ML_04//2021 Die neue Orgel in der Tonhalle Zürich (1)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
20 4 21<br />
<strong>Die</strong> <strong>neue</strong> <strong>Orgel</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Tonhalle</strong> <strong>Zürich</strong> (I)<br />
«… dass das Ganze rechte Farbe und Weihe<br />
erhielt.»<br />
Das obige Zitat e<strong>in</strong>es Rezensenten<br />
stellt die Kuhn-<strong>Orgel</strong> von 1872 <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
alten <strong>Tonhalle</strong> <strong>Zürich</strong> samt ihrem<br />
Organist <strong>in</strong>s schönste Licht. Das ist<br />
lange her. In wenigen Wochen wird <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> renovierten <strong>Tonhalle</strong> e<strong>in</strong> <strong>neue</strong>s<br />
Instrument aus <strong>der</strong>selben <strong>Orgel</strong>baufirma<br />
e<strong>in</strong>geweiht. «Musik und<br />
Liturgie» widmet diesem Geschehen<br />
<strong>in</strong> dieser und <strong>der</strong> kommenden Ausgabe<br />
je e<strong>in</strong>en Beitrag.<br />
Von Christian Albrecht<br />
Unser Autor Matthias Wamser hat für die<br />
Ausgabe 4//20 von «Musik und Liturgie»<br />
e<strong>in</strong>e kurze, jedoch sehr bemerkenswerte<br />
Synopsis über die Konzertsaalorgeln <strong>in</strong><br />
Europa und <strong>der</strong> Schweiz verfasst. 1 Im<br />
selben Beitrag, bei dem die <strong>neue</strong> <strong>Orgel</strong><br />
im Stadtcas<strong>in</strong>o Basel – im September<br />
2020 e<strong>in</strong>geweiht – im Vor<strong>der</strong>grund steht,<br />
wird auch bereits auf die E<strong>in</strong>weihung <strong>der</strong><br />
ebenfalls <strong>neue</strong>n Konzertsaalorgel <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Tonhalle</strong> <strong>Zürich</strong> h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
Heute und also bereits im Folgejahr können<br />
wir über die <strong>neue</strong> Kuhn-<strong>Orgel</strong> berichten,<br />
die im kommenden September<br />
e<strong>in</strong>geweiht wird (vergleiche das Inserat<br />
auf <strong>der</strong> dritten Umschlagseite dieser Ausgabe).<br />
Damit geht auch die Eröffnung des<br />
restaurierten <strong>Tonhalle</strong>-Saales und des neu<br />
konzipierten Kongresshauses e<strong>in</strong>her.<br />
Dem Anlass widmet «Musik und Liturgie»<br />
zwei Beiträge: Der hier vorliegende<br />
nimmt die Vorgeschichte <strong>in</strong> den Blick, <strong>der</strong><br />
zweite Artikel <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommenden Ausgabe<br />
widmet sich als Fachbeitrag den spezifischen<br />
Aspekten des <strong>neue</strong>n <strong>Orgel</strong>werkes<br />
aus <strong>der</strong> renommierten Männedorfer <strong>Orgel</strong>baufirma.<br />
Nach 1600: Musikliebhaber formieren<br />
sich<br />
• Wohl aus dem Bedürfnis heraus, die<br />
während <strong>der</strong> Reformation aus <strong>der</strong><br />
Kirche verbannte Vokal- und Instrumentalmusik<br />
zum<strong>in</strong>dest im engeren<br />
Kreis erneut zu pflegen, gründen um<br />
1600 Persönlichkeiten aus <strong>der</strong> Stadt<br />
<strong>Zürich</strong>, zumeist Theologen und Philologen<br />
das Musikkollegium zum<br />
