Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Liebes Publikum!
»Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich
Musik höre, fehlt mir erst recht etwas«, schrieb der Dichter
und Musikliebhaber Robert Walser. Er gab keine Auskunft
darüber, woher dieses Gefühl des Mangels kommen möge,
und er würde auch »nie darnach forschen wollen«. Das war
eine listige und kluge Entscheidung, und man kann sie für
sich selbst in Betracht ziehen hinsichtlich der direkten Berührung
mit allen Künsten.
Müssen wir wissen, warum uns auf der Bühne ein Lied, ein
Tanz, eine Geste, ein Satz traurig machen? Warum wir das
Fehlen von etwas empfinden, wenn wir die Nähe der Künste
suchen? Wir suchen diese Nähe ja freiwillig, und wenn wir
ehrlich sind, ist uns Walsers Mangelerfahrung wohl bekannt.
Das hieße also: Wir suchen wiederholt und bewusst nach
einer Leerstelle, nach etwas, was nicht da ist, nach etwas,
was womöglich verloren gegangen ist. Und: Wir möchten gar
nicht herausfinden und definieren können, was uns da abhandengekommen
ist.
Es ist ein großer und ansteckender und vielleicht unheimlicher
Gedanke, dass jede Reise in die Sphäre der Künste
verbunden ist mit der Einsicht in das Nichtkennen, das
Nichtwissen – und der gleichzeitigen Bereitschaft, dies so
anzunehmen und auszuhalten. Walser gibt uns diesen Gedanken
sozusagen linkshändig und leichtfüßig ein; er spricht
von einer »sanften Traurigkeit« im Zusammenhang mit sei ner
Erfahrung des Mangels beim Anhören von Musik. Das klingt
nicht nach Katastrophe, vielmehr hat es etwas zutiefst
Kindliches, beinahe Zärtliches. Harmlos ist es aber nicht.
2
Es hat Gewicht. Hier wird eine Grenze berührt. Walser, dessen
Sprache selbst hochmusikalisch ist, bewegte sich immer am
Rand zum Unsagbaren.
Die Coronapandemie hat uns die Möglichkeit genommen,
über haupt gemeinsam Erfahrungen zu machen, mit Zu sammenkünften,
mit Austausch, mit der für uns alle so notwendigen
Nähe. Wir haben uns vereinzelt. Wir mussten auseinandergehen.
Das ist eine ganz andere Kategorie des Mangelgefühls.
Sie hat nichts zu tun mit Walsers Feststellung, dass die Magie
der Kunst stets eine zutiefst menschliche Perspektive aufzeigt:
Wenn wir etwas lieben, fehlt uns etwas. Die Erfülltheit
erzeugt erst die Empfindung, dass es noch etwas anderes
geben muss, dass es keine Sattheit geben kann, dass man
hungrig bleibt und weitersuchen muss. Allein schon die einmütige
Wahrnehmung dieses kostbaren Phänomens kann
uns einander näherbringen, uns zu Verwandten machen, uns
eine tiefe Komplizenschaft spüren lassen.
Die Gleichzeitigkeit eines Gefühls individueller Kraft und Verletzlichkeit,
die der Kunstgenuss ermöglicht, können wir nur
erleben, wenn wir uns darüber austauschen, wenn wir eine
gemeinsame Erfahrung machen, die Neugierde behalten, von
anderen zu hören, was sie erleben und wonach sie suchen.
Es ist Zeit für Zusammenkünfte. Für Kunst. Für Dialog.
Wir freuen uns sehr auf Sie!
Ihre Barbara Frey
und das Ruhrtriennale-Team
3
Dear audience,
»I feel something’s missing when I don’t hear music – then
when I hear music, I really do miss something«, wrote the poet
and music lover Robert Walser. He did not provide any details
about where this sense of deficit might come from and also
said he would »never want to go looking for it«. This was a
cunning and wise decision, and one we might consider ourselves
when it comes to direct contact with all forms of art.
Do we have to know why a song, a dance, a gesture, a line
on stage makes us sad? Why we feel something is missing
when we attempt to experience the arts? We seek out these
experiences voluntarily and, if we’re honest, Walser’s sense of
deficit is a familiar one. Which means: we repeatedly and consciously
go looking for a void, for something that isn’t there,
for something that has quite possibly been lost. And we have
no desire to find out or define what it is that we’ve lost.
It is a big, infectious and possibly unsettling idea that every
journey into the realm of the arts comes with a glimpse of
this unfamiliarity, this unknowing – and a willingness at the
same time to accept and put up with this. Walser presents
this idea to us left-handed, as it were, and lightly: he speaks
of a »gentle sadness« associated with his sense of deficit
when listening to music. This doesn’t sound like it’s a disaster:
instead, it has a deeply child-like, almost tender quality.
Though that does not make it harmless. It has weight. It comes
up against a boundary. Walser, whose language is itself highly
musical, always operated on the fringes of the unsayable.
4
The coronavirus pandemic has taken away our chance to
have collective experiences in gatherings, exchanges and the
intimacy that is so important to us all. We have become isolated.
We have had to keep apart.
This is a sense of deficit of an entirely different order.
It has nothing to do with Walser’s observation that the magic
of art always reveals a deeply human perspective: if we love
something, we feel the lack of something. It is fulfilment that
gives rise to the feeling that there has to be something else,
that there cannot be any satisfaction, that we are still hungry
and have to keep looking for more. Only the unanimous recognition
of this precious phenomenon can bring us closer
together, give us something in common, allow us to feel a
deep sense of complicity.
The simultaneous feeling of individual strength and vulnerability
that art can give us is something we can only experience when
we exchange our feelings about it, when we have a shared
experience and remain curious to hear from others about what
they have experienced and what they are looking for.
It is time for gatherings. For art. For dialogue.
We are very much looking forward to you being here!
Yours,
Barbara Frey and the Ruhrtriennale team
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PROGRAMM
MAGAZIN
Musiktheater
32 BÄHLAMMS FEST
Olga Neuwirth / Elfriede Jelinek / Leonora Carrington
52 D·I·E
Michael Wertmüller / Albert Oehlen / Rainald Goetz
149 Lämmerseelen
Von Merve Emre
193 Überbietung, Eigensinn,
Ungesamtkunstwerk
Von Diedrich Diederichsen
Schauspiel
24 DER UNTERGANG DES HAUSES USHER
Edgar Allan Poe / Barbara Frey
34 L’ÉTANG / DER TEICH
Robert Walser / Gisèle Vienne
50 DIE TOTEN
James Joyce / Barbara Frey
64 LOS AÑOS / DIE JAHRE
Mariano Pensotti / Grupo Marea
68 LA LUNA EN EL AMAZONAS / DER MOND IM AMAZONAS
Mapa Teatro
144 Es schürft zurück
Barbara Frey und Uta C. Schmidt –
eine Begegnung
158 An die verfluchte Rolle,
die wir spielen: Gisèle Vienne
Von Elsa Dorlin
204 Mariano Pensotti
Ein Porträt. Von Stefanie Carp
183 Die Welt der Lebewesen ist nicht
anthropozentrisch
Arbeitsnotizen von Mapa Teatro
Tanz / Performance
20 THE LIFE WORK
Mette Ingvartsen
36 A DIVINE COMEDY
Florentina Holzinger
44 DANZA Y FRONTERA / TANZ UND GRENZE
ENDANGERED HUMAN MOVEMENTS VOL. IV
Amanda Piña
174 Mette Ingvartsen:
Lebhafte Materie – Vibrant Matter
Von Marietta Piekenbrock
170 E caddi come corpo morto cade –
Ich fiel, wie ein toter Körper fällt
Vier Fragen von Sara Abbasi
an Florentina Holzinger
187 Erinnerung, die durch den Körper geht
Von Amanda Piña
60 CASCADE
Meg Stuart / Damaged Goods / Philippe Quesne /
Brendan Dougherty
190 Den Blick öffnen auf das,
was jenseits der Gegenwart liegt
Gilles Amalvi im Gespräch mit
Meg Stuart über CASCADE
PROGRAMM
MAGAZIN
Konzert
12 KONZERT IM MORGENGRAUEN
Chris Watson / Maurice Ravel / Salvatore Sciarrino / Virginie Déjos
195 Klang, der Räume aufschließt
Von Barbara Eckle
40 STIL IST GEWALTTAT
Ensemble Modern / Patricia Alessandrini / Luciano Berio /
Claude Debussy / Arnold Schönberg
46 VISIONARY ARCHITECTS
Bochumer Symphoniker / Tung-Chieh Chuang /
Edgar Varèse / Iannis Xenakis / Anton Bruckner
54 THE HISTORY OF PHOTOGRAPHY IN SOUND
Michael Finnissy / Ian Pace
58 ELIAS
Felix Mendelssohn Bartholdy / Florian Helgath / Chorwerk Ruhr /
Concerto Köln
62 POINT LINE AREA. EIN PERKUSSIONSRITUAL
Fritz Hauser
70 GROSSE STIMMUNG
Edu Haubensak
200 Jede:r hat einen eigenen Sound
Johanna Danhauser im Gespräch
mit den Schlagzeugern Fritz Hauser
und Lucas Niggli
74 FUMEUX FUME
Huelgas Ensemble / Paul Van Nevel
76 NACHTRAUM
Klangforum Wien / Daisy Press / Bas Wiegers
38 MASCHINENHAUSMUSIK IN DER GEBLÄSEHALLE
Full Blast / Svetlana Maraš & Peter Evans /
Alla Zagaykevych & Yana Shlyabanska / Fritz Hauser
48 POPKONZERTE
Lala &ce / Kaleo Sansaa / Perera Elsewhere
PROGRAMM
MAGAZIN
Junge Triennale
66 THELONIOUS
Benjamin Vandewalle / Zonzo Compagnie
Konzert für Kinder ab 6 Jahren
72 UNTERSCHEIDET EUCH! EIN GESELLSCHAFTSSPIEL
Turbo Pascal
Digitale Performance für Schulklassen ab 10 Jahren
56 PAISAJES PARA NO COLOREAR /
NICHT AUSZUMALENDE LANDSCHAFTEN
Marco Layera / Teatro La Re-Sentida
163 Als Frau geboren zu sein,
bedeutet Widerstand
Eine Interviewcollage
78 TEENS IN THE HOUSE. EINE JUNGE RESIDENZ
Junge Triennale
Dialog / Literatur
42 DIE NATUR DES MENSCHEN. LITERATUR UND DIALOG
Lukas Bärfuss / Thomas Macho / Corinna Harfouch / Hannes
Gwisdek / Mi-Yong Becker / Fritzi Haberlandt / Iñigo Giner Miranda /
Ernst Ulrich von Weizsäcker / Anja Herden / Carolina Bigge
178 Drei Raben
Von Lukas Bärfuss
83 WIE HÄLTST DU ES MIT DEM WACHSTUM?
Podium gemeinsam mit der E.ON Stiftung
84 RUHRHALTIGKEIT
Installation / Ausstellung
30 APARICIÓN / ERSCHEINUNG
Regina José Galindo
26 21 — ERINNERUNGEN ANS ERWACHSENWERDEN
(VOLLSTÄNDIGE EDITION)
Mats Staub
154 Inmitten des Ganzen
Gedichte von Regina José Galindo
208 Das hörende Gesicht
Judith Gerstenberg im Gespräch
mit Mats Staub
28 JETZT & JETZT
Mats Staub
22 ABSORPTION
Asad Raza
80 PAPPELWALDKANTINE / FESTIVALBIBLIOTHEK 2021 /
WERKE FÜR EIN WERKSGLOCKENSPIEL
PROGRAMM
MAGAZIN
Wege
16 ALTES ZU NEUEM LEBEN ERWECKEN
Stefan Schneider
140 Begegnungskanten
Von Aljoscha Begrich
17 DURCHSAGE
Peng! Kollektiv
17 ACHTMAL BLINZELN
Anna Kpok
18 NATURBÜRO 1—7
loekenfranke
19 ZWISCHENTAGE
RUHRORTER
19 INSIDE OUT
tehran re:public
BILDSTRECKE
85 GEISTER
Tobias Zielony
135 In der Gegend
Von Enis Maci
SERVICE
214 Spielstätten
217 Corona-Information
218 Tickets
220 Reisen zur Ruhrtriennale
221 Ruhrtriennale Freundeskreis & Club Ruhr
222 Team
223 Dank
236 Impressum
Maschinenhalle Zweckel
Shuttlebus verfügbar
Landschaftspark Duisburg-Nord
Oberhausen
Bottrop
Kraftzentrale
Gebläsehalle
Duisburg
Duisburg
Hauptbahnhof
Mülheim
SPIELSTÄTTEN
Jahrhunderthalle
Bochum / Turbinenhalle /
Pappelwaldkantine
An der Jahrhunderthalle 1
44793 Bochum
Kraftzentrale und
Gebläsehalle,
Landschaftspark
Duisburg-Nord
Emscherstraße 71
47137 Duisburg-Meiderich
Salzlager, UNESCO-
Welterbe Zollverein
Arendahls Wiese /
Ecke Fritz-Schupp-Allee,
Areal C
45141 Essen
PACT Zollverein
UNESCO-Welterbe Zollverein,
Areal B
Bullmannaue 20a
45327 Essen
Mehr Informationen zu unseren Spielorten, zu Anfahrt
und Parkmöglichkeiten: Siehe Seite 214
10
Gladbeck
Herne
UNESCO-Welterbe Zollverein
Gelsenkirchen
Gelsenkirchen
Hauptbahnhof
Jahrhunderthalle
Turbinenhalle
PACT Zollverein
Salzlager
Pappelwaldkantine
Festivalbibliothek
Bochum
Bochum
Hauptbahnhof
Ehemaliges AllbauHaus
Essen
Hauptbahnhof
Essen
Museum Folkwang
Museum Folkwang
Museumsplatz 1
45128 Essen
Ehemaliges AllbauHaus
Pferdemarkt 5–7
45127 Essen
Maschinenhalle Zweckel
Frentroper Straße 74
45966 Gladbeck
Bespielte Wege
Fahrrad
Straßenbahn
Regional-Express
Zu Fuß
11
KONZERT IM
MORGENGRAUEN
VIRGINIE DÉJOS
Konzert
CHRIS WATSON
Morgenchor (2021) Räumliches Klangstück
Uraufführung
MAURICE RAVEL
Gaspard de la nuit (1908)
SALVATORE SCIARRINO
De la nuit (1971)
Klang, der Räume aufschließt
→ Magazin, Seite 195
Klavier
Virginie Déjos
12
Kurz vor Sonnenaufgang tanzen die Geister der Nacht ihren letzten Tanz. Als Maurice
Ravel sein Klavierwerk Gaspard de la nuit schrieb, war er ständig mit dem nahenden Tod
des Vaters konfrontiert. Sein Grenzgang auf dem Grat zwischen diesseitigem und jenseitigem
Leben schwankt zwischen Ernst, Groteske und mythischer Fantasie, vor allem
aber ist er von nahezu übermenschlicher Virtuosität gezeichnet.
