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Saargeschichten Ausgabe 58/59 (1/2-2020)

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André Tardieu, Berater<br />

Clemenceaus auf der<br />

Versailler Konferenz<br />

und später mehrfach<br />

französischer Minister<br />

und Ministerpräsident,<br />

war ein<br />

wichtiger Ansprechpartner<br />

für die Saarlouiser<br />

Delegationen<br />

in den Jahren 1919/20.<br />

(wiki commons)<br />

Anfang an auf schwachen Füßen. So erklärte er<br />

beispielsweise zur eklatanten Diskrepanz zwischen<br />

deutscher und französischer Denkschrift,<br />

dass sein Französisch »damals« - also drei Jahre<br />

vor dem Prozess – so schlecht gewesen sei, dass<br />

»er nicht in der Lage gewesen sei, die Unterschiede<br />

zwischen dem deutschen und französischen<br />

Texte zu erkennen.« Ungeachtet der Tatsache,<br />

dass eine solche Uneinsichtigkeit schon<br />

wegen der quantitativ gravierend voneinander<br />

abweichenden Textcorpora schwer nachvollziehbar<br />

ist, enthob das Hector natürlich nicht der<br />

politischen Verantwortung für die schlechterdings<br />

kaum übersehbaren Differenzen. Ebenso<br />

kurios war Hectors Replik auf die Frage von<br />

Frankes Verteidigern, warum er die Denkschrift<br />

nicht – wie eigentlich verabredet – auch in französischer<br />

Fassung zur Kontrolle an die Stadtverordneten<br />

gegeben hätte? Weil, so Hector, er nach<br />

seiner Parisreise, auf der er sehr vielen maßgeblichen<br />

Franzosen das Druckwerk überreicht habe,<br />

keine Exemplare mehr zur Verfügung gehabt<br />

hätte. Vielleicht hatte Hector tatsächlich gar<br />

nicht damit gerechnet, vor einem Tribunal, das ja<br />

eigentlich einen anderen anklagte, in die Defensive<br />

zu geraten. Eine Einstellung, die freilich für<br />

einen Minister auch reichlich naiv gewesen wäre.<br />

Jedenfalls war und blieb die Verteidigungslinie<br />

Hectors so brüchig, dass ihr Zusammenbruch<br />

absehbar war.<br />

Der kam dann tatsächlich bereits mit der Vernehmung<br />

des zwölften und letzten Zeugen am<br />

ersten Verhandlungstag. Das war eben jener<br />

junge Joseph Goergen, der ehemalige Redakteur<br />

der Saarzeitung, mit dem Hector schon<br />

1920 im Clinch gelegen hatte und der bereits<br />

in den Artikeln jener Monate vor dem Rücktritt<br />

des Bürgermeisters hatte ahnen lassen, dass er<br />

schwergewichtiges Beweismaterial in Händen<br />

hatte. An diesem 23. Februar 1923 wurde es von<br />

Goergen der Öffentlichkeit präsentiert, mit dreijähriger<br />

Verspätung, ganz so, als habe Hectors<br />

Gegenspieler nur auf diesen Moment gewartet.<br />

Zwei Schreiben aus dem Bürgermeisteramt, so<br />

der Zeuge, seien ihm aus dritter Hand zugespielt<br />

worden. Es handelte es sich dabei um jene beiden<br />

bereits oben erwähnten Briefe vom 23. Juli<br />

1919 und vom 15. Januar 1920, die als Begleit- und<br />

Bittschreiben nach Paris gebracht worden waren<br />

und bis zum Zeitpunkt des Prozesses in der saarländischen<br />

Öffentlichkeit offenkundig noch<br />

völlig unbekannt waren. Als Rechtsanwalt Dr.<br />

Steegmann sie nun vor Gericht in ihrer französischen<br />

Übersetzung verlas, gab es im Saal »eine<br />

ungeheure Erregung«, die sich noch steigerte,<br />

nachdem die deutsche Fassung gefolgt war.<br />

Die Bombe, die da gerade geplatzt war, hatte<br />

verheerende Wirkungen. In der hochgradig<br />

emotionalisierten und nationalisierten<br />

Öffentlichkeit, weil hier erstmals ein handfester<br />

Beweis dafür auftauchte, dass die kerndeutsche<br />

Identität der Saarländer tatsächlich von Frankreich<br />

bedroht sein könnte, und zwar durch die<br />

»Untergrundtätigkeit« von Kollaborateuren aus<br />

den eigenen Reihen. Anders als bei den allermeisten<br />

sonstigen Injurienfällen, in denen sich<br />

fast immer zeigte, dass da etwas konstruiert worden<br />

war, um dem Ruf des politisch missliebigen<br />

Kontrahenten zu schaden. Entsprechend hochgradig<br />

erregt zeigte sich zum Ende des ersten<br />

Verhandlungstages vor allem der unversehens<br />

zum Hauptbeschuldigten gewordene Dr. Hector.<br />

Unter Eid könne er beschwören, so der Doktor<br />

mehrfach, dass er das erste Schreiben nicht<br />

kenne, nicht verfasst und nicht dem französischen<br />

Premierminister Clemenceau überreicht<br />

habe. An das zweite Schreiben, dessen deutsches<br />

Original seine Handschrift tragen solle, könne er<br />

sich nicht erinnern. Um den Dingen möglichst<br />

zügig auf den Grund gehen zu können, ordnete<br />

das Gericht an, dass sich sofort eine dreiköpfige<br />

Delegation mit einem Auto der Regierungskommission<br />

auf den Weg nach Saarlouis machen<br />

solle, um das Stadtarchiv nach den Originalschriften<br />

und allen Hinweisen auf die Entstehung<br />

der Denkschrift zu untersuchen und gegebenenfalls<br />

zu beschlagnahmen.<br />

Die Vorlage für den Brief vom 15. Januar 1920<br />

mit der Handschrift Hectors wurde tatsächlich<br />

gefunden. Anhand des Ausgangsjournals für<br />

1920 ließ sich sogar nachvollziehen, wann er unter

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