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André Tardieu, Berater<br />
Clemenceaus auf der<br />
Versailler Konferenz<br />
und später mehrfach<br />
französischer Minister<br />
und Ministerpräsident,<br />
war ein<br />
wichtiger Ansprechpartner<br />
für die Saarlouiser<br />
Delegationen<br />
in den Jahren 1919/20.<br />
(wiki commons)<br />
Anfang an auf schwachen Füßen. So erklärte er<br />
beispielsweise zur eklatanten Diskrepanz zwischen<br />
deutscher und französischer Denkschrift,<br />
dass sein Französisch »damals« - also drei Jahre<br />
vor dem Prozess – so schlecht gewesen sei, dass<br />
»er nicht in der Lage gewesen sei, die Unterschiede<br />
zwischen dem deutschen und französischen<br />
Texte zu erkennen.« Ungeachtet der Tatsache,<br />
dass eine solche Uneinsichtigkeit schon<br />
wegen der quantitativ gravierend voneinander<br />
abweichenden Textcorpora schwer nachvollziehbar<br />
ist, enthob das Hector natürlich nicht der<br />
politischen Verantwortung für die schlechterdings<br />
kaum übersehbaren Differenzen. Ebenso<br />
kurios war Hectors Replik auf die Frage von<br />
Frankes Verteidigern, warum er die Denkschrift<br />
nicht – wie eigentlich verabredet – auch in französischer<br />
Fassung zur Kontrolle an die Stadtverordneten<br />
gegeben hätte? Weil, so Hector, er nach<br />
seiner Parisreise, auf der er sehr vielen maßgeblichen<br />
Franzosen das Druckwerk überreicht habe,<br />
keine Exemplare mehr zur Verfügung gehabt<br />
hätte. Vielleicht hatte Hector tatsächlich gar<br />
nicht damit gerechnet, vor einem Tribunal, das ja<br />
eigentlich einen anderen anklagte, in die Defensive<br />
zu geraten. Eine Einstellung, die freilich für<br />
einen Minister auch reichlich naiv gewesen wäre.<br />
Jedenfalls war und blieb die Verteidigungslinie<br />
Hectors so brüchig, dass ihr Zusammenbruch<br />
absehbar war.<br />
Der kam dann tatsächlich bereits mit der Vernehmung<br />
des zwölften und letzten Zeugen am<br />
ersten Verhandlungstag. Das war eben jener<br />
junge Joseph Goergen, der ehemalige Redakteur<br />
der Saarzeitung, mit dem Hector schon<br />
1920 im Clinch gelegen hatte und der bereits<br />
in den Artikeln jener Monate vor dem Rücktritt<br />
des Bürgermeisters hatte ahnen lassen, dass er<br />
schwergewichtiges Beweismaterial in Händen<br />
hatte. An diesem 23. Februar 1923 wurde es von<br />
Goergen der Öffentlichkeit präsentiert, mit dreijähriger<br />
Verspätung, ganz so, als habe Hectors<br />
Gegenspieler nur auf diesen Moment gewartet.<br />
Zwei Schreiben aus dem Bürgermeisteramt, so<br />
der Zeuge, seien ihm aus dritter Hand zugespielt<br />
worden. Es handelte es sich dabei um jene beiden<br />
bereits oben erwähnten Briefe vom 23. Juli<br />
1919 und vom 15. Januar 1920, die als Begleit- und<br />
Bittschreiben nach Paris gebracht worden waren<br />
und bis zum Zeitpunkt des Prozesses in der saarländischen<br />
Öffentlichkeit offenkundig noch<br />
völlig unbekannt waren. Als Rechtsanwalt Dr.<br />
Steegmann sie nun vor Gericht in ihrer französischen<br />
Übersetzung verlas, gab es im Saal »eine<br />
ungeheure Erregung«, die sich noch steigerte,<br />
nachdem die deutsche Fassung gefolgt war.<br />
Die Bombe, die da gerade geplatzt war, hatte<br />
verheerende Wirkungen. In der hochgradig<br />
emotionalisierten und nationalisierten<br />
Öffentlichkeit, weil hier erstmals ein handfester<br />
Beweis dafür auftauchte, dass die kerndeutsche<br />
Identität der Saarländer tatsächlich von Frankreich<br />
bedroht sein könnte, und zwar durch die<br />
»Untergrundtätigkeit« von Kollaborateuren aus<br />
den eigenen Reihen. Anders als bei den allermeisten<br />
sonstigen Injurienfällen, in denen sich<br />
fast immer zeigte, dass da etwas konstruiert worden<br />
war, um dem Ruf des politisch missliebigen<br />
Kontrahenten zu schaden. Entsprechend hochgradig<br />
erregt zeigte sich zum Ende des ersten<br />
Verhandlungstages vor allem der unversehens<br />
zum Hauptbeschuldigten gewordene Dr. Hector.<br />
Unter Eid könne er beschwören, so der Doktor<br />
mehrfach, dass er das erste Schreiben nicht<br />
kenne, nicht verfasst und nicht dem französischen<br />
Premierminister Clemenceau überreicht<br />
habe. An das zweite Schreiben, dessen deutsches<br />
Original seine Handschrift tragen solle, könne er<br />
sich nicht erinnern. Um den Dingen möglichst<br />
zügig auf den Grund gehen zu können, ordnete<br />
das Gericht an, dass sich sofort eine dreiköpfige<br />
Delegation mit einem Auto der Regierungskommission<br />
auf den Weg nach Saarlouis machen<br />
solle, um das Stadtarchiv nach den Originalschriften<br />
und allen Hinweisen auf die Entstehung<br />
der Denkschrift zu untersuchen und gegebenenfalls<br />
zu beschlagnahmen.<br />
Die Vorlage für den Brief vom 15. Januar 1920<br />
mit der Handschrift Hectors wurde tatsächlich<br />
gefunden. Anhand des Ausgangsjournals für<br />
1920 ließ sich sogar nachvollziehen, wann er unter