Die junge französische Pianistin Virginie Déjos nimmt es nicht nur mit Ravels Geistern
auf, sondern auch mit dem Geist dieser Geister: In einer kleinen Komposition des Italieners
Salvatore Sciarrino mit dem Titel De la nuit wirbelt dieser traumartig und in rasender
Geschwindigkeit Erinnerungsfetzen an Ravels Gaspard auf, um sie augenblicklich wie
im Nichts wieder verschwinden zu lassen.
Beide Kompositionen sind gebettet in ein von der Ruhrtriennale beauftragtes räumliches
Klangstück des britischen Musikers und Klangkünstlers Chris Watson – Gründungsmitglied
der Electro-industrial-Band Cabaret Voltaire und Tonaufzeichner der berühmten
BBC-Naturfilme von David Attenborough. Seine Field Recordings kurz vor, während
und nach Sonnenaufgang ziehen horizontale und vertikale Achsen durch gegenwärtige
und vergangene Zeitschichten des Ruhrgebiets und dessen Schwesterregion im Norden
Englands und bringen sie klanglich miteinander in Berührung. Watsons Morgenchor
empfängt die Besucher:innen in der Maschinenhalle Zweckel im Dunkeln, begleitet sie
durch die blaue Stunde und entlässt sie schließlich ins Tageslicht zu einem gemeinsamen
Frühstück im Freien.
Shortly before sunrise, the spirits of the night dance their last dance. When Maurice
Ravel wrote his ghostly pieces Gaspard de la nuit he was constantly confronted by the
imminent death of his father. His walk along the border between this life and the next
moves back and forth between seriousness, grotesque and mythical fantasy, but it is
characterised most of all by an almost superhuman, transcendental virtuosity.
The young French pianist Virginie Déjos not only confronts Ravel’s ghosts but also the
ghosts of these ghosts. The Italian composer Salvatore Sciarrino, in a short piece entitled
De la nuit, stirs up scraps of memories from Ravel’s Gaspard, dreamily and at breakneck
speed, only to make them vanish again in a moment as if into nothingness.
Both of these compositions are embedded in a spatial sound work commissioned by
the Ruhrtriennale from the British sonic artist Chris Watson – a founder member of the
electro-industrial band Cabaret Voltaire and a sound recordist on David Attenborough’s
famous nature films for the BBC – who will use soundscapes recorded shortly before,
during and after sunrise to draw horizontal and vertical axes through the historical strata
past and present of the Ruhr and its sister region in the North of England, and connect
them both through sound.
Watson’s Morgenchor welcomes the audience to the Maschinenhalle Zweckel in the dark,
accompanies them through the blue hour and, finally, releases them into the daylight for
a communal breakfast outside.
Maschinenhalle Zweckel,
Gladbeck
Sa 14. August _____________________ 5.00 Uhr
Dauer: 1 h 10 min
Tickets: 22 / 32 €,
erm. ab 11 €
Shuttleservice
Unser Service für Sie: Wir fahren
Sie vom Hauptbahnhof Essen
zur Maschinenhalle Zweckel
in Gladbeck und retour! Hier
können Sie sich für den kostenlosen
Trasnfer an melden:
www.ruhr3.com/morgen
www.ruhr3.com/morgen
13
WEGE
ALJOSCHA BEGRICH
Landschaftspark
Duisburg-Nord
Kraftzentrale
Gebläsehalle
A L T E S
Z U
D U R C H S A G E
N E U E M L E B E N
E R W E C K E N
Duisburg
Hauptbahnhof
Begegnungskanten
→ Magazin, Seite 142
14. August – 25. September
Täglich zwischen Duisburg,
Essen, Gelsenkirchen und
Bochum
Detaillierte Informationen zum
Projekt und Downloadlinks zu
den einzelnen Teilstrecken finden
Sie auf www.ruhr3.com/wege
Das Projekt ist kostenlos. Ein
trittskarten für Veranstaltungen
der Ruhrtriennale gelten am Tag
der Veranstaltung im gesamten
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr
(VRR) in allen Bussen und Nah
verkehrszügen (2. Klasse)
für Hin- und Rückfahrt zum bzw.
vom Veranstaltungsort.
Gefördert durch die Stiftung
der Sparkasse Bochum zur
Förderung von Kultur und
Wissenschaft
Supported by the Foundation
of the Sparkasse Bochum
for the promotion of culture
and science
Jeder Start- und Endpunkt ist
mit einer Litfaßsäule markiert.
14 August–25 September
Daily between Duisburg, Essen,
Gelsenkirchen and Bochum
Further information about the
project, together with links to
downloads for the individual
sections of the journey, can be
found at www.ruhr3.com/wege.
The project is free of charge.
Tickets for Ruhrtriennale events
are valid on the day of the event
on all buses and local trains
(2nd class) to and from the
venue in the entire Verkehrsverbund
Rhein-Ruhr (VRR).
Every one of the start and finish
points is marked with an
advertising pillar.
14
A C H T M A L B L I N Z E L N
Essen
Hauptbahnhof
Museum Folkwang
N A T U R B Ü R O 1 — 7
PACT Zollverein
Salzlager
Ehemaliges AllbauHaus
Gelsenkirchen
Hauptbahnhof
Z W I S C H E N TA G E
Jahrhunderthalle
Turbinenhalle
Pappelwaldkantine
Festivalbibliothek
I N S
I DE OUT
Bochum
Hauptbahnhof
Fahrrad / Bike
Straßenbahn / Tram
Regional-Express / Regional Express
Zu Fuß / By foot
Lokale Künstler:innen präsentieren die Welt außerhalb der Hallen. Erstmals werden die
Wege zwischen den Spielorten bespielt. Denn die weiträumig verteilten Zechen und
Fabrikationsstandorte sind überhaupt nur mit Zuwegen und Verbindungen denkbar. Im
Raum dazwischen kann die Unterschiedlichkeit des Ruhrgebiets, drastisch und schön,
liebevoll durchstreift werden. Wir laden ein, mit verschiedensten Verkehrsmitteln die
Strecken zwischen dem Landschaftspark Duisburg-Nord und dem Hauptbahnhof in
Bochum zu erleben, mal mit der Straßenbahn, der U-Bahn, dem Regionalexpress, mal zu
Fuß oder mit dem Rad. Es gibt etwas zu sehen, zu lesen oder zu hören. Jede Teilstrecke
ist inhaltlich anders, sie kann allein oder im Verbund rezipiert und erfahren werden. Jeden
Tag, rund um die Uhr. Allein und zusammen. Vor und zurück.
Konzept
Aljoscha Begrich
Mit
tehran re:public
RUHRORTER
loekenfranke
Anna Kpok
Peng! Kollektiv
Stefan Schneider
Local artists present the world beyond the indoor spaces. For the first time, works along
the routes in between the venues are created. Because the far-flung sites of former
mines and factories can only be reached with access routes and connections. In the
areas in between them we can experience the extreme variety of the Ruhr region, with its
intense contrasts, beauty and emotion. We invite you to use a range of means of transport
to travel between Bochum central station and the Landschaftspark Duisburg-Nord,
going by tram, U-Bahn and the Regionalexpress, as well as walking and cycling. There are
things to see, to read or to hear. Every section of the journey is different, both in terms
of form and content. They can be experienced individually or in combination with each
other. Every day, round the clock. Alone or together. Back and forth.
www.ruhr3.com/wege
15
WEGE
Landschaftspark Duisburg-Nord
Duisburg
Hauptbahnhof
ALTES ZU NEUEM
LEBEN ERWECKEN
STEFAN SCHNEIDER
Regie und Sound Stefan Schneider
Vielen Dank allen Gesprächspartner:innen in Kaßlerfeld, Ruhrort,
Laar und Meiderich
Zwischen dem modernisierten Innenhafen und den Einfamilienhäusern
in Laar stehen die Ruinen der Montanindustrie
und die Kulissen des ersten Tatorts von Schimanski
1981 in Ruhrort. Stefan Schneider lädt ein zu einer
Fahrradfahrt durch ein Duisburg des Dazwischen und
macht es hörbar, indem an ausgewählten Orten kurze Gespräche
darüber zu hören sind. Wie sehen die Menschen
ihre Zukunft und die der Region?
Between the modernised inland harbour and the detached
houses in Laar stand the ruins of the coal and steel industry
and the location in Ruhrort for the first ever Tatort with
Schimanski, filmed in 1981. Stefan Schneider invites you to
take a cycle journey through a Duisburg that lies in between
and makes it audible by listening to short conversations at
selected places. How do the people see their future and
that of the region?
Fahrrad
Duisburg Hauptbahnhof ↔ Landschaftspark Duisburg-Nord
Dauer / Duration: 120 min
Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone
Ist kein eigenes Fahrrad vorhanden, so besteht die Möglichkeit,
am jeweiligen Start- und Endpunkt ein Leihrad zu mieten. Dazu ist
eine Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig. Die Ausleihe
kostet ca. 8 €.
Die Tracks können vorab unter www.ruhr3.com/wege oder vor Ort
an den Litfaßsäulen heruntergeladen werden.
Required: bicycle, headphones, smartphone
If no own bike is available, there is the possibility to rent a bike at the
respective start and end points. For this, a registration at Nextbike /
Metropolradruhr is necessary.
The rental costs about 8 €.
The tracks can be downloaded in advance at www.ruhr3.com/wege
or on site at the advertising pillars.
16
PACT Zollverein
Essen
Hauptbahnhof
Duisburg
Hauptbahnhof
Essen
Hauptbahnhof
DURCHSAGE
PENG! KOLLEKTIV
ACHTMAL BLINZELN
ANNA KPOK
Mit Texten von Sibylle Berg, Asal Dardan, Sebastian Hotz,
Mateja Meded, Jean Peters und David Schraven
Sprecher:innen Sibylle Berg, Mateja Meded, David Schraven,
Niklas Wandt, Maya Alban-Zapata, Marcus Zilz
Konzept und Text Klaas Werner, Jascha Sommer, Kathrin Ebmeier
und Emese Bodolay
Persönliche, charmante, lustige Botschaften des Fahrpersonals
lassen uns immer schmunzeln, man schaut
sich gegenseitig an und nickt sich zu, weil etwas Schönes
passiert ist. Doch was, wenn sie über die ganze Strecke
erfolgen, mit dramaturgischen Höhen und Tiefen – und
überaus ernst sind?
Personal, charming and amusing messages from the conductor
always raise a chuckle: passengers exchange glances
and nod, because something beautiful has happened. But
what if the messages ran for the whole train journey and
were rather serious?
Anna Kpok lädt ein, die Straßenbahnfahrt als Text-
Adventure zu erleben. Der Verlauf der Geschichte wird
von Entscheidungen der Lesenden bestimmt – nicht von
der Anordnung im Buch. Dabei ist eine Reise durch Essen
als Reise zwischen Wahrheit und Spekulation zu erleben:
Was wäre, wenn es die Kohleförderung nie gegeben hätte?
Oder sie bereits viele hundert Jahre vorher begonnen hätte?
Anna Kpok invites you to experience a tram journey as a
text adventure. What happens in the story depends on the
decisions made by the reader – not on the placements in
the book. Readers will embark on a journey through Essen,
a journey between reality and speculation: what if coal
mining had never happened? Or it had begun many centuries
earlier?
Regionalbahn
Essen Hauptbahnhof ↔ Duisburg Hauptbahnhof
Dauer / Duration: 15 min
Die Durchsagen sind jeweils täglich in den Regionalzügen zwischen
Essen Hauptbahnhof und Duisburg Hauptbahnhof zu hören.
The announcements can be heard daily in the regional trains between
Essen Central station and Duisburg Central station.
Straßenbahn
PACT Zollverein ↔ Essen Hbf
Dauer / Duration: 70 min
Das Dimensionsreiselesebuch ist bei PACT Zollverein sowie in der
Buchhandlung P+B am Hauptbahnhof Essen (Ausgang »Freiheit«)
kostenlos erhältlich.