Chorherrensaal. Während 42 Jahren<br />
ist Caspar Albert<strong>in</strong>, <strong>der</strong> Cantor an <strong>der</strong><br />
Grossmünsterkirche als «Mo<strong>der</strong>ator»<br />
des Musikkollegiums tätig. Der Saal<br />
im Chorherrenstift beim Grossmünster<br />
dient als Vere<strong>in</strong>slokal.<br />
• Bereits rund e<strong>in</strong> Jahrzehnt später, nämlich<br />
im Jahr 1613 kommt es zur Gründung<br />
e<strong>in</strong>es zweiten Musikkollegiums,<br />
nämlich <strong>der</strong> Musikgesellschaft ab<br />
dem Musiksaal beim Kornhaus.<br />
• 1679 schliesslich erfolgt die Gründung<br />
<strong>der</strong> Musikgesellschaft zum<br />
Fraumünster. Sie setzt sich zum Ziel,<br />
die Musikpflege <strong>in</strong> weitere Kreise zu<br />
tragen; ihre Mitglie<strong>der</strong> sollen sich sowohl<br />
als gute Psalmsänger als auch<br />
als ebensolche Instrumentalisten ausweisen.<br />
Man trifft sich im Musiksaal<br />
beim Fraumünster, wo ab 1686 die<br />
Blattmannsche <strong>Orgel</strong> steht. Der Saal<br />
erweist sich jedoch vorab im W<strong>in</strong>ter als<br />
zu kalt. So siedelt die Musikgesellschaft<br />
zum Fraumünster im Jahr 1700 <strong>in</strong> die<br />
Deutsche Schule <strong>in</strong>s Haus zum St. Peter<br />
am Wolfbach (heute Neumarkt 3)<br />
um und richtet dort im dritten Stock<br />
Innenansicht des Musiksaales beim Fraumünster<br />
um 1717 mit <strong>der</strong> <strong>Orgel</strong> von Blattmann<br />
(1686) im H<strong>in</strong>tergrund<br />
e<strong>in</strong>en Musiksaal e<strong>in</strong>. Das Musikkollegium<br />
nennt sich fortan Musikgesellschaft<br />
zur deutschen Schule.<br />
<strong>Die</strong> dort 1701/1702 erstellte <strong>Orgel</strong> von<br />
Jakob Messmer von Rhe<strong>in</strong>eck umfasst<br />
sechs Register. Es werden viele Musikalien<br />
angeschafft und daraus musiziert,<br />
unter an<strong>der</strong>em vom beliebten Kirchenkomponisten<br />
Wolfgang Carl Briegel<br />
(1626–1712).<br />
Nachdem die beiden Gesellschaften zum<br />
Chorherrensaal und zur deutschen Schule<br />
im Jahr 1772 zur Musikgesellschaft<br />
<strong>der</strong> mehreren Stadt fusioniert haben,<br />
kommt es schliesslich im Jahr 1812 zur<br />
Gründung <strong>der</strong> noch heute existierenden<br />
Allgeme<strong>in</strong>en Musik-Gesellschaft AMG<br />
<strong>Zürich</strong>, wor<strong>in</strong> sich die zwei zuletzt noch<br />
existierenden Musikkollegien vere<strong>in</strong>igen.<br />
Wie es bei den zürcherischen Musikgesellschaften<br />
seit jeher <strong>der</strong> Fall gewesen ist,<br />
gehören auch die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> AMG fast<br />
ausschliesslich den gehobenen Schichten<br />
an.<br />
Foto: zVg
4 21<br />
21<br />
Konzertsäle<br />
betrachtet – wie die e<strong>in</strong>zelnen Gänge e<strong>in</strong>es<br />
Gourmet-Menüs <strong>der</strong> besten Art im<br />
Hatten die Säle <strong>der</strong> Musikkollegien die<br />
Ansprüche vorab an e<strong>in</strong> entsprechendes Kasten unten zeigen.<br />
Vere<strong>in</strong>slokal zu erfüllen, bedurfte es später<br />
grösseren Räumen, die auch Gästen – Orchester-Angelegenheiten und e<strong>in</strong><br />
