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Saargeschichten Ausgabe 58/59 (1/2-2020)

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saargeschichte|n 43<br />

unserem heutigen, eher positiv konnotierten Verständnis<br />

ebenso wie im durchweg negativen seiner<br />

Zeitgenossen – dann hätte diese Biographie<br />

in vielen Dingen sicher anders ausgesehen. Dann<br />

wäre er bestimmt nach dem GAU von 1923 und<br />

erst recht nach dem Super-GAU von 1935–45<br />

nicht in Saarlouis geblieben beziehungsweise<br />

dorthin zurückgekehrt. Dann hätte er ohne Zweifel<br />

auch sprachlich schon viel früher eine größere<br />

Annäherung an Frankreich gesucht (Hector, so<br />

wird berichtet, hatte hingegen noch in der Exilzeit<br />

aus sprachlichen Gründen Schwierigkeiten,<br />

seinen Arztberuf in Frankreich auszuüben) und<br />

wäre nach den schlimmen Erfahrungen mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit dauerhaft in der Grande<br />

Nation geblieben. [45]<br />

Das Beispiel der Frankophilie deutet an, dass<br />

wir sehr viel intensiver über die Kategorien des<br />

Nationalen nachdenken müssen, wenn wir all<br />

das verstehen wollen, was mit dem Fall Hector<br />

verbunden ist. Wir müssen diese Kategorien historisieren,<br />

kontextualisieren, anthropologisieren,<br />

quasi verflüssigen, um nicht durch ein statisches<br />

Begriffsverständnis die Geschichte der 1920er<br />

Jahre zu vernebeln, anstatt sie aufzuklären. Das<br />

gilt für das Selbstverständnis der historischen<br />

Akteure von einst ebenso wie für die wechselnden<br />

Bilder, die wir Nachgeborenen uns von ihnen<br />

machen. Dass das Verdikt vom frankophilen Dr.<br />

Hector, mit dem die Saardeutschen in den Zwanzigern<br />

ihren Zeitgenossen belegten, etwas ganz<br />

anderes konnotierte, als wenn wir heute – aus<br />

der Sicht eines Deutschen – von einem frankophilen<br />

Saarländer sprechen, ist unmittelbar<br />

nachvollziehbar. Der Unterschied von gestern zu<br />

[45] Zur Entwicklung des Nationalismus in Deutschland vgl.<br />

Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland<br />

1790–1990, München 1993, S. 173; Erich Hobsbawm, Nation<br />

und Nationalismus, S. 212ff. Die Informationen zu<br />

Hectors Berufstätigkeit in Frankreich und den mangelnden<br />

Französischkenntnissen nach seiner Entschädigungsakte<br />

in: LA SB, LEA 14216, Bl. 18ff.<br />

heute liegt vor allem darin,<br />

dass bei buchstäblichem<br />

Gleichklang die Frankreichliebe<br />

heute nicht nur denkbar,<br />

sondern möglich, gar<br />

wünschenswert geworden<br />

ist.<br />

Insofern hat die Frankophilie<br />

eine verblüffend ähnliche<br />

Karriere gemacht wie<br />

jene Diskurse über Leib und<br />

Körper, die mit den Vorstellungen<br />

von Nation – wie bereits angedeutet<br />

– so eng verbunden waren. Nichts hat den Körper<br />

in seinen möglichen und verbotenen Äußerungsformen<br />

so eindeutig definiert wie eine scheinbar<br />

ewig festgefügte Ordnung der Geschlechter.<br />

Alles, was von dieser sexuell codierten Ordnung<br />

abwich, wurde als Perversion empfunden, als<br />

widernatürliche Abweichung von jener selbstevidenten<br />

Norm, die die Welt zusammenhielt.<br />

Auf dieser gedanklichen Metaebene betrachtet,<br />

funktionierten Norm und Abweichung in der<br />

Geschlechterordnung ebenso wie in der Ordnung<br />

nationaler Identitäten. Und so nimmt es<br />

kaum Wunder, dass man die Frankophilie lange,<br />

zum Teil noch immer, sprachlich ebenso kategorisierte<br />

wie Homosexualität: Von Neigungen<br />

ist in dem einen wie in dem anderen Fall bis<br />

heute die Rede. Wobei es diese Neigungen früher<br />

zu unterdrücken, gar auszumerzen galt, während<br />

sie mittlerweile als eine von vielen Möglichkeitsformen<br />

gelebt werden wollen. Überspitzt<br />

formuliert entspricht heutige Diversität der<br />

Lebensstile der Internationalisierung, Europäisierung,<br />

Globalisierung politischer Identitätsvorstellungen.<br />

Der Vergleich von nationalen Fragen und Körperbildern<br />

lässt ahnen, wie schwer es ist, eine adäquate<br />

Beurteilung des Falles Hector, seiner Folgen<br />

und der mit ihm verbundenen Erinnerung zu finden.<br />

Weil hier gerade das, was scheinbar ewig gültigen<br />

Naturgesetzen unterliegt, sich in Wirklichkeit<br />

als den Gesetzen der Relativität gehorchend<br />

offenbart. Tatsächlich ergibt sich je nach Standpunkt<br />

ein ganz anderes Bild, einschließlich<br />

jener Ausblendungen und Verfälschungen, die<br />

Perspektivwechsel eben mit sich bringen. So war<br />

bereits die zeitgenössische Auseinandersetzung<br />

von vielen kognitiven Dissonanzen begleitet. Die<br />

saardeutschen Gegenspieler Hectors, infiziert<br />

von der Sozialisation im Kaiserreich und befeuert<br />

von den Erfahrungen des Weltkriegs, konnten<br />

des Doktors Aktivitäten kaum anders deuten<br />

denn als schändlichen Verrat und Betrug – wie<br />

Ein beredtes Zeugnis<br />

für den Wandel der<br />

saarländischen Vorstellung<br />

von Frankophilie<br />

stellte der<br />

erfolgreiche Wahlkampf<br />

des nachmaligen<br />

Ministerpräsidenten<br />

Oskar<br />

Lafontaine im Jahr<br />

1985 dar: Das »savoir<br />

vivre« war staatstragend<br />

geworden.<br />

(LA SB, Plakatsammlung)

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