum führte. Um mich zu
Luisenbrücke mit
Schloss-Café und
gegenüberliegendem
Gebäude
frühe 1920er Jahre
LA SB
(B 1720/10 C)
amüsieren, setzte ich mich öfters in die Nähe dieses
Kreises. War die Literaturstunde zu Ende, verschwand
Kuhlemann in den Räumlichkeiten ›Für
Herren‹. In das dort von der Rolle abgewickelte
Papier verstaute er dann die von seinen Schülern
gestifteten Kuchen, denn jene pflegten in Naturalien
zu bezahlen! Aber Kuhlemanns Ambitionen
beschränkten sich nicht auf diese Privatissima
in Literatur. Dann und wann veranstaltete
er auch ›Lesungen‹ für die große Öffentlichkeit.
Als er aber in der Auswahl seiner literarischen
Erzeugnisse einmal garzusehr den Takt
gegenüber dem weiblichen Publikum vermissen
ließ – nebenbei erschien er in kurzen Hosen und
gepumptem Gehrock – hatte seine Stunde in
Saarbrücken geschlagen. Das Gedicht von der
›bleichen Wasserleiche‹ war für schwache Nerven
zuviel. In Köln fand Kuhlemann den Mäzen,
den er brauchte. Der Zigarrenfabrikant Feinhals
machte ihn zu seinem Bibliothekar!«
Die Rezitation besagten Gedichts dürfte jener
»berufliche Eklat« gewesen sein, der in einer
kurzen biografischen Notiz über Kuhlemann in
den »Literarischen Nachlässen in Rheinischen
Archiven« genannt wird als Grund für die Rückkehr
nach Köln. Das Gedicht über die »bleiche
Wasserleiche« mit dem Titel »Im Karpfenteich«
verfasste Hanns Heinz Ewers. Viele Abende lang,
so ein zeitgenössischer Bericht, habe er es vor
einem begeisterten Berliner Publikum in Ernst
von Wolzogens Kabarett »Überbrettl« vorgetragen,
»schmatzend wie ein Karpfen«. Das
Publikum in Saarbrücken mag von einer Lyriklesung
möglicherweise Erbaulicheres erwartet
haben als die Rezitation eines solchen Gedichts.
Der Text über die drei Karpfen ist abgedruckt in
dem gemeinsam von Hanns Heinz Ewers und
Theodor Etzel verfassten und 1901 in München im
Albert Langen Verlag erschienenen »Fabelbuch«
(S. 23). Die beiden Autoren dieses Bandes, die
befreundet waren, hatten etwa 20 Jahre vor Kuhlemann
eine Zeitlang an der Saar gelebt. Der eine,
Etzel, ab 1895 als Beamter in Merzig und später,
von Januar bis August 1899, in Saarbrücken als
Herausgeber der Zeitschrift »Der Kunstfreund«;
der andere 1897 einige Monate als Referendar am
Landgericht in Saarbrücken.
Im Karpfenteich
Im Karpfenteiche
schwamm einmal eine bläulich bleiche
und schleimig weiche Wasserleiche.
Ein Karpfenjüngling kam heran
und fing wie folgt zu reden an:
»O Menschenlos! Gewiss die Flammen,
die aus verschmähter Liebe stammen,
verbrannten seinen armen Sinn
und trieben ihn zum Wasser hin!«
Ein anderer Karpfen hört sein Klagen
und hub verächtlich an zu sagen:
»Ach wat! Im Dusel hat er sich verloffen
fiel in den Teich und ist darin versoffen!«
- Jedoch ein alter, hundertjähriger Knabe
erfreute sich der guten Gottesgabe.
Er sprach kein Wort, er frass und frass,
dass er die Welt darob vergass,
und dacht: »Nicht immer gibts im Teiche
solch eine schöne, schleimig weiche
und bläulich bleiche Wasserleiche!«
Der Schriftsteller und Jurist Hanns Heinz Ewers
war von 1912 bis 1920 mit der französischen Lyrikerin
und Malerin Marie Laurencin (1883–1956)
liiert, die zuvor die Gefährtin von Apollinaire
gewesen war. 1914 hatte sie den deutschen Maler
Otto von Wätjen geheiratet und war mit ihm 1918
nach Düsseldorf gezogen. Beide Künstler wurden
von der Galerie Alfred Flechtheim vertreten. Da
der Galerist in engem Kontakt zu dem Sammler
Collofino-Feinhals stand, dürfte Kuhlemann auf
diesem Wege die Französin kennengelernt haben.
Jedenfalls war ihm Marie Laurencin ein Begriff,
ist ihr doch eines jener Landschaftsgedichte des
Bandes »Consolamini« gewidmet, die später
von Erwin Schulhoff vertont wurden. Karl Otten
schreibt in seinen Erinnerungen über Kuhlemann:
»Unter den Besuchern der Ausstellung [Rheinische
Expressionisten, 1914] war mir ein anderer
Dichter aufgefallen, mit dem ich mich
anfreundete, Johannes Theodor Kuhlemann,
braunhäutig, schwarzhaarig, glich er einem Franzosen
oder Spanier eher als einem echten Kölner.
Er war Sekretär des großen Collofino-Feinhals,
jenes reichen Zigarrenhändlers, der das Tabakbuch
schrieb und moderne Bilder sammelte.«
Das Saarbrücker Schloßcafé scheint in jener Zeit
ein beliebter Treffpunkt von Schriftstellern und
Künstlern gewesen zu sein. Auch Alfred Döblin,
der von Januar 1915 bis Juni 1917 in Saargemünd
als Militärarzt stationiert war, berichtet, dass er
»oft herübergewandert« sei, um dieses Lokal zu
besuchen: »Saarbrücken war mir doch damals
saargeschichte|n 57
die ›Großstadt‹. Da war nicht nur das eine Kaffee,
sondern das schöne Schloßkaffee am Wasser, wo
man interessante durchreisende Menschen sah.«
Vermutlich in diesem Szene-Café dürften sich
der expressionistische Lyriker und der böhmische
Komponist und Pianist Schulhoff begegnet
sein. Dieser, damals ein Anhänger des Dadaismus,
hatte am 15. Oktober 1920 eine Stelle als Klavierlehrer
an einem privaten Saarbrücker Konservatorium
angetreten; zwei Unangepasste, bis 1922
in die Diaspora verbannt.
Kennengelernt hatten sich die beiden schon früher.
Denn der damals in Dresden lebende Schulhoff
hatte gute Kontakte in die Künstlerszene
Kölns und Düsseldorfs, etwa zu Otto Dix, der mit
Schulhoffs Schwester Viola liiert war. Dix porträtierte
Hans Koch sowie den Komponisten, der
seinerseits von Dix das Gemälde »Billardspieler«
erwarb .
In der Erwin-Schulhoff-Sammlung im Archiv der
Berliner Akademie der Künste ist die Partitur
»Landschaften op. 26: Fünf Gedichte von Johannes
Theodor Kuhlemann« archiviert mit der Datumsangabe
»23. August 1918«. Schulhoff kannte also
Kuhlemanns Lyrik, zumindest den Zyklus »Das
Herz« und dessen Landschaftsgedichte, bereits
ein Jahr vor der Veröffentlichung. Opus 26 ist eine
Symphonie für Mezzosopranstimme und Orchester.
Vermutlich waren sich die beiden Künstler sogar
schon früher begegnet; denn in dem von Klaus
Simon im Schott-Verlag herausgegebenen Schulhoff-Werk
»Sämtliche Lieder, Bd. 2, Frühe Lieder
II (1911–1915)« findet sich bereits eine Vertonung
des Textes »Der Apfel« von Kuhlemann. Seine
Geburtsstadt Köln ehrte den Schriftsteller mit
einer Straßenbenennung in dem Stadtteil Altstadt-Süd.
Landschaft
Die Türen sind zugeweht
lang. Aber die kalten Kissen
schluchzen der Lust nach. Schräg
rauscht der Vorhang
herein, wie die Liebe kommt,
tiefrot und zum Weinen.
Schmücke mit Silber und Eis
und brich ein Fenster
der hoch andrängenden Welt.
Landschaft
(Marie Laurencin)
Alle Frauen weinen. Der graue Prinz
hat seinen Vater erschlagen. Er reitet
durch der Frühe singende Schneedome
der Lilie nach, die seine vollendeten
Hände halten. Aber
ein Haus ist, dessen bange Wölbung
er nie verlassen wird. Bis in die Keller
fällt Regen böse Jahre lang.
Bitter starren die toten Adern
der Erde. Doch in den höheren Lüften
singt Ariel einsam.
Landschaft
Demut faltet den Raum. Wir müssen
sterben. Aus nächtlichen Spiegeln
zittert Unruh. O Woge
des Monds! Es ruft
über den Fluß. Und hoher,
aller Tage gekrönter Stern
ist unterwegs, hebt
hinter der Wand der Meere sich auf.
Ich kann den Tod nicht, wie
den Abend lieben. Am Ende
steht der Engel: mitten
unter dem Tor. Ihm bergen
lauschendes Haupt die Völker. Auch mir
rauscht am Boden das Gras. Die Pfade
enden im schaurigen Herzen mir.
Junges Mädchen stirbt im Hospital
In meinem Bette flieg ich durch den Raum.
Schneewälder wiegen mich in neuen Düften.
Noch sengen Erdenfeuer aus den Lüften
der letzten Berge düster meinen Traum.
Noch bin ich weich von Schmerz. Hier ist der Saum.
Im Tale brechen leise meine Hüften
und sehnen sich zu ruhn in jungen Grüften,
gebadet und gesalbt. Ich weine kaum
und sinke. Menschen stehn um mich gehäuft,
verliebte, fremd, beladen mit Gerüchen,
Tabak und Blumen aus der alten Welt.
Und Dinge klirren wie verlornes Geld
im Saal, aus dessen bunten Bibelsprüchen
ein letztes Mal Gespräch und Liebe träuft.
von der industriebrache
zum postmodernen ökopark
Der Bürgerpark Hafeninsel in Saarbrücken-Malstatt
von kristine marschall
Bürgerpark
Hafeninsel, Aquädukt,
2018.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Innenstadt
Saarbrückens zu etwa 80 Prozent in Trümmern.
Der dichte Wiederaufbau auf historischen
Quartiergrundrissen prägte das nachkriegszeitliche
Stadtbild in weiten Bereichen. Die verkehrsgerechte
Stadt der 1960er Jahre wurde
durch den Bau der Stadtautobahn in der Flussaue
der Saar Realität. Eine Folge davon war die
Beseitigung der Luisenanlage in Alt-Saarbrücken.
Dieser öffentliche Park erstreckte sich seit 1876
links der Saar in Alt-Saarbrücken bis auf Höhe
der gegenüberliegenden Hafeninsel in Malstatt-Burbach.
Seit dem späten 17. Jahrhundert
wurde hier im Hafenbecken am Altarm der Saar
die in den umliegenden Gruben gewonnene
Steinkohle gewogen, gelagert, von Lastkränen
umgeladen und verschifft. Eigentümer waren
die Saarbergwerke. In der Nachkriegszeit wurde
das Hafenbecken mit Kriegstrümmern verfüllt.
Das Areal wurde zum Schuttdepot. Über Jahrzehnte
erfolgte auf weiten Teilen eine natürliche
Renaturierung. 1967 entstand die Kongresshalle
östlich des bachliegenden Bereichs der ehemaligen
Hafeninsel und eine Teilfläche wurde als
Parkplatz genutzt.
Anfang der 1980er Jahre konkretisierte sich die
Planung der Verkehrsanbindungen der A 1 (Trier,
Köln) und der A 623 (Friedrichsthal, Zubringer zur
A 8 Pirmasens) an die linksseitige A 620 (Stadtautobahn
Saarbrücken-Saarlouis) über die neue
Westspangenbrücke, die 1986 fertiggestellt
wurde. In diesem Zusammenhang ließ die Stadt
Saarbrücken in einem Gutachterverfahren ein
Nutzungskonzept für die historische Industriebrache
beziehungsweise die Kriegstrümmerlandschaft
des ehemaligen Kohlehafens vom
Büro Peter Latz und Partner, Gunter Bartholmai
und Nicki Biegler erstellen, das 1981 in der großformatigen
Publikation Hafeninsel. Alternativen
zur Gestaltung eines citynahen Parks veröffentlicht
wurde.
Die Planer und Landschaftsarchitekten
Dipl. Hort. Anneliese Latz, Prof.
Dipl. Ing. Peter Latz und Paul von Pattay
erarbeiteten dabei drei Konzepte,
wobei die Variante eines geometrischbarocken
Parks ebenso verworfen
wurde wie die des klassischen englischen
Landschaftsgartens. Beides
erschien zu traditionell und hätte in
keiner Weise Rücksicht auf die vorgefundenen
Strukturen genommen.
Diese bildeten jedoch die entscheidende
Prämisse für die dritte,
sowohl naturnah als auch geometrisch
gestaltete Alternative, deren syntaktisches
Konzept umgesetzt wurde. Entscheidend
war die Akzeptanz der vorhandenen
räumlichen Gegebenheiten.
Dabei spielten die Integration differenzierter
Nutzungsanforderungen
saargeschichte|n 59
Bürgerpark Hafeninsel,
gestutzte
Heckenscheiben und
hohe Pappelallee als
Sicht- und Lärmschutz
an der Westspange,
2018.
und entsprechende technische Lösungsansätze,
zudem Ansprüche an die ästhetische Formensprache
und eine moderne Anwendung von
Vegetation eine entscheidende Rolle.
Grundvoraussetzung für die Planung war die
Analyse der architektonischen Hinterlassenschaften,
der Topografie und des vegetativen
Bestandes. Hinzu kam die Beschäftigung mit der
ursprünglichen Nutzung dieses Industriestandortes
und seiner Altlasten. Die Überprüfung der
städtebaulichen Situation und die besonders
von sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen
geprägte optimale Anbindung des neuen Parkareals
an die Stadt waren erklärte Ziele von Peter
Latz.
Das Parkareal auf etwa 190 m über NHN erstreckte
sich Anfang der 1980er Jahre auf etwa 9,5 Hektar
entlang des rechten Saarufers und wurde von
der neuen sechsspurigen Westspange mit ihren
zwei Auf- und Abfahrten sowie dem darunter
befindlichen Parkhaus in Nord-Süd-Richtung in
zwei annähernd gleich große Hälften geteilt. Aktuell
begrenzt eine große Niederlassung der Steag
(technischer Service, Energieanlagen Süd) das
Terrain im Westen. Die St. Johanner Straße mit
dem 2000 implementierten Großkino Cinemax
inklusive Parkplatz schirmen das Areal im
Nordwesten von der Wohnbebauung des südlichen
Malstatt ab. Im Nordosten entstand in
den 1990er Jahren entlang der Hafenstraße
die in zwei parallelen Gebäuderiegeln untergebrachte
Agentur für Arbeit Saarland. Bereits
1967 entstand die Con gresshalle im Osten nach
Entwurf des renommierten Architekten Dieter
Oesterlen. 1996/97 wurde die Parkfläche durch
die Erweiterung der Congresshalle neu begrenzt
und durch den vom Johannes-Hoffmann-Platz
erreichbaren, langgestreckten fünfteiligen Parkhausriegel
vermindert.
Fußläufig zugänglich ist der Park über den
von der St. Johanner Straße abzweigenden
Schleusenweg im Westen, der zugleich das Areal
auch begrenzt, und einen weiteren Stichweg,
der als Verlängerung der von Norden auf die
St. Johanner Straße treffenden Straße Auf der
Werth westlich am Kino vorbei zum Park führt
und dort auf die große diagonale Erschließung
Richtung Saar und Westspange überleitet. Auch
auf der östlichen Seite des Kinos kann man den
Park betreten und gelangt auf einen Hauptweg
in Nord-Süd-Verlauf, der, durch einen schmalen
Grüngürtel (eng gestellte diagonale Heckenriegel
und Alleebäume) von den Parkplätzen
unter der Westspange getrennt, bis an den künstlichen
Teich führt. Parallel dazu verläuft auch von
der Hafenstraße aus ein vergleichbar gestalteter
Weg auf die östliche Seite des Teichs. Auf Höhe
der Abzweigungen der Westspange führen ausladende
Betontreppenkonstruktionen sowohl
links als auch rechts hinunter auf das Parkniveau.
Man findet sich fast mittig in der Anlage zwischen
hohen schmalseitig aufgereihten Heckensegmenten
wieder. Des Weiteren sind zwei
Zugänge von der Congresshalle angelegt, die
zum einen auf den Freiplatz unterhalb des neuen
Parkhauses führen beziehungsweise zur West-
Ost-Querung des Bürgerparks. Der Uferweg entlang
der Saar ist als Teil des Parkkonzeptes über
mehrere Wege und dem zentralen Platz am Teich
mit dem Park verbunden. Entlang der Saar werden
die westlichen und östlichen Parkteile durch
niedrige Stützmauern geschützt.
Bürgerpark Hafeninsel,
Amphitheater,
2018.
Parallel zum Gutachterverfahren lobte die
Saarbergwerke AG einen Wettbewerb für verdichteten
Wohnungsbau als nördliche Randbebauung
aus. Projektiert wurden viergeschossige
Wohnbauten von gehobenem Standard, die
jedoch nicht umgesetzt wurden. Vielmehr entstanden
in den kommenden Jahren entlang der
St. Johanner Straße und Hafenstraße in unmittelbarer
Parknähe große Verwaltungs-, Veranstaltungs-
und Parkhauskomplexe. Der Bürgerpark
büßte die in den 1980er Jahren planerisch intendierte
Bürgernähe mehr und mehr ein, da die
Wohnquartiere durch verschiedene Neubauten
städtebaulich in den Hintergrund rückten.
Peter Latz erhielt den Auftrag, die inzwischen
stark verwilderte Landschaft im Bereich der ehemaligen
Hafeninsel als Bürgerpark zu gestalten.
1983–1989 entstand ein innerstädtischer Landschaftspark,
der die Geschichte des Industrieortes
ebenso einbezieht wie das Trümmerfeld
der Nachkriegszeit, und eine zeitgenössische, von
ökologischen Gesichtspunkten geprägte Anlage
in einem über Jahre hinweg aufgelassenen stadtnahen
Bereich schafft. Diagonale Wege und Sichtachsen
sowie ein dem Gauß-Krüger-Koordinatensystem
folgendes Raster strukturieren den
Park. Engagierte Bürger, Studentengruppen
und Arbeitskräfte eines Arbeitsbeschaffungsprogramms,
Lehrlinge und Handwerker konnten
in Workshops Details nach eigenen Vorstellungen
gestalten. Ziel war die identitätsstiftende Einbeziehung
der Bevölkerung in den Schaffensprozess
bei möglichst kostengünstigen Arbeitsleistungen.
Den Auftakt der Parkanlage im Anschluss an
die Congresshalle bildet eine begehbare türkisfarbene
Stahlpergola mit großen segmentbogigen
Öffnungen, die mit vergitterten
Zwischenelementen alternieren. Sie wurde mit
Glyzinien (Blauregen) bepflanzt. Durch diese
begrünte Torwand gelangt man auf die mit Kopfsteinpflaster
versehene große Freifläche, dem
multifunktional nutzbaren Festplatz. Dieser wird
im Norden durch zwei die Parkgrenze entlang
des neuen Parkhauses säumende Mischhecken
abgeschlossen.
Auf dem Kopfsteinpflaster des Festplatzes wurde
die einzige von insgesamt drei geplanten Skulpturen
aufgestellt. Der Pariser Bildhauer Michel
Gérard schuf die 1991 eingeweihte Installation
Wanderung eines Caspar David. Sie besteht
aus zwölf geschmiedeten Stahlelementen, die
von Saarstahl in Völklingen produziert wurden.
Das größte Element, ein Bogen von vier Metern
Höhe und zwölf Metern Durchmesser, steht auf
einer Fundamentplatte, ebenso sechs stehende
Spitzen. Ein Spieß mit Spirale und eine überdimensionierte
Garnrolle ruhen auf dem Pflaster.
Anfang des 19. Jahrhunderts begann die industrielle
Ausbeute der Erde. Gérard wählte Leitmotive
aus den Gemälden Caspar David Friedrichs
– Regenbogen und Bergspitzen. Romantische
Naturvorstellung und industrielle Fertigung stehen
eng beieinander. Übergroß erscheinen die
Werkzeuge der Plünderung der natürlichen Ressourcen.
Die begehbare Installation schafft ihren
eigenen Bezug zum ehemaligen Kohlehafen und
dem Umgang mit Natur im industriellen Zeitalter.
Der Saaruferweg ist in ähnlicher Dichte wie in
der Grünanlage des Stadens in Saarbrücken-
St. Johann mit Platanen gesäumt, welche hier
saargeschichte|n 61
als beidseitige Allee gepflanzt sind. Oberhalb
des Uferwegs verläuft einer der Hauptwege
des Parks parallel zur Saar von der Congresshalle
zum Parkende am Schleusenweg. Flankierend
bilden rechteckig gestutzte Mischheckensegmente
Nischen aus, in denen weitere mit
Beleuchtungskörpern ausgestattete Rankhilfen
und Sitzgelegenheiten stehen. Die Bepflanzung
verdichtet den Weg seitlich, so dass der Blick eng
auf die Wasserwand fokussiert wird. Zwischen
dem tunnelähnlichen, geschotterten Weg und
dem offenen Festplatz wurden streng orthogonal
Linden aufgestellt, die einen weitläufigen
beschatteten Baumplatz bilden. Im Laufe der Zeit
haben die Wurzeln die ehemals plane Kopfsteinpflasterung
in sanfte Wellenformationen versetzt.
Der künstliche Teich erstreckt sich beidseits
und unter der Westspange und spiegelt deren
Unterbau. Sein Saum ist teils mit feinem Sand
aufgefüllt, teils mit einer Bambusanpflanzung
begrünt, zu der sich im Laufe der Zeit noch Rohrkolben
gesellt haben. Hier siedeln inzwischen
verschiedene Enten- und Halbgansarten. Ein aufgeständerter
Metallsteg führt nahe am Halbrund
der hoch aufragenden Wasserwand aus
Ziegelsteinen vorbei über den Teich hinweg und
unter der Westspange hindurch. Dieser Steg
war ursprünglich beleuchtet. Die Wasserwand,
eines der Schlüsselelemente der Landschaftsgestaltung,
erinnert an ein Segment aus einem
römischen Aquädukt. Wie dort fließt das Wasser
in einer offenen Rinne im oberen Abschluss. Eine
Vielzahl kleiner Wasserspeier mit runden Öffnungen
seitlich der Rinne ermöglichen Wasserergüsse
aus höchster Höhe in den Teich. Auf diese
Weise wird die urbane Geräuschkulisse durch das
fallende Wasser überdeckt und zudem mit
Sauerstoff angereichert bevor es wieder
dem Teich zugeführt wird. Es handelt sich
nicht allein um eine beeindruckende Konstruktion,
sondern hier wird auch pragmatisch
das Oberflächenwasser gesammelt
und die Wasserzu- und -ableitung des
Parks über das kleine unweit aufgestellte
Pumpenhaus bewerkstelligt.
Die aufgeständerte offene Parkhausebene
beidseitig der darüber verlaufenden Westspange
wird von einem breiten Band diagonal
in enger Abfolge angeordneter Mischheckenreihen
begleitet. Diese bestanden
aus Weißdorn, Linden, Hainbuchen, Flieder
und Liguster, der sich dem Formschnitt am
besten anpasste und nun als dominantes
Gehölz die mannshohen Hecken des Parks
prägt. Geplant waren bis zu vier Meter Heckenhöhe,
um die Hochstraße zu kaschieren. Die
Formerziehung durch entsprechende Schnittmaßnahmen
erwies sich jedoch als zu hoher
gartentechnischer Aufwand, zumal in dem zur
unteren Parkebene abschüssigen Gelände.
Als weitere die Höhenstaffelung gen Hochstraße
fortsetzende Elemente tragen die beiden Alleen
hoch aufgeschossener Säulenpappeln auch zur
Sichtabschirmung bei. Peter Latz verband mit
ihnen die Assoziation an südländische, von Zypressen
gesäumte Straßen.
Wichtige Prämissen für die Parkgestaltung waren
eine möglichst Verkehrslärm absorbierende Konzeption
(Wasserwand, Heckenmauern), um neben
der aktiven Nutzung, die vorwiegend im Ostteil
des Parks verortet wurde (Festplatz, später Boulebahn,
aktuell neue Skateranlage), Ruhezonen
in Flussnähe und im Westteil zu erschaffen. Der
Park bietet ein großes Spektrum im Umgang mit
Pflanzkulturen, welches die historische Dimension
der Entwicklung neuzeitlicher Grünanlagen
vom Barock über die romantischen Landschaftsgärten
des 19. Jahrhunderts mit ihren architekturhistorischen
Zitaten widerspiegelt. Vom
ausgeprägten Formwillen (Heckenerziehung,
Buchsbaumformtrimmung) und linearer, geometrischer
Anordnung (Betonung der diagonalen
Wegeführung beziehungsweise Rasterung
mittels Pflanzschemata, lange Blickachsen) reicht
das Repertoire über pflegeintensive Teilbereiche
(Kräuterkiste, Rosenanlage, Beetbepflanzung) zur
Steinspirale mit differenzierten Bodensubstraten,
die der Spontanvegetation zur Verfügung gestellt
wurden, sowie zum weitgehend unangetasteten
Trümmergrundstück mit ökologischem Eigenleben.
Bürgerpark
Hafeninsel,
Spolienwand, 2018.
Aspektreich bieten die überaus zahleichen und
vielfältigen überlieferten Materialien, aus denen
Wegbeläge, Mauern, Treppen, Sitzgelegenheiten,
Nischen, Einfassungen von Pflanzbereichen und
Aussichtspunkte entwickelt wurden, unzählige
optische und haptische Attraktionen. Latz
entwickelte Klamottmauerwerk als Grundbestandteil
der Mauertechnik im Park, für das
die vorgefundenen riesigen Blöcke zusammenhängender
Mauer- beziehungsweise Betonverbände
umgenutzt wurden. Das Entdecken historischer
Relikte und deren Umdeutung im neuen
Parkkontext ist Programm. Neben dem Hauptzugang
von Seiten der Congresshalle, wo durch
die begrünte mehrbogige Pergola der Wechsel
aus der urbanen Struktur in die Grünzone
besonders akzentuiert wird, sind noch sechs
weitere Zugänge vorhanden. Die leichte Erreichbarkeit
des Bürgerparks war ein wichtiges planerisches
Anliegen. Alle Zugänge sind Ausgangspunkte
von Hauptwegen, die zugleich, durch
architektonische und/oder vegetabile seitliche
Wegbegleiter hervorgehoben, lange Blickachsen
bilden. Zusammen mit der diagonalen Wegeführung
sollte eine optische Erweiterung erzeugt
werden.