zunächst und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e den Damen Fest<br />
<strong>der</strong> Kollegiumsmitglie<strong>der</strong> – Platz bieten <strong>Die</strong> Begleitaufgaben <strong>in</strong> Oratorien mit diesen<br />
Ausmassen und Anfor<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d<br />
konnten. 1806 wird für diesen Zweck das<br />
Cas<strong>in</strong>o erbaut, das den zu kle<strong>in</strong> gewordenen<br />
Saal im Kornhaus als Konzertlokal wenn Ouvertüren o<strong>der</strong> gar S<strong>in</strong>fonien auf<br />
erheblich gross. Ganz abgesehen davon,<br />
<strong>der</strong> Stadt <strong>Zürich</strong> ersetzt. 1834 wird das dem Programm stehen. <strong>Zürich</strong> behilft sich<br />
Theater eröffnet und 1868 folgt die – zunächst mit dem ad hoc Zuzug von auswärtigen<br />
Kräften, doch auf die Länge ist<br />
nachmalige «alte» – <strong>Tonhalle</strong> am See.<br />
das – nicht zuletzt auch f<strong>in</strong>anziell – we<strong>der</strong><br />
Menüs<br />
verantwortbar noch tragbar. So nimmt<br />
Wurde selbstverständlich auch im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Zusammenkünfte <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> gegründeter Orchestervere<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Tätig-<br />
im Rahmen <strong>der</strong> AMG <strong>Zürich</strong> dessen neu<br />
Musikkollegien gesungen, kommt es <strong>in</strong> keit 1862 auf.<br />
<strong>der</strong> folgenden Zeitspanne zu weiteren Und dann rüstet sich die Limmatstadt zur<br />
Gründungen von S<strong>in</strong>ggeme<strong>in</strong>schaften Durchführung des Schweizer Musikfestes<br />
und Chören, wobei das 1805 von Hans von 1867. Das alte Kornhaus wird zur<br />
Georg Nägeli (1773–1836) <strong>in</strong>itiierte Zürcher<br />
S<strong>in</strong>g<strong>in</strong>stitut als «Brandbeschleuniger» und Sänger nehmen teil und e<strong>in</strong> Orches-<br />
<strong>Tonhalle</strong> umgebaut, 603 Sänger<strong>in</strong>nen<br />
im positiven S<strong>in</strong>n wirkt. Nur vor e<strong>in</strong>em ter mit 101 Mann steht zur Verfügung.<br />
solchen H<strong>in</strong>tergrund ist die Realisation Friedrich Hegar ist Chefdirigent, <strong>der</strong> Kirchenmusiker<br />
Theodor Kirchner dessen<br />
von grossen konzertanten kirchenmusikalischen<br />
Aufführungen möglich, die Stellvertreter und im Komitee arbeiten<br />
sich – für die Jahre von 1812 bis um 1850 unter an<strong>der</strong>en Karl Attenhofer und Ignaz<br />
Johann He<strong>in</strong>rich Rolle 1716–1785 Lazarus<br />
Georg Friedrich Händel 1685–1759 Samson / Der Messias<br />
Franz Joseph Haydn 1732–1809 <strong>Die</strong> Schöpfung /<br />
<strong>Die</strong> Sieben Worte des Erlösers<br />
Wolfgang Amadeus Mozart 1756–1791 Requiem<br />
Ludwig van Beethoven 1770–1827 C-Dur-Messe / Christus am Ölberg<br />
Friedrich Schnei<strong>der</strong><br />
1786–1853 <strong>Die</strong> Sündflut<br />
Johann Gottfried Schicht 1753–1823 Das Ende des Gerechten<br />
Sigismund Ritter von Neukomm 1778–1858 Christi Grablegung<br />
Ferd<strong>in</strong>and von Hiller<br />
1811–1885 <strong>Die</strong> Zerstörung Jerusalems<br />
Felix Mendelssohn Bartholdy 1809–1847 Elias/Paulus/Lobgesang<br />
