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02 Rabbinische Schrifthermeneutik und Schulsystem

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2. Die rabbinische Schrifthermeneutik

und das Schulsystem

2.1. Die materielle Basis: Mischna, Gemara und

Midraschim

1


Die hermeneutische Grundunterscheidung

1. Tora Sche‘bichtaw (Schriftliche Tora)

2. Tora Sche‘be‘al Pe (Mündliche Tora)

2


Begriffe

• Rabbinisches Judentum

– eine antike jüdische Strömung, der durch die Gelehrten der

tannaitischen und der amoräischen Zeit geprägt ist

– Epochenbegriff, der die formative Zeit des orthodoxen („normativen“)

Judentums zwischen der Zerstörung des zweiten Tempels (70 n. Chr.)

bis zum Abschluss des Talmud und der Midraschim umfasst

• Rabbiner/Rabbi

Jede(r) ordinierte(r) jüdische(r) Gelehrte(r)

• Rabbine, Pl. Rabbinen (aram. Rabban, Pl. Rabbanim)

jüdischer Gelehrter aus der formativen Epoche des Judentums:

des Talmuds und der Midraschim (1.-7. Jh. n.Chr.)

3


Die Doppelgestalt oder der zweifache

Ursprung der Tora

• Tora = „Unterweisung“ (Fingerzeig)

• Schriftliche Tora (Tora sche bichtav)

– Tora – Neviim – Ketuvim (TNK sprich: „Tenach“)

– Verlesung im Gottesdienst

• Mündliche Tora (Tora sche b‘al peh)

– Besteht aus zwei Teilen, die miteinander ein Ganzes bilden

– Mischna + Gemara = Talmud

4


Die formativen Epochen des rabbinischen Judentums

• Tannaiten (70-220 n. Chr.)→ Mischna

(„Lehrer, Wiederholer“)

• Amoräer (3.-6. Jh. n. Chr.) → Gemara

(„Sprecher, Berichterstatter“)

• Saboräer (6.-7. Jh.)

(„Nachdenker, Schlussfolgerer“;

= Redaktoren des Talmud)

„Talmud“

• Gaonäer (7.-11.Jh.)

(„Herrliche, „Hochwürdige“; Bezeichnung für die

Oberhäupter der jüdischen Akademien in Babylonien,

später auch in Wilna 5


Die mündliche Tora

1. Mischna

• Wörtlich: „die Zweite“ (Tora) oder „Wiederholung“

• Erste Sammlung mündlicher rabbinischer Überlieferung, Auslegung der (schr.) Tora

• Abschluss ca. 220 n. Chr. durch Jehuda ha-Nasi („Rabbi“)

• Besteht aus

‣ sechs thematisch gegliederten „Ordnungen“ (Sedarim) (sechs Richtungen

sechs Tage der Schöpfung, die

‣ in jeweils 7-12 „Traktate“ (Masechtot) unterteilt sind

• Inhalt: Rabbinische Dialoge und Diskussionen

‣ Themen u.a. Familienrecht, Festtage, Strafrecht und Schadensersatz,

Speisevorschriften und religiöse Bräuche, Einteilung von „reinen“ (koscheren)

und „unreinen“ Dingen

‣ Halachot (Sing. Halacha; bindende Lehrentscheidungen über die praktische

Einhaltung der Gebote = „Mitzwot“)

‣ (H)Aggadot (Sing. Aggada/Hagga; lehrhafte Erzählungen)

‣ Alter der Stoffe oft schwer zu bestimmen (vor 220 n. Chr.), viele Materialien

reichen in (vor-)neutestamentliche Zeit zurück. Wichtige Quelle auch für das NT!