Gen Westen erschließt sich über die Teichachse
zunächst ein klassisches Landschaftsparksegment
– eine kleinhügelige, mit Buschund
halbhohen Baumgruppen bestandene
Schutttopografie, die vielfältige An- und Einblicke
gewährt. Die syntaktische Durchdringung
naturnaher Gestaltung und geometrischer Ordnung
gelingt im Westteil des Parks am eindringlichsten.
Neben Strauchrosenrabatten wurden
vereinzelte Ölweiden und Traubenkirschen
gepflanzt. Hauptwege bilden ein großes Dreieck
aus, das in optimaler Sonnenlage eine Wildkrautflur
in quadratisch gerasterten Flächen aufnahm.
Eine dieser Fläche füllt eine große steinerne Spirale,
deren unterschiedliche Bodensubstrate differenzierte
Spontanvegetation befördern sollte.
Ein weiteres Hauptanliegen bestand in der
Auflassung verschiedener Parkareale, die ökologisch
sich selbst überlassen blieben, wie das
Trümmergrundstück im Süden und Osten des
Rondells. Dieses entstand als architektonischer
Schwerpunkt im Westen des Parks in Nachbarschaft
zur ungebändigten Natur, in Anlehnung
an römische und neuzeitliche Vorbilder, als Ort
multipler kultureller Open-Air-Veranstaltungen.
Das große in den Schutthügel eingetiefte, von
hohen Stützmauern und einer mit Glyzinien
berankten Pergola umgebene Kreisrund ist über
drei in den Hügel eingeschnittene Zugänge und
Treppen erreichbar. Die Brunnen- beziehungsweise
Bühnenanlage liegt im Zentrum, umgeben
von höhengestaffelten Sitzbänken. Klinker ist
das vorherrschende Material. Von Buchsbaum
gesäumte Blumenbeetsegmente lassen den Ort
zum geordneten, intensiv gepflegten Garten im
Park werden. Versenkt in den Schutthügel entsteht
ein Ruheort abseits des Verkehrs- und
Stadtlärms.
In Richtung Schleusenweg und Unteres Malstatt
waren im Bereich des Bauhofes Nachbarschaftsgärten
geplant, die den Malstatter Anwohnern
zur individuellen Bepflanzung und Nutzung zur
Verfügung gestellt werden sollten. Die persönliche
Gestaltung durch die Anwohner sollte dem
Park zu besserer Akzeptanz durch die Bevölkerung
verhelfen.
Eine weitere Ruhezone bietet der zwischen Rondell
und Westspange ebenfalls in Rundform
angelegte Kastanienhain, ein leicht abgesenkter
Platz mit gemauerten Sitzgelegenheiten, welcher
den ursprünglichen Belag samt Kastanienbäumen
in den Park integriert. Eine Hecke erhöht
optisch den rückwärtigen Wandabschluss, so dass
auch diese kleine Arena sich in den umgebenden
Grünbereich einfügt. Nahe der Böschungsmauer
am Uferweg im Südwesten erlaubt ein Pavillon
den Ausblick über die Saar nach Alt-Saarbrücken.
Die meisten Hauptwege haben begleitend architektonische
Ausstattungen, wie zum Beispiel
kniehohe Mäuerchen, Treppenwangen aus Spolien,
mannshohe Stützmauern mit Pilastern,
Segmentbögen und Nischen oder aufgesetzte
Betonquader mit Schlackesplittoberfläche. Allein
der lange, parallel zur St. Johanner Straße verlaufende
nordwestliche Begrenzungsweg ist
als Pflanzenwand ausgebildet. Das Besondere
der fast zwei Meter hohen Wallhecke in Mischkultur
ist ihr Schnittbild, das als pulsierende
Welle hinter einer Reihe von Götterbäumen viel
Raum einnimmt. Torähnliche Durchlässe, meist
als Ziegelsteinkonstruktionen, wie hohe Pfeiler
mit Übergängen oder Bogenkonstruktionen
ergänzen das architektonische Inventar des Parks
und dienen wiederum der Akzentuierung der
Blickachsen.
Straßenbäume kündigen in den Randbereichen
des Parks bereits die Grünanlage an. Im Park kontrastieren
ruhige Rückzugsräume mit offenen
strapazierfähigen Flächen. Zur Benutzerfreundlichkeit
gehörten eine konstante Beleuchtung
des Hauptwegenetzes, eine Toilettenanlage und
ein Funktionsgebäude für die Gartenpflege.
Die historische Nutzung als Kohlehafen und
die Zweitnutzung als Kriegsschuttdeponie ist
saargeschichte|n 63
Bürgerpark Hafeninsel,
Park- und
Spolienlandschaft,
2018.
anhand diverser Relikte und Ruinen der ehemaligen
Logistikanlage in situ im Park mannigfaltig
ablesbar. Der nach syntaktischem Entwurfskonzept
realisierte Landschaftspark Hafeninsel
im Saarbrücker Stadtteil Malstatt zeichnet
sich durch seine minimalistischen Eingriffe in
die vorhandene Topografie aus. Die natürliche
Pionierpflanzenwelt des Brachlandes wurde in
bestimmten Segmenten bewahrt.
Viele Spolien, überwiegend aus kriegszerstörten
Architekturen des Stadtgebietes, als historische
Relikte uminterpretiert, erhielten eine neue
Funktion und wurden erkennbar teils durch
neue Materialien ergänzt. Die vorgefundenen
historischen Hinterlassenschaften dienen als
Bedeutungsträger der Aufarbeitung des Vergangenen.
Parallel werden die Geschichte und
die Pflanzensukzession des Ortes in großen
Bereichen des Parks thematisiert. Dabei spielt
die vorgefundene Vielfalt der Pflanzen und der
Bodensubstrate aus den verschiedensten geologischen
Vorkommen des Saarlandes eine entscheidende
Rolle. Angestrebt wird die existierende
Flora weiter zu entwickeln, um artenreiche
Biotope zu generieren. Diese stehen in Kontrast
zu den pflegeintensiven Gartenarealen, die sich
über die Hafeninsel verteilen.
Der Rückgriff in die europäische Kunst- und Baugeschichte
findet im Bereich der Landschaftsgartengeschichte
statt. Das Label postmodern
wird aussagekräftig in der hervorragenden syntaktischen
Neuinterpretation barocker Gartenstrukturen
und englischer Landschaftsgartenelemente
dargelegt. Die Grundformen der
beiden neuen Großbauwerke des Parks lösen
Assoziationen an römische Aquädukte und Arenen
aus. Einzelne Relikte werden aufgegriffen,
in den neuen Park integriert (zum Beispiel eine
Kellerruine im Westen, Schienen und Pflaster im
Osten) und zum Teil neu interpretiert (zum Beispiel
Kastanienhain oder Klammottmauern). Eine
für die postmoderne Architekturströmung charakteristische
Uminterpretation und Funktionsänderung
einzelner, größerer historischer Bauelemente
fehlt.
Bedeutend erscheint der neuartige Ansatz im
Umgang mit einer innerstädtischen Industriebrache.
Die Landeshauptstadt hatte sich Anfang
der 1980er Jahre für einen Wandel der städtebaulichen
Leitbilder entschlossen. Zwischen
den Saarbrücker Industriestandorten, den Verwaltungssitzen
und den Nahtstellen der Stadtteile
Malstatt-Burbach und St. Johann entstand
vor dem Hintergrund der damals begeisterten
und engagierten Umweltbewegung in Deutschland
ein Nukleus ökologischer Stadterneuerung.
Als Vorläufer von Parkanlagen mit industrieller
Vorgeschichte kann der 1973 bis 1975 nach Entwurf
von Richard Haag angelegte Gas Works
Park in Seattle, Washington, angesehen werden.
Die historische Kohlevergasungsanlage blieb im
öffentlichen Park als Landmarke, als Zitat der
ehemaligen industriellen Nutzung, erhalten,
während das Gelände jedoch wegen starker Altlasten
abgedichtet und planiert wurde.
Die Saarbrücker Hafeninsel ist eines der frühesten
europäischen Beispiele für die Konversion
einer Industriebrache in einen innerstädtischen
Landschaftspark und bleibt im Saarland singulär.
Etwa zeitgleich entstand 1983 bis 1998 im Nordosten
von Paris der Parc de la Villette auf dem ehemaligen
Schlachthofareal. Die größte öffentliche
Pariser Parkanlage berücksichtigt die 1982 formulierte
Wettbewerbsanforderung, die Geschichte
des Ortes bei der Planung zu berücksichtigen.
Der schweizer Architekt Bernhard Tschumi schuf
den 35 ha großen Park mit knallroten Pavillons,
den Folies, als Knotenpunkte auf einer orthogonal
gerasterten Matrix. In Barcelona wurde
1985 bis 1986 ein ehemaliges Werksgelände der
spanischen Eisenbahngesellschaft in einen 2,7 ha
großen innerstädtischen Quartierspark, dem Parc
del Clot, umgewandelt. Die Landschaftsarchitekten
Dani Feixes und Vincente Miranda nahmen
Industrierelikte in die Parkgestaltung auf
und interpretierten sie im neuen Umfeld um.
Thema dieser landschaftsarchitektonischen
Bestrebungen war die Reintegration von altindustriellen
Standorten in urbane Funktionsräume
in städtebaulich wertvoller Lage. Aus dem
Industriestandort und der Kriegsschuttdeponie
wurde ein vielseitig nutzbarer Freizeitbereich.
Eine Revitalisierung im industriellen Architekturkontext
erfolgte im Saarland erstmals in großem
Maßstab im Zusammenhang mit der Umund
Nachnutzung des baulichen Bestandes
des ehemaligen Eisenwerkes in Völklingen, das
1994 als erstes Industriedenkmal in die Weltkulturerbeliste
der UNESCO aufgenommen und
dann zum Großmuseum, Veranstaltungsort und
multimedialem Wissenschaftszentrum weiterentwickelt
wurde.
Im 21. Jahrhundert wird das Thema Industriebrachenumgestaltung
seit 2006 alljährlich im Rahmen
der ibug künstlerisch vereinnahmt – ein
sächsisches Festival für urbane Kunst, welches
Oberflächen, Räume und Plätze der Industriebrachen
künstlerisch recycelt.
Im Werk des Landschaftsarchitekten Peter Latz
nimmt das Saarbrücker Projekt Bürgerpark
Hafeninsel sicherlich einen besonderen Stellenwert
ein, da er dem Saarland über lange Jahre in
Leben und Arbeit verbunden war. So wuchs er im
Saarland auf und gründete nach dem Studium
der Landschaftsarchitektur an der TH in München
und der Weiterbildung im Städtebau an der
RWTH Aachen 1968 mit seiner Frau Anneliese
ein Landschaftsarchitekturbüro in Aachen und
zusammen mit Herbert Kruske in Saarbrücken.
Zusammen mit dem Dillinger Architekten Conny
Schmitz führte er bis 1976 ein Büro für interdisziplinäre
Stadtplanung in Saarlouis. 1974 wurde
Kassel Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Ab 1983
an der TU München-Weihenstephan als Lehrstuhlinhaber
für Landschaftsarchitektur und
Planung beschäftigt, zog das Büro 1991 nach
Ampertshausen bei Kranzberg/Bayern. Peter Latz
wurde vielfach international ausgezeichnet. 1989
erhielt er für den Bürgerpark Hafeninsel den
Landschaftsarchitekturpreis des Bundes Deutscher
Landschaftsarchitekten (BDLA) und 2000
für die Planung des Emscher Parks in Duisburg-
Nord den Ersten Europäischen Preis für Landschaftsarchitektur
in Barcelona. 2001 folgte die
Grande Médaille d’Urbanisme der Académie
royale d’architecture in Paris und 2016 verlieh
ihm die International Federation of Landscape
Architects in Turin den Sir Geoffrey Jellicoe Award.
Die Belassung und Einbeziehung historischer
Grundstrukturen folgt dem Motto function follows
form, das vom Büro Latz und Partner erstmals
bei der Parkgestaltung der Saarbrücker
Hafeninsel realisiert wurde. Im Werkzusammenhang
erscheint der Bürgerpark als Pionierprojekt.
In kleinem Maßstab wurden prototypisch Fragestellungen
und Analysemethoden bezüglich der
historischen, vegetabilen und städtebaulichen
Matrix angewandt. Die umfassende Nutzungssuche
für vorstrukturierte Areale wurde später
im Großformat im Emscher Park in Duisburg-
Nord ausdifferenzierter umgesetzt. Die Industrieanlagen
sind keine Zitate einer abgeschlossenen
Epoche wie in Seattle, sondern bleiben im Kontext
verbundene interagierende Elemente
analog zu Biotopen oder Gelände- und Infrastrukturen
des ehemaligen Industriestandorts.
Die Parkkonzeption ermöglicht und fördert die
Spontanbildung von Biotopen (Teich mit neuer
Flora und Fauna, Ökokiste auf dem Schutthügel).
Die Weiterentwicklung natürlicher Prozesse und
die damit einhergehende langsame Veränderung
der Parkanlage waren im Konzept vorgesehen.
Für Peter Latz war die Realität offen und
interpretierbar. Eine neue Gestalt konnte
durch Anreicherung mit funktionalen und
gestalterischen Elementen ohne Negation oder
Zerstörung des Historischen entstehen. Wichtig
sei ein Park mit offenem Ende, das heißt einer
Entwicklungsfähigkeit innerhalb der Grundstruktur,
da auch künftig Ansprüche und Konflikte
den Park neu definieren werden.
Den größten Eingriff in die Parksubstanz
bedeutete der Verlust einer Teilfläche im Nordosten
zugunsten des langestreckten mehrteiligen
Parkhauses in den 1990er Jahren. Anlässlich
des Neubaus der Landeszentralbank im
Winkel zwischen Westspange und Hafenstraße
1990 konnte Peter Latz das südlich anschließende
Gelände mit einem Kiefernhain neu gestalten.
Analog dazu wurden auch die drei Kiefern im
Zugangsbereich auf der Nordwestseite der
Congresshalle gepflanzt. Zwischenzeitlich erfolg-
saargeschichte|n 65
te der Rückbau der Toilettenanlage. Ein Unterstand,
eine reversible leichte Metallkonstruktion,
wurde für die Mitglieder des ortsansässigen Bouleclubs
genehmigt. Die Brunnenanlage in der
Arena wurde 2018 provisorisch mit einer begehbaren
Holzkonstruktion mit Metallbelag zerstörungssicher
gegen Vandalismus abgedeckt.
Aktuell (2018) wird ein Schutthügel nordöstlich
der Wasserwand für eine Skaterbahn neu modelliert.
Die bisherigen Veränderungen haben die
wesentlichen Strukturen und Komponenten
des Landschaftsparks nicht maßgeblich beeinträchtigt,
vielmehr tragen die neuen Nutzungen
durch Boulespieler und Skater vermehrt zu dessen
Akzeptanz, positivem Gebrauch und somit
zur Erhaltung bei.
Der in vielerlei Hinsicht innovative Park ist ein
signifikanter Bedeutungsträger für die Saarbrücker
Stadtgeschichte und die saarländische
Industriegeschichte sowie den in den 1970er
Jahren in Deutschland aufkommenden ökologischen
Wertewandel. Der Bürgerpark Hafeninsel
stellt zugleich im internationalen Kontext
der Landschaftsarchitekturgeschichte ein
herausragendes Zeugnis dar. Der Landschaftspark
besitzt aus stadt- und regionalgeschichtlichen,
insbesondere aus architektur-, industrieund
gartenhistorischen Gründen im öffentlichen
Interesse eine besondere Bedeutung.
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Das Schicksal der Dillinger Ernst und Otto Schmeyer –
nach ihren Feldbriefen erzählt
von joachim conrad
Peter Schmeyer
(1889–1932) um 1914.
(PA Schmeyer Homburg.
NL Cäcila
Schmeyer Best.7,1)
»Media vita in morte sumus« – Mitten im Leben
sind wir im Tod. Der Tod traf im Zweiten Weltkrieg
unzählige Familien in Deutschland – aber
manche mehr als andere. Das zeigen die Feldpostbriefe
der Brüder Ernst und Otto Schmeyer
aus Dillingen. Durch den Tod der beiden Söhne
veranlasst, hütete die Mutter Cäcilia die Dokumente
wie einen Schatz. Nach ihrem Tod blieben
sie weitgehend unbeachtet in einem Ordner,
bis sie der Urenkel von Cäcilia Schmeyer, Thomas
Schmeyer, wiederentdeckte und zugänglich
machte.
Der Vater der Brüder Ernst und Otto, Hüttenarbeiter
Peter Schmeyer [1] aus Dillingen, hatte
noch im Ersten Weltkrieg für Kaiser und Reich
gekämpft. Sein Militärpass hat sich erhalten. [2]
In Friedenszeiten, am 13. Oktober 1909, trat er
seinen Dienst in der 11. Kompanie des Oberrheinischen
Infanterieregiment Nr. 97 an und
wurde bis zum Gefreiten befördert. [3] Die Liste der
Gefechte, an denen er im Ersten Weltkrieg teilnahm
ist lang [4] , dazu gehören Verdun (3. November
1917 bis 9. April 1918) und Flandern (5. Mai
[1] Peter Schmeyer, geboren am 15. Mai 1889 in Dillingen,
dort gestorben am 16. Juli 1932.
[2] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 1,1 Militärpass
von Peter Schmeyer.
[3] Durch den Militärpass erfahren wir, dass Peter Schmeyer
1,66 m groß war und – wie üblich – in der ersten Schießklasse
ausgebildet wurde. Nach seiner Beförderung zum
Gefreiten am 17. Dezember 1910 erfolgte die Beurlaubung
zur Reserve am 25. September 1911. 1914 brach dann
der Krieg aus.
[4] Das waren: 21. bis 25. August 1914 Longwy, 1. September
1914 Dannevoux, 29.November 1914 bis 5. Januar 1915
Argonnenwald, 25. September bis 11. Oktober 1916 Verdun,
24. Dezember 1916 bis 8. März 1917 Champagne, 3.
November 1917 bis 9. April 1918 Verdun (mit Unterbrechung),
5. Mai bis 11. September 1918 Flandern (mit Unterbrechung).
bis 11. September 1918), wobei ausdrücklich festgehalten
wurde, dass die Teilnahme an den
Schlachten immer wieder unterbrochen wurde
durch Heimaturlaube. Die Verwundungen [5] halten
sich im Rahmen, die Auszeichnungen auch:
am 1. August 1917 Eisernes Kreuz II. Klasse und am
26. Juli 1918 das Verwundetenabzeichen.
[5] Notiert sind für den 1. September 1914 ein Schuss in die
rechte Hand und für den 5. Januar 1915 eine Gehirnerschütterung.
saargeschichte|n 67
Peter Schmeyer hatte die standeslose Katharina
Cäcilia Stein [6] geheiratet; sie gebar ihm drei
Söhne: Ernst, Otto und Josef. Cäcilia Schmeyer
muss eine starke Frau gewesen sein, denn sie
kämpfte ein Leben lang. Am 16. Juli 1932 war Peter
Schmeyer wohl an den Spätfolgen des Krieges
gestorben, und seine Witwe Cäcilia focht (ihren
ersten Kampf) um die Rente und den Unterhalt
der Söhne aus. [7] Sie nahm dann am 30. November
1935 eine Putzstelle bei der Dillinger Hütte an,
die sie noch am 3. August 1944 innehatte. [8]
Der älteste Sohn Ernst Peter war den Eheleuten
am 16. Dezember 1920 in Dillingen geboren worden.
Er besuchte die achtklassige katholische
Volksschule am Ort, die er am 30. März 1935 verließ,
[9] machte eine Ausbildung zum Technischen
Zeichner und besuchte die Gewerbliche Berufsschule
Bezirk Dillingen-Saar. [10] Mit Kriegsbeginn
wurde er zum Heer eingezogen.
[6] Katharina Cäcilia Schmeyer geb. Stein, Hausfrau, geboren
am 29. April 1897 in Hülzweiler, gest. am 22. April 1972
in Wallerfangen.
[7] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 2,1
Schreiben des Knappschaftsvereins der Dillinger Hüttenwerke
zu Dillingen-Saar betr. Die Witwenpension
nach dem Tod des Peter Schmeyer († 16. Juli 1932) vom
26. Juli 1932.
[8] Ebd. Best. 2,2 Arbeitsbuch als Putzfrau auf der Dillinger
Hütte.
[9] Ebd. Best. 3,2 Entlassungszeugnis der Katholischen
Volksschule Dillingen vom 30. März 1935.
[10] Ebd. Best. 3,3 Zeugnis der Gewerblichen Berufsschule Bezirk
Dillingen-Saar vom 27. Oktober 1937.
Der zweite Sohn Otto wurde am 23. März 1926
in Dillingen geboren und besuchte ebenfalls die
katholische Volksschule. [11] Am 3. Oktober 1940
unterschrieb seine Mutter den Lehrvertrag bei der
Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwerke; er
wurde Modellschreiner und verließ die Gewerbliche
Berufsschule Dillingen am 20. März 1943. [12]
Bald danach zog er ins Feld. Beide Brüder sollten
sterben. Nur der dritte, Josef Ambrosius, geboren
am 3. Oktober 1929 in Dillingen, hatte die Gnade
der späten Geburt und blieb am Leben. Von ihm
sind im Nachlass der Mutter Cäcilia keine Dokumente
erhalten. Das Gros des Nachlasses besteht
aus Korrespondenz, besonders mit dem älteren
[11] Ebd. Best. 4,1 Zeugnisheft der Katholischen Volksschule
in Dillingen. Die Laufzeit des Heftes reicht aber nur vom
7. April 1932 bis 20. März 1939.
[12] Ebd. Best. 4,5 Beglaubigte Abschrift des Schulabgangszeugnisses
vom 20. März 1943.
Gruppenbild 1917.
(PA Schmeyer Homburg.
NL Cäcila
Schmeyer Best. 7,11)
Ernst Schmeyer als
Säugling um 1921. (PA
Schmeyer Homburg.
NL Cäcila Schmeyer
Best. 7,12)
Ernst Schmeyer
(rechts) und Hans
Ferner um 1939. (PA
Schmeyer Homburg.
NL Cäcila Schmeyer
Best. 7,14)
Die Hosen sind durchgescheuert.
Album
mit Bildern von Otto
und Ernst Schmeyer
im Zweiten Weltkrieg.
(PA Schmeyer
Homburg. NL Cäcila
Schmeyer Best. 9,1
Nr. 5)
Sohn Josef. Diese Korrespondenz beleuchtet bei
der ganzen tragischen Situation der Mutter die
Verhältnisse dieser Zeit.
»Ein fröhliches Treiben« – Reichsarbeitsdienst
Während die Rote Zone und damit Dillingen evakuiert
war, befand sich Ernst Schmeyer in Schönebeck
an der Elbe im Reichsarbeitsdienst. Anlässlich
eines Heimataufenthaltes wollte er die
Mutter mit den jüngeren Brüdern besuchen und
machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg durch
den Hunsrück. Vergeblich. Ihm wurde gesagt,
man habe die Dillinger nach Bleicherode in den
Harz gebracht. »Das erste, was wir dort hörten,
war, das[s] wir arbeiten könnten. Dazu hatten wir
aber keine Lust. Von Essen u. Quartier war hier
überhaupt nichts zu sehen und noch viel weniger
von den Dillingern. Wir hatten hier die Nase ziemlich
voll und den Magen bedenklich leer. Wir fuhren
anderntags auf eigene Gefahr nachmittags
um V 8 Uhr los in Richtung Magdeburg […]. Es
hieß, hinter Magdeburg sind die ganzen Dillinger.
So kamen wir hier nach Schönebeck ziemlich ausgehungert.
[…] Jetzt bin ich hier bei einem Apot[h]eker
und habe es sehr gut, habe ein Zimmer u.
ein Bad dabei. Bis jetzt brauchte ich noch nichts
zu bezahlen; es sind sehr nette Leute.« [13]
In Schönebeck arbeitete Ernst in der ortsansässigen
Patronen- und Zündhütchenfabrik
als Zeichner und verdiente 120 Reichsmark. Der
Neunzehnjährige konnte seiner Mutter stolz vermelden,
dass er 153 Pfund wog, beichtete aber
auch, dass er in Dillingen zwei Tage »vergnügt
mit den Soldaten verlebt [hat] zwischen Wein
und Bier. Es wurde nämlich sämtlicher Alkohol
von den Männern ausgetrunken; das war ein
fröhliches Treiben.« [14]
Nachdem Ernst Schmeyer nach Wiesbaden als
Gefreiter gewechselt war, berichtet er vom Alltag
in den Kasernen. An keiner Stelle hat man den
Eindruck, dass ein grausamer Krieg tobte. »Unser
Dienstplan ist folgender. Morgens um 6 Uhr ist
Wecken. Um 6.50 Uhr haben wir Antreten zur
Befehlsausgabe. In den 50 Min. müssen wir Betten
bauen, etwas Kaffee trinken und waschen.
Von 7.00 Uhr bis 9.00 Uhr haben wir Unterricht
über das Gewehr; Rangordnungen von Offizieren
usw. Von 9 bis V 10 haben wir Kaffeetrinken.
Von V 10 bis 10 formale Ausbildung, also Exerzieren,
Gewehrübungen, Gehen und Stehen. Das
macht mir am meisten Spaß. Da geht es so richtig
stramm zu. Von 12 bis 2.00 haben wir Mittagspause.
Wenn wir raustreten, müssen wir die Finger
vorzeigen. Das Essen ist tadellos. Wir erhalten
ganz selten nur Eintopf, und die Woche hatten
wir jeden Tag Fleisch. Von 2.00 Uhr bis 6.00 Uhr
haben wir verschiedenen Dienst. Entweder theoretisch
oder Luftschutzübung oder Gewehr oder
Kleiderappell oder Sport. Um 10 Uhr müssen wir
in den Betten sein. Vorher aber müssen wir die
Stube blitzblank machen.« [15]
»Alles halb so wild« – Durchhalteparolen
Um Mutter und Brüder zu beruhigen, bemühte
sich Ernst Schmeyer beständig darum, positive
Nachricht zu übermitteln. Der Gefreite schrieb
aus Wiesbaden: »Meine Uniform passt mir fabelhaft.