Louis Spohr 1784–1859 <strong>Die</strong> letzten D<strong>in</strong>ge /<br />
Des Heilands letzte Stunde<br />
Robert Schumann<br />
1810–1856 Das Paradies und die Peri<br />
Carl Greith<br />
1828–1887 Der Heilige Gallus<br />
<strong>Die</strong> <strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong> von Johann Nepomuk Kuhn<br />
(Opus 20, 1872, II/P/31)<br />
Heim mit. Der positive Schwung, den<br />
das Fest auslöst, wird ausgenützt: <strong>Zürich</strong><br />
erhält 1868 se<strong>in</strong>e <strong>Tonhalle</strong>-Gesellschaft;<br />
<strong>der</strong> schon genannte Friedrich Hegar wird<br />
zum Kapellmeister gewählt. Am Tag <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>weihung des <strong>neue</strong>n Pavillons bei <strong>der</strong><br />
<strong>Tonhalle</strong>, am 23. August, f<strong>in</strong>det das E<strong>in</strong>weihungskonzert<br />
unter Mitwirkung des<br />
<strong>Tonhalle</strong>-Orchesters, des Sängervere<strong>in</strong>s<br />
Harmonie, <strong>der</strong> Männerchöre <strong>Zürich</strong> und<br />
Aussersihl statt.<br />
<strong>Orgel</strong> <strong>der</strong> alten <strong>Tonhalle</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Tonhalle</strong> auf dem Zürcher Sechseläutenplatz<br />
entwickelt sich zu e<strong>in</strong>em musikalischen<br />
Magnet – im Sommer mit eher<br />
unterhaltenden Programmen, im W<strong>in</strong>ter<br />
mit den angesagtesten Werken bekannter<br />
Komponisten. Als 1870 das Deutsche Requiem<br />
von Johannes Brahms – 1868 komponiert!<br />
– erstmals <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> aufgeführt<br />
wird, ist die <strong>Tonhalle</strong> zum Bersten voll.<br />
Und als 1871 Beethovens Missa solemnis<br />
als vollständige(!) Schweizer Erstaufführung<br />
erkl<strong>in</strong>gt, f<strong>in</strong>den sich im Publikum<br />
Foto: Archiv <strong>Orgel</strong>bau Kuhn AG, Männedorf
22 4 21<br />
über e<strong>in</strong>hun<strong>der</strong>t Musiker aus <strong>der</strong> übrigen<br />
Schweiz als Hörer e<strong>in</strong>. 2<br />
Der Erfolg dieser und weiterer Konzerte<br />
br<strong>in</strong>gt es mit sich, dass «nach damaligem<br />
Musikverständnis e<strong>in</strong>e angemessene <strong>Orgel</strong><br />
h<strong>in</strong>ter dem Orchester zu stehen habe,<br />
um die richtige Aufführung <strong>der</strong> grossen<br />
Chorwerke […] zu gewährleisten». 3<br />
Im Jahr 1872 baut Johann Nepomuk Kuhn<br />
se<strong>in</strong> Opus 20 als Zürcher <strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong><br />
(II/P/31).<br />
Das erste Konzert mit <strong>der</strong> <strong>neue</strong>n<br />
<strong>Orgel</strong><br />
Es sche<strong>in</strong>t, dass die <strong>Orgel</strong> am «Charfreitag,<br />
den 29. März 1872, Abends 4 ½<br />
Uhr» ihren ersten E<strong>in</strong>satz hat. Angesagt<br />
ist e<strong>in</strong>e «Grosse Passionsmusik nach dem<br />
Evangelisten Matthäus, komponiert von<br />
J. S. Bach, aufgeführt vom Gemischten<br />
Chor <strong>Zürich</strong> unter Mitwirkung des Männerchors<br />
<strong>Zürich</strong> und e<strong>in</strong>er Anzahl von<br />