6


1. Mischna

Die mündliche Tora

Gesamtausgabe von

Chanoch Albeck,

6 Bde.

Kodex Kaufmann

7


Die mündliche Tora

2. Gemara

• Wörtl. „Vollendung“ oder „Lernstoff“ (aramäisch); gemeint ist die

traditionelle rabbinische Lehre

• Führt die in der Mischna begonnen Auslegungsarbeit fort und

kommentiert und erweitert die Mischna:

a) pT bis Mitte 5. Jh. (Israel, evtl. Tiberias)

B) bT bis Mitte 7. Jh. n. Chr. (Akademien in Babylon)

• Breite Kommentierung und Erweiterung der Mischna

• Aufbau entspricht dem der Mischna (Ordnungen und Traktate)

• Diskursive Darstellung der Lehrauffassungen einzelner Rabbinen

und ihrer Schulen

• Inhalt: Verbindliche Lehrentscheidungen (Halachot) und die darum

geführten Diskussionen; Aggadot: Erzählungen, thematische

Abhandlungen

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Die mündliche Tora

2. Talmud

• Wörtlich „Lehre“

• Einheit von Mischna und Gemara (umfasst mehr als 10.000 Folio-

Druckseiten)

• Existiert in zwei unterschiedlichen Fassungen

‣ Jerusalemer/Palästinischer Talmud (kürzer, auf Hebräisch,

auch „Jeruschalmi“ genannt)

‣ Babylonischer Talmud (wichtiger, auf Aramäisch, auch „Bavli“

genannt)

• Dokument der dialogischen Grundstruktur der jüdischen Theologie

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Die mündliche Tora

4. Baraita

• Wörtl. Das „draußen Befindliche“ (alles rabbinische

Traditionsmaterial aus tannaitischer Zeit außerhalb der

Mischna)

5. Tosefta

• Wörtl: „Ergänzung/ Hinzufügung“

• Halachisches Material aus der Zeit der Mischna

(ca. 200-220 n. Chr.)

• Begriff kann die Sammlung mehrerer „Tosafot“

(Einzelsprüche) oder die Schrift insgesamt meinen

• Wie die Mischna auf Hebräisch verfasst

• Aufbau entspricht der Mischna (es fehlen nur 4 Traktate)

• Uneinheitliches literarisches Verhältnis zur Mischna

(älter – jünger))

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5. Midrasch

Die mündliche Tora

• Ableitung von Hebr. vrd = suchen,

forschen, fragen (Pl. Midraschim)

• Form schriftgelehrter Bibelauslegung

(rabbinische Kommentarliteratur)

• Legt die Bücher des Tenach aus

• Unterscheidung

‣ halachische Midraschim (Religionsrecht)

‣ haggadische Midraschim (Erzählung)

• Beit Midrasch (Lehrhaus)

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Ursprünge des Midrasch im AT

• Ableitung vom Verb Xrd (darasch): suchen,

fragen, erforschen

• Orakelwesen im alten Israel: Eine Gottheit

befragen

• „In der Tora forschen“ (terminus technichus)

• Midrasch als Schriftwerk: 2Chr 13,22; 24,17

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Der rabbinische Midrasch

• Midrasch wird auch jede unbestimmte Form

der (schriftlichen) Schriftauslegung genannt

• De‘rascha („Predigt“) Darschan („Prediger“)

• Neh 8,8: „Und sie lasen aus dem Buch, aus

dem Gesetz Gottes, abschnittsweise vor, und

gaben den Sinn an, so dass man das

Vorgelesene verstehen konnte.“

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Besonderheiten der rabbinischen Exegese

• Unterschiede zur und Gemeinsamkeiten mit der

bibelwissenschaftlichen Exegese

• Bezugsgröße einer Textstelle: die ganze Bibel (vgl.

Luther: scriptura sui interpres)

• Rabbinische Auslegungsregeln

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Beispiele für innerbiblische Midraschim

• Mt 1-3: Kindheitsgeschichte Jesu als Midrasch zu Moseerzählung

• Die Bergpredigt als neuer Dekalog (Mt 5-7; vgl, Ex 20 und Dtn 5)

• Paulus: Abraham, Hagar und Wüstenwanderung (Röm 4, Gal 4, 1Kor

10)

• Der Hebräerbrief als Midrasch

• Targume und Midraschim

• Das Neue Testament als Midrasch des Alten?

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Weitere Unterscheidungen der Midraschim

Kategorie I

• Halachische Midraschim

• Haggadische Midraschim

Kategorie II

• Exegetische oder Auslegungsmidraschim

• Homiletische oder predigtartige Midraschim

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Das rabbinische Schrifttum im Überblick

Tora

„Schriftliche Tora“

(Tenach/AT)

Legt aus

„Mündliche Tora“

(Mischna und Gemara)

Ergänzungen

Tora Neviim Ketuvim

Mischna

ca. 220 n. Chr.