Aber Stiefel haben wir noch nicht und neue
Stiefelzieher brauche ich noch nicht. Eine Ausgangsuniform
haben wir auch schon. Meine
eigene Wäsche werde ich auch wieder schicken.
Meine Militärwäsche bekommen wir gewaschen.
[13] Ebd. Best 3,4. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter
vom 24. September 1939, S. 1. Der Verf. schreibt fast
ohne Satzzeichen; sie sind hier ergänzt.
[14] Ebd., S. 2–3.
[15] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,5.
Brief von Ernst Schmeyer an die Mutterr vom 12. Oktober
1940.
saargeschichte|n 69
Wir brauchen nur die Taschentücher und Strümpfe
zu waschen und die Halsbinden.« [16] Nur selten
und knapp kommen klare Worte: »Es gefällt mir
immer noch gut, wenn es auch manchmal scheisse
ist« [17] , dann geht es positiv weiter: »Auf unserer
Stube liegen alles Pfälzer oder Mannheimer,
und wir haben eine Bombenkameradschaft.
Einen Volksempfänger haben wir uns auch schon
zugelegt.« [18]
Also »bestens versorgt« hatten die Rekruten auch
viele Vergnügungen, schenkt man den Briefen
von Ernst Schmeyer Glauben. »Wir bekommen
[…] am Freitag Geld und unser Soldbuch und
dann können wir allein ausgehen. Hier in Wiesbaden
ist ein schönes Treiben in den Lokalen und
ganz tolle Mädels, und als Soldat hat mans ziemlich
leicht, um mit Mädels weg zu gehen.« [19]
Und weil die Mutter kritisch nachfragte, schrieb
Ernst: »Du machst Dir bestimmt zu schlimme
Vorstellungen, was wir alles aushalten müssen.
Ich glaube, daran ist nichts anderes schuld als die
Wochenschau und die Bilder in der Zeitung. Das
ist doch klar, das[s] die nicht Bilder bringen können,
wo wir in Ruhe liegen oder sonst was treiben.
Das würde die, welche zu Hause sind, doch gar
nicht interessieren und würde bestimmt langweilig
werden.« [20]
Der jüngere Bruder Otto scheint von seinem großen
Bruder gelernt zu haben, denn im Dezember
1944 schreibt er über die Westfront: »Wir sind
immer noch da, wo wir von Landau aus hin sind,
und das weißt Du ja. Wir sollten ja zuerst nach 4
Wochen wieder von hier weg, aber nun hat sich
die Lage so geändert, daß wir hier bleiben müssen.
Du brauchst nun aber nicht zu erschrecken, und
Dir unnötige Sorge zu machen. Das ist alles halb
so wild. Der Westwall ist hier ziemlich stark, und
der Amerikaner wird sich bei uns schon die Zähne
ausbeißen. So einen kleinen Vorgeschmack hatte
er schon heute Mittag bekommen. Er war nähmlich
(!) mit ein paar Panzern etwas vor gekommen,
und das hat ihn unsere Ari [21] im Nu wieder vertrieben.
Die ersten Kugeln sind auch schon über
uns weg, und das ganze ist halb so wild, wenn
man die Nase rechtzeitig in den Dreck steckt. |
Und Dreck ist hier im wahrsten Sinne genug.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,10.
Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter und seine
Brüder vom 4. Dezember 1941.
[21] Ari = Angehöriger der Artillerie.
Du brauchst Dir also um mich keine Sorgen zu
machen, ich passe schon von selbst auf.« [22]
Am 7. Januar 1945 sollte Otto Schmeyer mit 19
Jahren in Stundviller/Elsass fallen. Noch vier
Tage zuvor schrieb er der Mutter: »Wir liegen hier
immer noch in Ruhe, und führen ein ganz tadelloses
Leben. Den ganzen Tag machen wir nichts
anderes als schlafen und Essen. Das Essen ist ganz
prima, und zu rauchen haben wir auch genug. Du
brauchst Dir also um mich überhaupt keine Sorgen
zu machen. Nun will ich schließen, denn ich
muß mich noch rasieren. Ich hab einen Bart wie
ein U-Boot-Fahrer. Denn an Weihnachten hab ich
mich das letzte mal rasiert.« [23]
»Wieder im Luftschutzkeller« –
Luftkrieg und Mittagsschlaf
Die Luftangriffe nahmen zu. Ernst Schmeyer
betonte gegenüber der Mutter das Positive.
»Wenn wir Alarm haben, dann haben wir von
2-3 Mittags Schlafstunde.« [24] Und später genauer:
»Wegen dem Fliegeralarm brauchst Du Dir
keine Angst zu machen. Wir sind nämlich Mittags
immer froh, wenn wir eine Stunde länger schlafen
können. Und der Fliegeralarm dauert auch
höchstens nur eine Stunde, und Bomben sind
noch keine […] abgeworfen worden.« [25] Zu Weihnachten
äußerte sich Ernst Schmeyer, inzwischen
Funker, gegenüber dem kleinen Bruder Josef ganz
ehrlich: »Ich habe Deine Karte in mein Spind aufgehängt
und sieht schön aus. Es ist jetzt 9 Uhr
[22] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best.4,9.
Brief von Otto Schmeyer an seine Mutter und Bruder
Josef vom 16. Dezember 1944.
[23] Ebd. Best.4,11. Feldpostbrief von Otto Schmeyer an seine
Mutter und Bruder Josef vom 3. Januar 1945.
[24] Ebd. Best. 3,5. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter
vom 12. Oktober 1940.
[25] Ebd. Best.3,6. Brief von Ernst Schmeyer an die Mutter
vom 30. Oktober 1940.
Baden in einem russischen
See.
Album mit Bildern
von Otto und Ernst
Schmeyer im Zweiten
Weltkrieg. (PA
Schmeyer Homburg.
NL Cäcila Schmeyer
Best. 9,1 Nr. 7)
Friseurtag im Lager.
Album mit Bildern
von Otto und Ernst
Schmeyer im Zweiten
Weltkrieg. (PA
Schmeyer Homburg.
NL Cäcila Schmeyer
Best. 9,1 Nr. 10)
abends und ich sitze wieder im Luftschutzkeller.
Ich lag gerade 5 Min. im Bett und mußte wieder
heraus. Hier darf man nicht wie zu Hause im Bett
liegen bleiben.« [26]
Was der Luftkrieg aber aus einem jungen Mann
von rund zwanzig Jahren machte, der – von seiner
Familie getrennt – »den starken Mann« spielen
musste, ist seinem kurzen Bericht über einen
Alptraum zu entnehmen: »Die vorige Nacht
hatte ich geträumt von Dillingen. […] Ich träume
sonst nie, und da kann ich tagsüber noch so viel
erlebt haben. Ich habe geträumt, ich hätte mit
Otto beim Gratz am Geschäft gestanden und
auf einmal wäre eine ganze Masse Flugzeuge
angekommen. Alle Leute glaubten, es seien deutsche.
Bis auf einmal rief ich zu Otto: ‚Die werfen
Bomben‘, denn ich hörte das übliche Zischen in
der Luft. Wir sprangen beide sofort in Deckung,
und schon hagelte es an allen Ecken und Enden.
Wie ich auch hier sah, waren es Engländer. Wir
gingen dann noch seelenruhig Wurst und Brötchen
kaufen, und dann wurde ich wach […]. Wieder
war es nur ein Wünschen. Ich hätte ja lieber
diesen Bombenangriff mitgemacht und wäre
aber die Hauptsache zu Hause. Allerdings dürfte
man bei einem solchen Bombenangriff kein Loch
in den Kopf kriegen. War auch schwerer Quatsch,
der Traum, was?« [27]
»Seit langer Zeit wieder gebadet« –
Der Frontalltag
Ernst Schmeyer verdanken wir zahlreiche Bilder,
denn er bat seine Mutter, ihm den Fotoapparat
zu schicken. [28] Immer wieder erzählt er in seinen
Briefen vom Alltag an der Ostfront. »Der ganze
Nachschub, überhaupt sämtliche Verbindungen
mit dem vorgesetzten Oberst [halten wir nur
über das] Flugzeug. Wir waren die ersten 14 Tage
eingeschlossen. Das geht Euch ja gar nichts an.
Das ist ja Dienstsache. Mache dir keine Angst
[26] Ebd. Best.3,7. Karte von Ernst Schmeyer an Josef Schmeyer
vom 3. Dezember 1940. Auf derselben Karte zeigt er
sich als großer und fürsorglicher Bruder: »Lieber Josef,
wie gefällt es Dir denn noch in der Schule. Bekommst
Du bald wieder Ferien. Hast Du Dich auch geschickt,
daß Dir der Nikolaus was bringt und das Christkindchen.
Ich bekomme für Weihnachten sehr wahrscheinlich
kein Urlaub. Ich hoffe aber bald nach Neujahr.«
[27] Ebd. Best.3,18. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 11. Januar 1942.
[28] Ebd. Best. 3,5. Brief von Ernst Schmeyer an Cäcila
Schmeyer vom 12. Oktober 1940.
deswegen, denn jetzt ist wieder alles in bester
Ordnung.« [29]
Die hygienischen Zustände waren grauenvoll,
aber ein junger Mann wird seiner Mutter gegenüber
nicht so deutlich, sondern sagt durch die
Blume, wie ihn die Verhältnisse quälen. Ein gutes
Beispiel liefert ein Brief vom 7. Dezember 1941:
»Ich war gerade eben in meiner Farm. Wenn Du,
liebe Mama, jetzt wüßtest, was das wäre. Jeder
von uns hat eine Zucht von kleinen [Tierchen] […].
Habe eben ein paar mit dem Lasso [gefangen].
Jetzt merken die lieben Tierchen, daß ich von
ihnen schreibe und jetzt marschieren dieselben
im Takt des Pariser Einzugsmarsches auf meinem
Rücken und Bauch auf und ab. Bei uns nennt man
dieselben Schneiderläuse. Von Flöhen oder Wanzen
merke ich nichts. Ich werde aber, wenn wir
das nächste feste Quartier erhalten, dieselben
vertreiben. Ich werde die ganze Wäsche mal
Nachts in die Kälte legen und dann werden dieselben
schon den Schnupfen bekommen.«[30]
Und ein paar Wochen später: »Eben war ich wieder
in meinem Jagdrevier und habe eine ganze
Anzahl Abschüsse. Die Biester können einen aufregen.
Wenn man in der Kälte ist, merkt man
nichts. Wie man es aber warm bekommt, fangen
die an zu laufen.« [31]
Russland wäre nicht Russland, wenn der Junge
aus Dillingen nicht die Sauna für sich entdeckt
hätte. »Gestern habe ich seit langer Zeit wieder
[29] Ebd. Best.3,10. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 4. Dezember 1941.
[30] Ebd. Best.3,11. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 7. Dezember 1941.
[31] Ebd. Best. 3,12. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 16. Dezember 1941.
saargeschichte|n 71
gebadet. Ach war das schön. Es war ein Dampfbad,
da wurden Steine heiß gemacht und darauf
Wasser geschüttet. Das Wasser verdampft
und durch die Hitze kommt [man] dermaßen ans
Schwitzen, daß das Wasser nur einem so runterläuft.
Das Bad ist ziemlich gesund, nur bekommt
man Hunger darauf.« [32]
Der jüngere Bruder Otto erlebte den Umstand,
an Weihnachten nicht zu Hause zu sein, als
besondere Anfechtung, thematisierte aber nur
den Schmerz der Familie, um selbst unangreifbarer
zu sein: »Wie werdet Ihr den heiligen
Abend da gesessen haben, und wieviele Tränen
sind wieder geflossen. Hoffentlich wart Ihr nicht
all zu traurig. Nun will ich Dir mal schreiben, wie
ich hl. Abend erlebt habe. Zunächst mal wußten
wir hier in unserer Einsamkeit garnicht richtig,
wo wir mit dem Datum dran waren, und feierten
darum hl. Abend einen Tag zu früh. Am anderen
Tag erst erfuhren wir das richtige Datum. Na
das macht auch nichts, sagten wir, dann feiern
wir eben zweimal. Aber Scheibe (!): Am hl. Abend
um 6 Uhr dann Alarm. Alles mußte in den Graben,
weil der Amerikaner einen Angriff plante. Unsere
Ari hat ihm aber den Spaß verdorben, und so
wurde der Alarm um 12 Uhr beendet. Unser Chef
ging um 11 Uhr durch den Graben, und wünschte
jedem frohe Weihnachten und ließ Zigaretten
verteilen. Von 12 Uhr ab habe ich dann 2 Stunden
geschlafen, und um 2 Uhr mußte ich dann
raus mit auf Spähtrupp. Das waren meine Weihnachten
1944. Die werde ich nie im Leben vergessen.
Aber es kommen auch wieder andere
Zeiten, und dann wird alles nachgeholt.« [33] Otto
Schmeyer ist im Januar darauf gefallen; es war
sein letztes Weihnachtsfest.
»Erfroren habe ich mir noch nichts« –
Wetter und Arbeit im Osten
Der Funker Ernst Schmeyer lernte an der Ostfront
den russischen Winter fürchten. »Wir haben
hier jetzt richtigen Winter. Heute morgen hatten
wir 35° kalt. Der Schnee liegt aber noch nicht
so hoch. Wir haben 25 cm Schnee vielleicht […].
Da war aber so ein Wind. An dem Weg mußten
wir gerade ein ganz kurzes Stück Leitung schalten.
Der Wind hat einen bald vom Mast herunter
geschmissen. Und kalte Füsse (!) und Finger gibt
es, wenn man so auf dem Mast hängt. Aber das ist
alles nicht so schlimm. Die Infanterie ist wohl viel
beschissener dran. Wir haben wenigstens Ruhe,
wenn wir unsere Leitung gebaut haben.« [34] Die
Mutter reagierte prompt: »Hoffentlich hast Du
die Hände und Füße noch nicht erfroren. Wenn
Du doch so auf die Masten klettern mußt, kannst
Du doch keine Handschuhe anlaßen, und im
Auto werden Dir die Füße steif werden, oder habt
Ihr auch von den neuen heizbaren Einlegesohlen,
wie sie hier erzählen und im Radio?« [35] Ernst antwortete
wahrheitsgemäß: »Erfroren habe ich mir
noch nichts. Dabei hatte ich schon oft zum Weinen
kalte Füsse (!) und Finger. Aber es ging wieder
vorbei. Wir hatten auch schon ganz schön kalte
Tage. Augenblicklich geht es wieder. Wir haben
heute vielleicht 10° Kälte oder auch nicht soviel.
Ein Silvester und Neujahr habe ich verbracht […].
Wir lagen im Bett und hörten etwas Musik. Um
12 Uhr wurde ich wach gemacht. Wir gratulierten
uns gegenseitig, und ich schlief, nachdem das
Glockengeläut im Radio wieder vorbei war, ruhig
ein. Wenn Du auf warst, wirst Du auch die Musik
gehört haben, welche nach dem Glockengeläut
gespielt wurde. Die hat mir prima gefallen. Es war
Auf dem Telegrafenmast.
Album mit
Bildern von Otto und
Ernst Schmeyer im
Zweiten Weltkrieg.
(PA Schmeyer Homburg.
NL Cäcila
Schmeyer Best. 9,1
Nr. 12)
[32] Ebd. Best.3,11. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 7. Dezember 1941.
[33] Ebd. Best.4,10. Brief von Otto Schmeyer an seine Mutter
und Bruder Josef vom 25. Dezember 1944.
[34] Ebd. Best. 3,12. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 16. Dezember 1941.
[35] Ebd. Best. 3,19. Brief von Cäcilia, Otto und Josef Schmeyer
an Ernst Schmeyer vom 22. Januar 1942.
die ‚Götterdämmerung‘ von Wagner.«[36] Wenige
Tage später geriet der junge Mann in russische
Kriegsgefangenschaft und galt ab 22. Januar 1942
als verschollen.
»Ohne besonders großen Widerstand« –
Der Vormarsch
Von den eigentlichen Kriegshandlungen
berichten die Brüder Ernst und Otto eher selten;
die Zensur wird ihnen die Möglichkeit
genommen haben. In einer Karte an den jüngsten
Bruder Josef – er setzt nach dessen Namen
den Begriff »Kaninchenzüchter« ins Adressfeld,
um dem Jungen eine Freude zu machen – schreibt
Ernst Schmeyer über das Leben auf dem Russlandfeldzug:
»Ich bin heute in guter Laune und
habe Bauchweh vor lauter Lachen. Hier sind wir
in einem kleinen Dorf und in dem Hause machen
die Mädchen ein paar russische Volkstänze. So
etwas mußt Du mal sehen. Der eine spielt auf der
Ballalaika (!) und die anderen singen gegenseitig
und trampeln mit den Füßen und tanzen im Kreis
herum.« [37]
Im Dezember 1941 wird Ernst deutlicher und
berichtet einer Familie Eggert vom Verlauf des
Russlandfeldzuges, wie er ihn mitgemacht und
erlebt hat. »Ich bin jetzt schon seit Kriegsbeginn
in Rußland, und ich wäre froh, wenn wir bald aus
dem Arbeiterparadies heraus können. […]. Denn
hier in Rußland lebt man wie vor hundert Jahren,
und das noch nicht ein mal. […] Am 22. Juni
sind wir als motorisierte Division bei Tilsit über
die Deutsch-Litauische Grenze, ohne besonders
großen Widerstand. Durch ganz Litauen ging es
schnell, und hier hieß es, nichts als fahren und
am Feinde bleiben. Am Tage haben wir 100 – 150
km zurückgelegt, und das auf Wegen, welche
nur aus Sand und Schlaglöchern bestanden. […]
Unser Vormarsch ging immer noch in dem gleichen
Tempo weiter durch Lettland über die russische
Grenze bis nach Pleskau [heute Pskow]. Hier
wurde die Stalin-Linie durchbrochen und weiter
ging es den Peizus-See bis an die Luga. Hier
blieben wir 4 Wochen liegen, denn der Russe
verteidigte den Fluss. Aber dieses war nicht der
Grund zu unserem Stillstand. Der ganze Nachschub
mußte wieder herangebracht werden.
Während diese[r] 4 Wochen lag unsere Kompanie
am Samra-See, und hier konnten wir es gut
aushalten und unsere Wäsche wieder in die Reihe
[36] Ebd. Best. 3,17. Brief von Ernst Schmeyer an seine Mutter
und seine Brüder vom 9. Januar 1942.
[37] Ebd. Best. 3,9. Karte von Ernst Schmeyer an Josef
Schmeyer vom 27. November 1941.
bringen. Das schlimmste Übel bis jetzt war der
Staub und die unendlich vielen Stechmücken.
Die konnten einen verrückt machen. Abends war
man müde, und die Biester stachen sogar durch
die Wolldecken, die man über das Gesicht zog.
Wir sind dann weiter gezogen und haben die
starke Verteidigungslinie bei Petersburg durchbrochen.
Wir waren bis auf Sichtweite an die
Stadt herangekommen. Hier wurden wir dann
herausgezogen und kamen an die Mittelfront.
Hier haben wir die Umfassungsschlacht bei
Wjasma mitgemacht und haben dann in schnellem
Vorstoß Kalinin genommen. Hier sah ich zum
ersten Mal in Rußland mehrstöckige Steinhäuser,
in dem aber nur Kommissare wohnten. Der Winter
hat jetzt die Operationen still gelegt. An 2
Tagen hatten wir schon 35° unter Null.« [38]
»Mit seinem Leben bezahlt« –
Mütterliche Suche nach dem Sohn
Cäcilia Schmeyer sollte innerhalb von weniger als
drei Jahren zwei von drei Söhnen verlieren. Ernst
starb mit 21 Jahren, Otto mit 19. Als Ernst am 3. Mai
1942 in russischer Kriegsgefangenschaft starb,
wusste niemand von seinem Schicksal, nachdem
er seit dem 22. Januar vermisst war. Ein Offizier
schrieb der Mutter: »Ihr Sohn war mit einem Bautrupp,
dem er seit längerer Zeit angehörte, in der
Nacht vom 21. zum 22.1.42 bei einem Bataillonsstab
in Krassny-Cholm, einem kleinen russischen
Dorf an der Moskauer Front. Der Trupp
hatte die Aufgabe, die zum Regiment führenden
Fernsprechleitungen zu unterhalten. In den frühen
Morgenstunden gelang es russischen Spähtrupps,
unsere Posten an einer Seite des Dorfes
zu überrennen und mit stärkeren Kräften in das
Dorf einzudringen. Der Bataillonskommandeur
mußte auf Grund dieser Lage das Absetzen vom
Ort befehlen. Ihr Sohn lag nun mit seinem Trupp
und mehreren Leuten des Bataillons in einem
Hause an der Dorfstraße, in die die Russen mit
Maschinengewehren hineinschossen. Keiner der
Leute des Bataillons und auch der Kommandeur
selbst nicht hat in der Hitze des entbrannten
Gefechtes beobachtet, daß irgendeiner der
Kameraden aus dem betreffenden Hause herausgekommen
wäre. Es besteht nun – ich will es
Ihnen ganz offen schreiben – die Möglichkeit, daß
Ihr Junge, der ja immer zu den Tapfersten gehörte,
mit den fünf Kameraden im Kampf gefallen ist,
es ist jedoch auch möglich, daß er in Gefangenschaft
geraten ist. Das Dorf wurde später von uns
[38] Ebd. Best.3,13. Brief von Ernst Schmeyer an Familie Eggert
vom 16. Dezember 1941.
saargeschichte|n 73
aus taktischen Gründen nicht wieder genommen,
so daß mir leider weitere Nachforschungen nicht
möglich sind.« [39] Und dann folgten die üblichen
Floskeln: »Der Verlust Ihres Sohnes trifft die Kompagnie
deswegen besonders hart, weil er zu den
zuverlässigsten Fernsprechern gehörte, und weil
er bei Kameraden und Vorgesetzten stets beliebt
war. Er hat seinen freudigen Einsatz für die Kompanie
und damit für unser aller großes Ziel nun
wahrscheinlich mit seinem Leben bezahlt.« [40]
Nun begann ein Kampf für die Mutter. Nachdem
auch der Kompaniechef, Oberleutnant Köhlhofer,
einen Bericht abgegeben und weitere Vermisste
benannte hatte [41] , wollte Cäcilia Schmeyer nichts
unversucht lassen, das Schicksal ihres Erstgeborenen
zu erforschen. So schrieb das Bischöfliche
Offizialat Trier 1951 an die Mutter über Nachforschungen,
die angestellt worden waren. [42]
Es folgte ein Brief des Deutschen Caritasverbandes.
[43] Cäcilia Schmeyer versuchte, den
Verlust für sich zu verarbeiten und fügte ihren
Papieren eine eigene Darstellung hinzu: »[…] in
der Nacht vom 21.–22. Januar kam er verwundet
in Gefangenschaft. Das habe ich durch einen
Heimkehrer erfahren, kam in ein Sammellager
bei Moskau, Lager 3 […]. Dort war er für zwei
Monate. Von dort kam er in ein Lazarett wegen
Wundfieber. Von der Zeit fehlt jede Spur.« [44] 1955
wurde amtlich der Tod festgestellt und auf den 31.
Januar 1942 datiert. [45] Vierzehn Jahre danach gab
es Klarheit, dass Ernst Schmeyer am 3. Mai 1942
in Gefangenschaft verstorben war. [46] Der traurige
Kampf war für die Mutter zu Ende.
Was Otto Schmeyer angeht, den zweiten
Sohn, der sich an der Westfront befand, so war
die Botschaft klar. Otto schrieb am 6. Januar
1945 aus der Nähe von Wissembourg an
seine Mutter – und er hatte nahezu eine Vorahnung:
»Heute mittag geht es wieder weiter,
und zwar gehen wir zum Angriff über. Hoffentlich
geht alles gut. Es ist ja doch ein komisches
Gefühl. Ihr braucht Euch aber keine Sorgen zu
machen, es wird schon schief gehen. Behüt Euch
alle Gott, auf Wiedersehen.« [47] Am Tag darauf
war er tot, gefallen im Gefecht bei Stundviller.
[48]
Der Totenzettel berichtet über den Heldentod
des Panzer-Grenadiers Otto Schmeyer. [49]
Zwei Söhne einem unmenschlichen Regime
opfern zu müssen, wird auch für eine fromme
Katholikin aus Dillingen eine Anfechtung
gewesen sein; aber der Glaube gab der Mutter
den einzigen Halt. Der drittgeborene Sohn Josef
sollte erwachsen werden und Kinder und Enkel
erleben.
[39] Ebd. Best. 3,20. Schreiben des Kompaniechefs, Adler (?),
der 1. Kompagnie Nachrichtenabteilung 36 (Original
und zwei hektografierte Fassungen) an Cäcilia Schmeyer
vom 10. Februar 1942.
[40] Ebd.
[41] PA Schmeyer Homburg. NL Cäcila Schmeyer Best. 3,21.
Schreiben des Oberleutnants und Kompaniechefs
Köhlhofer, Einheit 18007, an Cäcilia Schmeyer vom 5.
April 1942.
[42] Ebd. Best. 3,22. Schreiben des Bischöflichen Offizialates
Trier an Cäcilia Schmeyer vom 4. Oktober 1951.
[43] Ebd. Best. 3,23. Schreiben des Deutschen Caritasverbandes
an Cäcilia Schmeyer vom 6. Oktober 1951.
[44] Ebd. Best. 3,25. Handschriftliche Notiz von Cäcilia
Schmeyer zum Tod ihres Sohnes Ernst Peter.
[45] Ebd. Best. 3,31. Urkunde des Standesamtes Saarbrücken
Nr. 11/ 1955 über die amtliche Feststellung des Todes
von Ernst Peter Schmeyer, festgelegt auf den 31. Januar
1942, ausgestellt am 12. Januar 1955.
[46] Ebd. Best. 3,33. Schreiben der Deutschen Dienststelle
für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen
von Gefallen der ehemaligen deutschen Wehrmacht,
Berlin-Wittenau, an Cäcilia Schmeyer vom 3. Februar
1969 und Mitteilung über den Tod von Ernst Peter
Schmeyer am 3. Mai 1942 in russischer Kriegsgefangenschaft
[Korrektur des Todestages!]
[47] Ebd. Best.4,12. Feldpostbrief von Otto Schmeyer an seine
Mutter und Bruder Josef vom 6. Januar 1945.
[48] Ebd. Best.4,13. Brief des Feldwebels Robert Katthaus
vom 11. Januar 1945 an Cäcilia Schmeyer betr. den Tod
von Otto Schmeyer am 7. Januar 1945 im Gefecht bei
Stundviller.
