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Lebenskultur - Das Magazin - Ausgabe April 2022

Das Magazin „Lebenskultur“ wirft in jeder Ausgabe zu einem bestimmten, weit gefassten Thema einen tiefgehenden Blick auf bemerkenswerte Geschehnisse und Menschen mit Bezug zur Stadt, zur Region und darüber hinaus. Wechselnde lokale Autoren machen sich daran, unser Leben und unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen in Form von Portraits, Berichten, literarischen Texten, Essays oder ähnlichem zu schildern. Selbstverständlich dürfen Fotos nicht fehlen. Derart entsteht eine ganz spezielle Chronik, in der sich die aktuelle Stadtgeschichte mit Wechselwirkungen bis zum Weltgeschehen hin wiederfindet.

Das Magazin „Lebenskultur“ wirft in jeder Ausgabe zu einem bestimmten, weit gefassten Thema einen tiefgehenden Blick auf bemerkenswerte Geschehnisse und Menschen mit Bezug zur Stadt, zur Region und darüber hinaus. Wechselnde lokale Autoren machen sich daran, unser Leben und unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen in Form von Portraits, Berichten, literarischen Texten, Essays oder ähnlichem zu schildern. Selbstverständlich dürfen Fotos nicht fehlen. Derart entsteht eine ganz spezielle Chronik, in der sich die aktuelle Stadtgeschichte mit Wechselwirkungen bis zum Weltgeschehen hin wiederfindet.

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Die Hexen meiner Kindheit<br />