Baraita

Tosefta

Gemara

220-650 n. Chr.

Legt aus

Midrasch(im)

Talmud

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Haggadische M. Halachische M.

Exegetische / homiletische M.

„Jeruschalmi“ (pT)

Palästin. Talmud

Ca. 400

„Bavli“ (bT)

Babyl. Talmud

Ca. 650


Unterschiedliche Formen der Schriftauslegung:

Der Talmud und die Midraschim

Talmud

Themenzentrierte

Auslegung durch

Halacha und

Haggada

Midrasch

Fortlaufende

Auslegung der

biblischen

Bücher

Lectio eclectica

Lectio continua

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Literatur

Gradwohl, Roland, Was ist der Talmud? Einführung in die mündliche

Tradition Israels, Stuttgart 1983

Langer, Gerhard, Midrasch, Tübingen 2016

Nachama, Andreas u.a (Hgg.), Basiswissen Judentum, Freiburg 2015

Stemberger, Günter, Einleitung in Talmud und Midrasch, 8 1992

Stemberger, Günter, Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der

Bibel. Einführung – Texte – Texte Erläuterungen, München 1989

Ydit, Meir, Kurze Judentumskunde für Schule und Selbstunterricht,

Berlin 2018

19


2. Die rabbinische Schrifthermeneutik

2.1. Die materielle Basis: Mischna, Gemara und

Midraschim

2.2 Das Schulsystem

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Das rabbinische Schulsystem

• Gerschom Scholem, Zum Verständnis der

messianischen Idee im Judentum, in: ders., Über einige

Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M. 1970, 121-

167

• „Ich glaube mit ganzem Vertrauen an die Ankunft des

Messias, und auch wenn er verzieht, so warte ich doch

täglich auf ihn, dass er kommt.“ (Maimonides 12.

Glaubensartikel)

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Das rabbinische Schulsystem

Dtn 6,4-7

4

Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. 5 Darum sollst du den Herrn, deinen

Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. 6 Diese Worte,

auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. 7 Du

sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause

sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du

aufstehst.

Dtn 11,18f

18

Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz und auf eure Seele schreiben. Ihr sollt sie

als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf eurer Stirn

werden. 19 Ihr sollt sie eure Söhne lehren, indem ihr von ihnen redet, wenn du zu

Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn

du aufstehst.

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Das rabbinische Schulsystem

• Unterweisung als Pflicht der Väter

• Knabenschulen (Beit Sefer)

• Beit Midrasch/Beit Talmud (später Jeschiwa)

• Kalla

• Pirqua

• Talmid Chacham (Gelehrtenschüler, im „Dienst“ des Rabbi)

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Das rabbinische Schulsystem

Ordinationsformel (Semicha hkyms)

„Darf er lehren? - Er darf lehren.

Darf er richten [= entscheiden]? - Er darf richten.“ (Sanh 5,a)

Hebräisch:

!ydy !ydy hrAy hrAy

„Joreh joreh, yadin yadin“

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Das rabbinische Schulsystem

Auslegungsregeln (7 Regeln des Rabbi Hillel)

1. „Vom Leichten auf das Schwere“ (Qal wa-chomer)

2. „Gleiche Verordnung“ (Gezera schawa)

3. „Gründung einer Familie“ (Binjan ab mikatub echad)

4. „Ableitung auf zwei Bibelstellen“ (Binjan ab mir-schnej

Ketuvim)

5. „Allgemeines und Besonderes“ (Kelal u-ferat)

6. „Ähnliches an anderer Stelle“ (Ke-jotse bo be maqom acher)

7. „Schlussfolgerung aus dem Kontext“ (Dabvar ha-lamed-meinjano)

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Das rabbinische Schulsystem

Literatur

• Jacob Neusner, Judaism and the Interpretation of Scripture. Introdiction

to the Rabbinic Midrash, Massachusetts 2004 (bes. 1-15)

[Standardwerk]

