Das Magazin Nr. 4
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Engelchor<br />
und<br />
Teufelssprünge<br />
Beatrice Rana spielt Chopin, Debussy und Strawinsky<br />
Eines haben alle Kompositionen in Beatrice<br />
Ranas Programm gemeinsam: Sie verlangen<br />
höchste Virtuosität, ohne diese jedoch<br />
zum Selbstzweck zu erheben. Offenbar hat<br />
die junge Italienerin, die als Tochter eines<br />
Pianisten-Ehepaars aufwuchs, ein Faible für<br />
technisch Schwieriges – unter ihren Händen<br />
klingt es dann allerdings spielerisch<br />
leicht. Zunächst also sämtliche vier Scherzi<br />
von Frédéric Chopin. Den Tempobezeichnungen<br />
nach sind sie rasend schnell vorzutragen,<br />
doch nicht nur darin liegt die<br />
Konzerttermin<br />
Montag, 13. Dezember 2021, 20:00<br />
Beatrice Rana Klavier<br />
Frédéric Chopin Scherzo h-Moll op. 20<br />
Scherzo b-Moll / Des-Dur op. 31<br />
Scherzo cis-Moll op. 39<br />
Scherzo E-Dur op. 54<br />
Claude Debussy Douze Études, Livre 1 L 136<br />
Igor Strawinsky Trois Mouvements de Pétrouchka<br />
Der AboPlus-Vorverkauf läuft bis zum 1. November,<br />
der allgemeine Vorverkauf startet<br />
am 02.11.2021, 12:00.<br />
pianistische Herausforderung. Jenseits<br />
aller Fingerfertigkeit gilt es, den musikalischen<br />
Sinn dieser komplexen Strukturen<br />
freizulegen. <strong>Das</strong> erste Scherzo, das wegen<br />
der flammenartig gezackten Bewegung<br />
der Rahmenteile den populären Titel »Le<br />
Banquet infernal« (das Höllenbankett) erhielt,<br />
das dritte »mit dem Engel-Chor« (dem<br />
arpeggien-glitzernden Choral im Mittelabschnitt),<br />
aber auch das namenlose, doch<br />
besonders eingängige zweite und das fast<br />
1000 Takte lange vierte – sie alle folgen nur<br />
noch oberflächlich der dreiteiligen Anlage<br />
des klassischen Scherzo. Eher erinnern sie<br />
an die freien Formen der Ballade, Rhapsodie<br />
oder Fantasie: Sie erzählen Geschichten<br />
voller unberechenbarer Wendungen.<br />
Danach Claude Debussy – wie vor ihm<br />
Chopin, Schumann oder Liszt schrieb auch<br />
er Etüden, spieltechnische Studien, die musikalisch<br />
so hochwertig sind, dass sie sich<br />
im Konzertrepertoire etabliert haben. Darüber<br />
hinaus dienen sie natürlich bestimmten<br />
Übungszwecken. So ist etwa die zweite<br />
Etüde dem Spiel in Terzen gewidmet und<br />
die sechste trägt den Titel »Für die acht<br />
Finger«, womit der Verzicht auf die beiden<br />
Daumen gemeint ist. Ein ganz besonderer<br />
Fall begegnet uns jedoch in der Anfangsnummer:<br />
Sie ist nicht nur »Für die fünf Finger«<br />
bestimmt, sondern darüber hinaus<br />
Carl Czerny gewidmet, einem Beethoven-<br />
Schüler, der als Pädagoge großen Erfolg<br />
hatte. Seine Etüden, gesammelt etwa in der<br />
»Kunst der Fingerfertigkeit« (op. 740!), versetzen<br />
bis heute die Klavierschüler in Angst<br />
und Schrecken. Debussy beginnt sein<br />
Stück mit einer Czerny-Parodie, nämlich einem<br />
mechanisch über fünf Finger auf- und<br />
abrollenden Tonleiter-Ausschnitt, der sich<br />
allmählich beschleunigt und hartnäckig<br />
von einem »falschen« Ton kontrapunktiert<br />
wird. Weitere Fünftonfiguren, aber auch<br />
zunehmend fantasievolle Störungen treten<br />
hinzu, bis aus der stupiden Fingerübung ein<br />
harmonisch farbiges, rhythmisch abwechslungsreiches,<br />
fast schon jazzig angehauchtes<br />
Stück geworden ist.<br />
Zum Schluss Igor Strawinskys »Trois mouvements<br />
de Pétrouchka« – sollten die<br />
Schwierigkeiten bei Chopin und Debussy<br />
noch eine Steigerung zulassen, dann in<br />
diesen halsbrecherischen Stücken. Ihr Ursprung<br />
lag in einem konzertanten Werk<br />
für Klavier und Orchester, das der Komponist<br />
mit einem poetischen Bild verband:<br />
Ihm schwebte eine Gliederpuppe vor, »die<br />
plötzlich Leben gewinnt und durch das<br />
teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die<br />
Geduld des Orchesters erschöpft« – so<br />
Strawinsky in seiner Autobiographie. Er<br />
gab diesem Stück den Namen des russischen<br />
Jahrmarkt-Clowns Petruschka und<br />
begeisterte den Ballett-Impresario Sergej<br />
Diaghilew so von seiner Idee, dass dieser<br />
eine ganze »Petruschka«-Ballettmusik bei<br />
ihm in Auftrag gab. Sie wurde 1911 in Paris<br />
sehr erfolgreich uraufgeführt. Zehn Jahre<br />
später schrieb Strawinsky für seinen<br />
Freund Arthur Rubinstein eine Klavierfassung<br />
von drei Stücken aus dem Ballett. Da<br />
er es ursprünglich pianistisch angelegt hatte,<br />
waren dazu nicht einmal große Veränderungen<br />
nötig; Strawinsky wählte einfach<br />
Passagen aus, in denen das Klavier führend<br />
war – und steigerte den ohnehin hohen virtuosen<br />
Anspruch noch einmal erheblich.<br />
Jürgen Ostmann<br />
46 <strong>Das</strong> <strong>Magazin</strong>