[49] Ebd. Best.4,14. Totenzettel (stark beschädigt) über den
Heldentod des Panzer-Grenadiers Otto Schmeyer sowie
Fotokopie des Totenzettels.
der lange schatten
des abstimmungskampfes
Ein schwieriges Erbe: Zur Entstehungsgeschichte des Deutsch-Französischen Gartens
von hans-christian herrmann
Vor der offiziellen
Eröffnung der
Deutsch-Französischen
Gartenschau
im Deutschmühlental
fand am Ehrenmal
auf den Spicherer
Höhen eine Gedenkfeier
statt – als
Zeichen der neuen
Freundschaft zwischen
Frankreich und
Deutschland.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1142/11)
Eröffnung ohne den Kanzler
Samstag, der 23. April 1960 in Saarbrücken. Um
13.00 Uhr öffnete die Deutsch-Französische
Gartenschau ihre Tore für das Publikum. Ein wichtiger
Tag in der Saarbrücker Stadtgeschichte. Ein
paar Stunden vorher hatten sich fast 3000 Menschen
bei trübem Wetter mit Temperaturen von
wenig frühlingshaften 10° C zu einer, wie die
Saarbrücker Zeitung schrieb, »ergreifenden Feierstunde«
auf den Spicherer Höhen versammelt. Es
sprachen der Bischof von Lourdes Pierre-Marie
Théas (1894–1977) und der Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirchen in Deutschland, Bischof Dr.
Otto Dibelius.« [1]
Am Ehrenmal auf den Spicherer Höhen legten
die Landwirtschaftsminister Frankreichs und
Deutschlands sowie der saarländische Minister-
[1] Saarbrücker Zeitung vom 25. April 1960.
präsident einen Lorbeerkranz nieder – so der
Bericht. Diese Feierstunde stand ganz im Zeichen
der Völkerverständigung und wollte ein Zeichen
für eine deutsche-französische Freundschaft
setzen. Und so lautete auch die Schlagzeile der
Saarbrücker Zeitung für die Deutsch-Französische
Gartenschau »Symbol der Freundschaft«.
Einen symbolträchtigeren Ort wie die Spicherer
Höhen konnte es für die Überwindung der
deutsch-französischen Feindschaft nicht geben.
Zugleich fand damit die Eröffnung der Deutsch-
Französischen Gartenschau sowohl auf französischem
wie auch auf deutschem Territorium statt.
Die im Planungsstadium entwickelte Idee einer
grenzüberschreitenden Seilbahnverbindung
von der Gartenschau im Deutschmühlental bis
zu den Spicherer Höhen wurde allerdings auf
eine im Deutschmühlental verbleibende Variante
reduziert. Monsignore Théas hob die völker-
saargeschichte|n 75
verbindende Idee der Gartenschau hervor und
Bischof Dibelius erinnerte an das unsägliche
Leid der Vergangenheit. Mit ihm verbunden die
Gefallenen bei der Schlacht von Spichern, die
Saarbrücker Zeitung zitierte seine bewegenden
Ausführungen: »An diesem Tage aber, da die Vertreter
ehemals feindlicher Völker zu gemeinsamer
Feier zusammengekommen seien, könne man
sagen: Hier hat der Friede begonnen«. Die Landwirtschaftsminister
beider Länder, Henri Rocherau
(1908–1999) und Werner Schwarz (1900–
1982) bekräftigten die Ausführungen der Bischöfe.
Der Saarbrücker Oberbürgermeister Fritz Schuster
(1916–1988) beschrieb in blumigen Worten,
»das Schussfeld zwischen zwei Völkern sei in
einen blühenden Garten verwandelt worden, an
dem Gärtner aus dem Raum zwischen Berlin und
der Riviera in friedlichem Wettbewerb und seltener
Eintracht zusammengearbeitet hätten«.
Damit sprach Schuster den symbolträchtigen Ort
an. Am 16. Oktober 1870 war hier ein neuer Friedhof
für die Gefallenen der Schlacht von Spichern
unter dem Namen Ehrental eingeweiht worden.
Und in der NS-Zeit verliefen nicht weit entfernt
Teile des Westwalls. Auch wenn das Ehrental der
erste Soldatenfriedhof für Deutsche und Franzosen
war, so entwickelte sich der Ort bis 1945 zu
einer nationalen Weihestätte. Ministerpräsident
Dr. Franz-Josef Röder (1909–1979) zugleich
seinerzeit Bundesratspräsident, dankte bei der
Gedenkstunde in Spichern Bundeskanzler Konrad
Adenauer (1876–1967) und dem französischen
Ministerpräsidenten Michel Debré (1912–1996)
für die Schirmherrschaft. Beide waren aber nicht
nach Saarbrücken gekommen – warum eigentlich
nicht? [2]
Das weiße Kreuz, das als Mahnmal den Spicherer
Berg überragte, schenkte der Veranstaltung eine
besondere Würde und machte ihn zum zentralen
Ort der Veranstaltung. [3]
Ein Tag zuvor war übrigens die Französische Woche
im Saarland eröffnet worden und zeitgleich lief
die Saarmesse. Dazu war Frankreichs Botschafter
in der Bundesrepublik, François Seydoux de
[2] Ebda.
[3] Bernd Loch, Der Deutsch-Französische Garten in Saarbrücken.
Geschichte und Führer, Saarbrücken 2000, S. 21.
Clausonne, nach Saarbrücken gekommen, der
zugleich das neu errichtete Centre Culturel in der
Saarbücker Cecilienstraße eröffnete. Saarbrücken
und das Saarland standen im Zeichen der Tricolore
und überall warben Michel und Marianne
für die neue Zeit friedlicher Nachbarschaft. [4]
Beide Figuren spielten die Hauptrolle bei der
Deutsch-Französischen Gartenschau. Die Tochter
von Philippe Koenig, damals Leiter der Kulturabteilung
beim französischen Generalkonsulat
in Saarbrücken, spielte die Marianne und der von
den Städtischen Bühnen Köln kommende Joachim
Liman den Michel. [5]
Deutsch-Französische Freundschaft war kein
Gründungsmotiv
Wenn man auf die Spurensuche in die Archive
geht, stellt man aber fest, dass die deutsch-französische
Freundschaft nicht das Gründungsmotiv
der Gartenschau gewesen ist. Am Anfang, im Juni
1956, stand der Wunsch, die Bundesgartenschau
nach Saarbrücken zu holen. Sie sollte der Stadt
wie dem Saarland, das zum 1. Januar 1957 dem
Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten
würde, ein attraktives Forum bilden. Das junge
Bundesland wollte sich der deutschen Öffentlichkeit
präsentieren und Gäste aus der ganzen
Bundesrepublik an die Saar locken. So wandte
sich die Stadtverwaltung am 25. Juni 1956 an den
Zentralverband des Deutschen Gemüse-, Obstund
Gartenbaus in Bonn. Leider musste man
erfahren, dass die Termine für die Bundesgartenschau
schon verplant seien und Saarbrücken
könne vor 1965 nicht berücksichtigt werden. In
dieser Situation sattelte die Stadt um, und es entstand
die Idee, die Saarmesse mit einer deutschfranzösischen
Gartenschau zu verbinden. Das bot
sich auch geradezu an, da das Deutschmühlental
als Ort der Gartenschau im Norden an den Standort
der Saarmesse angrenzte. Die in der Autonomiezeit
gegründete Saarmesse präsentierte
sich nach der Saarabstimmung als deutsch-französische
Austauschmesse. Eine deutsch-französische
Gartenschau konnte da reibungslos integriert
und zugleich die Saarmesse aufgewertet
[4] Saarbrücker Zeitung vom 23. und 25. April 1960.
[5] Saarbrücker Zeitung vom 15./16. Mai 1980.
An den Eröffnungsfeierlichkeiten
nahmen neben den
französischen und
deutschen Landwirtschaftsministern
Henri Rocherau und
Werner Schwarz
u.a. der französische
Bischof Pierre-
Marie Théas sowie
der Ratsvorsitzende
der evangelischen
Kirche in Deutschland,
Bischof Otto
Dibelius, teil, ebenso
der saarländische
Ministerpräsident Dr.
Franz-Josef Röder, der
Saarbrücker Oberbürgermeister
Fritz
Schuster, Kurt Conrad,
Vorsitzender der SPD-
Landtagsfraktion,
sowie Bundeswirtschaftsminister
Werner
Schwarz.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1142/36; Nl M 1142/26)
Die Delegation auf
ihrem Weg durch die
Deutsch-Französische
Gartenschau.
Bischof Pierre-Marie
Théas und der SPD-
Vorsitzende Curt
Conrad bei ihrem
Spaziergang am
Eröffnungstag auf
dem Gelände der
Deutsch-Französischen
Gartenschau.
(Stadtarchiv SB,
Nl M1143/8)
werden. Sie war ab 1959 mehr denn je darum
bemüht, den deutsch-französischen beziehungsweise
saarländisch-französischen Handel zu
stärken. Mit Blick auf den zollfreien Warenverkehr,
der auch nach der wirtschaftlichen Rückgliederung
des Saarlandes zum Tag X (6. Juli
Jungfernfahrt der
Kleinbahn am
Eröffnungstag der
Deutsch-Französischen
Gartenschau.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1143/7)
1959) weiterbestand, war dies für das Saarland
von existenziellem Interesse zur Stärkung seiner
Wirtschaft. Die Stadt fand für ihre Idee der
Deutsch-Französischen Gartenschau die Unterstützung
der Landesregierung und der Landwirtschaftskammer.
Ein solches Projekt erleichterte
es zudem, Bonn und Paris finanziell in die Pflicht
zu nehmen. Die Chancen auf französische Förderung
standen gut, nachdem Tanguy de Courson
de la Villeneuve, der Chef der französischen
diplomatischen Vertretung im Saarland, seine
Unterstützung zusagte. Richard Näcke als Zeitzeuge
und ehemaliger städtischer Mitarbeiter
behauptete im Rückblick 1985: »In der französischen
Botschaft [Pingusson-Bau] in Saarbrücken
ließ man die städtische Abordnung, die ihren
Gedanken vortragen wollte, stundenlang warten.
Im folgenden Gespräch wurde aber das Eis
gebrochen – die Deutschen fanden ihren ersten
französischen Alliierten.« Anlässlich der
Eröffnung der Saarmesse 1957 fühlten die Saarbrücker
dann auch bei Staatssekretär Masson vor
und fanden ihren zweiten »französischen Alliierten«.
[6]
Die Stadt warb bei Courson de Villneuve insbesondere
für eine Förderung der wirtschaftlichen
Kontakte, eine kulturelle Präsentation
Frankreichs bei der Gartenschau war nicht
geplant, OB Schuster formulierte dies ganz diplomatisch
gegenüber Courson de la Villneuve:
»Mit Hilfe des französischen Pavillons könnten
während des ganzen Jahres im Rahmen der
Gartenbauausstellung Veranstaltungen durchgeführt
werden, die zweifellos rein wirtschaftlichen
Bestrebungen sehr dienlich sein würden.«
Der deutsche Pavillon würde sich »auf den rein
kulturellen Sektor beschränken«. [7]
Nicht nur die Umwidmung des ursprünglichen
Bundesgartenschauprojektes stützt die These,
dass es am Anfang gar nicht um die deutschfranzösische
Freundschaft ging, sondern um die
[6] Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Dezernat II, Nr. 35.2.
Saarbrücker Zeitung vom 14. Februar 1985.
[7] StASB., Bestand Dezernat II, Nr. 35.2., Schuster an Courson
de Villneuve vom 19. Juli 1957.
saargeschichte|n 77
sich auch nach dem Ende der Gartenschau am 25.
Oktober 1960 stellende Frage, wie die nun entstandene
prächtige Grünanlage benannt werden
sollte. Die Diskussion darüber steht für die politische
Befindlichkeit jener Zeit, die aus der Retrospektive
von heute vielen sehr fern ist.
Um die Namensgebung stritt der Stadtrat in seiner
Sitzung am 28. Februar 1961. Der DPS-Fraktionsvorsitzende
Ludwig Bruch hielt »den Zeitpunkt
für gekommen, den neugeschaffenen
Anlagen im Deutschmühlen- und Mockenthal
ihren endgültigen Namen zu geben«. Mit einem
gewissen Pathos forderte der gelernte Journalist
Bruch: »In Übereinstimmung mit der großen
Mehrheit, vor allem der eingesessenen
Bevölkerung unserer Stadt, ist die Fraktion der
Auffassung, dass bei dieser Namensgebung
die heimische Überlieferung nicht außer acht
gelassen werden darf (…)«. Und so lautete der
DPS-Vorschlag »Deutschmühlenpark«. Bruchs
Position bekräftigte sein DPS-Kollege Dr. Keuth.
Der Name »Deutschmühlenpark« besitze zudem
»den Vorzug der Prägnanz und Kürze«. Im Gegensatz
zu seiner eigenen Partei gab Oberbürgermeister
Schuster zu bedenken, Saarbrücken
habe erhebliche Mittel in die Bewerbung der
Deutsch-Französischen Gartenschau investiert.
Er deutete damit die Entwertung des Symbols
von Michel und Marianne an, das die Gartenschau
so prägend begleitet hatte. Auch der neue
französische Generalkonsul im Saarland Philippe
Koenig habe mit aller Zurückhaltung die Beibehaltung
des Symbols und der Begrifflichkeit
empfohlen. Hier sei daran erinnert, dass seine
Tochter die Marianne spielte. Die DPS-Fraktion
scherte die Linie ihres Parteifreundes und Oberbürgermeisters
wenig. Dagegen stellte SPD-
Stadtratsmitglied Roth verwundert fest: »(…) wir
hatten keine Bundesgartenschau (…), sondern
eine Deutsch-Französische Gartenschau (…), bei
deren Zustandekommen wir eine Verpflichtung
eingegangen sind«. Ebenso votierte die Saarländische
Volkspartei (SVP) für die Bezeichnung
»Deutsch-Französischer Garten«. Die SVP versammelte
eine überschaubare Gruppe von früheren
Anhängern der CVP, die 1959 nicht der CDU
beitreten wollten. Die DPS hielt dagegen und
Fraktionschef Bruch berief sich auf Gespräche
mit vielen Saarbrücker Bürgern: »Niemand habe
sich für die Bezeichnung Deutsch-Französischer
Garten ausgesprochen. Man solle bei dieser
Namensgebung nicht alle Tradition über Bord
werfen, sondern Saarbrücken geben, was Saarbrücken
sei«. Die CDU-Fraktion bemühte sich
Werbeschilder und
Werbefahrten für die
Deutsch-Französische
Gartenschau.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1126/1; StA 67; Fotoalbum
Klasen)
Zu einem beliebten
Markenzeichen der
Gartenschau entwickelte
sich die Seilbahn
mit ihren Gondeln,
in denen man
den Park bis heute
von oben betrachten
kann. (Stadtarchiv SB,
Nl M1154/6)
Zeitgenössischer Blick
auf das Deutschmühlental.
(Stadtarchiv SB, StA
67; C 716-64)
um Schadensbegrenzung und beantragte, die
Ausschüsse sollten sich mit dieser Sache weiter
befassen. Der Block Saarbrücker Bürger mit
Brauereibesitzer Dr. Neufang unterstützte diesen
Vorschlag ebenfalls, so dass die DPS dies akzeptieren
musste. Die Ausschüsse einigten sich
dann auf den Kompromiss »Deutsch-Französischer
Garten im Deutschmühlental«. Darauf verständigte
sich der Stadtrat in seiner Sitzung am
21. März 1961. Auch die DPS-Fraktion stimmte zu,
Fraktionschef Bruch gab aber zu Protokoll: »Sie
[DPS] sei nach wie vor der Auffassung, dass die
traditionsverbundene Bezeichnung ›Deutschmühlenpark‹
der gegebene Name gewesen
wäre«. [8]
Die Menschen in Saarbrücken und im Saarland
wählten aber schnell den Begriff »Deutsch-Französischer
Garten«. Das Saarland entwickelte
in den 1960er Jahren eine konstruktive Rolle
in der Ausgestaltung der freundschaftlichen
Beziehungen zwischen Bonn und Paris. Grundlage
dafür war der Elysée-Vertrag von 1963,
die Magna Charta der deutsch-französischen
Freundschaft. Sie nahm ihren Anfang im Spätsommer
1958. Am 14. September 1958, einem
Samstag, folgte Bundeskanzler Adenauer der
Einladung Charles de Gaulles, dem Präsidenten
der neuen beziehungsweise V.Republik. De
Gaulle hatte den Kanzler auf seinen Landsitz
nach Colombey-les deux Eglises eingeladen. Auf
der Autofahrt dorthin dachte Adenauer möglicherweise
an einen Präsidenten, der ein Mann
des Militärs war, den Ersten und Zweiten Weltkrieg
erlebt hatte und von deutsch-französischer
Feindschaft geprägt war. In Lothringen, im
[8] StASB, Bestand V 18, Nr.21, Niederschrift zur Stadtratssitzung
vom 28. Februar 1961 und 21. März 1961.
Departement Haute Marne angekommen, dürfte
sich die Stimmungslage rasch gewandelt haben.
Beide Staatsmänner entwickelten ein Verständnis
und eine Wertschätzung füreinander und
wurden zu den Architekten freundschaftlicher
Beziehungen und des Aufbaus einer Achse zwischen
Bonn und Paris. Aber bis zum 22. Januar
1963, der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages,
war es noch ein langer Weg. Die Gründungsgeschichte
der Deutsch-Französischen Gartenschau
fällt in diese Phase Geschichte schreibender
Veränderungen zwischen Deutschland und
Frankreich. Interessant ist es zu sehen, wie Bonn
und Paris das Saarbrücker Projekt begleiteten. [9]
Poker um die Gartenschau zwischen Bonn und
Saarbrücken
Die Idee zur Bundesgartenschau soll im Juni 1956
von Amtsrat Richard Näcke und Willy Reinkober
geboren worden sein, engster Mitarbeiter von
OB Schuster.10 Nachdem die Bundesgartenschau
gescheitert war, folgte der Stadtrat am 18. Juni 1957
der Vorlage der Verwaltung, eine deutsch-französische
Gartenschau auszurichten. Schon am 9.
Juli wurden eine Projektleitung und Arbeitsausschüsse
gebildet. Innerhalb der Landesregierung
war das Wirtschaftsministerium für die Gartenbauausstellung
anzusprechen. Für die DPS-Hochburg
Saarbrücken eine günstige Konstellation,
denn DPS-Chef Heinrich Schneider (1907–1974)
war seit 4. Juni 1957 Wirtschaftsminister, bis zum
26. Februar 1959 sollte er im Amt bleiben. Schneiders
Präsenz im Kabinett brachte zwar Hilfe vom
[9] Corine Defrance u. Ulrich Pfeil (Hg.), Der Elysée-Vertrag
1945 – 1963 – 2003, Berlin 2016.
[10] Heinrich Schneider, Das Wunder an der Saar, Stuttgart
1974, S. 535.
saargeschichte|n 79
Die 30 Meter lange
Wasserorgel faszinierte
die Besucher.
Stündlich tanzten die
Wasserfontänen zu
einem Musikstück.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1156/8)
Land, aber die Stadtverwaltung brauchte auch
die Unterstützung der Bundesregierung. Schneider
kam erst gar nicht auf die Idee im Kanzleramt
anzufragen, sondern nutzte seine Kontakte zu
Bundeslandwirtschaftsminister Heinrich Lübke,
den er in seinen Memoiren als »warmherzigen
Freund« beschreibt. [11] Angeblich soll Schneider
bei einem gemeinsamen Flug zur Grünen Woche
nach Berlin Lübke dafür gewonnen haben. [12]
Auffällig ist die ausgesprochen zurückhaltende
Reaktion der Bundesregierung, das Saarbrücker
Projekt zu fördern. Im Januar 1958 stellte
Oberregierungsrat Klitscher als der zuständige
Ministerialbeamte im saarländischen Wirtschaftsministerium
fest, die Bonner Ministerien
ließen »wenig Neigung« für eine finanzielle
Unterstützung erkennen. Klitschers Hoffnung
auf einen Bundeszuschuss war gering. Schneiders
Ministerium und auch die Stadt Saarbrücken
fanden Unterstützung nur bei den Bündnispartnern
aus den Saarkampf-Zeiten. Das von
Lübke geführte Landwirtschaftsministerium war
durch das Bundeswirtschaftsministerium zur
Förderung des Projektes angesprochen worden.
Zusammen mit dem Gesamtdeutschen Ministerium
und dem Auswärtigen Amt beabsichtigte
das Landwirtschaftsministerium im November
1957 Sonderzuschüsse im Kabinett durchzusetzen.
Weitergekommen war diese Gruppe aber
nicht, denn im Juni 1958 gab es immer noch keine
Zusage des Kabinetts. Die saarländische Landesregierung
hatte bereits 150 Mio Franken bereit-
gestellt, ohne Bundeszuschuss war das Projekt
aber nicht realisierbar. [13]
Schneider versuchte die Bundeshilfe direkt über
seine Kontakte aus den Zeiten des Saarkampfes
zu organisieren. Erst als sich der erhoffte Erfolg
nicht einstellte, schrieb Egon Reinert (1908–
1959), der im Juni 1957 Hubert Ney (1892–1984)
als Ministerpräsident ablöste, am 25. Juni 1958 an
Adenauer. Reinert erläuterte die Sinnhaftigkeit
eines gemeinsamen Protektorates der Bundesrepublik
und Frankreichs, beide Staaten »könnten
auf diese Weise in wirksamer Form zum Ausdruck
bringen, dass die Erledigung der Saarfrage bei
keinem Partner Verstimmung und Unbehagen
hinterlassen hat, sondern dass die deutsch-französischen
Beziehungen in eine neue Phase gutnachbarlicher
Zusammenarbeit getreten sind.«
Reinerts Hinweis, dass bereits mit dem Ministerium
für Landwirtschaft und Ernährung, dem
Gesamtdeutschen Ministerium und dem Auswärtigen
Amt auf Referentenebene das Vorhaben
erörtert worden sei, dürfte den Kanzler
nicht gerade gewogen gestimmt haben, Reinerts
Bitte zu entsprechen und zusammen mit dem
französischen Ministerpräsidenten die Schirmherrschaft
zu übernehmen. [14]
Die Langzeitfolgen des Saarkampfes der 1950er
Jahre
Und dafür gab es nachvollziehbare Gründe. Für
Heinrich Schneider und die DPS wie auch für Teile
der Saar-CDU und SPD war Konrad Adenauer
nach seiner sogenannten Bochumer Rede vom
[11] Ebda.
[12] Saarbrücker Zeitung vom 19. April 1960.
[13] StASB, V 18, Nr, 19, Niederschrift der Stadtratssitzung
vom 9. Juni 1958, gef. 11. Juni 1958.
[14] Bundesarchiv, Bestand Bundeskanzleramt (B 136), Nr.
8643, Reinert an Adenauer vom 20. Juni 1958.
Auch die Amerikaner
präsentierten sich mit
einem Ausstellungspavillon
in der spektakulären
Architektur
eines »Fuller
Domes«, benannt
nach dem amerikanischen
Architekten
und Designer Richard
Buckminster Fuller.
(Stadtarchiv SB, StA
67)
Bei den Besuchern
seit dem Tag der
Eröffnung äußerst
beliebt: eine Fahrt mit
der Kleinbahn.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1141/16)
2. September 1955 zum politischen Gegner, ja in
der Emotion des Abstimmungskampfes, zum
Feind geworden. Der Kanzler hatte seinerzeit die
Annahme des Saarstatuts empfohlen. Für ihn
war das eine Frage der Glaubwürdigkeit, hatte
er sich doch zusammen mit Ministerpräsident
Pierre Mendès-France seinerzeit auf das Statut
verständigt und damit den letzten Bremsklotz
für den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen
zwischen Bonn und Paris beseitigt. Außerdem
hoffte Adenauer auf Frankreichs Zustimmung
zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
Adenauer hatte am 2. September 1955 die Saarländer
direkt angesprochen: »An die Bevölkerung
der Saar habe ich die herzliche Bitte zu richten:
Ich verstehe, dass sie die Regierung Hoffmann
nicht mehr will (…). Aber der Weg, zu einer
anderen Regierung zu kommen, ist gerade, dieses
Statut anzunehmen und dann in der darauf
stattfindenden Landtagswahl einen Landtag zu
wählen, der in seiner Mehrheit gegen die Regierung
Hoffmann gerichtet ist. Wenn man das
tut, dann wahrt man gleichzeitig auch die europäischen
Interessen, die es nicht vertragen, daß
(…) in Europa zwischen Deutschland und Frankreich
wieder ein Unruheherd geschaffen wird.« [15]
Damit konterkarierte er die Strategie der Statutgegner
mit ihrem Slogan »Der Dicke muss weg«
mit dem sie auf die Leibesfülle von Ministerpräsident
Hoffmann anspielten. Nach Bochum
schlossen sich DPS, SPD und CDU zum Deutschen
Heimatbund zusammen. Schneider sprach
mit Blick auf Adenauers Haltung noch in seinen
Memoiren von einem »Dolchstoß in den Rücken
der prodeutschen Parteien«. Und als Adenauer
(1876–1967) am 1. Januar 1957 anlässlich des Beitrittes
des Saarlandes Saarbrücken besuchte,
wurde er mit Pfiffen empfangen. [16]
Überhaupt war das Verhältnis zwischen der
Bundesregierung und dem neuen Bundesland
schwierig. Einen aus Bonner Sicht eher schlechten
Eindruck hatten die Saarländer bei den Verhandlungen
mit Paris über die Bedingungen der
Rückkehr der Saar zur Bundesrepublik hinterlassen.
Das Verhandlungsergebnis bildete der
Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, dem
die DPS ihre Zustimmung mit Stimmenthaltung
verweigerte und der zum Rücktritt der DPS-
Minister führte.
Der Kampf zwischen den Ja- und Nein-Sagern
schwel te weiter. Die Landtagswahlen am 18.
Dezember 1955 und die Kommunalwahlen am
13. Mai 1956 zeigen die Spaltung des christlichen
Lagers an der Saar und ein von der Bonner Republik
noch weit entferntes Parteiensystem. So
wurde bei den Landtagswahlen die CDU zwar
stärk ste Partei mit 25,4 Prozent, aber nur 1,2 Prozent
trennten die Union von Heinrich Schneiders
DPS. Die von Johannes Hoffmann (1890–1967)
begründete CVP erreichte beachtliche 21,8 Prozent,
angeschlagen waren die Sozialdemokraten
mit etwa 15 Prozent. Für die DPS bot sich die Perspektive,
stärkste Partei zu werden und den frisch
gewählten CDU-Ministerpräsidenten Ney abzulösen,
der mit markigen Worten die christliche
Spaltung zum Leidwesen der Bonner CDU und
Teilen der Saar-CDU verfestigte. Das schwächte
die CDU auf Bundesebene und damit den
Kanzler. Hochburg der DPS war die Stadt Saarbrücken.
