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Saargeschichten Ausgabe 58/59 (1/2-2020)

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Edgar Hector bei<br />

einem Empfang<br />

des saarländischen<br />

Ministerpräsidenten<br />

im Ministerpräsidium<br />

in der Saarbrücker<br />

Schillerstraße 1949.<br />

Neben Hector Josef<br />

Kurtz (l.) und Emil<br />

Weiten (r.)<br />

sonst hätte man eine Politik erklären können, sie<br />

so offenkundig der natürlichen Ordnung widersprach?<br />

Sie übersahen dabei ganz (und vermutlich<br />

auch gerne), dass Hector sehr wohl im Interesse<br />

des (lokalen) Gemeinwohls handelte, dass<br />

er diese Gemeinschaft aber ganz offenkundig<br />

nicht als vom nationalen Blut schicksalhaft<br />

zusammengehaltenen Volkskörper begriff. Dass<br />

gerade er als Arzt dem engen Konnex von Körper<br />

und Nation skeptisch gegenüberstand, ist vielleicht<br />

kein Zufall, zumal solche transzendenten<br />

Gemeinschaftsvorstellungen in einem unmittelbaren<br />

Konkurrenzverhältnis zu denen »seiner«<br />

heiligen katholischen Kirche standen.<br />

Ob man Hectors Politik der Jahre 1919/20 im<br />

juristischen Sinne überhaupt als »Landesverrat«<br />

hätte sanktionieren können, ist eine andere<br />

Frage. Immerhin befand sich die Saar damals in<br />

so etwas wie einem nationalen Schwebezustand,<br />

schufen das Besatzungsregime, die Möglichkeiten<br />

einer friedensvertraglichen Neuregelung<br />

und schließlich der internationale Status der<br />

Völkerbundsregierung ganz andere Voraussetzungen<br />

als es vor 1919 oder nach 1935 der Fall<br />

gewesen wäre. Selbst wenn aber Hector in diesem<br />

Punkt einen Freispruch vor einem virtuellen<br />

Gericht und der realen Geschichte erreichen<br />

könnte, so war doch sein Verhalten nicht frei von<br />

Schuld, von Fehlern und Fehlwahrnehmungen.<br />

Denn so sehr er sich mit seiner Frankreichpolitik<br />

eigentlich für das Wohl seiner Stadt einsetzen<br />

wollte, so sehr übersah er dabei gut und gerne,<br />

dass er sich über die nationalen Gedanken und<br />

Gefühle der allermeisten Mitbürger_innen in seiner<br />

Kommune recht eigenmächtig hinwegsetzte.<br />

Dass er damit die demokratischen Spielregeln im<br />

Saarlouiser Rathaus missachtete. Dass er sogar<br />

bereit war, den großen Mehrheitswillen mit<br />

einem Doppelspiel zu delegitimieren. Ob er dabei<br />

wissentlich trickste oder nur in wohlmeinender<br />

Absicht Dinge zuließ, von denen er selbst lieber<br />

nichts wissen wollte, ist letztlich nur ein gradueller<br />

Unterschied. Vermutlich glaubte er einfach,<br />

auch da ganz Arzt, die einzig richtige Medizin für<br />

seine politischen »Patienten« zu haben.<br />

Die kollektive Erinnerung des Saarlandes an den<br />

Fall Hector hat sich sehr lange gehalten, teils<br />

namentlich, noch viel mehr aber als Metapher für<br />

jenes Feld der deutsch-französischen Wechsellagen,<br />

in dem das Land seine nationale, staatliche<br />

und kulturelle Identität gesucht und gefunden<br />

hat. Die langlebige Erinnerung hat sicher damit<br />

zu tun, dass der Fall Hector den Anfang unseres<br />

»Saarhunderts« beschreibt, dass er genau an jener<br />

Schnittstelle stattfand, an dem staatliche Identitäten<br />

– erstmals einschließlich einer solchen des<br />

Saarlandes selbst – neu verhandelt und nationale<br />

Gefühlslagen neu befeuert wurden. Im Fall Hector<br />

steckte damit bereits die gesamte Potenzialität<br />

des saarländischen »Sonderwegs«, der im<br />

deutsch-französischen Antagonismus begann<br />

und im Zeichen deutsch-französischer Freundschaft<br />

bis heute fortlebt. Die unterschiedliche<br />

Perspektivierung der nationalen Frage, die schon<br />

den Hectorprozess so explosiv gemacht hatte,<br />

bestimmt auch die historische Rückschau auf den<br />

Fall. Die einen, deren nationales Blut die Frankophilie<br />

bereits in den 1920ern in Wallung gebracht<br />

hatte, sahen in ihm so etwas wie die Erbsünde<br />

des Separatismus’ und der patriotischen Unzuverlässigkeit.<br />

Der Fall Hector stand deswegen<br />

ganz folgerichtig stets am Anfang jenes deutschnationalen<br />

Narrativs vom Saarland, das nach<br />

den nationalsozialistischen Monstrositäten zwar<br />

modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage<br />

gestellt werden musste. Mit dem Innenminister<br />

Edgar Hector hatte die »deutsche« Opposition<br />

auch im frankophilen Nachkriegssaarland einen<br />

glänzend funktionierenden Gegenspieler aus der<br />

gleichen Familie gefunden, der damit die alten<br />

Vorstellungen vom Zusammenhang von Blut und<br />

Nation quasi ex negativo spiegelte.

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