Differenzierte Textarbeit zum Thema Berufe - Zentrum für ...
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keine Stelle frei. Wenn man keine Qualifikation hat, wird es immer schwerer, je älter man<br />
wird. „Wir haben <strong>für</strong> Sie keine Arbeit“, sagten sie am Arbeitsamt, „aber wir sind bereit, Sie<br />
im zweiten Bildungsweg als Elektromechanikerin auszubilden.“<br />
Am Anfang habe ich das wie einen schlechten Witz empfunden. Ich als Frau sollte<br />
imstande sein, einen „Männerberuf“ zu erlernen. Ich als 46jährige, die seit der Schulzeit<br />
kaum dazugekommen war, die Nase in ein Buch zu stecken, sollte mich durch<br />
Fachliteratur durchbeißen. Lächerlich! Aber im Arbeitsamt haben sie mir so lange<br />
zugeredet, bis ich gesagt habe: „Na ja, ich glaube zwar nicht, dass ich es schaffe, aber<br />
probieren kann man es.“<br />
Im Kurs waren am Anfang 46 Leute, darunter nur zwei Frauen. Bis zur<br />
Abschlussprüfung haben es nur 26 durchgehalten. In zehn Monaten mussten wir praktisch<br />
und theoretisch alles lernen, wozu ein Lehrling dreieinhalb Jahre braucht.<br />
Zehn Monate habe ich gebüffelt wie verrückt. Oft bin ich noch um ein Uhr früh über den<br />
Büchern gesessen. Der Haushalt ist verschlampt, von einem Privatleben war keine Rede<br />
mehr, ernährt habe ich mich aus der Tiefkühltruhe. Und bis zuletzt habe ich nicht geglaubt,<br />
dass ich es schaffe. Aber ich habe zwei Menschen gehabt, die mir geholfen haben:<br />
Die eine war Betriebsrätin, die ich kennengelernt hatte, wie ich in der Emaillierfabrik<br />
gearbeitet hatte. Ein feiner Kerl. Zu ihr konnte ich mit allem kommen. Oft war sie in<br />
unserer Abteilung und hat uns bei der Arbeit geholfen, wir waren ja im Akkord. Heute ist<br />
sie Staatssekretärin. Sie hat sich um mich gekümmert, wie ich zu lernen begonnen habe,<br />
und wenn ich verzweifelt war, ist sie zu mir gekommen und hat mir so lange zugeredet, bis<br />
ich mich wieder über die Bücher gesetzt habe.<br />
Der zweite Mensch, der mir geholfen hat, war ein alter Meister, ebenfalls aus einem<br />
früheren Betrieb. Ein unangenehmer, arroganter Kerl. Wir wohnen im selben Viertel, und<br />
ich kann es nicht vermeiden, ihn manchmal auf der Straße zu treffen und mit ihm ein paar<br />
Worte zu wechseln.<br />
Wie er gehört hat, dass ich im zweiten Bildungsweg Elektromechanikerin werde, hat er<br />
mich bloß ausgelacht. „Das bringst du nie zusammen, das ist nichts <strong>für</strong> eine Frau.“ Und<br />
sooft ich ihn getroffen habe, hat er sich grinsend erkundigt, ob ich es noch nicht<br />
aufgegeben habe. Da habe ich jedes Mal eine irrsinnige Wut bekommen. „Dem werde ich<br />
es zeigen“, habe ich mir versprochen. Und ich habe es ihm gezeigt!<br />
Jetzt bin ich Elektromechanikerin, und <strong>zum</strong> ersten Mal in meinem Leben bin ich stolz<br />
auf meine Arbeit. Früher habe ich mir immer ausgerechnet, wie viele Jahre ich noch bis<br />
zur Frühpension habe, aber nun glaube ich, dass ich im Beruf bleiben werde solange sie<br />
mich behalten. Meine Tochter ist stolz auf mich. Ich habe sie etwas Ordentliches lernen<br />
lassen, auf die Gefahr hin, dass sie auf mich herunterschaut, weil ich ja nur Hilfsarbeiterin<br />
war. Aber die Gefahr ist jetzt vorbei. Abends, wenn ich heimkomme, falle ich nicht gleich<br />
vor Müdigkeit ins Bett. Ich lese. Vor allem Bücher über Fernmeldetechnik. Ich hätte mir nie<br />
träumen lassen, dass Dinge, die mit meinem Beruf zusammenhängen, so interessant sein<br />
können!<br />
Es ist bloß schade, dass ich erst im späteren Alter die Gelegenheit bekommen habe,<br />
ein volleres Leben zu führen. Und dass die jungen Leute, vor allem die Mädchen, heute<br />
<strong>Berufe</strong> erlernen können, die sie nicht fertigmachen, sondern befriedigen – das freut mich.<br />
Aber ich bin auch ein bisschen neidig.<br />
Quelle: „Fünf Tage hat die Woche, oder die kleine Freiheit“,<br />
E. Eder, Jugend und Volk, 1987