The reader is available free of charge from the respective start points
at PACT Zollverein and Essen Central station (exit »Freiheit«), P&B
book store.
www.ruhr3.com/wege
17
WEGE
Gelsenkirchen
Hauptbahnhof
PACT Zollverein
NATURBÜRO 1—7
LOEKENFRANKE
Von Loekenfranke (Michael Loeken, Ulrike Franke)
Mitarbeit Leonard Putz Mit den Stimmen von Uwe van Hoorn, Tanja
van Hoorn, Andreas Gehrke, Johanna Romberg, Thomas Griesohn-
Pflieger, Peter Stollfuss, Maria Vogt Dank an Uwe van Hoorn, Tanja
van Hoorn
Mit dem Fahrrad führt die Strecke zwischen Gelsenkirchen
Hauptbahnhof und PACT Zollverein durch unterschiedlich
gestaltete Grünanlagen, Parks und Freiflächen. An sieben
Punkten werden die unterschiedlichen Verständnisse von
Natur am Beispiel des Umgangs mit Vögeln thematisiert.
Von der preisgekrönten Brieftaube über die lebensrettenden
Kanarienvögeln bis zu Habichten und Falken, zeigen
loekenfranke Vögel als Indikator für den Zustand der Gesellschaft,
in der wir leben.
The cycle route leads through a range of different green
belt sites, parks and wasteland. At seven points along the
route loekenfranke have created so-called »Nature Offices«,
where highly contrasting views of nature can be experienced.
From the award-winning carrier pigeon to the
life-saving canaries through to hawks and falcons, loekenfranke
show birds as indicators of the state of our society.
Fahrrad
Gelsenkirchen Hauptbahnhof ↔ PACT Zollverein Essen
Dauer / Duration: 90 min
Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone
Am jeweiligen Start- und Endpunkt kann ein Leihrad gemietet werden.
Dazu ist eine Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig.
Die Ausleihe kostet ca. 5 €.
Die Tracks können vorab unter www.ruhr3.com/wege oder vor Ort
an den Litfaßsäulen heruntergeladen werden.
Required: bike, headphones, smartphone
It is possible to rent a bike at the respective start and end points.
For this purpose, registration with Nextbike / Metropolradruhr is necessary.
The rental costs about 5 €.
The tracks can be downloaded in advance at www.ruhr3.com/wege or
on site at the advertising pillars.
18
Gelsenkirchen
Hauptbahnhof
Jahrhunderthalle
Jahrhunderthalle
Bochum
Hauptbahnhof
ZWISCHENTAGE
RUHRORTER
INSIDE OUT
TEHRAN RE:PUBLIC
Von Adem Köstereli, Franziska Schneeberger, Jan Godde,
Maximilian Brands, Wanja van Suntum
Alle acht Minuten fährt die 302 durch Wattenscheid und
Gelsenkirchen-Ückendorf. Dicht gedrängt stehen die
Menschen in der Bahn, die eng an den Häusern entlangfährt.
Was steckt hinter diesen Oberflächen? In einem
vielstimmigen Hörstück sind umfassende Zusammenhänge
(un)sichtbarer Bergbauschäden und postmigrantischer
Realitäten im Ruhrgebiet zu erleben.
The 302 travels through Wattenscheid and Gelsenkirchen-Ückendorf
every eight minutes. People stand
crowded together in the tram as it drives along, close to
the houses. What lies behind these surface appearances?
In a polyphonic audio piece, comprehensive contexts of
(in)visible mining damage and post-migrant realities in the
Ruhr region can be experienced.
Regie Amirhossein Mashaherifard, Shahab Anousha Text Fabian
Lettow, Philipp Beißel, Dr. Stefan Höhne Stimme Miriam Michel,
Philipp Beißel, Judith Schäfer, Sonja Kirschall Sound, Musik Rasmus
Nordholt-Frieling Voice recording Philipp Beißel Installation atelier
automatique Übersetzung Sonja Kirschall
Jeder Stadtraum ist ideologisch durchdekliniert. Aber sind
sich die Bürger:innen ihrer Beziehung zum öffentlichen
Raum bewusst? Ein Audiowalk durch die Bochumer Innenstadt
zeigt die versteckten Verbindungen zwischen Raum,
Design und sozialer Interaktion auf.
Dienstags und freitags ist der Audiowalk wegen des
Wochen marktes auf dem Dr.-Ruer-Platz erst ab 16 Uhr zu
empfehlen.
Every urban space is categorised ideologically. But are its
inhabitants aware of this relationship between themselves
and public spaces? An audio walk through downtown
Bochum reveals the hidden connections between space,
design and social interaction.
On Tuesdays and Fridays, the Audiowalk is recommended
from 4 pm due to the weekly market on Dr.-Ruer-Platz.
Straßenbahn 302
Jahrhunderthalle ↔ Gelsenkirchen Hauptbahnhof
Dauer / Duration: 45 min
Benötigt: Kopfhörer, Smartphone
Die Tracks können vorab unter www.ruhr3.com/wege oder vor Ort
an den Litfaßsäulen heruntergeladen werden.
Needed: headphones, smartphone
The tracks can be downloaded in advance at www.ruhr3.com/wege or
on site at the advertising pillars.
Zu Fuß
Bochum Hauptbahnhof ↔ Jahrhunderthalle
Dauer / Duration: 90 min
Benötigt: Kopfhörer, Smartphone
Die Tracks können vorab unter www.ruhr3.com/wege oder vor Ort
an den Litfaßsäulen heruntergeladen werden.
Required: headphones, smartphone
The tracks can be downloaded in advance at www.ruhr3.com/wege or
on site at the advertising pillars.
www.ruhr3.com/wege
19
THE
LIFE WORK
METTE
INGVARTSEN
Tanz / Performance / Installation
Mette Ingvartsen: Lebhafte Materie – Vibrant Matter
→ Magazin, Seite 174
20
Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen lädt in einen kontemplativen Garten aus
natürlichen Elementen und flüchtigen Stimmen ein. Er befindet sich im Zentrum von
Global Groove, einer Ausstellung des Museum Folkwang, die mit dem Fokus auf Begegnungen
zwischen Ost und West wegweisende Positionen der Tanzgeschichte des 20.
und 21. Jahrhunderts präsentiert.
In einem abgedunkelten Museumsraum begegnen die Besucher:innen einem dicht
kompo nierten Spektrum an sensorischen, optischen und akustischen Impulsen: den
wechselnden Farben des Lichts, den Schatten eines sich drehenden Baumes, den fragilen
Bewegungen eines menschlichen Körpers oder bemerkenswerten Verbindungen
zwischen erzählten Geschichten.
Vier in den 1930er und 1940er Jahren geborene Frauen, die jung ihre Heimat Japan
hinter sich gelassen haben, um in Europa zu leben, blicken auf gesellschaftliche und
politische Ereignisse, die ihre Biografien beeinflusst haben. Sie reflektieren Entscheidungen,
die sie getroffen haben, ihr Verhältnis zur Natur und zur Geschichte und über
die mitunter schwierige Frage der sozialen Zugehörigkeit.
An vier Wochenenden beleben die Frauen die Museumsinstallation mit der Präsenz ihrer
Körper. Durch eine intime Choreografie wird die kollektive Erzählung, die hinter ihren
individuellen Geschichten hervortritt, spürbar.
Konzept, Choreografie
Mette Ingvartsen
Licht, Bühne
Mette Ingvartsen
Hans Meijer
Sound Design
Mette Ingvartsen
Bart Aga
Kostüme
Jennifer Defays
Dramaturgie
Judith Gerstenberg
Produktionsmanagement
Ruth Collier
Voices, Performance
Taeko Gericke
Yoko Iso
Michiko Meid
Kumiko Watanabe
Nähere Informationen zu der Ausstellung Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest unter
www.museum-folkwang.de
Hinweis: Ab dem 24. September 2021 können Sie die Künstlerin Mette Ingvartsen selbst auf der Bühne
erleben. Auf PACT Zollverein feiert ihr neues Solo The Dancing Public Premiere.
The Danish choreographer Mette Ingvartsen invites us into a contemplative garden
made of natural materials, voices and fleeting stories. It is located at the centre of Global
Groove, an exhibition of the Folkwang Museum Essen that presents groundbreaking
positions in 20th- and 21st-century dance history by focusing on encounters between
the east and the west.
In a darkened museum space, the visitor encounters a carefully composed spectrum of
sensory, optical and acoustic impulses: the changing colours of lights, the shadows of
a rotating tree, the fragile movements of a human body, or the remarkable connections
between the stories told.
Four women, born in the 1930s and 1940s, who left behind their native country, Japan,
decades ago to come live in Europe, look back at their lives and the broader social and
political events that influenced them. They reflect on crucial decisions they made, on their
relation to nature and to history, and the sometimes difficult question of social belonging.
On four weekends the women activate the museum installation with the presence of
their bodies. Through an intimate choreography, the collective narratives that emerge
from their individual stories come to life.
For more information on the exhibition Global Groove. Art, Dance, Performance and Protest, visit
www.museum-folkwang.de
Note: from 24 September you can experience the artist Mette Ingvartsen herself on stage, when her new
solo The Dancing Public will premiere at PACT Zollverein.
Museum Folkwang, Essen
Uraufführung
Sa 14. August _________________ 14 + 16 Uhr
So 15. August _________________ 14 + 16 Uhr
Sa 21. August _________________ 14 + 16 Uhr
So 22. August _________________ 14 + 16 Uhr
Sa 28. August _________________ 14 + 16 Uhr
So 29. August _________________ 14 + 16 Uhr
Sa 04. September_______ 14 + 16 Uhr
So 05. September_______ 14 + 16 Uhr
The Life Work wird gefördert
durch die Alfried Krupp von
Bohlen und Halbach-Stiftung
Eine Produktion von Mette
Ingvartsen / Great Investment.
Koproduziert im Auftrag der
Ruhrtriennale. In Kooperation
mit dem Museum Folkwang.
Great Investment wird von den
Flämischen Gemeinschafts -
behörden unterstützt.
www.ruhr3.com/life
21
ABSORPTION
ASAD RAZA
Installation
22
Erde, jenes unterschätzte Material, aus dem unsere Welt wächst, dringt bis in die
hintersten Ecken eines geschichtsträchtigen Gebäudes in der Essener Innenstadt. Mit
Absorption zeigt Urbane Künste Ruhr eine Installation des US-amerikanischen Künstlers
Asad Raza von großer sinnlicher und poetischer Kraft, die das gesamte Erdgeschoss
des denkmalgeschützen ehemaligen Allbauhauses am Pferdemarkt einnimmt.
Die Erde entsteht als Gemisch aus Sand, Lehm und Kompostanteilen. Diese Basis wird
im Vorfeld und während der Ausstellungslaufzeit mit organischer und anorganischer
Materie versetzt, die durch Bearbeitung und Kompostierung zu neuer Erde – von Raza
»Neosoil« genannt – verarbeitet wird. Im gesamten Zeitraum der Ausstellung ist außerdem
ein Team von Cultivators (»Kultivator:innen«), vor Ort, das unter wissenschaftlicher
Begleitung die Erde ständig filtert, in ihre Bestandteile zerlegt, analysiert und neu
zusammen mischt. Die in der Region gesammelten, experimentellen Bestandteile wie
Klärschlamm, Altpapier oder Haare, reichern die Erde an, während der Ausstellungslaufzeit
wird sie als fruchtbarer Boden an Besucher:innen, Kleingartenvereine und soziale
Einrichtungen verschenkt.
Auf Einladung von Asad Raza fügen die Künstler:innen Maria Renee Morales Garcia und
Agatha Gothe-Snape dem Prozess skulpturale und performative Spannungsmomente
hinzu. Frühere Varianten von Absorption wurden beim Kaldor Public Art Project (Sydney,
2019) und im Gropius Bau (Berlin, 2020) gezeigt.
Soil, the undervalued material from which our world grows, permeates the most distant
corners of a building steeped in history in Essen city centre: With Absorption Urbane
Künste Ruhr is showing an installation by US artist Asad Raza of great sensual and poetic
power that takes up the entire first floor of the listed former Allbauhaus on Pferdemarkt.
The earth is created as a mixture of sand, clay and compost components. Organic and
inorganic matter is added to this base in the run-up to and during the exhibition, which
is processed and composted to create new earth - called »Neosoil« by Raza. Throughout
the duration of the exhibition, a team of Cultivators is on site, constantly filtering, breaking
down, analyzing, and remixing the soil under scientific supervision. The experimental
components collected in the region, such as sewage sludge, waste paper or hair, enrich
the soil. During the exhibition this newly produced fertile soil is finally given away to
visitors, allotment associations and social institutions.
Invited by Asad Raza, artists* Maria Renee Morales Garcia and Agatha Gothe-Snape
add sculptural and performative moments of tension to the process. Earlier versions of
Absorption have been presented at the Kaldor Public Art Project (Sydney, 2019) and the
Gropius Bau (Berlin, 2020).
Konzept, Künstlerische Leitung
Asad Raza
Kuratorin, Künstlerische Leitung
Urbane Künste Ruhr
Britta Peters
Cultivators
Angelika Bramkamp-Schulte
Marie Dzingel
Michael Erdhütter
Nina Kiedrowicz
Petra Lachnicht
Martin M. Lipka
Sabrina Locuratolo
Claus Marius Petersen
Dr. Tim Pickartz
Marie Schubert
Sophie Stroux
Alla Sufyanova
Anton Vichrov
Wolfgang von Au
Beteiligte Künstler:innen
Maria Renee Morales Garcia
Agatha Gothe-Snape
Wissenschaftliche Berater
Wolfgang Burghardt
Alex McBratney
Gerd Wessolek
Produzent:innen
Olivia Fairweather
Christopher Wierling
Materialrecherche
Marie Schubert
Ehemaliges AllbauHaus, Essen
Eröffnung
14. August _______________________________17.00 Uhr
Ausstellungslaufzeit
15. August – 25. September
Mi–So 12.00 – 19.00 Uhr
Eintritt frei. Für den Besuch der
Installation wird voraussichtlich
eine Anmeldung notwendig sein.