Die Partei erzielte hier deutlich über
40 Prozent und bildete mit großem Vorsprung
die stärkste politische Kraft. Sie war hier sozusagen
eine Volkspartei, denn neben dem protestantischen
Bürgertum mit Kaufmannschaft und
Handwerkern wählten auch viele Arbeiter und
[15] https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/eingliederung-dessaarlands-in-die-bundesrepublik.
[16] Schneider, Wunder an der Saar, S. 456 ff.
saargeschichte|n 81
Am Ufer des Deutschmühlenweihers.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1141/15)
Angestellte DPS und sie stellte mit Fritz Schuster
seit 1956 den Oberbürgermeister.
Die Autonomiegegner genossen ihren Triumpf
vom 23. Oktober 1955. Ja- und Nein-Sager
beschimpften sich weiter. Offene Rechnungen
wurden nun beglichen und die Übergangsregierung
unter Heinrich Welsch (1888–1976)
entließ einige Beamte der Hoffmann-Regierung.
Aus Perspektive der Autonomisten eine Hexenjagd
und die französische Regierung mahnte zur
Zurückhaltung. Um weiteren Auswüchen entgegenzuwirken
veranlasste die Westeuropäische
Union (WEU), die Einrichtung eines Internationalen
Gerichtshofes in Saarbrücken. Am 27.
Juni 1956 nahm dieser seine Arbeit auf und war
bis 1959 tätig. [17]
Die Regierung Hoffmann hatte Gegner der Autonomie
durch Zensur unterdrückt, einige auch
ausgewiesen. Für die DPS war dies Anlass, im Februar
1957 einen Gesetzentwurf ȟber die Wiedergutmachung
der von Personen deutscher Staatsangehörigkeit
im Saargebiet erlittenen Schäden«
einzubringen. Im Juli 1959 wurde das Gesetz
dann in dritter Lesung verabschiedet, ganz
bewusst wählten die Parlamentarier den Begriff
»Wiedergutmachung« und wählten damit eine
fragwürdige Analogie zur Entschädigung und
Wiedergutmachung der singulären Verbrechen
der NS-Diktatur wie dem Holocaust, dem sechs
Millionen Juden zum Opfer fielen. Das autonome
Saarland war aber keine Diktatur, gleichwohl
aber angesichts einer fehlenden unabhängigen
Verfassungsgerichtsbarkeit und Eingriffen in die
[17] Alexis Andres, Edgar Hector und die Saarfrage 1920–
1960, in: Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd
Rauls (Hg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich
und Deutschland 1945–1960, St. Ingbert 1997, S.
172.
Meinungsfreiheit allenfalls eine Demokratie mit
Vorbehalt. [18]
Zum Triumphgefühl trug auch eine Straßenumbenennungsaktion
bei. Akteur in Saarbrücken war
die DPS. In der Zeit der Abtrennung sei »mit einer
wahren Idiosynkrasie gegen alles Preußische«
vorgegangen worden. Rund 120 Namen aus vornationalsozialistischer
Zeit seien zwischen 1945
und 1950 geändert worden. Verantwortlich dafür
seien gar nicht allein die Franzosen gewesen,
sondern der CVP-Stadtverordnete Dr. von Brochowski.
Er habe den damaligen Bürgermeister
Dr. Singer entsprechend instruiert. Sie hätten
»alle traditionellen Bindungen einer urdeutschen
Stadt durchschneiden wollen«. Die DPS konnte
sich weitgehend durchsetzen, Widerstand leistete
die CVP mit ihrem Stadtverordneten Kessler,
aber in einigen Fällen auch CDU und SPD. [19]
Neben den Straßenumbenennungen setzte die
DPS die Wiederrichtung von Erinnerungsstätten
durch. Neben dem Denkmal der 138er in den
Hindenburg-Anlagen und dem Ulanen-Denkmal
in der Stadenanlage wurde die Gedenktafel an
der Wartburg zur Saarabstimmung am 13. Januar
1935 wieder angebracht. [20]
Nach der Begegnung Adenauers und De Gaulles
im September 1958 kam Bewegung in die
deutsch-französischen Beziehungen. Als Bundeskanzler
die Deutsch-Französische Gartenschau
gemeinsam mit dem französischen Ministerpräsidenten
zu eröffnen, an sich eine gute Perspektive,
aber einen Heinrich Schneider dabei
[18] Rainer Möhler, Bevölkerungspolitik und Ausweisungen
nach 1945 an der Saar, in: Ebda., S. 399.
[19] StA SB, V 18, Nr. 19, Sitzung vom 25. September 1956, S.
113–115.
[20] Ebda., Niederschrift zur Stadtratssitzung vom 30. Oktober
1956, S. 139.
im Vordergrund zu haben und dessen Polemik
und Nationalismus zu riskieren – dieses Risiko
brauchte Bonn nicht einzugehen. In der sich
nun abzeichnenden Etappe, enge und freundschaftliche
Beziehungen zwischen Bonn und
Paris aufzubauen, konnte man keine Kakophonie
von der Saar gebrauchen. Und die gab es aus
Bonner Sicht seit 1955. Knapp vier Wochen nach
Adenauers Treffen mit De Gaulle im September
war im Bundestag am 16. Oktober 1958 die
wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Saarland
großes Thema. Die Saarländer wollten ihre
höheren sozialpolitischen Leistungen bewahren,
Schneider führte auch hier das große Wort. Im
Verlauf dieser Kontroverse griff Schneider auch
den Kanzler persönlich an, in Analogie an den
Schlachtruf gegen Johannes Hoffmann hieß es
nun nicht mehr »Der Dicke muss weg«, sondern
»Der Alte muss weg«. [21]
Die Bonner Ministerialbürokratie sprach von der
»Rosinentheorie« der Saarländer. Sie wollten
einerseits Angleichung an bundesdeutsche Standards,
aber die günstigeren saarländischen Sozialstandards
aus der Autonomiezeit behalten. [22]
Wenn von Schneider im Kanzleramt die Rede war,
sprach Adenauer nur vom »Nationalsozialisten«
und den bis Juni 1957 amtierenden saarländischen
Ministerpräsident Ney bezeichnete er
als »Dummkopf und Nationalisten«. [23]
Schneiders unangemessene Rhetorik des nationalen
Pathos und des Nationalismus sowie
sein populistisch kalkulierter Umgang mit seiner
NSDAP-Vergangenheit – das konnte das
Klima zwischen Bonn und Paris belasten, wenn
im Kontext einer offiziellen Veranstaltung entsprechende
Töne für Schlagzeilen sorgten. Nicht
nur für den Kanzler, auch für die Franzosen war
Schneider eine Reizfigur – bezeichnend die Aussage
von Jean François Poncet: »(…) Heinrich
Schneider, ein alter Nazi, der auf seine hitlerische
Vergangenheit stolz ist. Er handelt entsprechend
den Methoden des Dritten Reiches. Er ist ein Extremist,
der schamlos das Nationalgefühl ausbeutet.«,
so äußerte sich Frankreichs ehemaliger
[21] Schneider, Wunder an der Saar, S. 289.
[22] Hans-Christian Herrmann, Sozialer Besitzstand und
gescheiterte Sozialpartnerschaft. Sozialpolitik und
Gewerkschaften im Saarland 1945–1955, Saarbrücken
1995. Ders., Eine Bilanz der kleinen Wiedervereinigung:
40 Jahre nach der wirtschaftlichen Rückgliederung des
Saarlandes, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend
48/2000, S. 309–328.
[23] Hans-Peter Schwarz, Adenauer Bd. 2: Der Staatsmann
1952–1957, Stuttgart 1991, S. 132–134.
Hochkommissar und Botschafter in Bonn 1955 in
der Zeitung »Le Figaro«. [24] Schneider prahlte mit
seiner NSDAP-Mitgliedschaft und konnte sich
damit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit
der 1950er und 1960er Jahre angesichts von 11,5
Millionen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und
NSDAP-Anwärtern gewisser Sympathien sicher
sein. Er hatte auch keine Skrupel, im Oktober 1959
auf einer Veranstaltung der »Hilfsgemeinschaft
auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen
Waffen-SS e. V.« (HIAG) als Redner aufzutreten. [25]
Und so verwundert es auch nicht, dass im Oktober
1958 immer noch keine Finanzzusage der
Bundesregierung für das Gartenschauprojekt
vorlag. Heinrich Schneiders rechte Hand im Saarbrücker
Rathaus, Willy Reinkober, setzte selbstbewusst
auf Risiko: »Es sei daher notwendig, die
Arbeiten so zu betreiben, als ob die Zusage des
Bundes vorliegen würde, in den vorzubereitenden
Verträgen müsse lediglich der Zusatz gemacht
werden, dass die Rechtswirksamkeit erst mit der
Zustimmung der Bundesregierung in Kraft trete«
– im Nachhinein ein mutiger Schachzug, denn
damit hätte der Bund ein Scheitern des Projektes
verantworten müssen. [26]
Im Lauf des Jahres 1959 kam es dann zu verbindlichen
finanziellen Zusagen der Bundesregierung.
Strippenzieher war Lübke, der mehrfach bei
Kanzleramtschef Hans Globke (1898–1973) für
das Projekt warb und dabei behauptete, die
finanzielle Beteiligung der französischen Regierung
sei sichergestellt. Tatsächlich war dies
aber noch unklar, ebenso wie die Frage einer
Schirmherrschaft auch durch Frankreich. Darum
bemühte sich der Bonner Botschafter in Paris
Herbert Blankenhorn in Verhandlungen mit
Pierre Joxe, dem Generalsekretär des französischen
Außenministers. Teile der saarländischen
Administration hofften auf das Ende von Adenauers
Kanzlerschaft und damit auf mehr Förderung
aus Bonn und Eröffnung der Garten-
[24] Schneider, Wunder an der Saar, S. 470.
[25] Schneider kokettierte mit ihr geradezu, betonte aber
gelegentlich auch, als Anwalt Verfolgte des Nationalsozialismus
verteidigt zu haben und deshalb Opfer eines
Parteiverfahrens geworden zu sein. Wie wir durch
Rainer Möhlers Studien wissen, scheiterte seine Parteikarriere
aber an Gauleiter Bürckel, vgl. Rainer Möhler,
Rechtsanwalt Dr. Heinrich Schneider: Trommler oder
Mitläufer?, in: Peter Wettmann-Jungblut (Hg.), Rechtsanwälte
an der Saar 1800–1960: Geschichte eines bürgerlichen
Berufsstandes, Blieskastel 2003, S. 312.
[26] StA SB, Dez II, Nr. 35.2, Niederschrift der Sitzung vom 9.
Oktober 1958, gef. 25. Oktober 1958.
saargeschichte|n 83
schau durch den neuen Kanzler, so äußerte sich
Oberregierungsrat Marwede gegenüber Beamten
des Kanzleramtes im Mai 1959. Hintergrund
waren Adenauers damalige Ambitionen auf
das Amt des Bundespräsidenten, so wird Marwede
wie folgt zitiert: »Inzwischen könne man
nach der Wahl des neuen Bundeskanzlers auch
bezüglich der gemeinsamen deutsch-französischen
Schirmherrschaft klarer sehen. Nach seiner
Meinung komme eine Schirmherrschaft deutscher
Bundespräsident/französischer Staatspräsident
nicht in Betracht. Damit würde man
die Ausstellung überbewerten, vielleicht sollte
der neue deutsche Bundeskanzler zusammen
mit dem französischen Premierminister die
gemeinsame Schirmherrschaft antreten (…)«. [27]
Hier deutet sich an, dass Teile der saarländischen
Administration Adenauer auf keinen Fall in Saarbrücken
sehen wollten.
Adenauer blieb aber Kanzler und Lübke (1894–
1972) wurde Bundespräsident. Im Saarland
zeichneten sich aus Adenauers Sicht positive
Entwicklungen ab. Durch die Vermittlung der
bayerischen CSU war die CVP bereit, in der CDU
Saar aufzugehen. Am 19. April 1959 setzten sich
auf einem Parteitag die innerhalb der CVP vermittelnden
Kräfte durch und beschlossen mehrheitlich
den Beitritt zur CDU. Einer der Gegner dieses
Kurses, Hubert Ney, hatte die Partei schon im
Februar 1959 verlassen, ebenso der sogenannte
Blutrichter von Prag und gesuchte Kriegsverbrecher
Erwin Albrecht. Die Spaltung des christlichen
Lagers war damit überwunden. Wie würde
sie sich in der Praxis bewähren? Immerhin gab es
einige Verweigerer in Reihen der CVP wie etwa
Erwin Müller, er gründete die SVP. Für Heinrich
Schneider war die Vereinigung eine erste Niederlage,
schmolzen doch seine Chancen dahin, die
DPS zur stärksten politischen Kraft nicht nur in
Saarbrücken zu machen. Ende des Jahres 1959
verbesserte sich für das Saarland das Klima im
Kanzleramt. Auf den tödlich verunglückten Reinert
folgte Franz-Josef Röder (1909–1979) am
30. April 1959 als Ministerpräsident. Möglicherweise
half Bundesaußenminister Heinrich von
Brentano, der am 12. Oktober 1959 an Adenauer
schrieb, um das Kanzleramt zur aktiven Unterstützung
zu bewegen. Brentano war zuvor in
Saarbrücken gewesen: »Ich kann nur sagen, dass
ich sowohl von dem Ministerpräsidenten [Röder]
wie auch von seinem Kabinettskollegen [Schneider
gehörte dem Kabinett nicht mehr an] einen
[27] BA, B 136, Nr. 8643, Vermerk vom 5. Mai 1956 über Gespräch
mit Marwede am 3. Mai 1959.
sehr guten Eindruck gewonnen habe«. Weiter
empfahl von Brentano, wohl auf Wunsch der
saarländischen Landesregierung, das Patronat
des Kanzlers und des französischen Ministerpräsidenten:
»Ich halte diesen Vorschlag für einen
glücklichen Gedanken,. Wir sollten gerade im
Saarland die deutsch-französische Zusammenarbeit
propagieren. (…) Die Übergangsschwierigkeiten,
die notwendigerweise eintreten mussten
und auch noch nicht behoben sind, werden
dann an Bedeutung verlieren«. Am 19. Oktober
1959 vermerkte Globke, Adenauer übernehme
die Schirmherrschaft, wenn auch der französische
Ministerpräsident dies tue. Nun schien die
Sache in trockenen Tüchern, da kam aus Paris im
Dezember 1959 die Nachricht, Ministerpräsident
Debré verzichte auf die Schirmherrschaft. Er
begründete dies mit Terminzwängen und teilte
mit, der französische Landwirtschaftsminister
werde die französische Regierung vertreten.
Das Bundeskanzleramt teilte dies der Landesregierung
am 16. Dezember 1959 mit. Röder intervenierte
wohl und als er Adenauer zu dessen
Geburtstag am 5. Januar 1960 persönlich gratulierte,
wurde vereinbart, Adenauer und Debré
übernehmen die Schirmherrschaft. Röder sollte
Debré nochmals persönlich darum bitten. Debré
erklärte sich nun dazu bereit. Wegen eines wohl
wirklich wichtigen anderen Termins vertrat ihn
der französische Landwirtschaftsminister und
sein deutscher Kollege den Kanzler. Die Saarbrücker
Zeitung behauptete 1980 fälschlicherweise,
Lübke sei der Schirmherr gewesen. Zur
Freude der Saarbrücker Verwaltung besuchte er
die Deutsch-Französische Gartenschau am 8. Juli
1960. [28]
Auch wenn es ursprünglich gar nicht beabsichtigt
war, setzte die Deutsch-Französische Gartenschau
ein Zeichen für eine neue Zeit deutschfranzösischer
Beziehungen. Gut zwei Jahre
nach der Eröffnung der Deutsch-Französischen
Gartenschau besuchte Adenauer vom 2. bis 8.
Juli 1962 Frankreich. De Gaulle (1890–1970) reiste
im September 1962 in die Bundesrepublik. De
Gaulles Staatsbesuch war eine historische Zäsur
für die Deutschen, ein mediales Ereignis, das die
bundesdeutsche Öffentlichkeit tief bewegte, ein
Aufbruch in eine neue Zeit. Der Präsident eines
Landes, das die Deutschen 1940 überfallen und
besetzt hatten, reiste durch die Bonner Republik
und sprach in deutscher Sprache zu den Menschen.
Der von Deutschen zu verantwortende
Zweite Weltkrieg mit mindestens 50 Millionen
[28] Saarbrücker Zeitung vom 15./16. Mai 1980.
Strahlende Besucher
bei der Eröffnung der
Deutsch-Französischen
Gartenschau
am 23. April 1960.
(Stadtarchiv SB, Nl M
1143/6)
Toten war noch keine 20 Jahre vorbei, da würdigte
der Staatsmann eines überfallenen Landes
die deutsche Kultur und appellierte, ein neues
Kapitel in den Beziehungen beider Länder aufzuschlagen,
ihre Erbfeindschaft zu überwinden
und eine deutsch-französische Freundschaft aufzubauen.
De Gaulles Auftritt gab den Deutschen
ihre Würde zurück, Kritiker sahen De Gaulles
Rede als eine Bestätigung all derer, die die deutsche
Schuld zu verdrängen neigten. Diese Sichtweise
ist nachvollziehbar, andererseits war es
für den Aufbau der westdeutschen Demokratie
wie auch für die angestrebte Freundschaft nicht
förderlich, NSDAP-Mitglieder auf Dauer auszuschließen,
diese Gruppe war mit mindestens 11,5
Millionen Mitgliedern viel zu groß, da zu ihr Millionen
von Mitläufern noch hinzuzurechnen sind.
So hatte auch der Vorsitzende des Preisgerichts,
das über die zur deutsch-französischen Gartenschau
eingereichten Beiträge zu entscheiden
hatte, eine belastete Vergangenheit. Alwin Seifert
(1890–1972) war seinerzeit einer der führenden
deutschen Landschaftsarchitekten, und galt
als einer der Gründerväter der Ingenieurbiologie
und einer der ersten Verfechter der Ökologiebewegung
seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren.
Während der Zeit des Nationalsozialismus
gehörte er zum Beraterstab Fritz Todts und war
als Reichslandschaftsanwalt für die landschaftliche
Eingliederung und den Streckenverlauf der
Reichsautobahn sowie die landschaftliche Tarnung
des Westwalls zuständig. Seifert hatte seit
den 1920er Jahren engen Kontakt zu Rudolf Heß,
Martin Bormann, Heinrich Himmler, Richard Walther
Darré, Albert Speer und anderen NS-Granden.
1938 verlieh ihm Adolf Hitler den Ehrentitel
»Professor«. 1940 war er zum »Reichslandschaftsanwalt«
ernannt worden.
[29]
Das Fernsehen begleitete De Gaulle bei
seinen Besuchen in Bonn, Düsseldorf,
Duisburg, Hamburg, München, Stuttgart
und Ludwigsburg. Der Besuch
des französischen Präsidenten zählt
zu den Ereignissen der jungen Bonner
Republik, das Tausende von Menschen
voller Begeisterung auf die Straßen
trieb. Im Garten des Ludwigsburger
Schlosses sprach der französische Präsident
vor über 10.000 jungen Menschen
in deutscher Sprache. Die Begeisterung
war zu spüren, als er vor allem die Jugend aufforderte,
die Freundschaft zwischen beiden Völkern
in die Hand zu nehmen.
Das Saarland sollte ab den 1960er Jahren in
der Entwicklung der deutsch-französischen
Beziehungen eine führende und konstruktive
Rolle spielen. Röder genoss hohes Ansehen in
Frankreich und wurde als Ministerpräsident 1974
zu einem Staatsbesuch nach Paris eingeladen
– eine ungewöhnliche und zugleich wertschätzende
Geste. Bei den Landtagswahlen 1965
war die starke Stellung der DPS passé. Heinrich
Schneider hatte keine Zugkraft mehr, wohl aber
der neue Landesvater Franz-Josef Röder, der über
20 Jahre regierte und bis heute der dienstälteste
saarländische Ministerpräsident ist. Auch er war
wie Schneider NSDAP-Mitglied, zog aber aus dieser
Erfahrung für sein weiteres politisches Leben
andere Konsequenzen.
[29] Im Entnazifizierungsverfahren gelang es Seifert zunächst
als Mitläufer und später als unbelastet eingestuft
zu werden. 1950 nahm er seinen Lehrauftrag an
der TH München wieder auf, 1954 erhielt er einen Lehrstuhl
für Landschaftspflege, Landschaftsgestaltung
sowie Straßen- und Wasserbau. Seifert hatte maßgeblichen
Anteil an der Professionalisierung des Berufsstandes
des Landschaftsarchitekten. Er war Berater
bei großen Wasserbauprojekten und von 1958 bis
1963 Leiter des Naturschutzbundes in Bayern. 1961 war
er einer der 16 Unterzeichner der »Grünen Charta von
der Mainau«. Sein 1971 erschienenes Buch »Gärtnern,
Ackern ohne Gift« avancierte zu einer Bibel der ökologischen
Bewegung. Der Vf. dankt Ruth Bauer für diesen
Hinweis. https://www.deutsche-biographie.de/
sfz120993.html (Stand 18. Februar 2019).
europadämm(er)ung in saarbrücken
saargeschichte|n 85
Zwei Teppiche und ein Bildprogramm
von sabine graf
In der Empfangshalle des als Französische Botschaft
im Saarland geplanten Gebäudes hängen
zwei Wandteppiche. Sie gelten als Inventar, ohne
dass bislang ihre Bedeutung genauer betrachtet
wurde. Genau besehen bezeugen sie einen Wechsel
in der Funktion des Gebäudes. Im November
1954 bot Botschafter Gilbert Grandval das
noch nicht komplett fertiggestellte Gebäude als
einem möglichen Sitz für die Institutionen der
Montanunion an. Seit 1952 hatte Saarbrücken für
sich als Hauptstadt der Montanunion geworben.
Der 23. Oktober 1955 beendete die französischen
wie auch die europäischen Pläne für das Saarland.
»Die Botschaft der Botschaft« (Barbara
Renno, SR2 Kulturradio) lautete daher: Zu vermieten
als Raum für Illusionen. Das galt 1954 und
gilt auch heute noch. Die Indizien dafür liegen
auf der Hand, Pardon: hängen an der Wand.
Die Bildteppiche in der Empfangshalle der Residenz
des französischen Botschafters im Saarland
Die beiden Wandteppiche im Foyer der ehemaligen
französischen Botschaft werden wie
folgt beschrieben: Auf gewebtem Untergrund
finden sich »abstrakte Formen«, »Hell-Dunkel
Kontraste«, die den »unregelmäßigen Rhythmus
der Komposition« bestimmen und ein »in
sich unruhige(s) Muster« darstelle, das in der
großzügigen Weite des Foyers gut zur Geltung
(komme) und »dessen puristisch gestaltete
Architektur mit Leben (erfülle). Das gelte auch für
den zweiten der beiden Teppiche, der ein Ȋhnlich
abstraktes Muster« zeige. [1]
Das ist eine zutreffende Darstellung des Sachverhalts,
sofern es sich ausschließlich auf den architektonischen
Entwurf von Georges-Henri Pingusson
bezieht. Jedoch darf bei diesem Gebäude der
zeitliche Kontext nicht außer Acht gelassen werden.
Vor allem dann nicht, wenn ihm eine neue
Funktion zugewiesen wurde, wie es im November
1954 der Fall war. Am 24. Juli 1952 stellten
die Außenminister der sechs der zur Montanunion
zusammengeschlossenen Länder Belgien,
[1] Kunst im öffentlichen Raum. Saarland. Band 1: Saarbrücken,
Bezirk Mitte. Herausgegeben von Jo Enzweiler. Institut
für aktuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden
Künste Saar Saarlouis. Saarbrücken 1997, S. 137.
Der größere Wandteppich
von François
Arnal an der Ostseite
der Empfangshalle
der Französischen
Botschaft in Saarbrücken.(Foto:
Mechthild
Schneider, LPM)
Das Botschaftsensemble
von Henri
Georges Pingusson
mit Verwaltungshochhaus
und
Botschafterresidenz,
mit der Tricolore
beflaggt, um 1957.
(Foto: Joachim Lischke,
Landesbildstelle)
Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Italien und
Deutschland in Aussicht, dass Saarbrücken zum
Sitz der europäischen Institutionen der Montanunion
werden könnte. In Saarbrücken reagierte
man sofort und begann, nach Unterbringungsmöglichkeiten
für Arbeiten und Wohnen der im
Dienst der europäischen Institutionen stehenden
Mitarbeitenden und deren Familien zu suchen.
Der Entwurf der im Oktober 1952 erschienenen
Broschüre »Warum nicht Saarbrücken«, die das
Informationsamt der Stadt Saarbrücken herausgab,
verzeichnet unter »IV: Unterbringungsmöglichkeiten,
Punkt 3: das in den Saaranlagen
gelegene, nur noch bis 1952 von der französischen
diplomatischen Mission benutzte Bürogebäude
mit über 200 Büroräumen.« [2] Dabei
handelte es sich um die ehemalige Oberfinanzdirektion
in der Alleestraße 21–23, dem heutigen
Sitz des Sozialministeriums, in der das Hohe
Kommissariat damals untergebracht war. Bereits
im Juni 1952 hatte man in Saarbrücken, wie aus
einem Schreiben an das Amt für Auswärtige und
Europäische Angelegenheiten hervorgeht, die
Errichtung der Schuman-Behörde in Saarbrücken
gefordert. [3] Damals rechnete man damit, dass
das seit 1951 im Bau befindliche neue Botschaftsgebäude
an der Saaruferstraße im »Spätherbst
1952« bezugsfertig sei und daher das bisherige
Gebäude für die Montanunion genutzt werden
könne. Das war ebenso eine Fehleinschätzung
wie die Zuversicht, dass die Voraussetzung erfüllt
werde, die Saarbrücken zur Hauptstadt der
Montanunion machen sollte: Dafür musste es zu
[2] LASB, AA 567: Typoskript Broschüre »Warum nicht Saarbrücken?«
Herausgegeben vom Informationsamt der
Stadt Saarbrücken, ohne Seitenangabe.