Mitglie<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>er Vere<strong>in</strong>e. Solisten s<strong>in</strong>d<br />
Frl. E. Rösl<strong>in</strong>g aus Berl<strong>in</strong>, Frl. K. Holmsen<br />
aus Christiania, Herr H. Vogel aus<br />
München, Herr E. Gura aus Leipzig und<br />
Herr Hartung <strong>in</strong> <strong>Zürich</strong> – <strong>Orgel</strong>: Herr Th.<br />
Kirchner, Flügel: Herr C. Attenhofer; F.<br />
Hegar, Leitung. Zur Nachricht: Es f<strong>in</strong>det<br />
am Ostersonntag zur gleichen Stunde e<strong>in</strong>e<br />
zweite Aufführung statt». 4<br />
<strong>Die</strong> Kritik fällt gut aus: «Wenn man nun<br />
bei näherer Betrachtung des Werkes noch<br />
sehen muss, dass jede e<strong>in</strong>zelne Stimme<br />
für sich e<strong>in</strong> lebendiges Ganzes ist, das<br />
auch se<strong>in</strong>en ganzen Mann for<strong>der</strong>t, so<br />
muss man mit Freude und Achtung auf<br />
die Zürcher Musikkräfte blicken, die im<br />
Stande gewesen s<strong>in</strong>d, mit Sammlung e<strong>in</strong>er<br />
Chormasse (ich schätze sie auf 250<br />
bis 300 Personen), mit Herstellung von<br />
zwei dabei mitwirkenden selbstständigen<br />
Orchestern und mit Herbeiziehung <strong>der</strong><br />
nöthigen Solokräfte das gewaltige Werk<br />
so darzustellen, dass nicht nur <strong>der</strong> Fachmusiker,<br />
son<strong>der</strong>n die ganze Zuhörerwelt<br />
<strong>in</strong> tiefster Seele davon ergriffen wurden.<br />
[…] Neben diesen aus dem Ganzen durch<br />
ihre Stellung und Leistung hervortretenden<br />
[Solist<strong>in</strong>nen und Solisten] müssen<br />
wir mit beson<strong>der</strong>er Achtung des festen<br />
und geschlossenen Auftretens des Chors<br />
gedenken, <strong>der</strong> immer wenn er e<strong>in</strong>trat,<br />
nicht verfehlte, e<strong>in</strong>en sichern und imposanten<br />
E<strong>in</strong>druck zu machen. Aber auch<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentale Theil des Werkes war<br />
würdig vertreten. – An <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Tonhalle</strong><br />
neu aufgestellten <strong>Orgel</strong> sass Hr. Kirchner,<br />
<strong>der</strong> das grosse und wegen se<strong>in</strong>er Ungeschicklichkeit<br />
als Begleiter oft mit Unrecht<br />
gescholtene Instrument so wirksam zu<br />
behandeln wusste, dass das Ganze erst<br />
dadurch rechte Farbe und Weihe erhielt.<br />
Auch das bescheidene Klavieraccompagnement<br />
des Hrn. Attenhofer wollen wir<br />
nicht vergessen zu erwähnen, das so<br />
schön mit den vom Quartett begleiteten<br />
Recitativen des Christus alternirte. – Ja,<br />
und wie schön klang die Quartettbegleitung<br />
<strong>der</strong> Recitative! Wir wissen nicht, ob<br />
wir es bloss unserm günstigen Platze zu<br />
verdanken haben, dass wir alles störende<br />
Mechanische, was dem Klange <strong>der</strong><br />
Saiten<strong>in</strong>strumente oft anhängt, ganz und<br />
gar nicht zu hören bekamen, son<strong>der</strong>n das<br />
ganze Orchester gab uns nur Ton, wenn<br />
auch <strong>in</strong> den verschiedensten Farben, aber<br />
eben auch immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> richtigen Mischung<br />
und Abstufung». 5<br />
Neben <strong>der</strong> künstlerischen gibt es stets auch<br />