Nähere Informationen hierzu
finden Sie vor Festivalstart unter
www.ruhr3.com/absorption
Bitte beachten Sie auch die
Corona-Schutzmaßnahmen
unter www.ruhr3.com/corona
Eine Produktion von
Urbane Künste Ruhr für
die Ruhrtriennale
Absorption wurde erstmals 2019
in Auftrag gegeben von Kaldor
Public Art Projects, Sydney
www.ruhr3.com/absorption
23
DER
UNTERGANG
DES HAUSES
USHER
EDGAR ALLAN POE
BARBARA FREY
Schauspiel
Es schürft zurück
→ Magazin, Seite 144
24
Die Regisseurin Barbara Frey ist eine ausgewiesene Kennerin von Nachtschattengewächsen
und heimatlosen Kreaturen der gebannten Ängste. Zur Eröffnung ihrer dreijährigen
Ruhrtriennale-Intendanz begibt sie sich gemeinsam mit einem mehrsprachigen
Ensemble und Livemusikern auf eine Reise in den Gedankenkosmos von Edgar Allan Poe,
der wie kaum ein anderer der Einsamkeit Ausdruck verliehen hat – durch Einsichten in
das unkontrollierbare Innenleben des Menschen, mit Bildern einer ungezügelten Imaginationskraft.
Poe ist ein Antipode der hellen, bürgerlichen Welt. Er ist ein Verführer ins Dunkle, ein
Manipulator, der die Trennschärfe von Realität und Imagination gezielt verwischt, Zeiten
verrückt, Räume verlebendigt, sie zu Subjekten macht, zu Trägern von Erinnerungen, die
auf ihre Bewohner:innen einwirken. In seinen Geschichten liegen die Zonen der Träume,
der Realität und des Rausches miteinander im Widerstreit – und befruchten sich doch
gegenseitig. Fragen nach der Trennung von bewusster und unbewusster Wahrnehmung,
nach Erkennen oder Nichterkennen des Daseins müssen neu gestellt werden.
Der Untergang des Hauses Usher ist die Geschichte eines Abschieds, eines physischen
und seelischen Zerfalls. Es ist zugleich die Erzählung einer ins Äußerste gesteigerten,
übersensiblen Wahrnehmung von Raum und der ihm eingeschriebenen Ereignisse; von
Musik, in die hinein sich die Sprache auflöst – und des Schweigens, der echolosen Stille,
die jenen Ausnahmezustand im Angesicht des Unbekannten, des Verlöschens, des Todes
kennzeichnet.
Für das Verlassen der Welt und das Abtauchen in die eigene Dunkelheit lässt sich kein geeigneterer
Ort denken als jene freistehende, stillgelegte, geschichtsträchtige »Elektrische
Centrale« des vergangenen Jahrhunderts – die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.
The director Barbara Frey is an established expert on nocturnal phenomena and
the itinerant creatures arising from spellbound fear. To open her three years as Artistic
Director of the Ruhrtriennale she sets off with a multilingual ensemble of actors and live
musicians on a journey into the imaginative world of Edgar Allan Poe, who expressed
loneliness like practically no one else – through his insights into people’s uncontrollable
inner lives revealed through images of unbridled imaginative power.
Poe is the polar opposite of a bright, shiny, bourgeois world. He tempts us into darkness,
he is a manipulator who deliberately blurs our ability to distinguish between reality
and imagination, distorting time and bringing rooms to life, turning them into characters
laden with memories that affect the people living in them. Within his stories, zones of
dream, reality and rapture remain in conflict – while simultaneously feeding off each
other. Questions about the distinctions between conscious and unconscious perception,
about the recognition or non-recognition of existence, need to be asked all over
again.
The Fall of the House of Usher is the story of a farewell, a collapse of both body and
soul. At the same time it is also the story of an extreme, hypersensitive perception of
space and the events inscribed within it, of music into which language dissolves – and
of silence, the echoless quiet that characterises every state of emergency in the face of
the unknown, of extinction, of death.
There is no place more suitable for leaving the world behind and plunging into one’s own
darkness than the free-standing, decommissioned power plant from the last century
now steeped in history – the Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.
Autor
Edgar Allan Poe
Regie
Barbara Frey
Musik
Barbara Frey
Josh Sneesby
Bühne
Martin Zehetgruber
Mitarbeit Bühne
Stephanie Wagner
Kostüme
Esther Geremus
Licht
Rainer Küng
Sound
Thomas Wegner
Dramaturgie
Andreas Karlaganis
Mit
Jan Bülow
Tommy Hojsa
Deborah Korley
Annamária Láng
Katharina Lorenz
Michael Maertens
Markus Scheumann
Josh Sneesby
Solisten des Ruhrkohle-Chor
Maschinenhalle Zweckel,
Gladbeck
Sa 14. August __________________ 20.30 Uhr
So 15. August __________________ 20.30 Uhr
Di 17. August __________________ 20.30 Uhr
Do 19. August __________________ 20.30 Uhr
Fr 20. August __________________ 20.30 Uhr
Sa 21. August __________________ 20.30 Uhr
So 22. August __________________ 20.30 Uhr
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,
ermäßigt ab 11 €
Deutsch, Englisch und
Ungarisch mit englischen und
deutschen Übertiteln
Eine Koproduktion von
Burgtheater Wien und der
Ruhrtriennale
Mit freundlicher Unterstützung
des Vereins der Freunde und
Förderer der Ruhrtriennale e. V.
Gefördert von der Brost-Stiftung
Shuttleservice
Unser Service für Sie: Wir fahren
Sie vom Hauptbahnhof Essen
zur Maschinenhalle Zweckel
in Gladbeck und retour! Hier
können Sie sich für den kosten -
losen Bustransfer anmelden:
www.ruhr3.com/usher
www.ruhr3.com/usher
25
21 —
ERINNERUNGEN
ANS ERWACHSEN
WERDEN
(VOLLSTÄNDIGE
EDITION)
MATS STAUB
Installation
Das hörende Gesicht
→ Magazin, Seite 208
26
In welchem Jahr bin ich 21 Jahre alt geworden? Was hat sich in diesem Jahr ereignet?
Welche Erlebnisse haben mich geprägt, welche Erfahrungen waren wichtig? Und: Wie
bin ich erwachsen geworden?
In seinem Langzeitprojekt 21 porträtiert der Schweizer Künstler Mats Staub Erzählende
als Zuhörende ihrer eigenen Worte. Nach einer ersten Begegnung, in der er ihre Erinnerungen
im Gespräch einfängt, filmt er beim erneuten Treffen drei Monate später, wie sie
die verdichteten Tondokumente ihrer Erinnerungen hören. Keine Reaktion gleicht der
anderen: Ein leises Lächeln, feuchte Augen, Erheiterung, Bedauern, Bekräftigung und
vieles mehr spiegeln sich in den Gesichtern beim Klang der eigenen Erzählung.
Seit 2012 reist Mats Staub mit 21 durch Europa, Afrika und Australien. Über die Jahre ist
mit der von Ort zu Ort wachsenden Sammlung eine außergewöhnliche Galerie des 20.
und 21. Jahrhunderts entstanden, die nun während der Ruhrtriennale 2021 erstmals als
vollständige Edition zu erleben ist. Elf neue Porträts von Menschen aus dem Ruhrgebiet
vervollständigen nun die Sammlung, so dass 200 Filme mit Geschichten und Erinnerungen
vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ausbruch der Coronapandemie als
raumgreifende Videoinstallation in der Turbinenhalle präsentiert werden können.
»Ich habe vier Stunden in der Ausstellung verbracht, und ich hätte noch vier weitere
Stunden bleiben können, es macht süchtig!« The Guardian
What year did I turn 21? What happened that year? What experiences formed me, which
events were important? And – how did I grow up?
In his long-term project 21 the Swiss artist Mats Staub creates portraits of storytellers as
they listen to their own words. After a first encounter during which he elicits memories
as part of a conversation, in a follow-up meeting three months later he captures the
moment on camera when these storytellers hear the edited audio recording of their
memories for the first time. No two reactions are the same: a gentle smile, a tear in the
eye, a twitch from the corner of the mouth, exhilaration, regret, empowerment and a
great deal more are reflected in these faces reacting to the sound of their own story.
Since 2012, Mats Staub has travelled with 21 through Europe, Africa and Australia. Over
the years, the collection that has grown from one location to the next has evolved into a
remarkable gallery of the 20th and 21st centuries. This can now be experienced for the
first time in its entirety at the Ruhrtriennale 2021. Eleven new portraits from the Ruhr
region will complete the collection, so that a total of 200 films featuring stories and
memories from the beginning of the Second World War to the outbreak of the Covid-19
pandemic can now be presented as a spatial installation in the Turbinenhalle.
Idee, Konzept, Leitung
Mats Staub
Szenografie
Monika Schori
Kamera
Matthias Stickel
Benno Seidel
Sifiso Khanyile
Ton
Andrea Brunner
Mandla Nkuna
Technik
Hanno Sons
Stefan Goebel
Produktionsleitung
Barbara Simsa
Elisabeth Schack
Übersetzung, Untertitelung
Nathalie Rouanet
Françoise Guiguet
David Tushingham
Simona Weber
Barbara Simsa
Matthias Stickel
»I spent four hours in the exhibition, and I could have spent four more, it’s addictive.«
The Guardian
Turbinenhalle an der
Jahrhunderthalle Bochum
Eröffnung
15. August ______________________________18.00 Uhr
Ausstellungslaufzeit
17. August – 25. September
Di–Fr 15–20 Uhr
Sa–So 12.30–20 Uhr
Tickets: 7 €
ermäßigt 3,50 €
Deutsch, Englisch, Französisch,
Schweizerdeutsch, Spanisch mit
deutschen Untertiteln
Sie können sich online Zeit -
fenster buchen, in denen Sie
jeweils für zweieinhalb Stunden
in die Installation eintauchen.
Die Gesamtspieldauer aller
Porträts beträgt 45 Stunden.
Eine Produktion von
zwischen_produktionen in
Koproduktion mit Künstlerhaus
Mousonturm Frankfurt, Festival
Theaterformen Hannover,
Museum für Kom mu ni kation
Bern, Gessner allee Zürich,
Kunstfest Weimar, Kaserne
Basel, Wiener Festwochen,
Theater Freiburg, Noorderzon
Festival Groningen, Adelaide
Festival, Théâtre Vidy-Lausanne,
Centre d’Art Waza Lubumbashi,
KinArt Studios Kinshasa,
Festival Belluard Bollwerk
International, National theater
Mannheim, Centro Conde
Duque Madrid, Maillon Théâtre
de Strasbourg Scène Européenne,
Hellerau Europäisches
Zentrum der Künste Dresden,
Ruhrtriennale
Mit Unterstützung der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia
www.ruhr3.com/21
27
JETZT
& JETZT
MATS
STAUB
Partizipative Installation
Das hörende Gesicht
→ Magazin, Seite 208
28
Parallel zur Präsentation von 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden entsteht im hinteren
Teil der Turbinenhalle während der Ruhrtriennale 2021 ein neues Langzeitprojekt
von Mats Staub, das seinen Fokus auf die Gegenwart und die nahe Zukunft richtet:
Jetzt & Jetzt ist eine Momentaufnahme, eine Konservierung des Augenblicks auf Wiedervorlage,
und beschäftigt sich mit dem Wandel des Menschen innerhalb von zwei Jahren.
Wer bin ich heute, jetzt gerade? An welchem Punkt meines Lebens stehe ich? Und:
Wer wird mir in zwei Jahren aus dem Spiegel entgegenschauen? Das Herzstück von
Jetzt & Jetzt bildet der lebendige Mensch, der unablässig in Bewegung ist, der sich
wandelt und wächst. Gesucht werden dafür Menschen, die im Ruhrgebiet leben und
die sich auf zwei weit auseinanderliegende Begegnungen einlassen wollen, die Lust
haben, über sich nachzudenken, und die bereit sind, diese mit Mats Staub zu teilen, um
Teil eines Kunstwerks zu werden. Für jedes Lebensjahr von 8 bis 80 Jahren wird ein:e
Teilnehmer:in gesucht – alle erhalten zwei verbindliche Termine, den ersten im August/
September 2021, den zweiten im Frühling 2023. An beiden Terminen, die jeweils etwa
60 Minuten dauern, werden die Teilnehmenden zum Dialog mit sich selbst gebeten.
Sie werden ihrem Spiegelbild gegenüberstehen und dabei gefilmt werden und von Hand
Briefe an ihr zukünftiges und vergangenes Ich schreiben. Aus den Aufnahmen und
Texten entsteht ein neues Werk, das während der Ruhrtriennale 2023 präsentiert wird.
Idee, Konzept
Mats Staub
Kamera
Benno Seidel
Technische Leitung
Hanno Sons
Projektentwicklung
Elisabeth Schack
Matthias Stickel
Dramaturgie
Simone von Büren
Frederieke Tambaur
Parallel to our presentation of 21 – Memories of Growing Up during Ruhrtriennale 2021,
a new long-term project by Mats Staub will begin in the rear section of the Turbinenhalle,
focusing on the present and the near future: Jetzt & Jetzt is a snapshot that saves a
moment to return to and shows how people change over a period of two years.