[3] LASB, AA 565: Schreiben Generalsekretär Dr. Adams an
Direktor Lorscheider, Amt für Auswärtige und Europäische
Angelegenheiten, 13. Juni 1952.
einer Verständigung über die Saarfrage zwischen
Deutschland und Frankreich kommen. In beiden
Fällen dauerte es jedoch länger als anfangs
angenommen.
Die Verhandlungen zwischen Deutschland und
Frankreich zogen sich hin. Am 23. Oktober 1954
unterzeichneten Bundeskanzler Adenauer und
der französische Ministerpräsident Mendès-France
die Pariser Verträge und damit das europäische
Saarstatut für das Saarland, über das nach exakt
einem Jahr die Saarländerinnen und Saarländer
abzustimmen hatten. Die neue Botschaft harrte
zu diesem Zeitpunkt noch ihrer Fertigstellung. Im
August war das Verwaltungsgebäude bezogen
worden, während an der Botschafterresidenz
noch gearbeitet wurde, wie aus der erhaltenen
Korrespondenz zwischen dem Ministerium für
öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau des Saarlandes
und dem französischen Botschafter Gilbert
Grandval hervorgeht. [4] Ungeachtet dessen
stellte Grandval die noch nicht fertiggestellte
Botschaft in einem Schreiben vom 8. November
1954 an Ministerpräsident Hoffmann als ersten
Verwaltungssitz für die Montanunion zur Verfügung.
[5] Stattdessen wollte er mit seiner Landes-
[4] LASB, AA 1375: Schreiben Oberregierungsrat Metzger, Ministerium
für öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau an
Botschafter Gilbert Grandval, 29. November 1954: Darin
ist von dem Wunsch des Botschafters die Rede, der die
Fertigstellung der Residenz zwischen dem 8.und 10. Januar
1955 wünsche. Siehe auch LASB, AA 543: Schreiben
Oberregierungsrat Metzger, Ministerium für öffentliche
Arbeiten und Wiederaufbau an Botschafter Gilbert
Grandval, 1. Dezember 1954: Darin ist von Elektro- und
Glaserarbeiten die Rede, die noch in der Botschafterresidenz
auf Wunsch von Grandval vorgenommen wurden.
[5] LASB, AA 544: Schreiben des französischen Botschafters
Gilbert Grandval an Ministerpräsident Johannes Hoffmann,
8. November 1954.
saargeschichte|n 87
vertretung in die noch zu errichtende »Maison de
France« einziehen. Diese sollte auf einem Grundstück
neben dem Union-Filmtheater (dem heutigen
Saarcenter mit den UT-Kinos und dem Saarufer
an der Ecke Dudweilerstraße (heute: Höhe
Rabbiner-Rülf-Platz) entstehen und das in Höhe
der Bahnhofstraße 55–59 geplante Bauprojekt
»Europahaus« ersetzen. [6]
Bereits am folgenden Tag schlug der im Februar
1953 installierte »Aktionsausschuss Montanunionstadt
Saarbrücken« unter dem Rubrum
»Sofortmaßnahmen des Aktionsausschusses
Montan unionstadt Saarbrücken« mit Bezug
auf Artikel 13 des deutsch-französischen Saarabkommens
vom 23. Oktober 1954 dieses ihm
bei seiner Sitzung am 5. November bereits –
offenkundig noch vor dem Ministerpräsidenten
– vorliegende Angebot als »Sofortmaßnahme«
vor. Derart, dass nun »die Notwendigkeiten bei
einer sofortigen Übersiedlung der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl von
Luxemburg nach Saarbrücken, zum anderen die
Erfordernisse bei einer Sitzverlegung nach hier
nach Fertigstellung der Verwaltungs- und Wohngebäude
– ausgerichtet nach den Wünschen dieser
Behörde« in die Tat umzusetzen sind. [7] Mit
dem vom Botschafter »spontanement à votre
disposition« [8] dem Projekt »Hauptstadt der
Montanunion« überlassenen Gebäude glaubte
man, nun endlich einen großen Schritt auf das
angestrebte Ziel hin getan zu haben.
Aufgrund dieser Entwicklung und des damit eingeläuteten
Funktionswandels erscheinen die
beiden Wandteppiche im Foyer der Botschafter-
[6] Ebd., dazu auch LASB AA 544, Schreiben Regierung
des Saarlandes, der Direktor der Präsidialkanzlei, 17.
Dezember 1954.
[7] LASB, StK 2747: Schreiben Aktionsausschuss Montanunionstadt
Saarbrücken an Ministerpräsident Johannes
Hoffmann, 9. November 1954.
[8] Siehe Anm. 5.
residenz alles andere als rein dekorativ und ohne
Bezug zum Ort. Sie abstrahieren die neue Funktion
des Gebäudes. Ihr Urheber war der »Maler
und Entwurfszeichner für Wandteppiche« [9] François
Arnal (1924–2012). Der studierte Jurist und
Literaturwissenschaftler hatte sich im Zweiten
Weltkrieg der Résistance angeschlossen und
hatte dort den niederländischen Maler und Galeristen
Conrad Kickert kennengelernt. Durch ihn
fand er zur Kunst, der er sich nach seiner Übersiedlung
nach Paris im Jahr 1948 mit großem
Erfolg zuwandte. 1949 erhielt er den Prix de la
Jeune Peinture, nahm in den Folgejahren an den
Kunstbiennalen in Sao Paolo und Venedig teil. In
Deutschland vertrat ihn die in den Nachkriegsjahren
bis in die 1960er Jahre für die Kunst der
Bundesrepublik wichtigen Galerie Parnass in
Wuppertal. Galerist Rudolf Jährling gab nicht nur
den Malern Richter, Polke, Baselitz sowie Joseph
Beuys oder dem Videokünstler Nam June Paik
Raum, sondern richtete Werkschauen für Le Corbusier
aus und holte aus Amerika den für seine
Metallmobiles berühmten Alexander Calder erstmals
nach Europa.
1950 zeigte Parnass bereits Arbeiten von François
Arnal. Dieser war ein Mann seiner Zeit und vertrat
eine Bildsprache zwischen Informel, abstraktem
Expressionismus und dem fröhlichen Eklektizismus
Fernand Légers. Das war aktuell und ent-
[9] Kunst im öffentlichen Raum. Band 1, a.a.O., S. 368.
Der kleinere der beiden
Wandteppiche
von François Arnal
an der Westseite
der Empfangshalle
des Pingusson-Baus
entstand in einer
künstlerischen Auseinandersetzung
mit
Impressionen aus der
Stahlindustrie.(Foto:
Mechthild Schneider,
LPM)
Das sogenannte
Behördenhaus, später
Finanzamt, am St.
Johanner Saarufer im
Bau, um 1949. (Foto:
Landesarchiv Saarbrücken,
Sammlung
PhotoPressAct)
Anzeige in der Saarbrücker
Zeitung zur
geplanten Europäisiserung
der Saar
kurz vor den Landtagswahlen,
am 25.
November 1952.
sprach den Sehgewohnheiten und Erwartungen
der Nachkriegsmoderne in Frankreich. Demgemäß
beschrieb Arnal seine Bildsprache: Informel
mit Anklängen an Figuren und Landschaften. [10]
Das trifft, so allgemein es auch vom Künstler formuliert
ist, auf die beiden Teppiche zu. Der größere
Teppich an der Ostseite zeigt Motive aus
dem Bereich »Kohle«. Mächtige Flöze lagern in
Schwarz, Weiß, Blau und Rot kreuz und quer im
Bildraum, flankiert von wuchernden pflanzenartigen
Organismen, den Urstoffen der Kohle.
Ebenso lassen sich Strebe oder die kreisrunde
Walze eines abstrahierten Walzenschrämladers
erkennen, also die Technik, mittels der Kohle
abgebaut wird. Der kleinere Teppich an der Westseite
des Foyers beschäftigt sich mit der Eisenund
Stahlerzeugung. Kreisformen erinnern an
glühendes Eisen, das zudem an mehreren Stellen
durch den Bildraum läuft. Abstrahierte Figuren
halten Coquillen und andere Formen, in denen
Roheisen gefangen und zur Stahlerzeugung
transportiert wird. Im Zusammenhang mit der
neuen Funktion des Gebäudes ist diese abstrahiert-assoziative
Darstellung von Kohle und
Stahl naheliegend. Sie entspricht zudem der
Darstellung der Eisen- und Stahlindustrie und
des Bergbaus in der Industriemalerei der 1950er
Jahre, die sich durch eine »stärkere Abstraktion«
auszeichnete, »um dem unverändert ästhetischen
Reiz vor allem der Eisenerzeugung nachzugeben.«
[11] Es zeigte sich eine »formale Abstraktion,
ohne die Gegenständlichkeit aufzugeben.« [12]
Der Soziologe Klaus Türk stellt in einer Untersuchung
»Bilder der Arbeit« für die Industriemalerei
der 1950er Jahre fest: »Das Industriebild
der fünfziger Jahre war regional orientiert. Nicht
Industrie an sich ist das Thema, sondern konkrete
empirische Einzelobjekte oder -ereignisse. Dieser
Sachverhalt ist vielleicht als ein mehr oder weniger
bewusster Beitrag zu den Bemühungen um
eine neue Identifikation mit den Leistungen und
Ereignissen des Wiederaufbaus einzuordnen. Das
Saarland und das Ruhrgebiet treten dabei quantitativ
hervor.« [13] Das trifft auf die beiden Bild-
[10] Pascale Thorel: Dans l’atelier de François Arnal. In: Le
Magazine. La Gazette de l‘hotel Drouot, Nr. 16, 23. April
2010 zit. in Pressereader über das Schaffen von François
Arnal der Galerie E.G.P., Paris: http://artegp.com/
dev/wp-content/uploads/2012/11/Arnal-press-Gazette-
Drouot.pdf (gelesen am 31. Dezember 2019).
[11] Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonografische Anthologie.
Wiesbaden 2000, S. 329.
[12] Ebd., S. 331.
[13] Ebd., S. 330.
teppiche zu. Sie geben in der Tat ein Bild ihrer Zeit
ab.
Als ihr Entstehungsjahr wird das Jahr 1954
angegeben. Da es sich um großformatige Teppiche
handelte, die aufwändig bestickt und gewebt
wurden, war das nicht in ein paar Tagen getan.
Die Maße mögen dafür sprechen: Der Teppich auf
der Ostseite der Empfangshalle misst 5,00 Meter
mal 8,10 Meter. Der an der Westseite, neben
dem Treppenaufgang zum Büro des Botschafters
(dem späteren Ministerbüro) hat die Maße 5,00
Meter auf 4,70 Meter. Das könnte heißen, dass
die Wandteppiche offenkundig schon geraume
Zeit vor dem Angebot des Botschafters in Voraussicht
darauf in Auftrag gegeben worden waren.
Die Teppiche wären somit ein Geschenk Grandvals
für das sich in Richtung Europa orientierende
Saarland. Das wäre zu einer Zeit gewesen,
als die französische Botschaft noch im Bau war,
und er, ließe sich daraus folgern, dort nicht mehr
einziehen wollte. Oder decken die Teppiche am
Ende die These, dass »die eigentlich viel zu große
Ambassade im kleinen Saarland von Anfang an
mit ihrer möglichen europäischen Zukunft zu tun
hatte.« [14]
1952 – Das Jahr, in dem man Kontakt aufnahm?
Der Plan, Saarbrücken zur Hauptstadt der
Montanunion zu machen, reifte in Saarbrücken
bereits vor dem 26. Juli 1952, als die Außenminister
der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl einen entsprechenden Vorschlag
formulierten. Bereits am 9. Juni 1951 richtete der
Saarbrücker Bürgermeister Peter Zimmer ein entsprechendes
Ansinnen an den damaligen Außenminister
Robert Schuman. [15] Diese Forderung
wurde ein Jahr später in einem Schreiben an Gotthard
Lorscheider, Direktor des Amtes für europäi-
[14] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt.
Die Schlösser des Monsieur Grandval (Teil 2). In: Saargeschichten
Heft 1, 2017, S. 20–34; S. 33 .
[15] LASB AA 527: Schreiben Peter Zimmer, Bürgermeister
der Landeshauptstadt Saarbrücken an Robert Schuman,
9. Juni 1951.
saargeschichte|n 89
sche und auswärtige Angelegenheiten erneuert
und bereits entsprechende Räumlichkeiten aquiriert:
Darunter waren der Neubau der Landesversicherungsanstalt,
das Behördenhaus Am Stadtgraben,
das spätere Finanzamt und das Hohe
Kommissariat in der Alleestraße, das wegen des
geplanten Neubaus frei werde. [16] Auch der von
dem Saarbrücker Architekten Otto Renner am 21.
Juli 1952 im »Bau-Anzeiger«, Nr. 13/14 vorgelegte
Entwurf für »die Unterbringungsmöglichkeiten«
der Montanunion in Saarbrücken – wie die Hohe
Behörde, der Gerichtshof, der Ministerrat und das
Plenum – siedelte diese links und rechts des Neubaus
der französischen Botschaft an. In einem
Beitrag des »Bau-Anzeigers«, einer Sonderseite
in der »Saarbrücker Zeitung« vom 29. November
1952, die sich mit der Eignung Saarbrückens
als Sitz der Montanunion befasste, legte Renner
nach und prognostizierte: Dass die Botschaft
»nach entsprechenden Begründungen und Verhandlungen
wohl mit in den Gebäudekomplex
des endgültigen Sitzes der Montanunion eingegliedert
werden könnte.«
Der Druck, das Projekt Hauptstadt der Montanunion
voranzutreiben, hatte sich seit Juni 1952 stetig
aufgebaut, befeuert unter anderem von einer
AFP-Meldung vom 28. Juni 1952. Darin war von
einem Treffen von Außenminister Schuman und
Ministerpräsident Pinay die Rede, die gegenüber
einer Delegation von Bas-Rhin sich für Straßburg
als Sitz der Montanunion ausgesprochen hätten.
Darüber informierte das Amt für auswärtige
und europäische Angelegenheiten Botschafter
Grandval. Umso entschlossener ging man in
Saarbrücken ans Werk. So hieß es in einer Anzeige
der Saarbrücker Zeitung vom 25. November 1952:
»Wenn das Saarland europäisiert wird, dann wird
Saarbrücken die Hauptstadt der Montanunion.
Das ist schon jetzt beschlossen. Die Europäisierung
kommt nur, wenn alle Saarländer einverstanden
sind.« Um sicher zu gehen, dass dies der
Fall ist, ließ die saarländische Regierung einen
Tag vor der Landtagswahl am 30. November 1952
aus einem Flugzeug Flugblätter abwerfen. Sie
zeigten den Rohbau des Botschaftsgebäudes.
Dabei war die Bezeichnung »Französische Botschaft«
durchgestrichen und mit einem »Nein!«
bekräftigt und zugleich die eigentliche Funktion
des Gebäudes genannt: »Sitz der Montan-Union«.
Damit war auch eine Begründung dafür gegeben,
dass das für das Saarland im Grunde zu große
Botschaftsgebäude von vorneherein für ganz
[16] LASB AA 565: Schreiben Dr. Adams an Direktor Lorscheider,
13. Juni 1952.
andere Aufgaben vorgesehen war. Paul Burgard,
der die Baugeschichte der französischen Botschaft
vollumfänglich aufgearbeitet hat, ordnet
diese Behauptung als »nachgeschobene Sinnstiftung
aus »JoHos Wahlkampfmaschine« [17] ein.
Längst hatte der Plan, aus Saarbrücken die Hauptstadt
der Montanunion zu machen, eine Eigendynamik
entwickelt. Am 25. Februar 1953 konstituierte
sich unter dem Vorsitz des Saarbrücker
Bürgermeisters Peter Zimmer der Aktionsausschuss
»Montanunionstadt Saarbrücken«. Dieser
kanalisierte den Aktionismus in einer Stadt,
in der die Wohnungsnot groß war und gleichzeitig
unablässig Neubauten für die erhofften
europäischen Institutionen zur Verfügung stellte.
Ungeachtet dessen schuf Luxemburg Fakten
und hielt einen Neubau für die Hohe Behörde
bereit, die die »Saarländische Volkszeitung« am 5.
Januar 1953 vermeldete. Zudem habe Luxemburg
den Auftrag für den Bau einer »Schumanplan-
Gartenstadt« erteilt und dafür 100 Millionen
Franc bereitgestellt. Die ersten Gebäude sollten
im November des gleichen Jahres bezugsfertig
sein. Schon am nächsten Tag sandte die Landesregierung
ein Schreiben an Robert Schuman mit
der Erinnerung daran, dass die Entscheidung
über den Sitz der Hauptstadt der Montanunion
noch offen sei. [18]
Die Antwort an Ministerpräsident Johannes
Hoffmann kam am 3. Februar 1953 vom französischen
Außenminister Bidault und erinnerte
diesen daran, dass die Entscheidung für Saarbrücken
abhängig sei von den deutsch-französischen
Verhandlungen über das Saarstatut.
Da dies noch offen sei, so ließe sich der weitere
Inhalt des Schreibens übersetzen, habe
man in Luxemburg schon mal angefangen. [19]
Dem wollte man in Saarbrücken nicht nachstehen,
ungeachtet der Fakten, die bereits
durch Gebäude in Luxemburg und Straßburg
geschaffen worden waren. Das Protokoll der 3.
Sitzung des Aktionsausschusses Montanunionstadt
Saarbrücken vom 18. Mai 1953 bewertet
daher die Chance für Saarbrücken, Hauptstadt
der Montanunion zu werden, als »sehr groß« [20] .
[17] Siehe Anm. 14.
[18] LASB AA 565: Schreiben des Ministerpräsidenten an Außenminister
Robert Schuman, 6. Januar 1953.
[19] LASB AA 565: Schreiben Außenminister Bidault an Ministerpräsident
Johannes Hoffmann, 3. Februar 1953.
[20] St A, Bestand Großstadt Saarbrücken, Nr. 4276, Akte
»Aktionsausschuss Montanunionstadt Saarbrücken«, 3.
Sitzung vom 18. Mai 1953.
Brief von Le Corbusier
mit einer
abschlägigen Antwort
auf die Anfrage
der Landesregierung,
ob Corbusier Mitglied
einer Jury für
den bevorstehenden
Architekturwettbewerb
sein könne.
(LA SB, InfA)
Doch begleiteten den Aktionismus und die Euphorie
auch Zweifel, wie das Rücktrittsschreiben Peter
Zimmers vom Vorsitz des Aktionsausschusses am
23. September 1953 belegt. Darin bemängelt er
die Unentschiedenheit im Vorgehen und bei der
Bereitstellung eines entsprechenden Etats. Es
gebe nur »ein paar schöne Fotos von besetzten
Hochhäusern, die wir »evtl.« frei machen könnten.
(…), dass wir mit dem gleichen Recht und der
gleichen Wurstigkeit mit ein paar schönen Fotos
von unseren Kasernen im Saarland den Nachweis
führen könnten, dass bei uns im Saarland
alle Voraussetzungen zur Abwehr einer russischen
Invasion bestehen könnten.« [21] Auch der
Vertreter des Wirtschaftsministeriums, Dr. Krause-Wichmann
gab in einem Vermerk für den
Direktor des Amtes für auswärtige und europäische
Angelegenheiten vom 1. Dezember 1953 zu
Protokoll, dass Saarbrücken wenig Chancen als
Hauptstadt der Montanunion habe, »da es nicht
den Ruf einer schönen Stadt genießt« [22] Offenbar
hatte er sich in der immer noch vom Krieg
gezeichneten Stadt umgesehen und geahnt,
dass es noch andere Herausforderungen als die,
Hauptstadt der Montanunion zu werden, zu
meistern galt. Er riet daher dazu, die Trümmer
[21] LASB AA 570: Schreiben Peter Zimmer, 23. September
1953.
[22] LASB AA 544: Vermerk Dr. W. Krause-Wichmann für Direktor
Lorscheider, 1. Dezember 1953.
aus der Stadt zu entfernen und die Infrastruktur
zu verbessern. Das sollte ein paar Monate später
auch einem weiteren Minister auffallen. Doch zur
selben Zeit entstand der Entwurf eines Schreibens
an Jean Monnet, Präsident der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der für die
Bestimmung Saarbrückens »zum endgültigen
Sitz der Behörden der Gemeinschaft« warb, weil
dies »ein maßgeblicher Schritt und eine wesentliche
Förderung des Zustandekommens einer
europäischen Saarlösung darstellen würde.« [23]
Das Schreiben bekundet den Willen und ein großes
Entgegenkommen, das die von Zimmer kritisierten
wortreichen Versprechungen formuliert.
So wolle man »in allen Punkten den Wünschen
der EGKS entgegen (…) kommen und sowohl
den Bau von Verwaltungsgebäuden als auch
der Wohnsiedlungen nach den Wünschen Ihrer
Behörde (…) unternehmen. Es stehen uns verschiedene
Gebäude am Rande und in der Stadt
Saarbrücken zur Verfügung, auf denen das Saarland
gerne bereit ist, auch eine eigene »europäische
Stadt« zu errichten.« [24] Entsprechendes
hatte der Saar-Landtag bereits am 1. Oktober
1953 beschlossen, vor der endgültigen Entscheidung
für Saarbrücken, dort mit dem Bau
von Gebäuden zu beginnen. Dazu wurde am 1.
Juni 1954 ein Ideenwettbewerb ausgelobt. Die
Begründung »für diese Umkehr der zeitlichen
Reihenfolge« lieferte eine Pressemeldung im
Auftrag des Ministerpräsidenten vom 19. Januar
1954. Das sei im »Geist der Verständigung zwischen
Deutschland und Frankreich« geschehen
und finde seinen Ausdruck im Bau einer »kleinen
europäischen Stadt« am südlichen Stadtrand. [25]
Bereits am nächsten Tag vermeldete die »Saarbrücker
Zeitung«: »Saarland zur Aufnahme der
Montanunion bereit«. [26] Ob es die Montanunion
auch war, war eine andere Frage.
Das Saarland ging unverdrossen in Vorlage,
um der Konkurrenz in Luxemburg und Straßburg
zuvorzukommen. Der Ideenwettbewerb
wurde am 1. Juni 1954 ausgerufen. Die Jury, der
anstelle des zuerst genannten Le Corbusier dann
auch Georges-Henri Pingusson angehörte, kam
Anfang Mai 1955 zusammen, um über die 34 Ein-
[23] LASB AA 570: Undatierter Entwurf eines Schreibens an
[24] Ebd.
Jean Monnet, der zwischen Schreiben aus dem November/Dezember
1953 abgelegt wurde.
[25] LASB Bestand Informationsamt (Infa) Nr. 146: Pressemeldung
vom 19. Januar 1954.
[26] Saarbrücker Zeitung, 20. Januar 1954: »Saarland zur
Aufnahme der Montanunion bereit«.
saargeschichte|n 91
reichungen aus Deutschland und Frankreich zu
beraten. Derweil war auch mit Brüssel ein weiterer
Mitbewerber erwachsen, worauf ein Telex
mit der Überschrift »Brüssel will die Hauptstadt
Europas werden« vom 29. Juli 1954 verweist, das
sich in Akten des Amtes für auswärtige und europäische
Angelegenheiten erhalten hat. [27] In Saarbrücken
war man sich mittlerweile im Klaren,
dass die Verkehrsverbindungen von und nach
Saarbrücken aus Richtung Brüssel oder Den Haag
nicht ideal waren und wenig für Saarbrücken als
künftigen Standort sprachen. [28] Derweil nahm
der Ideenwettbewerb für ein Verwaltungszentrum
mit Hoher Behörde und Gerichtshof
der Montanunion sowie Verwaltungsgebäude
für zehn weitere europäische Institutionen seinen
Lauf. Dabei gab es allenfalls »vage Absichtserklärungen«
[29] in Bezug auf die Etablierung
europäischer Institutionen in Saarbrücken, die
jedoch als solche nicht wahrgenommen wurden.
Auch gab es von Seiten des französischen Botschafters
vor seinem Angebot vom 8. November
1954 »keinerlei Anzeichen«, worauf Paul Burgard
bereits verwiesen hat. [30]
Das Gegenteil war der Fall, betrachtet man die
Aktenlage. In einem Schreiben vom 29. Juli 1952
empfahl Grandval, der seit dem 25. Januar 1952
als Botschafter Frankreichs an der Saar fungierte,
Ministerpräsident Johannes Hoffmann
wegen des Neubaus der Botschaft, den Kohlehafen
der gegenüber dem Neubau gelegenen
Hafeninsel zu verlegen. Das diene zum einen
der Entlastung des Bahnhofsviertels und sorge
vor allem dafür, dass »der geographische Mittelpunkt
der Stadt Saarbrücken mehr zur Geltung«
komme, da die geplante Nord-Südachse mitten
durch die Hafeninsel verlaufen sollte. Zur Amortisierung
der dafür anfallenden Kosten solle das
Saarland die Pachtgelder für die Saargruben nutzen,
schlug der Botschafter vor. [31] Dabei sei ihm
wohl bewusst, so Grandval, dass er sich in saarländische
Angelegenheiten einmische. Aber das
seien solche, »die mich nur insoweit angehen,
als sie die Nachbarschaft der französischen Botschaft
betreffen.« [32] Von Europa war nicht die
Rede, sondern von der Repräsentanz Frankreichs,
die möglichst frei von störenden, die Aussicht
trübenden Industrieerzeugnissen des Landes
gehalten werden sollte. Überflüssig zu erwähnen,
dass es die Kohle war, welche die Aussicht des
Botschafters aus seiner Residenz verschandelte.
Der Rohstoff, der nur wenige Jahre später zur
Rechtfertigung der Stadt als Sitz der Hauptstadt
der Montanunion hinreichen sollte.
Die Kohleninsel als Sitz des Verwaltungszentrums
[33] und die Botschaft als unübersehbarer
Mittelpunkt, an der Kreuzung der Nord-
Südachse sowie der Ost-Westachse des Verkehrs
entsprachen den zu diesem Zeitpunkt längst ad
acta gelegten Planungen Georges-Henri Pingusson
für das Nachkriegssaarbrücken . Der Neubau
der Botschaft als deren Restbestand bilde »das
Rückgrat des Saartals« [34] hieß es in der »Saarbrücker
Zeitung« aus Anlass der Fertigstellung
und des Bezugs des Verwaltungsteils der französischen
Botschaft.
Daher war die Botschaft von Anfang an groß
gedacht und daher von ihrem Hausherrn, »der
Schlechte Aussichten
für Seine Exzellenz:
Der Saarbrücker
Kohlehafen prägte
das Stadtbild auf der
anderen Seite der
Saar, gegenüber von
Pingussons Botschaft.