„Morgens früh um sechs<br />

kommt die kleine Hex‘.<br />

Morgens früh um sieb‘n<br />

schabt sie gelbe Rüb‘n.<br />

Morgens früh um acht<br />

wird Kaffee gemacht.<br />

Morgens früh um neun<br />

geht sie in die Scheun‘.<br />

Morgens früh um zehn<br />

holt sie Holz und Spän‘.<br />

Feuert an um elf,<br />

kocht dann bis um zwölf.<br />

Fröschebein und Krebs und Fisch,<br />

hurtig Kinder, kommt zu Tisch!“<br />

Sie zu fragen, ob Sie dieses Gedicht kennen,<br />

ist gewiss überflüssig. Ein Blick ins Internet<br />

zeigt, dass es sich bis heute bei vielen<br />

Kindern großer Beliebtheit erfreut. Ich<br />

lernte „Die kleine Hexe“ in der ersten Klasse<br />

Volksschule kennen und lieben und sie blieb<br />

mir in bester Erinnerung. Doch schon vorher<br />

begegneten mir andere, nämlich böse<br />

Hexen in den Märchen. Meine Mutter erzählte<br />

mir diese in einer einfühlsamen Art und<br />

Weise, sodass bei mir nicht die Angst vor<br />

dem Bösen im Vordergrund stand sondern<br />

der Sieg des Guten.<br />

Dank der Brüder Jacob (1785-1883) und<br />

Wilhelm (1786-1859) Grimm sind uns über<br />

200 Märchen und Legenden in ihrer berühmten<br />

Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“<br />

erhalten geblieben; in einigen spielen<br />

natürlich auch Hexen eine Rolle. Die<br />

Berühmteste von ihnen ist wohl die böse<br />

Hexe bei „Hänsel und Gretel“. Ihre Illustrationen<br />

aus den „Kinder- und Hausmärchen“<br />

sind bis heute populär: eine alte, bucklige<br />

Frau mit großer, krummer Nase und einer<br />

Warze darauf; natürlich dürfen auch die<br />

schwarze Katze und der Rabe nicht fehlen.<br />

„Hu, hu, da schaut eine alte Hexe raus“ -<br />

diese Zeile aus dem Kinderlied „Hänsel und<br />

Gretel“ gehörte schon vor der Schulzeit zu<br />

meinen Liedern, ohne dabei an Kannibalismus<br />

gedacht zu haben. <strong>Das</strong> war mir ganz<br />

und gar fremd.<br />

Mein erstes Faschingskostüm – ich war damals<br />

sieben Jahre alt – war nicht Cowboy<br />

oder Indianer sondern Hexe. Es war mein<br />

Wunsch, hatte mir viel Spaß gemacht und ich<br />

wurde von den anderen Kindern auch nicht<br />

gejagt. Ich wusste damals auch nichts von<br />

einer „Hexenverfolgung“ in früheren Zeiten.<br />

Kurze Zeit darauf bekam ich von meinen Eltern<br />

zwei lustige Bücher des deutschsprachigen<br />

Kinderbuchautors Otfried Preußler<br />

VON RAINER MATTHÄUS PARZMAIR<br />

geschenkt: „Räuber Hotzenplotz“ und „Die<br />

kleine Hexe“. Ich las beide mehrmals mit<br />

Begeisterung. Gerade im zweiten Buch von<br />

Preußler aus dem Jahr 1957 stieß ich zum<br />

ersten Mal auf eine Hexe, die gut werden<br />

wollte. Der im „jugendlichen“ Alter von<br />

127 Jahren stehenden kleinen Hexe mit<br />

ihrem Raben Abraxas gelang es, die bösen<br />

Hexen zu besiegen. Der Blocksberg, der in<br />

der Erzählung eine wichtige Rolle spielt,<br />

ist mit dem niedersächsischen Brocken im<br />

Harz ident. Im 16. Jahrhundert wird dieser<br />

Berg als Versammlungsort der Hexen in der<br />

Walpurgisnacht genannt. Heutzutage feiern<br />

viele Touristen, aber auch solche, die<br />

meinen, Hexen zu sein, am Blocksberg vom<br />

30. <strong>April</strong> auf den 1. Mai die Walpurgisnacht.<br />

<strong>Das</strong> Datum ist auch verantwortlich, dass es<br />

von mir in dieser <strong>April</strong>-<strong>Ausgabe</strong> den ersten<br />

Teil zum Thema „Hexen“ gibt. Gestatten<br />

Sie mir an dieser Stelle noch eine kleine<br />

Anmerkung: Nicht von ungefähr trägt das<br />

Mädchen Bibi, eine hilfsbereite Hexe, auch<br />

den Namen „Blocksberg“.<br />

Zum Glück hatte meine Familie bereits in<br />

den 1960er-Jahren einen Fernseher. Warum<br />

ich von Glück spreche? Ich durfte eine<br />

liebe Hexe und einen guten Geist kennenlernen.<br />

Es dreht sich dabei um die US-amerikanischen<br />

Fernsehserien „Verliebt in eine<br />

Hexe“ und „Bezaubernde Jeannie“. Da das<br />

damalige Kinderprogramm im ORF nicht besonders<br />

reichhaltig war, zählten die beiden<br />

Serien zu meinen „Highlights“. Die Schauspielerin<br />

Elizabeth Montgomery verkörperte<br />

die liebenswerte Hexe „Samantha“, deren<br />

Ehemann Darrin nicht magisch begabt war.<br />

<strong>Das</strong> Besondere an Samantha war, dass sie<br />

zum Hexen keinen Zauberstab brauchte.<br />

Sie brauchte nur mit ihrer Nase zu wackeln<br />

und schon erfüllten sich ihre Wünsche. <strong>Das</strong><br />

herrliche Nasen-Wackeln der Hexe prägte<br />

sich fest in mein Gedächtnis ein. Die bezaubernde<br />

Jeannie in der anderen Serie war<br />

ein orientalischer, persisch sprechender,<br />

guter Geist. Nach 2000 Jahren wurde sie<br />

von ihrem späteren Ehemann Tony aus einer<br />

Flasche befreit. <strong>Das</strong> unvergessliche Markenzeichen<br />

von Jeannie beim Zaubern war das<br />

Verschränken der Arme und das Blinzeln mit<br />

den Augen. Die Rolle des Flaschengeistes<br />

spielte die „bezaubernde“ Schauspielerin<br />

Barbara Eden, die voriges Jahr ihr neunzigstes<br />

Lebensjahr vollendete.<br />

Gute und böse Hexen begleiteten mich in<br />

meiner Kindheit, ohne negative Auswirkungen<br />

auf meine Psyche zu nehmen. Es gab<br />

niemanden, der mir mit diesen fiktiven Figuren<br />

Angst machen wollte, und schon früh<br />

konnte ich sie von der Wirklichkeit trennen.<br />

Heute werden immer wieder Stimmen laut,<br />

die meinen, dass die brutalen Märchen für<br />

Kinder unzumutbar sind. Im Vorjahr fand<br />

ich zu diesem Thema einen interessanten<br />

Zeitungsartikel der Kinderpsychologin Dagmar<br />

Zahradnik aus Wien; er lautet: „Sind<br />

Märchen rückständig oder zeitlose Klassiker?“<br />

Unter anderem hielt die Psychologin<br />

folgendes fest: „Grausamkeit, die Erwachsene<br />

in die Märchengeschichten interpretieren,<br />

nehmen Kinder nicht so ausgeprägt<br />

wahr. Die bildliche Vorstellung der in den<br />

Ofen geschubsten und verbrennenden Hexe<br />

ist objektiv gesehen durchaus ein grausamer<br />

Akt. Jedoch empfinden Kinder dies im<br />

situativen Kontext der Geschichte eher als<br />

gerecht.“<br />

Im nächsten „<strong>Magazin</strong>“ werde ich die Märchen-Hexen<br />

zurücklassen und mich auf<br />

Spurensuche nach den Hexen der Vergangenheit<br />

und Gegenwart begeben. Vielleicht<br />

haben Sie inzwischen einmal Zeit, über Ihre<br />

eigenen Hexenerfahrungen der Kindertage<br />

nachzudenken.<br />

8 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH

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