Handbuch Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP) - AGKB
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1. Imagination und <strong>Psychotherapie</strong> – eine Bestandsaufnahme 21<br />
Die <strong>Psychotherapie</strong> ist in jenem kulturellen Raum zu Hause, von dem eingangs<br />
die Rede war. Hier gründet ihre geisteswissenschaftliche und poetische<br />
Dimension mit den daraus entspringenden hermeneutischen Traditionen. Darüber<br />
hinaus manifestieren sich die «poetisch» zu nennenden Qualitäten der<br />
<strong>Psychotherapie</strong> aber auch in einer konkreten Weise, die der ursprünglichen<br />
Bedeutung des griechischen Wortes (poíesis = «das Machen, das Verfertigen;<br />
das Dichten, die Dichtkunst» [Duden 2001]) nahekommen. Denn die <strong>Psychotherapie</strong><br />
hat neben ihrer ästhetischen, Sinn schaffenden Seite auch noch eine<br />
ganz im Konkreten wirkende schöpferische Seite, die ihr Korrelat in der Funktionsweise<br />
des Gehirns hat.<br />
Unser Gehirn ist unablässig neuronal aktiv und baut dabei geistige Inhalte<br />
auf, die im Zustand der Abschirmung äußerer Reize und einer damit einhergehenden<br />
Innenorientierung zu illusorischen Wahrnehmungen führen. Die<br />
imaginative Eigenaktivität des Gehirns lässt sich durch ein «einfaches Experiment»<br />
nachvollziehen (Frank 1914). Ohne sonstige Instruktionen werden die<br />
Probanden dazu angehalten, für eine bestimmte Weile die Augen zu schließen.<br />
In der Regel kommt es nun ganz von selbst zu einer zeitvergessenden Haltung<br />
der Innenschau, bei der sich die unterschiedlichsten Wahrnehmungen einstellen.<br />
Das Spektrum reicht von Farben und Formen bis hin zu ganzen Szenen,<br />
soweit es sich um optische Phänomene handelt. Aber auch andere Sinne und<br />
körperliche Empfindungen können auf dem inneren Wahrnehmungsschirm<br />
zur Darstellung kommen. All dies geschieht wohlgemerkt ohne ein eigenwillentliches<br />
oder therapeutisches Dazutun. Unter Bedingungen regressiverer<br />
Art reichert sich das innere Erleben um weitere Qualitäten an. Silberer, einer<br />
der Pioniere in der subtilen Erforschung imaginativer Phänomene, untersuchte<br />
eine Reihe von «Schwellenzuständen», die sich durch ein vermindertes<br />
Wachbewusstsein und eine erhöhte Regressionsbereitschaft auszeichnen, im<br />
akribisch dokumentierten Selbstversuch und beschrieb einige Mechanismen<br />
der Symbolbildung gleichsam in statu nascendi (Silberer 1909, 1912 a, 1912 b).<br />
Dabei fand er auch heraus, dass die gedanklichen und bildhaften Vorstellungen<br />
weitgehend von Zuständen im Körper beeinflusst werden.<br />
Die körperlichen Grundlagen imaginativer Phänomene reichen von vegetativen<br />
und optischen Einspielungen über emotionale Gestimmtheiten bis hin<br />
zu präsymbolischen motivationalen Spannungsbögen. Beobachtet man einen<br />
Säugling von neun Monaten bei seinen Krabbelbemühungen auf dem Weg zu<br />
einem Turm aus übereinander gestapelten Klötzchen, dann werden in dieser<br />
kleinen Szene bereits grundlegende Elemente der Vorstellungskraft deutlich<br />
(Abb. 1-1). Der kleine Kerl wird zwar durchaus eine zielbezogene Vision vor<br />
Augen haben, aber keine, die er in Worte zu fassen vermag. Denn er verfügt<br />
über keine Sprache und kein sprachgebundenes Gedächtnis für das, was er<br />
bereits bewirkte und nun aufs Neue bewirken will. Aber in seinem prozedu-<br />
© 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern<br />
Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.<br />
Aus: Harald Ullmann, Eberhard Wilke (Hrsg.); <strong>Handbuch</strong> <strong>Katathym</strong> <strong>Imaginative</strong> <strong>Psychotherapie</strong>. 1. Auflage.