die fiskalische Seite. Hierzu ist ebenfalls<br />
alles im Lot: «Aus dem Verwaltungsbericht<br />
<strong>der</strong> <strong>Tonhalle</strong>-Gesellschaft vom 1. Mai<br />
1871 bis 1. Mai 1872, <strong>der</strong>en Vorstand aus<br />
den HH. Prof. K. Keller, Dr. Mousson, Dr.<br />
Schnei<strong>der</strong>, Lehrer Bosshard, Direktor Isler,<br />
E. H<strong>in</strong><strong>der</strong>mann und Zupp<strong>in</strong>ger-Zoll<strong>in</strong>ger<br />
besteht, ergibt sich, dass dieselbe für das<br />
gesellschaftliche und musikalische Leben<br />
<strong>Zürich</strong>s Grosses leistet und sich um die<br />
Hebung <strong>Zürich</strong>s <strong>in</strong> ihrer Weise durch<br />
Vermehrung <strong>der</strong> Annehmlichkeiten desselben<br />
wahrhaft verdient macht. […] Der<br />
Stand <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzen gestattete auch, die<br />
Gagen des Orchesters zu erhöhen. Als<br />
Glanzpunkt <strong>der</strong> letztjährigen Aufführung<br />
wird mit Recht diejenige <strong>der</strong> Bachschen<br />
Matthäus-Passion hervorgehoben; von<br />
ferner Bedeutung ist auch die Erstellung<br />
Friedrich Hegar verabschiedet sich als Kapellmeister vom <strong>Tonhalle</strong>-Orchester; <strong>in</strong>terne Postkarte vom 3.IV.1906<br />
Sammlung Mart<strong>in</strong> Hobi
4 21<br />
23<br />
e<strong>in</strong>er <strong>Orgel</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Tonhalle</strong>, welche aus «Züglete»…,<br />
Beiträgen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wohnerschaft und des <strong>Die</strong> <strong>neue</strong> <strong>Tonhalle</strong> als Konzertsaal vermag<br />
gemischten Chors ermöglicht wurde. allerd<strong>in</strong>gs auf Dauer nicht zu befriedigen. 7<br />
Ausser <strong>der</strong> genannten zweimaligen grossen<br />
Aufführung verzeichnet <strong>der</strong> Bericht am heutigen Standort, e<strong>in</strong> nun von Anfang<br />
Deshalb entsteht 1895 die Neue <strong>Tonhalle</strong><br />
19 Konzerte nebst 39 Unterhaltungskonzerten».<br />
6<br />
mals sehr bekannten Wiener Architekten<br />
an als Konzerthaus geplanter Bau <strong>der</strong> da-<br />
Fellner & Helmer.<br />
Unübersehbare Entwicklungsschritte – und wo bleibt wohl <strong>der</strong> Spieltisch?…<br />
Theodor Kuhn, <strong>der</strong> Sohn von Johann Nepomuk<br />
Kuhn hat die Aufgabe, die <strong>Orgel</strong><br />
vom alten <strong>in</strong> den <strong>neue</strong>n Saal zu transferieren.<br />
Bei dieser Gelegenheit erfolgen<br />
Retouchen an <strong>der</strong> äusseren Ersche<strong>in</strong>ung<br />
und am Werk selbst (neu: II/P/33).<br />
… Vergrösserung und Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
1927 erfolgt e<strong>in</strong>e Mo<strong>der</strong>nisierung unter<br />
wesentlicher Vergrösserung des Instrumentes<br />
(III/P/70), und mit Blick auf die<br />
Landesausstellung 1939 wird die <strong>Orgel</strong><br />
mit elektropneumatischer Setzere<strong>in</strong>richtung<br />
auf den damaligen Stand gebracht.<br />
Foto: Archiv <strong>Orgel</strong>bau Kuhn AG<br />
Geschenk und nochmals «Züglete»<br />
1988 erhält die <strong>Tonhalle</strong> von privater Seite<br />