Who am I today, right now? What point have I reached in my life? And: who is going to
be looking back at me out of the mirror in two years’ time? At the heart of Jetzt & Jetzt
is the living individual, constantly on the move, changing and growing. We are looking for
people who live in the Ruhr region and who are willing to agree to two meetings a long
time apart: people who will enjoy thinking about themselves and who are prepared to
share their thoughts with Mats Staub and become part of a work of art. We are looking
for one participant of every age between 8 and 80 – each one will be given two binding
dates, the first in August/September 2021 and the second in the spring of 2023. At both
meetings, which will each last around 60 minutes, the participants will be involved in a
dialogue with themselves: they will stand opposite their own reflection while being filmed
and they will then handwrite letters to their future and past selves. The images and
words from all these meetings will form the basis for a new work that will be presented
at Ruhrtriennale 2023.
Turbinenhalle an der
Jahrhunderthalle Bochum
17. August – 19. September
Weitere Informationen und die
Möglichkeit, an dem Projekt
teilzunehmen, finden Sie unter
www.ruhr3.com/jetzt
Eine Produktion von
zwischen_produktionen
in Kooperation mit der
Ruhrtriennale.
www.ruhr3.com/jetzt
29
APARICIÓN /
ERSCHEINUNG
REGINA JOSÉ
GALINDO
Installation / Digital
Inmitten des Ganzen
→ Magazin, Seite 154
30
Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner ermordet.
In jüngster Zeit hat der Begriff »Femizid« (Mord an Frauen) dazu beigetragen,
einen breiteren Diskurs über das Thema anzustoßen und Gewalt gegen Frauen sowie
häusliche Gewalt sichtbarer zu machen. Vor allem in Lateinamerika scheint die Ahndung
dieser Morde vernachlässigt zu werden, doch nahezu unsichtbar scheinen die Femizide
in Deutschland zu sein, wo Vergewaltigung in der Ehe bis zum Jahr 1997 nicht als Verbrechen
angesehen wurde.
Die performative Arbeit Aparición der Aktionskünstlerin Regina José Galindo macht auf
die erschütternd hohe Zahl der Frauenmorde und die häusliche Gewalt gegen Frauen
in Deutschland aufmerksam. Jeden dritten Tag wird unerwartet ein anonymer Frauenkörper
im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets auftauchen, ein lebendiges Mahnmal für
die Ermordeten. Im gleichen Intervall werden Bilder der Aktionen auf der Internetseite
der Ruhrtriennale veröffentlicht.
In Regina José Galindos künstlerischer Arbeit stellt der weibliche Körper – verletzlich
und schwach, vernarbt, aber lebendig und kämpferisch – oftmals dar, wie Systeme
der Unterdrückung und Gewalt in unseren Gesellschaften verankert sind. Ihre Performances
zeigen Verletzungen, Übergriffe und Wehrlosigkeit und machen sichtbar, was
an den ungesehenen Tatorten geradezu routinemäßig geschieht. Aparición wurde in
Zusammenarbeit mit Lutz Henke ursprünglich für das Projekt Owned by Others in
Berlin entwickelt. Die Arbeit wird nun von Aktivist:innen und Partner:innen wie zum
Beispiel der Ruhrtriennale weltweit erweitert werden.
Konzept
Regina José Galindo
Fotografie
Lutz Henke
Video
Matthias Maercks
Dramaturgie
Aljoscha Begrich
Produktion
Lutz Henke
Every third day, a woman is murdered by her partner or ex-partner in Germany. Recently,
the term »femicide« (homicide of a female) has helped spark a broader discourse on the
topic and render violence against women, as well as domestic violence, more visible. In
Latin America, in particular, such murders seem to be neglected and in countries like
Germany, where violation within marriage was not considered a crime until 1997, they are
even more invisible.
The performative piece Aparición by Regina José Galindo draws attention to this distressing
statistic and lethal domestic violence perpetrated against women in Germany.
Every third day, an anonymous female body will appear unexpectedly in a public space,
a living memorial to the murdered. In the same interval, pictures of the actions will be
published on the Ruhrtriennale website.
In Regina José Galindo’s artistic work, the female body – vulnerable, scarred, but alive
and combative – typically portrays how systems of oppression and violence are ingrained
in our societies. Her performances depict injury, assault and defencelessness,
making visible what routinely happens in unmonitored crime scenes. Aparición has been
developed originally for the project Owned by Others in Berlin and in collaboration with
Lutz Henke. The work is intended to be extended by activists and partners worldwide,
such as the Ruhrtriennale.
Ab dem 15. August wächst diese
Installation im digitalen Raum.
Zu besuchen unter
www.ruhr3.com/erscheinung
Ein Auftragswerk der
Ruhrtriennale
www.ruhr3.com/erscheinung
31
BÄHLAMMS FEST
OLGA NEUWIRTH
ELFRIEDE JELINEK
LEONORA CARRINGTON
Musiktheater
Lämmerseelen
→ Magazin, Seite 149
32
Der Mann ein Alkoholiker, die Schwiegermutter eine lüsterne Tyrannin, der Schwager ein
Halbwolf – und das Landhaus im Abseits. Draußen weiden die Schafe, und Theodora,
die junge Ehefrau, sitzt im Kinderzimmer und hofft auf Schnee. Gefangen im morbiden,
repressiven Milieu der Familie Carnis, träumt sie vom Ausbruch. Jeremy, die verführerische
Mensch-Wolf-Gestalt, verspricht ihr die Gegenwelt zur bürgerlichen Erstarrung.
Doch diese Liebe bringt nicht Rettung, nur immer mehr tote Lämmer, während im Hause
Carnis Hass und Hetze gegen das Andersartige auflodern. In einer fantastisch surrealen
Orgie zum Weihnachtsfest verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit,
Lebenden und Toten, Mensch und Tier, Wunsch und Wirklichkeit. Das Haus
als Schutzraum des Individuums löst sich in Luft auf.
In ihrem intermedialen Musiktheater Bählamms Fest nach Leonora Carringtons Drama
Das Fest des Lamms blicken Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek in die Abgründe jenes
Hauses, das die Surrealistin 1940 auf ihrer Flucht aus dem nationalsozialistisch besetzten
Frankreich »baute«. Neuwirth, die Bählamms Fest ihr eigenes »Haus Usher«
nennt, sprengt in den 1990er Jahren ungekannte Fluchtwege aus dieser unerträglichen
Wirklichkeit in irreale visuelle und musikalische Räume hinein. Das irische Regieduo
Dead Centre transportiert Neuwirths intermediales Pionierwerk in eine Zeit, in der die
Grenzen zwischen Realität und Virtualität tatsächlich abhandenkommen und die Flucht
in fiktive Wunschwelten als Ausdruck der Verzweiflung über unmenschliche Kälte und
Barbarei neue Dimensionen zum Vorschein kommt.
Her husband is an alcoholic, her mother-in-law a lascivious tyrant, her brother-in-law a
half-wolf – and the country house is in the back of beyond. Sheep graze outside while
Theodora, the young wife, sits in the nursery hoping for snow. Trapped in the morbid,
repressive world of the Carnis family, she dreams of breaking away. Jeremy, the seductive
wolf-man figure, promises her the opposite of bourgeois torpor. But this love will not
bring salvation, just more dead lambs, while inside the house of Carnis, hatred rears its
head and with it the persecution of anyone different. In a fantastically surreal orgy at
Christmas the boundaries between the present and the past, the living and the dead,
man and beast, desire and reality, all break down. The house as a space that protects
the individual dissolves into thin air.
In their intermedial opera Bählamms Fest, based on Leonora Carrington’s play The Baa-
Lamb’s Holiday, Olga Neuwirth and Elfriede Jelinek gaze into the gaping abyss of this
house that the surrealist »built« while fleeing across Nazi-occupied France in 1940.
Neuwirth, who calls Bählamms Fest her own »House of Usher«, blasted unfamiliar
escape routes out of this intolerable reality into unreal visual and musical spaces in
the 1990s. The Irish directing duo Dead Centre will transport Neuwirth’s pioneering
intermedial work to a time where the boundaries between reality and virtuality have
practically disappeared and escaping into fictitious worlds takes on new resonances
as an expression of despair at inhuman coldness and barbarism.
Musiktheater in 13 Bildern
(1993 / 1997–1998)
Komposition
Olga Neuwirth
Libretto
Elfriede Jelinek nach
The Baa-Lamb’s Holiday von
Leonora Carrington
Übersetzung von
Heribert Becker
Musikalische Leitung
Sylvain Cambreling
Regie
Dead Centre
Bühne, Kostüme
Nina Wetzel
Co-Bühne
Charlotte Spichalsky
Co-Kostüme
Anneke Goertz
Video
Jack Phelan
Licht
Stephen Dodd
Choreografie
Anne-Lise Brevers
Künstlerische Mitarbeit
Choreografie
Olivia Ancona
Dramaturgie
Barbara Eckle
Theodora
Katrien Baerts
Mrs. Carnis
Hilary Summers
Philip
Dietrich Henschel
Jeremy
Andrew Watts
Robert / Schäfer
Marcel Beekman
Elizabeth
Gloria Rehm
Violet / Mary
Linsey Coppens
Henry
Graham F. Valentine
Jahrhunderthalle Bochum
So 15. August ___________________ 21.00 Uhr
Mo 16. August ___________________ 21.00 Uhr
Mi 18. August ___________________ 21.00 Uhr
Do 19. August ___________________ 21.00 Uhr
Sa 21. August ___________________ 21.00 Uhr
So 22. August ___________________ 21.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 40 min
Tickets: 22 / 37 / 52 / 67 / 82 €,
ermäßigt ab 11 €
Mit deutschen und englischen
Übertiteln
Eine Produktion der
Ruhrtriennale
Mit freundlicher Unterstützung
des Vereins der Freunde und
Förderer der Ruhrtriennale e. V.
und der Stiftung Pro Bochum
Ab dem 23. August ist
Bählamms Fest auch
als Video-on-Demand auf
der Homepage der Ruhrtriennale
zu sehen. Mehr Infos unter:
www.ruhr3.com/digital
Music: Olga Neuwirth
© G. Ricordi & Co. Bühnenund
Musikverlag GmbH
Rowohlt Theater Verlag,
Hamburg
Ensemble Modern
Theremin Vox
Lydia Kavina
Live-Elektronik Performance
Jose Miguel Fernandez
(Music Unit, Paris)
Live-Elektronik Design
Manuel Poletti (Music Unit, Paris)
Mit
Tanzstudierenden der Folkwang
Universität der Künste
Solisten des Knabenchores
der Chorakademie Dortmund
www.ruhr3.com/baehlamm
33
L’ÉTANG / DER TEICH
ROBERT WALSER
GISÈLE VIENNE
Tanz / Performance / Schauspiel
An die verfluchte Rolle, die wir spielen: Gisèle Vienne
→ Magazin, Seite 158
34
Ein Jugendlicher verzweifelt an der reservierten Distanziertheit seiner Mutter. Um ihre
Liebe auf den Prüfstand zu stellen, täuscht er seinen Selbstmord vor.
Das frühe Dramolett Robert Walsers, Der Teich, verhandelt nicht nur Manipulationen
und Machtspiele in Beziehungen, sondern reflektiert zugleich den sprachfernen Charakter
von Gefühlen. Dem gebrochenen Verhältnis zwischen dem Empfinden und seiner
Darstellbarkeit geht die Choreografin, Regisseurin und Puppenspielerin Gisèle Vienne
nach – gemeinsam mit den herausragenden Spielerinnen Adèle Haenel und Ruth Vega
Fernandez sowie acht lebensgroßen Puppen. Sie trennen Stimme und Text, Gestik und
Mimik, Spiel und Musik voneinander und lassen jedes dieser Elemente sich in seinen
Dissoziationen artikulieren und widersprechen. Zeitgleich und multiperspektivisch
überlagern sich widerstreitende, paradoxe Gefühls-, Wirklichkeits- und Zeitebenen,
Schichten aus gesellschaftlich geprägten Erwartungen und ihren unkontrollierbaren,
gewalttätigen Unterströmungen, Kanalisiertes und Wüstes, Erträumtes und Erlittenes.
Die Situationen entfalten die kalte Liebe der Mutter oder den traurigen, theatralen Habitus
des Jugendlichen in ihre einzelnen Bestandteile. Eine halluzinatorische, sinnliche
und verstörende Phantasmagorie, die die Gewalt der sozialen Norm offenlegt, die sich,
mit ihren Machtspielen, in unsere Körper und Intimität eingeschrieben hat.
Gisèle Vienne gehört zu jenen Künstlerinnen, deren Sensorium für Abgründiges ausgeprägt
ist und die unausgesprochenen Fantasien ihre besondere Aufmerksamkeit schenkt:
jenem obskuren Territorium der Existenz, in dem sich Sinnlichkeit und Gewalt begegnen.
A teenager is driven to despair, believing that his mother does not love him. In order to
force her to abandon her reserved distance, he fakes suicide.
This early short drama by Robert Walser, The Pond, not only deals with manipulation and
power games within relationships, at the same time it also reflects on how emotions are
remote from language. This broken relationship between feelings and the extent to which
they can be represented will be explored by the choreographer and puppeteer Gisèle
Vienne, together with the outstanding actors Adèle Haenel and Ruth Vega Fernandez
plus eight life-sized puppets. They separate voice and text, gestures and mimicry, acting
and music from each other, allowing each of these elements to articulate and contradict
themselves in their dissociations. Simultaneously and from multiple perspectives they
superimpose contradictory, paradoxical levels of emotion and reality, layers of socially
conditioned expectation and their uncontrollable, violent undercurrents, channelled and
desolate, dreamed of and suffered. Without explaining the cold love of the mother or the
sad, theatrical bearing of her child, the situations are successively unpacked and dismantled
into their individual parts. A hallucinatory, sensual and harrowing phantasmagoria.