(LA SB, PhotoPressAct)
[27] LASB AA 570, Telex vom 29. Juli 1954: »Brüssel will die
Hauptstadt Europas werden«.
[28] LASB AA 570: Schreiben Erwin Müller, Minister für Finanzen
und Forsten an Oberregierungsrat Ganster, Aktionsausschuss
Montanunionstadt Saarbrücken, 2. Juli
1954.
[29] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,
a.a.O., S. 33.
[30] Ebd.
[31] LASB AA 1747, Schreiben Botschafter Gilbert Grandval
an Ministerpräsident Johannes Hoffmann, 29. Juli 1952.
[32] Ebd.
[33] Siehe dazu: Ulrich Höhns: Saarbrücken – Verzögerte
Moderne einer kleinen Großstadt. In: Neue Städte aus
Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit. München
1992, S. 283–299; S. 294.
[34] N.W.: »Eine schmale, hochgestellte Scheibe«. In: Saarbrücker
Zeitung, August 1954.
Empfang des Ständigen
Vertreters Frankreichs
im Saarland
am französischen
Nationalfeiertag 1958.
Im Hintergrund sind
ein kleiner Ausschnitt
des kleineren Arnal-
Teppichs sowie der
Aufgang zum Zimmer
des Botschafters zu
sehen. (Foto: Landesarchiv
Saarbrücken,
Sammlung Photo-
PressAct)
Inkarnation Frankreichs an der Saar« [35] auch groß
geplant. Saarbrücken als »europäische Metropole«
[36] kam erst in Gespräch, als man sich dort
anschickte, sich um den Sitz der Montanunion
zu bewerben. Gilbert Grandval schwenkte dazu
erst Anfang November 1954 über, nachdem er am
25. Oktober 1954 bei einem Treffen am Quai d‘Orsay
das Angebot erhielt, eine andere Stellung zu
übernehmen, die ebenfalls der eines Botschafters
entspräche. [37] Grandval wusste daher im
November 1954, dass er das Saarland verlassen
würde. [38] Am 30. Juni 1955 verließ er Saarbrücken,
um in Marokko das Amt des Generalresidenten
zu übernehmen. Daher konnte er großzügig das
noch nicht ganz fertiggestellte Gebäude dem
Aktionsausschuss Montanunionstadt Saarbrücken
anbieten. Er wolle daher mit der Botschaft
in die geplante »Maison de France« einziehen.
Auch dieses Gebäude hatte bereits eine
Vorgeschichte. Bereits 1952 reifte der Plan ein
Gebäude auf der freien Fläche zwischen der Saarufer-
und der Bahnhofstraße zu errichten. [39] Dort
sollte zuerst die »Maison de France« entstehen.
Die Regierung des Saarlandes zeigte sich damit
einverstanden, jedoch schlug
Ministerpräsident Hoffmann
dem Botschafter Grandval
vor, man möge das Gebäude
»Europa-Haus« nennen. [40]
Auch dieses Bauprojekt ging
auf Kosten des Saarlandes,
weswegen Ministerpräsident
Hoffmann in einem Schreiben
vom 12. März 1954 avisierte,
dass es keine weiteren
Extras für den Bau der Botschaft
geben sollte und das
geplante Europa-Haus nicht
mehr als 300 Millionen Franc kosten dürfe. [41] Das
war bereits im November in Folge des Angebot
Grandvals hinfällig, so dass das Kabinett in
einer außerordentlichen Sitzung beschloss, das
Bauprojekt »Europa-Haus« in der Bahnhofstraße
55–59 fallen zu lassen und »stattdessen
der Errichtung eines entsprechenden Gebäudes
auf dem neben dem Uniontheater gelegenen
Grundstück zuzustimmen.« [42] Doch auch hier
gab es ein Nachspiel. Dergestalt, dass sich der
mit der Planung befasste Saarbrücker Architekt
Hans Baur, der schon beim Umbau des
Schlosses Halberg die Baukosten in exorbitante
Höhen getrieben hatte [43] , darüber bei Botschafter
Gilbert Grandval beschwert hatte, dass er bei
einer Besprechung mit Oberregierungsrat Metzger
vom Ministerium für Öffentliche Arbeiten
und Wiederaufbau zu hören bekommen habe,
das »Europahaus (gemeint war die »Maison de
France«, S.G.) brauche nicht gebaut zu werden,
da es noch völlig ungewiss sei, ob die Montan-
Union nach Saarbrücken käme.« [44] Es stellte
sich heraus, dass die Regierung lediglich den für
[35] Marlis Steinert: Die Europäisierung der Saar: Eine echte
Alternative? In: Grenz-Fall. Das Saarland zwischen
Frankreich 1945–1960. Herausgegeben von Rainer Hudemann
u.a. St. Ingbert 1997, S. 63–80; S. 78.
[36] Ulrich Höhns: Saarbrücken – Verzögerte Moderne einer
kleinen Großstadt, a.a.O., S. 297.
[37] Stefan Martens: Gilbert Grandval. Frankreichs Prokonsul
an der Saar. In: Stefan Martens (Hg.): Vom »Erbfeind«
zum »Erneuerer«: Aspekte und Motive der
Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Sigmaringen
1993, S. 201–242; Anm. 181.
[38] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,
a.a.O., S. 34.
[39] LASB AA 544: Schreiben Dr. Jäger, Amt für auswärtige
und europäische Angelegenheiten an den Direktor der
Präsidialkanzlei, 25. Juli 1952.
[40] LASB AA 543: Schreiben Botschafter Gilbert Grandval
an Ministerpräsident Johannes Hoffmann, 22. September
1953.
[41] LASB AA 543: Schreiben Ministerpräsident Johannes
Hoffmann an Botschafter Gilbert Grandval, 12. März
1954.
[42] LASB AA 544: Protokoll außerordentliche Kabinettsitzung
der Regierung des Saarlandes vom 30.11.1954;
Siehe AA 544 auch: Mitteilung Regierung des Saarlandes,
17. Dezember 1954.
[43] Siehe dazu: Paul Burgard: Die Schlösser des Monsieur
Grandval. Teil 1: Die Metamorphose des Halbergs. In:
Saargeschichten, Heft 45, 4, 2016, S. 20–34.
[44] LASB AA 1379: Schreiben Staatskommissar Dr. Schütz,
Ministerium für Öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau
an Botschafter Gilbert Grandval, 26. Januar 1955.
saargeschichte|n 93
seine Etatüberziehung bekannten Architekten
abgelehnt hatte.
Der 23. Oktober beendete auch diese Projekt,
wobei eine gewisse Ironie nicht von der Hand zu
weisen ist, als man das Projekt »Europahaus« im
Namen Europas erledigte, um dafür die »Maison
de France« zu errichten. Diese kam 1959 in stark
reduzierter Gestalt, als das Generalkonsulat in
ein Gebäude hinter der Johanniskirche umzog
und dort unter der Leitung des bereits in Zeiten
Grandvals für kulturelle Angelegenheiten
zuständigen Pierre Wölfflin ein »Centre Culturel«
etablierte. [45]
Ohnehin erwiesen sich die Europapläne des Saarlandes
als weitgehend wolkig beziehungsweise
»surreal« [46] und alles andere als modern, da sie
in der Vorstellung von Ministerpräsident Hoffmann
mehr dem christlichen Mittelalter als der
europäischen Aufklärung zugetan waren. Auch
die Historikerin und Zeitzeugin Marlis Steinert
sah in den mit der Montanunion verknüpften
Europa-Plänen für das Saarland »keine Alternative«.
[47] Die Montanunion als »Restbestand
großer Ideen«, wie es Heinrich Küppers formulierte
[48] , vermochte wenig auszurichten, nachdem
das französische Parlament die Europäische
Verteidigungsunion verworfen hatte. Doch noch
aus diesen »Restbestand« sog die Saar-Regierung
Hoffnung, den Saarstaat zu retten und sich
zum Herzen Europas zu erklären. Die Krise war
erst 1957 mit Abschluss der »Pariser Verträge«
behoben, als das Saarland längst Bundesland der
Bundesrepublik Deutschland geworden war. Mit
dem »Restbestand europäischer Ideen« war im
Saarland nichts mehr zu gewinnen. Der Rest war
Autosuggestion einer europäischen Vision unter
Ausblendung der Wirklichkeit. Es war nur ein
Gespinst, eingewebt in zwei Teppiche, in denen
sich Wunsch und Wirklichkeit verfingen. Bleibt
die Frage, wann das geschehen ist.
Die Teppiche – Gespinste Europas an der Saar
Dass der Teppich vor dem 8. November 1954
von Botschafter Grandval bestellt wurde, damit
er die neue Funktion des Botschaftsgebäudes
beglaubigen sollte, ist unwahrscheinlich und
[45] Peter Scholl-Latour: Das »Schmale Handtuch« wechselt
seine Bewohner. In: Saarbrücker Zeitung, 6. Juni 1959.
[46] Paul Burgard: Das Saarland und Europa. Reales und Surreales
aus einer erstaunlichen Geschichte. In: Man Ray –
zurück in Europa (Katalog) Saarbrücken 2019, S. 130–137.
[47] Siehe Anm. 34.
[48] Heinrich Küppers: Johannes Hoffmann (1890–1967).
Biographie eines Deutschen. Düsseldorf 2008, S. 496.
ausgeschlossen. Auch eine Bestellung direkt am
8. November oder kurz danach macht eine Fertigstellung
noch im Jahr 1954 unwahrscheinlich.
Zumal »der Herr Botschafter die Fertigstellung
seiner Residenz zwischen dem 8. und 10. Januar
1955 wünsche«, wie ein Schreiben des Ministeriums
für öffentliche Arbeiten und Wiederaufbau
vom 29. November 1954 referiert. [49] Als Datum der
Fertigstellung des »Empfangsteiles (Mittelteil)
wird der 5. Dezember 1954 genannt, während der
»restliche Ausbau bis 8. Januar 1955 abgeschlossen
sein müsse.« Das bedeutete, wie das Schreiben
vermerkte, zahlreiche Überstunden. Dazu
gehörten Elektro- und Glaserarbeiten [50] in der
Eingangshalle, wobei in Abänderung der Planung
dort veredeltes Glas inklusive der Vergoldung, für
die ein französischer Maler von der Botschaft
beauftragt worden war. Am 29. Januar 1955 stellte
der ausführende Architekt Hans Bert Baur die
Rechnung über die gesamte Baumaßnahme, also
der Bauabschnitte I, dem Verwaltungsbaus und
dem Bauabschnitt II, dem »Hotel des Herrn Botschafters
mit Empfangs- und Wirtschaftsräumen,
einschließlich Schwimmbad, Gewächshaus und
Einfriedung«. [51] Dafür hatte die Regierung des
Saarlandes 880.000.000 Francs zur Verfügung
gestellt, deren Verwendung Baur nun aufschlüsselte:
Grundstück, Geländeerschließung
sowie für die Errichtung der »Büroscheibe« wurden
insgesamt 304.560.000 Francs aufgewendet.
Die »restlichen Baumittel«, spricht 585.440.000
Franc wurden für die Botschafterresidenz verwendet.
Die Innenausstattung mit Mobiliar
und damit auch den beiden Wandteppichen
war in dieser Summe nicht enthalten. Die Aufträge
dazu hatte Grandval selbst unter anderem
dem Gestalter Jacques Dumand erteilt. [52]
Dass Grandval selbst auch François Arnal beauftragt
hat, ist daher wahrscheinlich. Dass dies
erst nach der Fertigstellung der Botschafterresidenz
der Fall war, liegt im Verfahren der Herstellung
von Wandteppichen begründet. Das
erläuterte kein geringerer als der für seine – auch
[49] LASB AA 1375: Schreiben Oberregierungsrat Metzger an
Herrn Botschafter Gilbert Grandval, 29. November 1954.
[50] Siehe Anm. 4.
[51] LASB AA 544: Schreiben Hans Bert Baur an Ministerpräsident
Johannes Hoffmann, 29. Januar 1955.
[52] Simon Texier: Die französische Botschaft in Saarbrücken.
In: Die ehemalige Französische Botschaft in
Saarbrücken von Georges-Henri Pingusson. Hg. Vom
Deutschen Werkbund Saarland und dem Institut für
aktuelle Kunst im Saarland. Saarbrücken 2014, S. 48–53;
S. 48.
Der Cours d’honneur
der Botschaft beim
Empfang des französischen
Generals
Lafaille am 13. Februar
1957. An der Wand ist
deutlich das Sgraffito
von Otto Lackenmacher
zu sehen. (Foto:
Landesarchiv Saarbrücken,
Sammlung
PhotoPressAct)
in Saarbrücken [53] zahlreich vorhandenen – Wandteppiche
berühmte Jean Lurcat. Das geschah
im Vorwort zum Katalog der Ausstellung von
50 Bildteppichen von der Gotik bis zu Moderne
unter dem Titel »Französische Bildteppiche«,
die das Hohe Kommissariat der Französischen
Republik in Deutschland 1949 in Baden-Baden
veranstaltet hatte. Darin erklärte Lurcat das Vorgehen
eines Tapissiers: »Für den Wandteppich ist
im Gegensatz zum Gemälde die Abhängigkeit
eine Notwendigkeit. In der Tat kann der Wandteppich
– unter idealsten (sic!) Bedingungen- nur
»a priori« im Maß, in seiner Farbgebung und oft
in seinem Gegenstand von vorneherein durch
das Gebäude, das er schmücken soll bestimmt
werden. (…) Wir müssen uns über das Gebäude
genau im Klaren sein, in das wir ‚eingeladen‘ werden.
Wir dürfen nicht vergessen, das wir Gäste
sind, und ein Gast muss immer darauf halten (,)
taktvoll zu bleiben und sich anzugleichen, in welcher
Umgebung es auch sein mag.« [54] Das hieß
für die Wandteppiche in der Botschaft, dass die
Räumlichkeiten fertig gestellt und ihnen ihre
Plätze zugewiesen werden konnten. Die unter-
[53] Dazu sei angemerkt: Der Bruder von Jean Lurcat war
der Architekt André Lurcat. Marcel Roux, einer der im
Saarland wirkenden Stadtplaner war dessen Assistent
gewesen.
[54] Jean Lurcat: Vorwort. In: Französische Bildteppiche. (Katalog).
Baden-Baden 1949, S. 14.
schiedlichen Maße der Teppiche sprechen für dieses
Vorgehen.
Zugleich bezeugen die Wandteppiche nicht nur
den Geschmack des Botschafters, sondern markieren
auch die Vorreiterrolle Frankreichs in
Sachen Kultur und Repräsentanz, wie schon der
massive Einsatz von Wandteppichen auf Schloss
Halberg, der Residenz Grandvals als Hoher Kommissar
und späterem Botschafter zeigte. [55]
Nicht anders ging es in der Botschafterresidenz
an der Saar zu. Die eigens für die hohen Wände
der Empfangshalle bestellten Teppiche hatten
nicht nur die schnöde Funktion Schall zu dämmen,
sondern markierten auch die Vorreiterrolle
der französischen Kultur. Denn der Wandteppich
aus Frankreich war stilbildend für alle fürstlichen
Behausungen und betonte damit die Dominanz
des französischen Geschmacks bei der Innenraumgestaltung
im Europa des 18. Jahrhunderts,
erklärt Dora Heinz in ihrer Publikation über
»Europäische Tapisseriekunst des 17. und 18. Jahrhunderts«.
Wandteppiche bezeugten »die tonangebende
Rolle Frankreichs im Bereich höfischer
Kultur und Lebensführung im Zeitalter Ludwig XIV.
Das wurde auf dem Gebiet des kostbaren Wandteppichs,
der seine größte Bedeutung stets in den
Aufgaben der höfischen Repräsentation hatte,
[55] Siehe Anm. 42.
saargeschichte|n 95
besonders deutlich.« [56] Das galt auch noch im
20. Jahrhundert, als der Franzose Jean Lurcat, den
traditionellen Produktionsstätten in Aubusson
zu neuer Bedeutung verhalf. Ob in einer Republik
oder sogar in der NS-Diktatur, der Wandteppich
galt weiterhin als »feudales Repräsentationsmedium«
[57] und war eine Demonstration von
Macht. Auch Gilbert Grandval war sich dieser
Macht bewusst, die von einem die Wände überspannenden
Teppich ausging. Selbst wenn er den
Auftrag gab, um damit Saarbrücken als europäische
Stadt für die Montanunion zu empfehlen,
war darin eine andere Botschaft eingewoben: die
von der Vormacht Frankreichs.
Nach Saarbrücken war die Baden-Badener Ausstellung
der Bildteppiche nicht gekommen. Dafür
zeigte das Saarbrücker Möbelhaus River im Mai
1954 Teppichkunst aus Frankreich. [58] François
Arnal kam jedoch erst ein Jahr später mit dem
Saarland in Kontakt. Die von seiner Pariser Galerie
E.G.P. verfasste Ausstellungsliste nennt für das
Jahr 1955: »Tapestry, Neuenkirchen, commissioned
by the French Embassy« [59] Dabei handelt es
sich um eine Verbindung zweier Projekte Arnals
im Saarland. Denn Arnal, der bereits 1950 in der
Wuppertaler Galerie Parnass ausgestellt hatte,
hatte im September 1955 eine Ausstellung in der
Villa des Prokuristen des Neunkircher Eisenwerks.
Die Ehefrau des Prokuristen, Ursula Rietschel
lud in der Goethestraße 39 in Neunkirchen seit
Juni 1955 bis in das Jahr 1959 regelmäßig zu Ausstellungen:
»Nunmehr hat es Frau Ursula Rietschel
übernommen, in ihrer Wohnung, Goethestraße
39, zeitgenössische Werke junger Künstler
einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich
zu machen. Wir sehen etwa 40 Gouachen und
Ölbilder der Engländerin Helen Ashbee, geboren
1915 in Camdean.(...) In Deutschland hat sich die
Wuppertaler Galerie »Parnass« des Werkes der
englischen Malerin angenommen. Von Wupper-
[56] Dora Heinz: Europäische Tapisseriekunst des 17. und 18.
Jahrhunderts. Die Geschichte ihrer Produktionsstätten
und ihrer künstlerischen Zielsetzungen. Wien, Köln,
Weimar 1995, S. 247.
[57] Anja Prölß-Kammerer: Die Tapisserie im Nationalsozialismus.
Propaganda, Repräsentation und Produktion.
Facetten eines Kunsthandwerks im »Dritten Reich«.
Hildesheim 2000, S. 27.
[58] W. Weber: »Französische Teppich-Webkunst«, Ausstellung
im Möbelhaus River. In: Saarbrücker Zeitung, 7.
Mai 1954, Nr. 105.
[59] Internetauftritt der Galerie E.G.P.: http://artegp.com/
dev/wp-content/uploads/2012/11/Arnal-FullBio-EN.pdf
(gelesen am 31. Dezember 2019).
tal aus kamen die Bilder nach Neunkirchen in die
Obhut von Frau Ursula Rietschel.« [60] Die Galeristin
stand in Verbindung zu Parnass und zeigte
Künstler der Galerie in Neunkirchen, so auch
François Arnal, der dort im September 1955 seine
Ölbilder ausstellte. [61]
Es handelt sich daher um zwei unterschiedliche
Projekte im Saarland: Die Ausstellung mit Malerei
in »Neuenkirchen« beziehungsweise Neunkirchen/Saar
und der Auftrag »Tapestry (…)
commissioned by the French Embassy« für die
Wandgestaltung der Französischen Botschaft.
Das Jahr 1954 erweist sich daher als Entstehungsjahr
der beiden Wandteppiche im Foyer des Botschaftsgebäudes
als nicht korrekt. Ein ähnlicher
Fehler ist auch bei der zeitlichen Zuordnung des
Sgraffito von Otto Lackenmacher festzustellen.
Das soll im Jahr 1958 entstanden sein. [62] Eine Aufnahme
von einer Truppenparade im Ehrenhof der
Botschaft am 13. Februar 1957 zeigt bereits das
fertige Wandbild im Hintergrund. [63]
Die beiden Wandteppiche François Arnals: falsches
Datum, falscher Ort. Ob Neunkirchen oder
Saarbrücken. Das große Frankreich im kleinen
Saarland, da kann es zu Verwechslungen kommen.
Im Grunde war und ist das unerheblich.
Was bleibt, ist ein Restposten der saarländischen
Europaträumereien à la Française: feudal, nicht
demokratisch. Das ist die Botschaft.
[60] W. Weber: Im Dienst der modernen Kunst – Ausstellung
in Neunkirchen« In: Saarbrücker Zeitung, 16. Juni
1955, Nr. 137, S. 7.
[61] Meldung »Aus dem saarländischen Kulturleben« In:
Saarbrücker Zeitung, 28. September 1955, Nr. 225, S. 8:
Ausstellung in Neunkirchen: In Neunkirchen, Goethestraße
39 findet zur Zeit in den Räumen von Ursula
Rietschel eine Ausstellung von Ölbildern von François
Arnal, Paris sowie von Graphiken Willibald Kramms,
Heidelberg statt.
[62] Kunst im öffentlichen Raum. Band 1, a.a.O., S. 225
[63] Paul Burgard: Die Botschaft aus einer anderen Welt,
a.a.O., S. 28. Die Internetseite http://www.oberkirchensaar.com/Kunst-am-Bau
(gelesen am 6. Januar 2020),
die Leben und Werk Otto Lackenmachers würdigt,
führt das Bilderverkaufsbuch der Ehefrau von Otto Lackenmacher,
Katja Lackenmacher-Sorg auf. Dort sind
der Auftrag, das Honorar und der Beginn der Arbeit dokumentiert.
Als Datum wird »1955-« genannt.
ausstellungen + + + neue publikationen
... Lorenzetti, Perugino, Botticelli ... –
Italienische Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg
Saarbrücken, Saarlandmuseum, Alte Sammlung, Schlossplatz
16. Bis 15. November 2020
Das Saarlandmuseum – Alte Sammlung präsentiert Hauptwerke italienischer
Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg. Diese außergewöhnliche
Sammlung, weltweit eine der größten und bedeutendsten
zur italienischen Malerei des 13. bis 15. Jahrhunderts, wurde von dem Politiker,
Kunstliebhaber und Philanthropen Bernhard von Lindenau im 19.
Jahrhundert in seiner thüringischen Heimatstadt Altenburg zusammengetragen.
Lorenzetti, Perugino, Fra Angelico, Filippo Lippi, Ghirlandaio, Botticelli… –
auf rund 40 große Künstlernamen lässt sich diese Aufzählung erweitern,
die am Saarbrücker Schlossplatz zu sehen ist. Anhand herausragender Beispiele
der Tafelmalerei aus den bedeutenden Kunstzentren Oberitaliens
wie Florenz, Siena und Perugia wird die Entwicklung des Bildes vom späten
Mittelalter zur Renaissance nachgezeichnet.
Tabatieren des 18. Jahrhunderts –
Eine Schenkung aus Privatbesitz
Saarbrücken, Saarlandmuseum, Alte Sammlung, Schlossplatz
16. Bis 31. Dezember 2020
Die Alte Sammlung des Saarlandmuseums hat eine bedeutende Schenkung
erhalten, die nicht weniger als 16 Tabatieren – kostbare Tabaksdosen
– umfasst, allesamt Stücke von höchster Qualität, größter handwerklicher
Präzision. Die meisten der kleinen Tabakdosen aus Gold, Silber und Email
wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Paris gefertigt. Sie
sind mit geometrischen Mustern, vegetabilen Dekorationen und Miniaturen
(Porträts, mythologische Szenen, Landschaften) geschmückt. Mit dieser
Schenkung werden die kulturgeschichtlichen Bestände des Hauses
entschieden gestärkt. Zu verdanken ist dies der Großzügigkeit der in Völklingen
geborenen Mäzenin Ibeth Biermann, Frankfurt a. M.
Tabatieren kamen im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Mode, als das Schnupfen
die vornehmste Weise des Tabakkonsums war. Wenngleich Tabatieren
auch in bürgerlichen Kreisen verwendet wurden, waren sie doch besonders
wichtig für den Adel: sowohl als materieller Ausdruck von Kultiviertheit
und Exklusivität, als auch als Sammelobjekte. So eigneten sie sich vorzüglich,
um Hierarchien und Abhängigkeiten bei Hofe deutlich zu machen.
Auch kamen die Döschen als subtile Instrumente von Diplomatie und Politik
zum Einsatz.
Die 20er Jahre – Leben zwischen Tradition und
Moderne im internationalen Saargebiet
Saarbrücken, Historisches Museum Saar, Schlossplatz 15
Bis 30. August 2020
Die Zwanzigerjahre verbindet man mit Bubikopf, Charleston und Art déco.
Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages im Januar 1920 schlug die
Geburtsstunde des Saarlands. Die Ausstellung »Die 20er Jahre« beleuchtet
die Anfangsjahre des Saarlandes und erweitert den Blick bis zum Anschluss
des Saargebietes an das Deutsche Reich. Neben der gut erforschten politischen
Geschichte rund um die Besatzungszeit, die französische Grubenverwaltung
und den Abstimmungskampf widmet sich ein großer Teil der
Ausstellung erstmals dem alltäglichen Leben im Saargebiet.
Im Fokus der Ausstellung stehen Themen wie zunehmende Mobilität und
Elektrifizierung, die neuen Freizeitmöglichkeiten wie das Kino, die Mode
sowie die Frage nach Realität und Mythos der »Neuen Frau«. Aber auch
soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit werden thematisiert.
Unter den Ausstellungsstücken befinden sich Leihgaben aus dem UN-
Archiv in Genf sowie Motorräder, Charleston-Kleider und elektronische
Haushaltsgeräte, die den Besuchern das Lebensgefühl vermitteln. Lebendig
werden die 20er Jahre außerdem durch den umfangreichen Medieneinsatz
und interaktive Stationen. Die Inszenierung ahmt eine Straßenszene
mit simuliertem Tag-Nacht-Wechsel nach.
60 Jahre Deutsch-Französischer Garten.
Eine historische Bilderschau
Saarbrücken, Stadtarchiv, Deutschherrnstraße 1
Bis 15. September 2020
Er gilt als Symbol der deutsch-französischen Freundschaft und der Völkerverständigung
und er ist einer der größten und beliebtesten Parks der
Region: der Deutsch-Französische Garten in Saarbrücken. Vor 60 Jahren,
am 23. April 1960, wurde er offiziell eingeweiht und entwickelte sich
zu einem attraktiven Ausflugsziel, für Deutsche und Franzosen gleichermaßen,
nicht nur sonntags. Die Ausstellung nimmt Sie mit auf einen fotografischen
Spaziergang durch die Geschichte der einstigen Gartenschau,
von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, weckt Erinnerungen und zeigt
Wandel und Beständigkeit eines Gartens unmittelbar an der deutsch-französischen
Grenze.