e<strong>in</strong>e <strong>neue</strong> grosse Konzertorgel nach e<strong>in</strong>em<br />
Konzept von Jean Guillou geschenkt<br />
(IV/P/68). Das <strong>neue</strong> Gehäuse hierzu wird<br />
von Hansrudolf Zulauf <strong>in</strong> Anlehnung an<br />
den alten Prospekt entworfen.<br />
E<strong>in</strong>e Aktion verfehlt zunächst ihren<br />
Zweck, erreicht aber doch, dass die alte<br />
<strong>Orgel</strong> nicht abgebrochen und vernichtet,<br />
son<strong>der</strong>n abgebaut und e<strong>in</strong>gelagert wird.<br />
Das Suchen nach e<strong>in</strong>em <strong>neue</strong>n Standort<br />
verläuft nach e<strong>in</strong>iger Zeit erfolgreich. Für<br />
die 1840 erbaute, klassizistische Zürcher<br />
Neumünsterkirche sucht man e<strong>in</strong>en Ersatz<br />
für die Kuhn-<strong>Orgel</strong> von 1940. Und es stellt<br />
sich heraus, dass die alte <strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong><br />
prospektmässig genau passt...<br />
Foto: Archiv <strong>Orgel</strong>bau Kuhn AG<br />
…er macht sich auf Reisen! Ideal für mich als sechsjähriger Zuhörer auf <strong>der</strong> Empore: Ich er<strong>in</strong>nere<br />
mich noch gut an He<strong>in</strong>rich Funk (19<strong>04</strong>-1977), wie er diese <strong>Orgel</strong> «traktierte»<br />
Neue Konzertsaal-<strong>Orgel</strong><br />
Der aktuelle Auftraggeber wünscht sich<br />
für die Zürcher <strong>Tonhalle</strong> e<strong>in</strong> Instrument,<br />
das für begleitendes und solistisches Spiel<br />
mit dem <strong>Tonhalle</strong>-Orchester, mit Gastorchestern,<br />
Solisten und Chören geeignet<br />
ist. Beim solistischen Spiel soll das klassische<br />
<strong>Orgel</strong>repertoire adäquat dargestellt<br />
werden können. <strong>Die</strong> <strong>Orgel</strong> soll sich zudem<br />
zur Wie<strong>der</strong>gabe des zeitgenössischen<br />
Repertoires eignen und e<strong>in</strong>e künstlerisch
24 4 21<br />
eigenständige Sprache sprechen. Zur Erreichung<br />
dieser Ziele ersche<strong>in</strong>t unter<br />
an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong>e breite klangliche Differenzierung<br />
im Bereich <strong>der</strong> Grundstimmen<br />
als beson<strong>der</strong>s wichtig. Darunter f<strong>in</strong>det<br />
sich mit e<strong>in</strong>er Wienerflöte 8’ auch e<strong>in</strong>e<br />
Hommage an die <strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong> Johann<br />
Nepomuk Kuhns aus dem Jahr 1872. Hervorzuheben<br />
ist auch das Register Flauto<br />
turicensis 8’, e<strong>in</strong>e Eigenentwicklung von<br />
<strong>Orgel</strong>bau Kuhn mit e<strong>in</strong>em 360° umlaufenden<br />
Labium – e<strong>in</strong> Register mit e<strong>in</strong>em<br />
e<strong>in</strong>zigartigen Klang, das erstmals für die<br />
Schweiz erstellt wird. <strong>Die</strong> Zungenregister<br />
werden <strong>in</strong> deutscher, französischer und<br />
englischer Bauart realisiert. Durchschlagende<br />
Zungenregister s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>er Aeol<strong>in</strong>e<br />
16’ und e<strong>in</strong>er Clar<strong>in</strong>ette 8’ vertreten.<br />
Ergänzt wird die Disposition durch Effektregister.<br />