Gisèle Vienne is one of those artists whose feeling for the abysmal is pronounced and
who pays special attention to unspoken fantasies: that obscure territory of existence in
which sensuality and violence meet.
Text
Robert Walser
Konzept, Regie, Szenografie,
Dramaturgie
Gisèle Vienne
Musikalische Leitung
Stephen O’Malley
Originalmusik
Stephen O’Malley
François J. Bonnet
Licht
Yves Godin
Outside View
Gisèle Vienne
Anja Röttgerkamp
Requisite
Gisèle Vienne
Camille Queval
Guillaume Dumont
Kostüme
Gisèle Vienne
Camille Queval
Pauline Jakobiak
Maske
Mélanie Gerbeaux
Gestaltung Puppen
Gisèle Vienne
Puppenbau
Gisèle Vienne
Dorothéa Vienne-Pollak
Raphaël Rubbens
Management Technik
Richard Pierre
Sound Design
Adrien Michel
Mit
Adèle Haenel
Ruth Vega Fernandez
PACT Zollverein, Essen
Mi 18. August _________________ 20.00 Uhr
Do 19. August _________________ 20.00 Uhr
Fr 20. August _________________ 20.00 Uhr
Sa 21. August _________________ 20.00 Uhr
So 22. August _________________ 18.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 25 min
Tickets: 27 €,
ermäßigt 13,50 €
Französisch mit deutschen und
englischen Übertiteln
Die Company Gisèle Vienne
wird unterstützt vom Ministerium
für Kultur und Kommunikation –
DRAG Grand Est, der Region
Grand Est und der Stadt
Straßburg und dem Institut
Français.
Eine Produktion von DACM /
Company Gisèle Vienne
in Koproduktion mit Nanterre-
Amandiers CDN; Théâtre
National de Bretagne; Maillon,
Théâtre de Strasbourg – Scène
européenne; Holland Festival,
Amsterdam; Fonds Trans fabrik –
Fonds franco-allemand pour le
spectacle vivant; Centre Culturel
André Malraux (Vandœuvrelès-Nancy);
Comédie de Genève;
La Filature – Scène nationale
de Mulhouse; Le Manège –
Scène nationale de Reims;
MC2: Grenoble; Ruhrtriennale;
Tandem Scène nationale;
Kaserne Basel; International
Summer Festival Kampnagel
Hamburg; Festival d’Automne à
Paris; Théâtre Garonne;
CCN2 – Centre chorégraphique
national de Grenoble; BIT
Teatergarasjen, Bergen; Black
Box Teater, Oslo
Mit Unterstützung von CN D
Centre national de la danse, La
Colline – théâtre national und
Théâtre Vidy-Lausanne
www.ruhr3.com/etang
35
A DIVINE
COMEDY
FLORENTINA
HOLZINGER
Tanz / Performance
E caddi come corpo morto cade – Ich fiel, wie ein toter Körper fällt
→ Magazin, Seite 170
36
Die Ausnahmechoreografin Florentina Holzinger verwandelt die Kraftzentrale in einen
riesenhaften Anatomiesaal und legt den Tod selbst auf den Seziertisch. In einer spektakulären
Performance entwickelt Holzinger ihre eigene Göttliche Komödie und bereist
gemeinsam mit ihrem Ensemble, das sieben Lebensjahrzehnte umfasst, die europäische
Tanzgeschichte auf der Suche nach den Verbindungslinien zwischen den Generationen
und den kulturellen Verankerungen unserer Todesbilder und -fantasien.
In A Divine Comedy, einem Auftragswerk der Ruhrtriennale, entwirft Holzinger ein
Experimentierfeld der Extreme, auf dem sie mit ihrem Ensemble Totentänze als
Sterbeübungen exerziert, die vom Tod handeln und das Leben meinen.
Wie darstellbar ist, was nicht vorstellbar ist? Wie viel Präsenz kann etwas haben, was
nicht mehr ist – ein Leichnam beispielsweise? Florentina Holzinger bevölkert ihr eigenes
Jenseitsreich mit den Abgründen und Ängsten unserer Zeit und stellt keine geringere
Frage als die nach einer möglichen Spiritualität im 21. Jahrhundert. Dabei wird ihr
die Tanztradition genauso zum Material wie die Musik- und die Literaturgeschichte,
Hochkultur genauso zur Fundgrube wie Unterhaltung, Stunt, Motocross und Hypnose.
Exceptional choreographer Florentina Holzinger will transform the Kraftzentrale into
a giant autopsy room and place death itself on the dissecting table. In a spectacular
performance, Holzinger will devise her own Divine Comedy, journeying through European
choreography, together with an ensemble spanning seven decades, in search of
connections between generations and what anchors images and fantasies of death in
our culture.
In A Divine Comedy, commissioned for the Ruhrtriennale, Holzinger constructs an experimental
field of extremes upon which she practises dances of death as exercises in dying
that refer to death but mean life.
How can we represent what cannot be imagined? How much presence can something
have that no longer exists – a corpse, for example? Florentina Holzinger populates her
own afterlife with the faults and fears of our time, and asks no less a question than
whether spirituality is possible in the 21st century. Here she uses dance traditions as
material, along with the history of music and literature. High culture is as rich a source
for her as entertainment, stunts, motocross and hypnosis.
Konzept, Regie
Florentina Holzinger
Komposition, Sounddesign
Maja Osojnik
Stefan Schneider
Bühne
Nikola Knežević
Dramaturgie
Renée Copraij
Sara Ostertag
Dramaturgie RT
Sara Abbasi
Real Choreografie
Ty Boomershine
Licht
Anne Meeussen
Max Kraußmüller
Video
Noam Gorbat
Technische Leitung
Anne Meeussen
Stephan Werner
Bühnentechnik / Flugmaschinerie:
Dörte Wilfroth
Bühnenassistenz
Camilla Smolders
Nicole Marianna Wytyczak
Music Coach
Almut Lustig
Stunt Koordination
Stunt-Factory
Leo Plank (Haeger Stunt &
Wireworks)
Hürden Training
Valerie Kleiser
Ulrike Kleinschmidt
Tierpräparation Coach
Lydia Mäder
Holzsport Coach
Josef Laier
Management und international
Distribution
Something Great
Produktionsleitung
Ricardo Frayha
Kraftzentrale, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Uraufführung
Do 19. August _________________ 20.00 Uhr
Fr 20. August _________________ 20.00 Uhr
So 22. August _________________ 20.00 Uhr
Mo 23. August _________________ 20.00 Uhr
Mi 25. August _________________ 20.00 Uhr
Do 26. August _________________ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,
ermäßigt ab 11 €
Eine Auftragsarbeit der
Ruhrtriennale. Produziert von
Something Great, Spirit,
Ruhrtriennale und Staatstheater
Kassel. In Koproduktion mit
Tanzquartier Wien, Volksbühne
am Rosa-Luxemburg-Platz
Berlin, deSingel, Theater Freiburg
und Julidans
Gefördert durch die Kultur stiftung
des Bundes, die Kultur abteilung
der Stadt Wien, das Bundeskanzleramt
für Kunst und Kultur.
Mit freundlicher Unterstützung der
Rudolf Augstein Stiftung, des
Bundesministeriums für Kunst,
Kultur, öffentlichen Dienst
und Sport, Sektion IV – Kunst
und Kultur, documenta Halle
(Kassel), Montévidéo (Marseille).
Dank an ImPulsTanz Wien
Performance, Choreografie
Foxxy Angel, Amanda Bailey,
Linda Blomqvist, Renée Copraij,
Beatrice Cordua, Paige A. Flash,
Alba Gentili-Tedeschi, Noam
Gorbat, Ria Higler, Florentina
Holzinger, Susanne Jablonski,
Steffi Laier, Annina Machaz,
Courtney May Robertson, Audrey
Merilus, Xana Novais, Maja
Osojnik, Bärbel Schwarz, Miranda
van Kuilenburg, Anna Tierney,
Linnéa Tullius, Isabelle Volckaert
www.ruhr3.com/divine
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MASCHINENHAUSMUSIK
IN DER GEBLÄSEHALLE
FULL BLAST
PETER BRÖTZMANN, MARINO
PLIAKAS, MICHAEL WERTMÜLLER
Peter Brötzmann, der legendäre, international renommierte
Saxofonist und Urvater des europäischen Free und New
Jazz aus Wuppertal, feiert in diesem Jahr 80. Geburtstag.
Als einer der kompromisslosesten und unangepasstesten
Musiker der Improvisationsszene inspiriert und beeinflusst
er seit Jahrzehnten Künstler:innen auch im Bereich
der Neuen Musik. Mit seinen Triopartnern, dem Bassisten
Marino Pliakas und dem Schlagzeuger und Komponisten
Michael Wertmüller (→ D•I•E), verbindet ihn eine langjährige
künstlerische Freundschaft. Ungebremste Energie,
rohe Kraft in ekstatischer Geschwindigkeit und ein cooler
Balladenton im Kontrast machen die Musik dieses Kulttrios
unverwechselbar.
Peter Brötzmann, the legendary, internationally renowned
saxophonist from Wuppertal and founding father of European
free and new jazz will celebrate his 80th birthday in
2021. As one of the most uncompromising and unorthodox
musicians on the improv scene, he has been inspiring
and influencing other artists for decades, including those
working in the field of new music. He shares a long-standing
artistic friendship with the partners in his trio, the percussionist
and composer Michael Wertmüller (→ D•I•E)
and the bassist Marino Pliakas. Unfettered energy and raw
power at an ecstatic tempo contrasted with a cool ballad
sound make the music of this cult trio unmistakable.
Saxofon Peter Brötzmann
Bass Marino Pliakas
Schlagzeug Michael Wertmüller
Fr 20. August____________________ 21.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 €, ermäßigt ab 11 €
SVETLANA MARAŠ
& PETER EVANS
Die junge serbische Multimediakomponistin Svetlana
Maraš bewegt sich an der Schnittstelle zwischen experimenteller
elektronischer Musik und medialer Klangkunst
und zählt zu den rigorosesten und beeindruckendsten
Künstlerinnen der elektronischen Musikszene Südosteuropas.
In ihrer Heimatstadt hat sie als künstlerische
Leiterin und Composer in Residence das Profil des elektronischen
Studios von Radio Belgrad geprägt. Bei der Ruhrtriennale
trifft sie erstmals in einem gemeinsam gestalteten
Duoabend auf den US-amerikanischen Trompeter
Peter Evans, der für seinen genreübergreifenden Ansatz
im Jazz wie in der Neuen Musik international bekannt ist.
The young Serbian multimedia composer Svetlana Maraš
works at the intersection of experimental music, sonic art
and new media, and is one of the most rigorous and impressive
artists on the South-East European electronic
music scene. In her home city she has shaped the profile
of Radio Belgrade’s Electronic Studio as both Artistic Director
and Composer-in-Residence. At the Ruhrtriennale
she will meet for the first time in a jointly conceived duo
evening with the American trumpeter Peter Evans, who is
internationally renowned for his cross-genre approach to
jazz, improvisation and new music.
Trompete Peter Evans
Elektronik Svetlana Maraš
Mi 25. August__________________ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 €, ermäßigt ab 11 €
Parallel zur Veranstaltung am 25. August 2021 wird das Konzert als
Livestream übertragen. Mehr Infos unter: www.ruhr3.com/digital
Das Konzert wird als Kompilation mit Stil ist Gewalttat sowie
Visionary Architects am Sonntag, 5. September
im ARD Radiofestival in der Konzertstrecke um 20 Uhr gesendet.
38
Die Kult-Konzertreihe geht weiter – 2021 allerdings nicht wie gewohnt in der Zeche Carl in
Essen, sondern in der Duisburger Gebläsehalle, in der das Publikum auch unter Hygieneschutzbedingungen
ausreichend Platz finden wird.
In der diesjährigen Reihe, die ihren Fokus auf improvisierte und elektronische Musik legt,
feiert Free-Jazz-Legende Peter Brötzmann mit seinem Trio Full Blast 80. Geburtstag,
während Fritz Hauser als Soloperformer am Schlagzeug die Spektren zum Tanz fordert.
Der amerikanische Trompeter und Improvisationskünstler Peter Evans und die serbische
Multimediakomponistin Svetlana Maraš treffen erstmals in einem elektronisch-akustischen
Duo zusammen – und mit der Gründerin des Elektronischen Studios in Kiew Alla
Zagaykevych und ihrer einstigen Schülerin Yana Shlyabanska treten zwei Generationen
ukrainischer elektronischer Musik in den Dialog.
The cult concert series continues – in 2021 at the Gebläsehalle in Duisburg. Here, the
free-jazz legend Peter Brötzmann will celebrate his 80th birthday together with his trio Full
Blast, while, on drums, solo performer Fritz Hauser will inspire ghosts to start dancing. The
American trumpeter and improvisation artist Peter Evans and the Serbian multimedia
composer Svetlana Maraš will meet for the first time as an electro-acoustic duo. And with
the founder of the Electronic Music Studio in Kiev, Alla Zagaykevych, and her one-time
student, Yana Shlyabanska, two generations of Ukrainian electronic music enter a dialogue.