• Rolf Rendtorff, Zur Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Alten

Testaments, in: Ders., Kanon und Theologie. Vorarbeiten zu einer

Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1991, 54-63

• Klaus Koch, Der doppelter Ausgang des Alten Testaments in Judentum

und Christentum, in: JBTh 6 (1991), 215-242

• Matthias Morgenstern, Halachische Schriftauslegung. Auf der Suche

nach einer jüdischen „ Mitte der Schrift“, in ZThK 103 (2006), 26-48

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2. Die rabbinische Schrifthermeneutik

2.1. Die materielle Basis: Mischna, Gemara und

Midraschim

2.2 Das Schulsystem

2.3 Die hermeneutischen Grundsätze der

Rabbinen

27


Die hermeneutischen Grundsätze

Talmud

NT

Y

Tenach/AT

28


Die hermeneutischen Grundsätze

Jer 23,29

„Ist mein Wort nicht wie ein Feuer und wie

Hammer, der Felsen zerschmettert?“

Av 5,26

„Wende sie [die Tora] immer wieder um, denn in

ihr liegt alles und durch sie wird dein Blick hell,

werde alt und grau in ihr und weiche nicht von

ihr, denn es gibt für dich keine bessere Art des

Strebens als sie.“

29


Die hermeneutischen Grundsätze

„Denn bei Rechtsentscheiden darf es zwar

Mehrheits- und Minderheitsmeinungen geben; um

des geregelten menschlichen Zusammenlebens

willen muss aber zugleich immer eindeutig geregelt

sein, wer eine Streitfrage in letzter Instanz und damit

eindeutig zu entscheiden hat, wo demnach der

Grundsatz der Zwei- oder Mehrdeutigkeit des Textes

keine Anwendung findet und unterschiedliche

Interpretationen nicht unentschieden nebeneinander

stehenbleiben dürfen.“

(Morgenstern, Schriftauslegung, 36)

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Die hermeneutischen Grundsätze

Die Prärogative des Tuns :

• Ex 24,7: Dann nahm er [Mose] das Bundesbuch

und las es dem Volk vor. Und sie sprachen: Alles,

was der HERR geredet hat, wollen wir tun, und

wir wollen darauf hören.

• Dtn 5,27 Tritt du hinzu und höre alles, was der

HERR, unser Gott, sagen wird. Und du, du sollst

alles zu uns reden, was der HERR, unser Gott, zu

dir reden wird, und wir wollen es hören und tun.

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Die hermeneutischen Grundsätze

„Satzzeich

en“

Konsonant

Vokal


Die hermeneutischen Grundsätze

„[…] der Text in seinem schriftlichen Bestand wird

als unvollständig kenntlich; er bleibt ohne die nach

Vorgabe der rabbinischen Weisen zu erfolgende

Deutung – nämlich die masoretischen Vokalisierung,

die sich der mündlichen Tora verdankt –

unaussprechbar; die Bibel Israels ist primär keine

’Biblia‘, ein zu lesendes Buch, sondern hebräisch

‚Mikra‘ [die Gelesene], je und je neu hörbar nach

rabbinischen Vorgaben synagogal zu rezitierender

Text.“

(Morgenstern, Schriftauslegung, 40)

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2. Die rabbinische Schrifthermeneutik

2.1. Die materielle Basis: Mischna, Gemara und

Midraschim

2.2 Das Schulsystem

2.3 Die hermeneutischen Grundsätze der

Rabbinen

2.4 Die Normativität der rabbinischen

Lehrentscheidung – Beispiel (BM IV, 59a)

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35


36


Die hermeneutischen Grundsätze

1. Ex 23,2

„Du sollst der Menge nicht folgen zum Bösen“

t[or'l. ~yBir;-yrex]a; hy<h.ti-al{

2. Dtn 29, 28

„Was noch verborgen ist, steht beim HERRN, unserem Gott, was aber

offenbar ist, gilt uns und unseren Kindern auf ewig, so dass wir nach allen

Worten dieser Weisung handeln können.“

3. Dtn 30,11-14

11

Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für

dich und ist dir nicht zu fern. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen

müsstest: Wer wird für uns in den Himmel hinaufsteigen und es uns holen

und es uns hören lassen, dass wir es tun? 13 Und es ist nicht jenseits des

Meeres, dass du sagen müsstest: Wer wird für uns auf die andere Seite

des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen,

dass wir es tun? 14 Sondern ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Mund

und in deinem Herzen, um es zu tun.

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