E<strong>in</strong>en Glockenspiel-Effekt<br />
vermitteln die ‹Crotales›-Klangscheiben,<br />
mit denen auch e<strong>in</strong>e selbsttätig ablaufende<br />
Tonfolge def<strong>in</strong>iert werden kann, sozusagen<br />
e<strong>in</strong> frei programmierbarer Zimbelstern.<br />
E<strong>in</strong>e Neuheit ist auch die ‹Nasenflöte›,<br />
e<strong>in</strong> Effektregister, dessen Pfeifenlabien<br />
kaum wahrnehmbar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prospektfront<br />
untergebracht s<strong>in</strong>d. Insgesamt weist das<br />
Instrument 67 kl<strong>in</strong>gende Register, vier<br />
Verlängerungen, sieben Transmissionen<br />
und zwei Effektregister auf.<br />
Der Prospektentwurf orientiert sich am<br />
Restaurierungsziel des <strong>Tonhalle</strong>-Saals, <strong>der</strong><br />
aufwändig an den polychromen Zustand<br />
von 1895 angenähert wird: Entsprechend<br />
wird das Gehäuse historisierend gestaltet<br />
(vergleiche hierzu das Foto auf <strong>der</strong> Frontseite<br />
dieser Ausgabe).<br />
Und schlussendlich …<br />
… erhält das Orchester mehr Raum auf<br />
dem Podium und die ohneh<strong>in</strong> schon<br />
hervorragende Raumakustik wird weiter<br />
optimiert.<br />
E<strong>in</strong>weihung<br />
<strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong><br />
Bitte beachten Sie die dritte Umschlagseite<br />
<strong>in</strong> dieser Ausgabe!<br />
<strong>Orgel</strong>e<strong>in</strong>weihung – Orchesterkonzerte<br />
23. und 24. September, je 19.30 Uhr<br />
Nacht <strong>der</strong> <strong>Orgel</strong><br />
25. September, 17.00 bis 00.15 Uhr<br />
<strong>Die</strong> Vorgänger-<strong>Orgel</strong> mit dem vielbeachteten<br />
Dispositionskonzept von Jean Guillou<br />
hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kathedrale Koper (Slowenien)<br />
ihren <strong>neue</strong>n Aufstellungsort gefunden.<br />
Fussnoten<br />
1 Je e<strong>in</strong> Kastentext auf den Seiten 8 und 9.<br />
2 Siehe hierzu die Rubrik ‹rundblick› <strong>in</strong> dieser<br />
Ausgabe von «Musik und Liturgie», Seite 41.<br />
3 Hier und nachfolgende allgeme<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise <strong>in</strong><br />
Bezug auf die <strong>Tonhalle</strong>-<strong>Orgel</strong>n <strong>in</strong>: Homepage<br />
<strong>Orgel</strong>bau Kuhn, Männedorf; abgerufen am<br />
5.6.<strong>2021</strong>.<br />
4 Zitat aus: Der Bund, Bd. 23, Nr. 86, 27.3.1872.<br />
5 Zitat aus: Der Bund, Bd. 23, Nr. 105,<br />
16.4.1872, Kürzel A. R.<br />
6 Zitat aus: Der Bund, Bd. 23, Nr. 251,<br />
10.9.1872.<br />
7 Alle nachstehenden Angaben s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Homepage<br />
<strong>der</strong> <strong>Orgel</strong>bau Kuhn AG entnommen;<br />
abgerufen am 5.6.<strong>2021</strong>.<br />
Christian Albrecht<br />
ist Mitredaktor <strong>der</strong> Zeitschrift «Musik und<br />
Liturgie». In se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendzeit<br />
besuchte er oftmals Konzerte <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Zürcher <strong>Tonhalle</strong>; sie haben wesentlich<br />
zu se<strong>in</strong>er beruflichen Ausrichtung als<br />
Musiker beigetragen.<br />
Fotos: <strong>Orgel</strong>bau Kuhn AG