Gebläsehalle,
Landschaftspark Duisburg-
Nord
KYIV: ELECTROAKUSTYKA
ALLA ZAGAYKEVYCH,
YANA SHLYABANSKA
Alla Zagaykevych ist eine Pionierin der elektronischen
Musik in der Ukraine. Nach ihrem Kompositionsstudium in
Kiew und am IRCAM (Institut de Recherche et Coordination
Acoustique/Musique) in Paris gründete sie 1998 das
Elektronische Studio am Konservatorium Pjotr I. Tschaikowsky.
Gemeinsam mit ihrer Studentin Yana Shlyabanska
widmet sie den Konzertabend dem ukrainischen Futurismus.
Die Kunstbewegung der 1920er Jahre bildete ästhetisch
eine Brücke zwischen der westlichen und der osteuropäischen
Avantgarde, bis sie vom stalinistischen
Regime gewaltsam erstickt wurde. Inspiriert von der Poesie
eines Mychail Semenko, Les Kurbas’ neuem Theater oder
der bildenden Künstlerin Oleksandra Ekster, sind die Sets
eine Imagination dessen, wie eine Musik des ukrainischen
Futurismus hätte klingen können – versetzt mit Soundscapes
des modernen Kiews.
Alla Zagaykevych is a pioneer of electronic music in
Ukraine. After studying composition in Kiev and courses
at IRCAM in Paris she founded the Electronic Studio at
the Ukrainian National Conservatory in 1998. Together
with her student Yana Shlyabanska she will devote this
concert to Ukrainian futurism. This artistic movement of
the 1920s formed an aesthetic bridge between the avantgardes
in Western and Eastern Europe, until the latter was
violently suppressed by the Stalinist regime. Inspired by
the poetry of Mychail Semenko, Les Kurbas’s new theatre
and the visual artist Oleksandra Ekster, their sets imagine
what Ukrainian futurist music might have sounded like –
transposed with soundscapes from modern Kiev.
SPETTRO
FRITZ HAUSER
Spettro ist eine Geisterverschwörung für Schlagzeug solo.
Mit getriebenem Puls setzt es ein, verändert subtil das
Raum- und Klangempfinden des Publikums, führt durch
faszinierende Perkussionslandschaften, erkundet Dichte
und Stille, bezaubert mit Humor und Feinheit. Im Kontrast
zu seinem Großprojekt → POINT LINE AREA lässt Fritz
Hauser in Spettro Komplexität aus der bewussten Reduktion
entstehen. In Zusammenarbeit mit Barbara Frey
ist eine intensive Konzertperformance entstanden, die in
3 Improvisationen nachglüht.
Spettro is a conspiracy of spirits for solo percussion.
Starting with a driving pulse, Hauser subtly alters the audience’s
sense of space and sound, leads them through
fascinating percussive landscapes, probes intensity and
silence, and charms listeners with humour and skill. In
contrast to the large-scale project → POINT LINE AREA,
in Spettro Fritz Hauser allows complexity to emerge from
deliberate reduction. In collaboration with Barbara Frey
and Brigitte Dubach an intense concert performance
has been created that reaches a glowing conclusion with
3 Improvisationen.
Schlagzeug Fritz Hauser
Regie Barbara Frey
Licht Brigitte Dubach
Mi 22. September__________________ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 €, ermäßigt ab 11 €
Elektronik Alla Zagaykevych, Yana Shlyabanska
Mi 08. September__________________ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 €, ermäßigt ab 11 €
39
STIL IST
GEWALTTAT
Konzert
LUCIANO BERIO
Black is the Colour aus Folk Songs (1964)
PATRICIA ALESSANDRINI
Black is the Colour... (omaggio a Berio) (2012)
CLAUDE DEBUSSY
Les Chansons de Bilitis (1900–01)
Szenische Musik zu 12 Gedichten von Pierre Louÿs
PATRICIA ALESSANDRINI
menus morceaux par un autre moi réunis (2009)
ARNOLD SCHÖNBERG
Verklärte Nacht op. 4 (1899)
PATRICIA ALESSANDRINI
Forklaret Nat (2011-12)
Klang, der Räume aufschließt
→ Magazin, Seite 195
Ensemble Modern
Mezzosopran
Valentina Stadler
Rezitation
Justine Assaf
Live-Elektronik
Patricia Alessandrini
Gitarre
Mauricio Carrasco
40
Schon als Studierende empfand die italienisch-amerikanische Komponistin Patricia
Alessandrini die allseitige Tendenz, Musik stilistisch zu sortieren und zu schubladi sieren,
als beengend. Immer begleitete sie das Gefühl, das sein zu müssen, was andere in sie
hineinprojizieren. Bei dem Maler Gerhard Richter stieß sie auf einen Satz, der ihr Unbehagen
genau erfasste: »Stil ist Gewalttat, und ich bin nicht gewalttätig.« Dieser bewog
sie dazu, ihren Fokus von den zentralen, stildefinierenden Merkmalen auf die peripheren
Ereignisse der Musik zu lenken. So arbeitet sie mit Aufnahmen von Kompositionen
aus der Vergangenheit, deren Hintergrund sie neu befragt, um dann alle musikalischen
Merkmale aus ihnen zu »löschen«. Nur die Nebengeräusche, Obertöne und Expressivitätsspuren
der Interpretation analysiert sie am Computer und entwickelt daraus neue
Kompositionen.
Beim Konzert im Salzlager stehen drei Originalkompositionen auf dem Programm, denen
das Ensemble Modern Alessandrinis Antworten gegenüberstellt: ein Folk Song von
Luciano Berio, dem sie auf ihre Weise eine Hommage entgegenbringt; Debussys
Les Chansons de Bilitis, deren Genderproblematik sie thematisiert, indem sie der Kurtisane
Bilitis ihre eigene Stimme wiedergibt; und Schönbergs Verklärte Nacht nach einem
Gedicht von Richard Dehmel, das Alessandrini in ihrem Streichquartett Forklaret Nat faltet
und übereinanderlegt, um ihm eine gerechtere, zeitgemäßere Dramaturgie zu verleihen.
Even when she was very young, the Italian-American composer Patricia Alessandrini
found the omnipresent need to divide music up and pigeon-hole it in stylistic terms
claustrophobic. She always felt obliged to be what others had projected onto her. She
then discovered a quotation from Gerhard Richter that perfectly encapsulated her unease:
»Style is violence, and I am not a violent person«. This inspired her to shift her
focus from music’s central, style-defining properties to its more peripheral events. She
began working with recordings of composers from the past, which she re-examines with
regard to their background and then »erases« all their musical properties. She takes only
incidental noises, overtones and traces of expression in their performances, analyses
these on a computer and devises new compositions from them.
In this concert at the Salzlager, the programme features three original compositions
that the Ensemble Modern juxtaposes with Alessandrini’s responses: a Folk Song by
Luciano Berio, to whom she pays homage in her own way; Debussy’s Les Chansons de
Bilitis, whose gender issues she highlights by giving the courtesan Bilitis her own voice
back; and Schönberg’s Verklärte Nacht, based on a poem by Richard Dehmel, which
Alessandrini folds in half as a starting point for her own piece, Forklaret Nat, lending it a
more appropriate and timely dramaturgy.
Salzlager, UNESCO-Welterbe
Zollverein, Essen
Sa 21. August ____________________17.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 / 42 €, ermäßigt
ab 11 €
Aufführung von Black is the
Colour, Teil des geschlossenen
Liederzyklus Folk Songs, mit
ausnahmsweiser Genehmigung
von Universal Edition AG und
The Berio Estate
Mit freundlicher Unterstützung
durch die RAG-Stiftung
Das Konzert wird als Kompilation
mit Full Blast sowie
Visionary Architects am
Sonntag, 5. September 2021
im ARD Radio festival in
der Konzert strecke um 20 Uhr
gesendet.
www.ruhr3.com/stil
41
DIE NATUR DES MENSCHEN
LUKAS BÄRFUSS, THOMAS
MACHO, CORINNA HARFOUCH,
HANNES GWISDEK, MI-YONG
BECKER, FRITZI HABERLANDT,
IÑIGO GINER MIRANDA,
ERNST ULRICH VON
WEIZSÄCKER, ANJA HERDEN,
CAROLINA BIGGE
Literatur / Dialog
Drei Raben
→ Magazin, Seite 178
42
Ziemlich neurotisch, jedenfalls unausgeglichen, von einem Extrem ins andere schwankend,
so lässt sich die Beziehung des Menschen zur Natur wohl am besten beschreiben.
Einmal ist sie Mutter Gaia, wo alles in einem Gleichgewicht steht. Dann wieder sind
ihre Gesetze nichts als eine Schule der Grausamkeit – fressen und gefressen werden.
Täuschungen überall: Ländliche Regionen, die wir als natürlich empfinden, sind in
Wirklichkeit biologische Wüsten, während in städtischen Regionen wie dem Ruhrgebiet
zwischen Schloten und Brachen Lilien blühen, Wanderfalken jagen und Gelbbauchunken
quaken.
Unser Blick auf die Natur ist geprägt von Sehnsüchten und von Ängsten, und diese
Projektionen sagen mehr über uns Menschen als über das Objekt der Betrachtung aus.
Doch im 21. Jahrhundert und im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe tut Reflexion
not. Unsere Gesellschaft muss zu einem neuen Verhältnis mit der Natur finden.
Die Literatur hält einen großen und alten Erfahrungsspeicher bereit. Von Ovids Metamorphosen
über Melvilles Moby Dick bis zu Wolfgang Hilbigs Die Kunde von den Bäumen:
Immer wieder anders spiegelt sie das menschliche Entsetzen wie das Entzücken im
Anblick der Natur. In den Lesungen von Corinna Harfouch, Fritzi Haberlandt und Anja
Herden erkunden wir die Gärten, die Äcker und die Wüsten, und in Gesprächen mit Mi-
Yong Becker, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Thomas Macho begeht der Schriftsteller
Lukas Bärfuss die Phantasmen und sucht mit seinen Gästen eine neue Antwort auf die
alte Frage: Was ist das, die Natur des Menschen?
The relationship between human beings and nature can best be described as rather
neurotic and certainly unbalanced, shifting from one extreme to the other. At one point,
Mother Gaia keeps everything in equilibrium. Then again, her laws are nothing but a
school of cruelty – eat or be eaten. And there are illusions everywhere: rural regions that
we regard as natural are really biological deserts, while, in urban regions like the Ruhr,
lilies bloom, peregrine falcons go hunting and yellow-bellied toads croak in between
industrial chimneys and areas of wasteland.
Our view of nature is conditioned by desires and fears, and those projections say more
about us as people than they do about the object of our attention. However, in the 21st
century and in the face of looming climate catastrophe, we need to stop and think. Our
society has to find a new relationship with nature.
Literature already holds a vast and ancient repository of experience. From Ovid’s
Metamorphoses, through Melville’s Moby Dick to Wolfgang Hilbig’s The Tidings of the
Trees, it repeatedly reflects human shock and delight at the sight of nature in different
ways. We will explore gardens, fields and deserts in readings by Corinna Harfouch, Fritzi
Haberlandt and Anja Herden while, in conversations with his guests Mi-Yong Becker, Ernst
Ulrich von Weizsäcker and Thomas Macho, the writer Lukas Bärfuss will consider these
phantasms and search for a new answer to the old question: what is human nature?
So, 22. August
NATUR UND VERBRECHEN
17–18 Uhr: Dialog mit
Lukas Bärfuss und
Thomas Macho
Museum Folkwang, Essen
20–21.30 Uhr: Lesung mit
Corinna Harfouch und Hannes
Gwisdek (Musik)
Gebläsehalle, Landschaftspark
Duisburg-Nord
So, 29. August
NATUR UND ERLÖSUNG
17–18 Uhr: Dialog mit
Lukas Bärfuss und
Mi-Yong Becker
Museum Folkwang, Essen
20–21.30 Uhr: Lesung mit
Fritzi Haberlandt und
Iñigo Giner Miranda (Musik)
Salzlager, UNESCO-Welterbe
Zollverein, Essen
So, 12. September
NATUR UND ARBEIT
17–18 Uhr: Dialog mit
Lukas Bärfuss und
Ernst Ulrich von Weizsäcker
Museum Folkwang, Essen
20–21.30 Uhr: Lesung mit
Anja Herden und
Carolina Bigge (Musik)
Gebläsehalle, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Konzept
Lukas Bärfuss
Judith Gerstenberg
Tickets Dialoge:
12 €, ermäßigt 6 €
Tickets Lesungen:
22 / 32 €, ermäßigt ab 11 €
In deutscher Sprache
Gefördert von der E.ON Stiftung
Mit Unterstützung der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia
Die dreiteilige Dialogreihe zur
Natur des Menschen wird für das
WDR 3 Forum in Zusammenarbeit
mit dem Kulturradio WDR 3
im Rahmen der WDR 3 Kultur -
partnerschaft aufgezeichnet.
Sendetermine:
Sonntage 29. August, 5. und
19. September, jeweils 18–19 Uhr.
www.ruhr3.com/natur
43
DANZA Y FRONTERA /
TANZ UND GRENZE
ENDANGERED
HUMAN MOVEMENTS
VOL. IV
AMANDA PIÑA
Tanz
Erinnerung, die durch den Körper geht
→ Magazin, Seite 187
44
Danza y Frontera / Tanz und Grenze ist eine Kreation der Choreografin und Performerin
Amanda Piña und bildet den vierten Teil ihrer Reihe »Endangered Human Movements«.
Inspiriert ist diese Arbeit von einem Tanz aus der Region um Matamoros im Bundesstaat
Tamaulipas, dem Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA, der noch heute im
Kontext extremer Gewalt, Drogenhandel und neoliberaler Ausbeutung aufgeführt wird.
