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Edgar Hector bei<br />
einem Empfang<br />
des saarländischen<br />
Ministerpräsidenten<br />
im Ministerpräsidium<br />
in der Saarbrücker<br />
Schillerstraße 1949.<br />
Neben Hector Josef<br />
Kurtz (l.) und Emil<br />
Weiten (r.)<br />
sonst hätte man eine Politik erklären können, sie<br />
so offenkundig der natürlichen Ordnung widersprach?<br />
Sie übersahen dabei ganz (und vermutlich<br />
auch gerne), dass Hector sehr wohl im Interesse<br />
des (lokalen) Gemeinwohls handelte, dass<br />
er diese Gemeinschaft aber ganz offenkundig<br />
nicht als vom nationalen Blut schicksalhaft<br />
zusammengehaltenen Volkskörper begriff. Dass<br />
gerade er als Arzt dem engen Konnex von Körper<br />
und Nation skeptisch gegenüberstand, ist vielleicht<br />
kein Zufall, zumal solche transzendenten<br />
Gemeinschaftsvorstellungen in einem unmittelbaren<br />
Konkurrenzverhältnis zu denen »seiner«<br />
heiligen katholischen Kirche standen.<br />
Ob man Hectors Politik der Jahre 1919/20 im<br />
juristischen Sinne überhaupt als »Landesverrat«<br />
hätte sanktionieren können, ist eine andere<br />
Frage. Immerhin befand sich die Saar damals in<br />
so etwas wie einem nationalen Schwebezustand,<br />
schufen das Besatzungsregime, die Möglichkeiten<br />
einer friedensvertraglichen Neuregelung<br />
und schließlich der internationale Status der<br />
Völkerbundsregierung ganz andere Voraussetzungen<br />
als es vor 1919 oder nach 1935 der Fall<br />
gewesen wäre. Selbst wenn aber Hector in diesem<br />
Punkt einen Freispruch vor einem virtuellen<br />
Gericht und der realen Geschichte erreichen<br />
könnte, so war doch sein Verhalten nicht frei von<br />
Schuld, von Fehlern und Fehlwahrnehmungen.<br />
Denn so sehr er sich mit seiner Frankreichpolitik<br />
eigentlich für das Wohl seiner Stadt einsetzen<br />
wollte, so sehr übersah er dabei gut und gerne,<br />
dass er sich über die nationalen Gedanken und<br />
Gefühle der allermeisten Mitbürger_innen in seiner<br />
Kommune recht eigenmächtig hinwegsetzte.<br />
Dass er damit die demokratischen Spielregeln im<br />
Saarlouiser Rathaus missachtete. Dass er sogar<br />
bereit war, den großen Mehrheitswillen mit<br />
einem Doppelspiel zu delegitimieren. Ob er dabei<br />
wissentlich trickste oder nur in wohlmeinender<br />
Absicht Dinge zuließ, von denen er selbst lieber<br />
nichts wissen wollte, ist letztlich nur ein gradueller<br />
Unterschied. Vermutlich glaubte er einfach,<br />
auch da ganz Arzt, die einzig richtige Medizin für<br />
seine politischen »Patienten« zu haben.<br />
Die kollektive Erinnerung des Saarlandes an den<br />
Fall Hector hat sich sehr lange gehalten, teils<br />
namentlich, noch viel mehr aber als Metapher für<br />
jenes Feld der deutsch-französischen Wechsellagen,<br />
in dem das Land seine nationale, staatliche<br />
und kulturelle Identität gesucht und gefunden<br />
hat. Die langlebige Erinnerung hat sicher damit<br />
zu tun, dass der Fall Hector den Anfang unseres<br />
»Saarhunderts« beschreibt, dass er genau an jener<br />
Schnittstelle stattfand, an dem staatliche Identitäten<br />
– erstmals einschließlich einer solchen des<br />
Saarlandes selbst – neu verhandelt und nationale<br />
Gefühlslagen neu befeuert wurden. Im Fall Hector<br />
steckte damit bereits die gesamte Potenzialität<br />
des saarländischen »Sonderwegs«, der im<br />
deutsch-französischen Antagonismus begann<br />
und im Zeichen deutsch-französischer Freundschaft<br />
bis heute fortlebt. Die unterschiedliche<br />
Perspektivierung der nationalen Frage, die schon<br />
den Hectorprozess so explosiv gemacht hatte,<br />
bestimmt auch die historische Rückschau auf den<br />
Fall. Die einen, deren nationales Blut die Frankophilie<br />
bereits in den 1920ern in Wallung gebracht<br />
hatte, sahen in ihm so etwas wie die Erbsünde<br />
des Separatismus’ und der patriotischen Unzuverlässigkeit.<br />
Der Fall Hector stand deswegen<br />
ganz folgerichtig stets am Anfang jenes deutschnationalen<br />
Narrativs vom Saarland, das nach<br />
den nationalsozialistischen Monstrositäten zwar<br />
modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage<br />
gestellt werden musste. Mit dem Innenminister<br />
Edgar Hector hatte die »deutsche« Opposition<br />
auch im frankophilen Nachkriegssaarland einen<br />
glänzend funktionierenden Gegenspieler aus der<br />
gleichen Familie gefunden, der damit die alten<br />
Vorstellungen vom Zusammenhang von Blut und<br />
Nation quasi ex negativo spiegelte.