Was bin ich? Berufe in Porzellan
Saarlouis, Ludwig Galerie, Alte Brauerei-Straße, Kaserne VI.
Verlängert bis 9. August 2020
In der Ausstellung »Was bin ich?« steht die Festtafel als Ganzes im Mittelpunkt.
Für die Tischdekoration ihrer Festtafeln gab die Aristokratie im 18.
Jahrhundert ein Vermögen aus. Der gedeckte Tisch war einer der Höhepunkte
luxuriöser Prachtentfaltung. Mit Porzellanfiguren holte man sich
ganze Miniaturwelten auf die Desserttafel, beispielsweise Exotengruppen,
Jagdszenen oder Allegorien. Zu den beliebtesten Themenwelten gehörte
jedoch das Leben der einfachen Menschen. Ein besonderer Fokus liegt auf
der Arbeitswelt des 18. Jahrhunderts mit Berufen, die längst der Vergangenheit
angehören wie den Bänkelsänger, den Frettchenhändler oder die
Galanteriewarenkrämerin. In einer Region, die über Jahrhundert von Bergbau
und Hüttenwesen geprägt war, ist es wesentlich, die Veränderungen
der Arbeitswelt – ausgehend von den Porzellanfiguren – zu thematisieren.
Heute gilt es uns!
Zweibrücken, Stadtmuseum, Herzogstraße 9–11
Verlängert bis auf Weiteres
Der verheerende Bombenangriff vom 14. März 1945 ließ das historische
Stadtzentrum Zweibrückens zu 82 Prozent in Trümmern zurück. Kurz nach
acht Uhr abends warf die kanadische Luftwaffe (RCAF) in 12 Minuten ca.
800 Tonnen Sprengbomben auf die Altstadt ab. Zielpunkt war der Schlossplatz,
keine wichtigen Verkehrswege oder Industrieanlagen. Trotz der Evakuierung
im Spätjahr 1944 erlebten noch ca. 3.000 Menschen das Inferno
in der Stadt. Dank eines großen Luftschutzkellers im Himmelsberg waren
mit ca. 95 Toten weniger Menschenopfer zu beklagen als bei vergleichbaren
Bombardierungen. Fassungslos stand die Bevölkerung vor den Ruinen,
als sie die Bunker und Keller verließ. So hatte sie fünf Jahre zuvor die
Worte von Gauleiter Josef Bürckel nicht verstanden, der versprochen hatte,
»die Heimat werde nach dem Krieg noch schöner, als sie vorher war«.
Die Sonderausstellung zum 75. Jahrestag der Zerstörung der alten Herzogsstadt
befasst sich nicht nur mit der Zerstörung, dem Leben in der Trümmerzeit
sowie der Wiederaufbauleistung der 1950er und 1960er Jahre. Es ist an
der Zeit auch nach den Ursachen für die Bombardierung zu fragen und sie
in den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu stellen. Im Fokus
steht auch die Vorgeschichte, ohne die die Bombardierung nicht gesehen
werden darf: der Siegeszug der Nationalsozialisten in einer Region, die von
den Folgen des Ersten Weltkrieges besonders betroffen war, sowie die Aufrüstungs-
und Kriegspolitik des NS-Regimes.
Variations – Ein Museum für alle
Luxemburg, Villa Vauban, 18, avenue Émile Reuter
Bis 17. Januar 2021
Unter dem Titel »Variations« wird mit ca. 70 Gemälden, Skulpturen, Grafiken
und Zeichnungen, vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, eine farbenfrohe Auswahl
aus den Sammlungen des Hauses gezeigt. Unter den ausgestellten
Werken stechen mehrere Neuerwerbungen sowie eine Schenkung der
saargeschichte|n 97
Amis des Musées Luxembourg hervor: zwei monochrome Portraits des
Antwerpener Malers Abraham van Diepenbeeck aus dem 17. Jahrhundert.
Die Ausstellung widmet sich verschiedenen spannenden Fragen rund um
die Kunstgeschichte und künstlerische Techniken: Wie wurden Stiche oder
Grisaillen nach einem Gemälde angefertigt? Wie kann man Fälschungen
klassischer Kunstwerke erkennen? Warum und wie fertigten die Künstler
Skizzen oder Zeichnungen an, ehe sie ihre Bilder malten? Parallel dazu
erwarten den Besucher mehrere thematische Ensembles: u.a. bürgerliche
Portraits des 19. Jahrhunderts von Karl von Pidoll und Jean-Baptiste Fresez,
Landschaften und Seestücke (u.a. Canaletto, Dagnan, Calame) sowie ein
»Kindermuseum« mit den Familienportraits des Impressionisten Corneille
Lentz (1879–1937).
Folklore
Metz, Centre Pompidou, 1, parvis des Droits-de-l‘Homme
Bis 21. September 2020
Von den Anfängen der modernen Kunst bis zur Gegenwartskunst zeigt
diese Ausstellung, die vom Centre Pompidou-Metz in Zusammenarbeit
mit dem Mucem (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée)
konzipiert wurde, die manchmal ambivalenten Beziehungen auf, die
Künstler zur Folklore unterhalten, und von der formalen Entlehnung bis
zur Nachahmung einer Methode, von der Faszination bis zur kritischen
Ironie reichen. Die Ausstellung Folklore, die sich im Wesentlichen auf eine
europäische Definition und Geschichte dieses Begriffs konzentriert, bietet
auch eine Begegnung von Kunstgeschichte und Geschichte der Geisteswissenschaften,
da sie parallel dazu – insbesondere dank der Bestände des
Mucem, Erbin des Musée National des Arts et Traditions Populaires – die
Erfindung und allmähliche Institutionalisierung einer Disziplin offenbart.
Der Himmel als Atelier.
Yves Klein und seine Zeitgenossen
Metz, Centre Pompidou, 1, parvis des Droits-de-l‘Homme
Bis 2. November 2020
Yves Klein, einem der Hauptakteure der europäischen Nachkriegskunst,
widmet das Centre Pompidou-Metz eine umfangreiche Ausstellung.
Bekannt ist Yves Klein für seine blauen monochromen Bildkompositionen,
in Kontakt stand er mit zahlreichen europäischen Künstlern, Mitgliedern der
Gruppe NUL in den Niederlanden sowie mit der Gruppe ZERO in Deutschland.
Besucher können Yves Klein ab April 2020 in einem internationalen
Kontext neu bzw. wiederentdecken. Die Werke dieser Künstlergeneration,
die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von einem Elan an Freiheit
ergriffen wurde, richten ihren Blick auf Raum und Weite und bieten eine
Annäherung an Kunst und Universum, die sich von jeglicher Materialität
distanziert. Yves Klein steht in engem Austausch mit ZERO, um während
Ausstellungen Farbe, Licht und Vibration zu erkunden. Durch die Verwendung
der natürlichen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft versuchen
Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker eine Leere zu erzeugen.
Mit seinem Freund Lucio Fontana erkundet Yves Klein den Spatialismus,
eine Kunstbewegung, die eine Zeit- und Raumeinheit abbildet, wie sie
aus der Interaktion mit dem Beobachter entsteht. Angeregt durch die
Eroberung des Weltraums eignen sich diese Künstler den Himmel durch
ihre Darstellungen des Kosmos sowie durch die Schaffung von Luftskulpturen
an. So entwickelt Yves Klein 1958 bis 1961 eine »Architecture de
l‘air« (»Luftarchitektur«), für die Himmel, Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit
und Immaterialität zu seinem Atelier werden. Die Ausstellung zeigt zeitgenössische
Werke, ergreift aber auch die Gelegenheit, ältere, nur wenig
bekannte Performances zu präsentieren. Präsentiert werden daneben
Werke von Bernard Aubertin, Lucio Fontana, Oskar Holweck, Eikoh Hosoe,
Fumio Kamei, Piero Manzoni, Otto Piene, Jean Tinguely, Günther Uecker, Jef
Verheyen und vielen anderen.
Lokale Geschichte
Backes, Dirk: Der Hauptfriedhof Scheib (Neunkirchen 2019), 140 Seiten,
Reihe: Als alles noch in Sütterlin geschrieben wurde, Bd. 14.
Bergholz, Thomas: Die Ludwigskirche zu Alt-Saarbrücken. (Saarbrücken
2019), Kunstführer, hg. von der ev. Kirchengemeinde Alt-Saarbrücken, 34
Seiten, illustriert.
Echt, Rudolf: Von der Steinzeit bis zur Gegenwart – Nachforschungen zur
Wallerfanger Geschichte. Festschrift Theodor Liebertz zu Ehren, (Verein für
Heimatforschung Wallerfangen 2019), 265 Seiten, illustriert.
Fontaine, Arthur: Das große Nordfenster in St. Peter Merzig im Wandel
der Zeit: Zur Bau- und Ausstattungsgeschichte der Kirche, (Norderstedt
2020), 45 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-7528-9629-9.
Jacobs, Ulrike und Manfred; Gundelwein, Tom (Fotos): Saarbrücken
und sein barockes Erbe, (Saarbrücken 2020), 192 Seiten, reich illustriert,
ISBN 978-3-946036-02-9.
Philippi, Nikolaus: Grenzsteine rund um die Gemeinde Saarwellingen,
(Saarwellingen 2019), 75 Seiten, illustriert, Karten, Reihe: Veröffentlichung
des Gemeindearchivs Saarwellingen, Bd. 3.
Schönberger, Christiane: Mauern und Gräben von Wallerfangen –
Hauptort der deutschen Ballei des Herzogtums Lothringen, (Tholey 2019),
58 Seiten, illustriert, Reihe: Archäologische Funde im Saarland, Bd. 3, ISBN
978-3-946313-16-8.
Stein, Jakob: Mein Onkel. Der Maler, Zeichner und Objektkünstler Willi
Spiess, (Frankfurt 2019), 72 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-943758-66-5.
Saarland allgemein
Burgard, Paul; Linsmayer, Ludwig: Eisenzeit in SaarLorLux: Röchling,
ARBED, Saarstahl (1960-1990), (Saarbrücken 2019), 413 Seiten, illustriert,
Reihe: Echolot, Bd. 15 Landesarchiv Saarbrücken, ISBN 978-3-945087-04-6.
Bussmann, Frédéric; Mönig, Roland (Hg.): ... Lorenzetti, Perugino, Botticelli
...: italienische Meister aus dem Lindenau-Museum Altenburg, (Saarbrücken
2020), 128 Seiten, ISBN 978-3-947554-01-0.
Dölemeyer, Barbara; Jung, Heike: Die Napoleonische Gesetzgebung
im politischen Widerstreit in Bern und Hessen. Kleine Schriftenreihe der
Siebenpfeiffer-Stiftung Nr. 18 (Homburg 2020), ISBN 978-3-9814460-6-7.
Enzweiler, Jo (Hg.): Landkreis Merzig-Wadern 1945-2012: Aufsätze und
Bestandsaufnahme: Gemeinde Beckingen, Gemeinde Losheim am See,
Kreisstadt Merzig, Gemeinde Mettlach, Gemeinde Perl, Stadt Wadern,
Gemeinde Weiskirchen, (Saarbrücken 2019), 413 Seiten, illustriert, Reihe:
Kunst im öffentlichen Raum – Saarland, Bd. 5, ISBN 978-3-9819664-0-4.
Mönig, Roland (Hg.): Tabatieren des 18. Jahrhunderts: eine Schenkung
aus Privatbesitz. (Saarbrücken 2020), 87 S., illustr., ISBN 978-3-947554-02-7.
Neumann, Andreas Phelan: Brauereikultur im Saarland. Becker, Donnerbrauerei,
Schloss &Co, (Luxemburg 2019), 472 Seiten, illustriert, ISBN 978-1-
08-272667-5.
Sander, Eckart: Saarland: die schönsten Schlösser und Burgen, (Gudensberg-Gleichen
2019), 87 Seiten, illustriert, 978-3-8313-3244-1.
Schäfer, Franz-Josef: Einmal Theresienstadt und zurück: Familie Lansch
wehrt sich gegen die Nazis, (St. Ingbert 2019), 167 Seiten, illustriert, Reihe:
Röhrig Lebensbilder Bd. 4, ISBN 978-3-86110-746-0.
Über die Grenze
Hildisch, Volker: Als Rotkäppchen Frankreich verlassen musste: Champagner
und Sekt – eine deutsch-französische Geschichte, (Saarbrücken 2019),
142 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-9818850-3-3.
Höfchen, Heinz (Hg.): All the Best: 100 Jahre Graphische Sammlung im
Museum Pfalzgalerie. (Kaiserslautern 2019), 190 Seiten, illustriert, ISBN
978-3-89422-226-0.
Loew, Benedikt; Reyter, Isabelle; Touveron, Bruno: Versailles 1919:
Moselle et Sarre, Moselle und Saargebiet, (Thionville 2019), 120 Seiten, illustriert,
Karten, Französisch / Deutsch, Konferenzschrift.
ach du liebe zeit … (PB 40/41)
Dieses 2020ste Jahr der christlichen Zeitrechnung ist in die
Geschichte eingegangen, bevor es überhaupt seinen Zenit
erreicht hat. Schon seit längerem war abzusehen, dass eine
völlig neuartige Krankheit auf die Menschheit zurollte, die
die Weltgemeinschaft in nie dagewesener Form herausfordern
musste. In viraler Geschwindigkeit nahm sie die
Erde in Besitz, hochansteckend und vor allem die Teile der
Gesellschaft niederwerfend, die das Leben auf unserem Planeten
extrem aktiv gestalten. FOMO nannten die Experten
aus Epidemiologie und Psychopathologie das neuartige
Virus, eine Abkürzung des englischen fear of missing out,
auf gut Deutsch: die Angst, irgendetwas zu verpassen.
In der globaldigital beschleunigten Welt des 21. Jahrhunderts
hatte FOMO beängstigende Ausmaße angenommen. Waren
es zunächst nur einzelne Hipster oder Influencer, die fürchteten,
wichtige Dinge und Trends zu verpassen, so befiel das
Virus sehr bald alle halbwegs aktive Menschen zwischen 5
und 55, und es betraf alle nur denkbaren Dinge und Situationen.
Vulkanausbruch, Kreuzfahrt, Grillparty, Netflix-Serie,
der letzte Tweet von Trump und das allerletzte Youtube-
Video von Heidi Klum, eine ranzige Frikadelle oder die öde
Glosse in den saargeschichte|n: Nichts und niemand durfte
mehr verpasst werden, wenn man und frau noch einigermaßen
sinnvoll durchs Leben gehen wollten. Da es nun
aber schlichtweg unmöglich ist, dass alle alles überall und
jederzeit miterleben, waren die Folgen der pandemischen
Verbreitung von FOMO absehbar. Extremste Psychosen und
Depressionen machten sich breit, kollektive Suizidwellen
schwappten über den Globus, Paralysen und Dystopien
gewannen Kontur. Es stand nichts weniger auf dem Spiel
als die Zukunft der Menschheit.
In dieser existenziellen Krise des homo sapiens hatten die
Götter Ende des Jahres 2019 endlich ein Einsehen. Sie beauftragten
ihre Stellvertreter auf Erden – als da wären: der
Papst, Bill Gates, der chinesische Volkskongress und Angela
Merkel –, eine Strategie zu suchen, mit der sich FOMO
überlisten ließ. Die Lösung, die die glorreichen Vier fanden,
war ebenso genial wie einfach; neben ihr erschien die List
des Odysseus wie ein biederes Schaukelpferdchen neben
Pegasus. Der Trick bestand darin, ein Virus zu kreieren, das
noch viel gefährlicher und ansteckender zu sein schien
als FOMO. Ein Virus, das nur dadurch zu stoppen war, dass
man die gesamte Welt zum vollkommenen Stillstand verdonnerte.
Die medizinnobelpreisverdächtige Idee dahinter:
Wenn überall auf der Erde zu jeder Zeit stets das gleiche
passiert – nämlich absolut gar nix –, dann kann auch niemand
mehr irgendwo irgendetwas verpassen. Das mit göttlicher
Inspiration erfundene Virus musste nur noch einen
seiner Bedeutung gemäßen Namen erhalten. Wie konnte
der anders lauten als Corona: die Krönung aller Viren.
Die Erfindung von Corona war das eine, die Implementierung
der Phantasiegeburt in der Gesellschaft das andere,
noch ungleich schwierigere Problem. Der Aufwand, der
dafür betrieben wurde, war gewaltig, wie das bundesdeutsche
Beispiel prototypisch zeigt. Erst erhöhte man die
Schlagzahlen der Schlagzeilen, die das noch nach Monaten
»neuartige« Virus kommunizierten, bis aus den Nachrichten
Coronachrichten geworden waren. Dann ließ man
den virtuellen Erreger auf den uns Deutschen besonders
vertrauten Reiserouten von Fernost über Italien und Österreich
immer näher an die Bundesgrenzen rücken, um die
noch aus Migrationszeiten virulenten Bedrohungsvorstellungen
bis zur unerträglichen Spannung zu steigern.
Schließlich revitalisierte man Cary Grant und Heinz Rühmann,
die fortan tagtäglich aufs glaubwürdigste Dr. Drosten
und Mr. Wieler mimten, ein populärwissenschaftliches
Erfolgsduo, das das gesunde Gewissen aller Deutschen
ebenso einzunehmen verstand wie einst Simon and Garfunkel
die Herzen der 68er.
Fast wäre das grandiose Experiment zur Überwindung
der weltweiten FOMO-Krise von totalem Erfolg gekrönt
gewesen, fast wären alle Menschen bereit gewesen, sich
jeder Lockerungsverlockung zum Trotz freiwillig einen ewigwährenden
Lockdown zu verordnen. Dummerweise zeigte
sich aber, dass ausgerechnet diejenigen, die den Kampf
gegen das gefährliche Virus lenken sollten, selbst die größten
Fomoisten waren. Gesundheitsjens zum Beispiel verpasste
zwar das rechtzeitige Verschließen von Fußball- und
Karnevalshochburgen sowie ordentlich viele Fettnäpfchen,
dafür aber keine Ansprache und keine Pressekonferenz.
Armin, das rein westfälische Cheruskerchen, verpasste sich
zunächst das shakespearianische Outfit eines Leben-und-
Tod-Dramaturgen, um kurz darauf ins Gewand des Schiller‘-
schen Freiheitshelden zu schlüpfen und das von ihm selbst
errichtete Schreckensregiment zu bekämpfen. Auch Tobi,
unser noch jugendlich strahlender Saar-König, präsentierte
sich als Großmeister coronöser Kommunikation, verpasste
keinen sehr persönlich gestalteten Social-Media-Auftritt
und kaum eine Talkshow bei Anne und Maybritt. Bereits
zu Beginn der Krise hatte er einen Super-Scoop gelandet,
indem er als weltweit erster Politiker plakativ das Aussehen
eines Coronavirus demonstrieren konnte, das – wie es sich
in solchen Katastrophen schon oft bewährt hatte – die
Größe des Saarlands zeigte.
Nach so viel politischer Briilanz wundert’s niemanden, dass
auf- und rechte Bürger, die verschwörungstheoretisch eben-
saargeschichte|n 99
so versiert sind wie alternativfaktenmedizinisch, damit
begonnen haben, die wahren Hintergründe des Fomocoronakomplotts
zu recherchieren und offenzulegen. Was dabei
jetzt ans Tageslicht kam, muss jeden vernünftigen Menschen
tief beunruhigen. So ist zum Beispiel bereits seit Jahren
unser kollektives Immunsystem absichtlich geschwächt
worden, vor allem durch die Impfkampagnen von Bill Gates,
der seine Kompetenz zur flächendeckenden Gesundheitssubversion
zuvor an der Fertilität afrikanischen Frauen
getestet hatte. Die mittlerweile hinlänglich bekannten
Corona-Hotspots zwischen Norditalien, Nordrhein-Westfalen
und Nordamerika sind nicht etwa auf unzählige Viren,
sondern auf intensive 5-G-Bestrahlung zurückzuführen, die
die Chinesen in Kooperation mit der Telekom lanciert haben.
Da allen aufgeklärten Bürgern, die trotz staatsvirologischer
Blendungsversuche ihre Augen stets offenhielten, noch nirgends
ein einziges Coronavirus in freier Wildbahn begegnet
ist, liegt die Vermutung nahe, dass es Corona gar nicht gibt
(womit die Aufklärer der auf diesen Seiten entlarvten ganzen
Wahrheit beängstigend nahekommen). Der Lockdown ist in
Wirklichkeit nichts anderes als der durch einen angeblichen
Notstand legitimierte Versuch, unsere Grund- und Freiheitsrechte
schrittweise zu liquidieren. Damit das System (in
längst vergangenen linken Zeiten noch als Schweinesystem
bekannt), das geheime Kartell aus Politikern, Wirtschaftsbossen
und IT-Moguln, unter der Anleitung von Angela Merkel
und Papst Franziskus seine Macht endlos steigern und
uns bis zum Jüngsten Tag lückenlos kontrollieren kann.
Wenn Sie, liebe Leser_innen, nun etwa glauben, dass die
unglaublichen Enthüllungen auf den noch immer fortwährenden
Demonstrationen unserer neuen Demokratiebewegung
in verschrobenen Hirnen entstanden seien oder
aus sehr fadenscheinigen Gründen nur als Alternativen aus
und für Deutschland formuliert wurden, dann muss ich
Ihnen sagen: Weit gefehlt! Wie ein Rückblick auf die vergangenen
500 Jahre zeigt, haben diese mutigen Damen
und Herren nur das gemacht, was wir eigentlich alle tun
sollten. Sie haben aus der Geschichte gelernt.
In Mittelalter und Früher Neuzeit hieß Corona noch Pest,
und auch das war natürlich nur eine Erfindung des klerikofeudalen
Schweinesystems, um renitente Leibeigene und
aufmüpfige Bürgersleut unter der Knute aristokratischer
Allmacht zu halten. Die 5-G-Strahlen kamen damals, wie
überlieferte Pestbilder zeigen, in Form von vergifteten Pfeilen
auf die Erde, die ein Erzengel als Exekutor des göttlichen
Strafgerichts von einer Wolke (aus einer Cloud!!!) auf die
Menschen schoss. Statt einen Schulmediziner aufzusuchen
oder sich vom verseuchten Acker zu machen (das durften
nämlich nur die reichen Systemleute), empfahl die Saarbrücker
Pestordnung von 1574 vor allem reumütiges Beten
und Büßen aller kleinen Sünderlein in möglichst vollen Kirchen,
in denen Feuer aus gigantischen und wohlriechenden
Räucherstäbchen für gute Luft sorgten. Noch besser klingen
die zahllosen Rezepte aus einem Pestbuch, das der Leibmedicus
des Saarbrücker Grafen Philipp 1553 verfasst hatte.
So empfahl er zum Beispiel sehr erfolgreich diverse Preservativa
(nein, es ging noch keineswegs um Aids), die jeder
Bewohner des Saarbrücker Schlosses beim allmorgendlichen
Verlassen desselben am Tor verabreicht bekam, um
der Pest in den stinkenden Niederungen der Stadt trotzen
zu können. In solchen Preservativa befanden sich in der
Regel Blüten, Wurzeln und Gewürze nebst diversen Pulvern,
die bisweilen aus den Knochen eines Einhorns gewonnen
waren, das »zwischen zwei Frauentagen« gefangen worden
sein musste. Kein Wunder, dass das so gut funktionierte.
Kein Wunder dass so viel Expertise noch heute jeden alternativmedizinischen
Guru vor Neid erblassen lässt.
Die schönsten Lehren für die coronöse Gegenwart sind
fraglos aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert. Just
damals, als sich die Pest langsam aus der westlichen Welt
verabschiedete, wuchs die Skepsis an den staatlichen Pestvorkehrungen
ins Unermessliche. So formulierte ein englischer
(!) Zeitgenosse namens John (! leider ohne son) seine
Bedenken an den Quarantänevorschriften dahingehend,
dass Luftveränderungen eine viel wichtigere Infektionsursache
darstelle als die Ansteckung von Mensch zu
Mensch. Die Abriegelung der verpesteten Stadt Königsberg
musste abgebrochen werden, nachdem maßgebliche
Preußen versichert hatten, die kollektive Quarantäne bringe
mehr Menschen um als die Epidemie selbst. Und als 1720
eine der letzten großen Pestwellen in Marseille wütete,
publizierte ein königlicher Arzt seine eindeutige Erkenntnis,
dass die Krankheit nicht ansteckend sei. Dass aber die
mittels Quarantäne »der Freiheit zugefügte Gewalt« sowie
die damit einhergehenden »Beleidigungen der Rechte der
Menschen« durch eine »offenkundige Vorspiegelung falscher
Tatsachen« zustande gekommen seien.
Liebe Götter und Göttinnen! Falls ihr manchmal meint, ihr
hättet auf uns Menschen nicht immer genug aufgepasst,
falls ihr glaubt, zu oft weggeschaut und euch zu wenig für
unser Schicksal interessiert zu haben, falls ihr vielleicht
sogar befürchtet, im Laufe eines jahrtausendlangen Tiefschlafs
wichtige Dinge in der Entwicklung der Menschheit
verpasst zu haben, dann kann ich euch heute versichern: Ihr
habt absolut nix verpasst! Also kein Grund zur Panik! Nie
wieder Angst vor FOMO!
saargeschichte|n bildet …
Wussten Sie übrigens, dass die
Saarländische Regierung schon vor
Jahrzehnten vorbildliches Verhalten
bei der Bekämpfung von Epidemien
demonstrierte? Beim Empfang der
französischen Staatsgäste zeigte man
1952, wie die Übertragung gefährlicher
Viren vermieden wird:
vorbeugende Haltung, gebührende
Distanz, angedeuteter Händedruck
(gegebenenfalls mit vorgestreckter
Handatrappe) und auf keinen Fall
den zu Begrüßenden anschauen!
Die Barockresidenz Saarbrücken
Von Thomas Martin
Ein Rundgang auf den fürstlichen Spuren des
18. Jahrhunderts
Thomas Martin hat in seinem kompakten
Begleiter die wichtigsten Spuren der Barockzeit
in Saarbrücken zu einem Spaziergang
zusammengefasst.
Erhältlich im Buchhandel, bei Amazon oder
bei www.edition-schaumberg.de
saargeschichte|n
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