Die Wurzeln des Tanzes aus Matamoros, wie er von einer Gruppe Performer:innen unter
der Leitung von Rodrigo de la Torre aufgeführt wird, lassen sich auf die »Danza de
Conquista« zurückführen; einen Tanz, den die Spanische Krone aus früheren Eroberungszügen
mitgebracht hatte und der ihre rassistische und koloniale Weltsicht zum
Ausdruck brachte – die indigene Bevölkerung wurde beispielsweise gezwungen, in
diesen Tänzen die Rolle der M-Figur zu übernehmen. Zugleich lassen sich in der »Danza
de Conquista« alte, prähispanische Tanzformen wiederfinden.
In seiner heutigen Form, so Amanda Piña, kann dieser Tanz trotz der brutalen Geschichte
seiner Genese durchaus »als eine Form des Widerstands gegen koloniale und später
neoliberale Kräfte gesehen werden«.
»Ein Grenzland ist ein vager und unbestimmter Ort, der durch eine unnatürliche Grenze
geschaffen wird«, so zitiert Piña die Chicana-Autorin Gloria Evangelina Anzaldúa. »Dieses
Land befindet sich in einem ständigen Übergangszustand. Hier leben die Atravesados:
die Perversen, die Merkwürdigen, die Unruhigen, […] die Untoten; kurz diejenigen, die
hinüber- und herübergehen und so die Grenzen des ›Normalen‹ überwinden.«
Amanda Piña schafft in Danza y Frontera einen mystischen Raum, in dem sich Zeitebenen
auflösen, koloniale Narrative wiederkehren, auf getanzten Widerstand treffen und sich
mit prähispanischen Danzas und Hip-Hop-Kultur verbinden.
The piece corresponds to the fourth volume of the research on Endangered Human
Movements * and it is based on a dance that arises at the border between Mexico and
the US. The dance from the neighborhood of El Ejido Veinte of Matamoros, Tamaulipas
(MX), is performed today in a context of extreme violence related to a border where narcotraffic,
militarization, and cheap labour industries meet. The dance has its roots in an
ancient pre-hispanic dance form that was later used by the Spanish Crown, (Casa Austria
/ Habsburg) to develop the conquest of Mexico as a Danza de Conquista, a conquest
dance. It continued to transform itself till today used as a form of resistance to colonial
and later neoliberal forces. A contemporary pop-cultural appropriation in which indigenous
practices, colonial narratives, Hip Hop culture and indigenous mysticism resonate.
As border subjects, the performers inhabit a place in between, understanding its power and
limitations, dancing beyond all notions of borders be they cultural, national or aesthetic.
Regie, Choreografie
Amanda Piña
Choreografie, Transmission
Rodrigo de la Torre Coronado
Dramaturgie
Nicole Haitzinger
Research, Theorie
Amanda Piña
Nicole Haitzinger
Musik
Christian Müller
Live-Perkussion
Jorge Luis Cruz Carrera
Kostüme
La mata del veinte /
Julia Trybula
Bühne
Michel Jimenez
Produktionsmanagement
nadaproductions
Video Danza de Conquista
Amanda Piña /
estudio el gozo. 2018
Licht
Michel Jimenez
Management und International
Distribution
Something Great
Management
Angela Vadori
Performance
Matteo Marziano Graziano
Daphna Horenczyk
Mariê Mazer
Dafne del Carmen Moreno
Juan Carlos Palma Velasco
Cristina Sandino
Rodrigo de la Torre Coronado
Lina María Venegas
»A borderland is a vague and undetermined place created by the emotional residue
of an unnatural boundary,« Piña says, quoting the American author Gloria Evangelina
Anzaldúa. »This country finds itself in a constant state of transition. This is where the
atravesados live: the perverts, the weirdos, the restless, the mixed race, the undead:
those who go back and forth crossing the borders of ›normal people‹.«
In Danza y Frontera, Amanda Piña creates a mystical space in which levels of time
dissolve, colonial narratives return and combine with modern hip-hop culture.
PACT Zollverein, Essen
Fr 27. August _________________ 20.00 Uhr
Sa 28. August _________________ 20.00 Uhr
So 29. August _________________ 20.00 Uhr
Mo 30. August _________________ 20.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 25 min
Tickets: 27 €,
ermäßigt 13,50 €
Spanisch mit deutschen und
englischen Übertiteln
Eine Produktion von nadaproductions,
in Koproduktion
mit dem Tanzquartier Wien,
gefördert von der Kulturabteilung
der Stadt Wien und dem
Bundesministerium für Kunst,
Kultur, öffentlichen Dienst
und Sport, Sektion IV – Kunst
und Kultur.
Veranstaltet von PACT Zollverein
für die Ruhrtriennale.
Mit freundlicher Unterstützung
des Mexican Ministry of Foreign
Affairs, der National School
of Folkloric Dance of Mexico,
INBA, National Institute of Fine
Arts Mexico, Diplomado »Cómo
encender un fósforo«, Alma
Quintana, University Museum of
Contemporary Art of Mexico,
MUAC, Goethe Institut Mexico,
Museo Universitario del Chopo,
der Mexikanischen Botschaft in
Wien sowie ImPulsTanz – Vienna
International Dance Festival.
www.ruhr3.com/danza
45
VISIONARY
ARCHITECTS
Konzert
EDGAR VARÈSE
Poème électronique (1958)
IANNIS XENAKIS
Metastaseis (1953–54)
ANTON BRUCKNER
Sinfonie Nr. 2 c-Moll (Fassung 1877)
Klang, der Räume aufschließt
→ Magazin, Seite 195
Bochumer Symphoniker
Musikalische Leitung
Tung-Chieh Chuang
46
Als der Architekt Le Corbusier zum Bau des Philips-Pavillons für die Weltausstellung
1958 in Brüssel beauftragt wurde, schwebte ihm ein Gebäude vor, bei dem Bild, Klang,
Raum und Zeit ineinander aufgehen. Dafür holte er sich zwei Partner an die Seite: den
Architekten und Komponisten Iannis Xenakis und den Komponisten und Pionier elektronischer
Musik Edgar Varèse. Fasziniert von Varèses Vorstößen in die unerforschte
Welt synthetisch produzierter Klänge, beauftragte er ihn, zu einer Serie von Bildern und
Farben ein »elektronisches Gedicht« für den Pavillon zu schaffen.
Die Silhouette hatte mit herkömmlichen Gebäudeformen rein gar nichts gemein.
Xenakis, der seine Musik als Architektur dachte und umgekehrt, hatte sie aus seiner Orchesterkomposition
Metastaseis abgeleitet, die einem grafisch angelegten Prinzip folgt.
Der Philips-Pavillon ging als epochales, visionäres Gesamtkunstwerk in die Geschichte
ein. Bis heute inspiriert es Künstler:innen verschiedener Sparten – so auch den Szenenbildner
Thomas Stammer, der sich bei der Raumkonzeption für Michael Wertmüllers
Musiktheater → D·I·E an Le Corbusiers Vision anlehnt.
Ästhetisch und zeitlich denkbar weit von Xenakis und Varèse entfernt steht Anton
Bruckner, der große österreichische Spätromantiker, der mit seinen Sinfonien ebenfalls
Räume konstruierte – und zwar riesige. In seiner 2. Sinfonie reiht er sich endlos wiederholende
Kleinstmotive wie Steinchen zu monumentalen Kuppeln sakraler Bauten aneinander
– eine vollkommen originäre Methode, mit der er seinerzeit in Wien allein auf
weiter Flur stand.
Erstmals seit seinem Amtsantritt wird Tung-Chieh Chuang dabei als neuer Generalmusikdirektor
am Pult der Bochumer Symphoniker zu erleben sein.
When the architect Le Corbusier was commissioned to build a Philips Pavilion for the
1958 World’s Fair in Brussels, he envisaged a building in which visual, sonic, spatial and
temporal dimensions would merge. To achieve this, he recruited two partners: the architect
and composer Iannis Xenakis and the composer and pioneer of electronic music
Edgar Varèse. Fascinated by Varèse’s forays into the then unknown territory of artificially
generated sounds, he commissioned him to create an »electronic poem« for the pavilion
to accompany a series of colours and sounds.
The pavilion’s bizarre silhouette had absolutely nothing in common with traditional
forms of construction. Xenakis, who thought of his music as architecture and vice versa,
distilled the buildings shape from his orchestral composition Metastaseis, which follows
a principle laid down in graphic form.
The Philips Pavilion went down in history as an epoch-making, visionary Gesamtkunstwerk.
Even now it continues to inspire artists from a range of disciplines – including
the production designer Thomas Stammer, who draws on Le Corbusier’s vision for his
design of the performance space for Michael Wertmüller’s opera → D·I·E.
Separated by some distance from Xenakis and Varèse in terms of aesthetics and
time, Anton Bruckner, the great Austrian late Romantic, also constructed spaces in his
symphonies: vast ones. In his 2nd Symphony he endlessly repeats the tiniest motifs,
placing them one after another like the pieces of mosaics that make up the monumental
domes of sacred buildings – an entirely original approach that made him unique in the
Vienna of his day.
This will be an opportunity to hear Tung-Chieh Chuang conduct the Bochumer Symphoniker
for the first time since taking up his post as the orchestra’s new general music director.
Jahrhunderthalle Bochum
Sa 28. August _________________ 20.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 25 min
Tickets: 22 / 37 / 52 / 67 €,
ermäßigt ab 11 €
Das Konzert wird als Kompilation
mit Full Blast sowie Stil
ist Gewalttat am Sonntag,
5. September 2021 im ARD
Radiofestival in der Konzertstrecke
um 20 Uhr gesendet.
www.ardradiofestival.de
www.ruhr3.com/vision
47
POPKONZERTE
Zwei feministische Hip-Hop-Künstlerinnen stehen am
Anfang der diesjährigen Popkonzertreihe: Lala &ce und
Kaleo Sansaa haben eine traditionelle Männer domäne
erobert, die für direkte Ansprache und codierten Protest
steht. Zum Abschluss dann Perera Elsewheres mysteriöser
Anti-Pop-Pop. Im Pandemiejahr lädt die Ruhrtriennale zu
intimen Popkonzerten ein, bei denen die eindringlichen
Botschaften und die faszinierende Ausstrahlung der charismatischen
Künstlerinnen im Zentrum stehen.
Two feminist hip-hop artists kick off this year’s series of
pop concerts: Lala &ce and Kaleo Sansaa have conquered
a traditionally male domain renowned for direct
address and coded protest. We then finish with Perera
Elsewhere’s mysterious anti-pop pop. In the year of the
pandemic, the Ruhrtriennale invites you to intimate pop
concerts where the urgent messages and fascinating
aura of these charismatic artists take centre stage.
Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord
LALA &CE
Die kryptischen Punchlines von Lala &ce versetzen nicht
nur ihre französische Fangemeinde in Staunen. Machistische
Hip-Hop-Floskeln schlägt sie in einer fließenden Bewegung
mit ihren eigenen Waffen. In einem synthetischen
Musikdelirium verschmelzen sie zu sinnlichen Texten,
die sich entspannt über das Tabu homoerotischer Liebe
zwischen Schwarzen Frauen hinwegsetzen. Die frankoivorische
Rapperin hat sich bereits mit Anfang zwanzig
einen Namen als einziges weibliches Mitglied der Hip-
Hop Gruppe collectif 667 gemacht. Mit ihrem ersten Soloalbum
Everything Tasteful tritt sie aus dem Schatten der
Gruppe: »Der Titel lässt sich mit E. T. abkürzen. Ich habe
mich oft wie eine Außerirdische gefühlt, aber jetzt bin ich
stolz darauf, dass ich anders bin. Deshalb bin ich heute
hier.« (Radio France)
Lala &ce’s cryptic punchlines don’t just amaze her French
fans. She defeats macho hip-hop cliches with their own
weapons in flowing movements. In a synthesised musical
delirium, they melt into meaningful lyrics that calmly flout
the taboo of homoerotic love between black women. The
Franco-Ivorian rapper already made a name for herself in
her early twenties as the female member of the hip-hop
group collectif 667. She emerged from the group’s shadow
with her first solo album Everything Tasteful: »The title can
be abbreviated to E.T. I’ve often felt like an extra-terrestrial,
but now I’m proud to be different. That’s why I’m here now.«
(Radio France)
So 29. August __________________ 20.00 Uhr
Tickets: 27 €, ermäßigt 13,50 €
48
KALEO SANSAA
Auf ihrem Debutalbum Solarbased Kwing fordert Kaleo
Sansaa Schwarze Künstler:innen weltweit zu mehr Selbstbewusstsein
auf: »Pay my ancestors in Cash / Pay all my
Sistas in Cash / Original Mother / my labour is holy / Mother
of this earth / you owe me.« Mit ihren experimentellen,
afrofuturistischen Beats zieht sie das Publikum in ihren
Bann: sun-drunk sound und solar-based Hip-Hop! So
beschreibt sie selbst das Wesen ihrer Musik, die aus dem
Zentrum der Sonne zu kommen scheint – energetisch,
strahlend und hypnotisch.
On her debut album Solarbased Kwing Kaleo Sansaa calls
on black artists around the world to demonstrate greater
self-awareness: »pay my ancestors in cash / pay all my
sistas in cash / original mother / my labour is holy / mother
of this earth / you owe me«. She captivates audiences with
her experimental, Afro-futurist beats: sun-drunk sound and
solar based hip-hop! She describes her own music as if it
comes directly from the centre of the sun – a sound that is
energetic, radiant and hypnotic.
Mi 15. September_________________ 21.00 Uhr
Tickets: 27 €, ermäßigt 13,50 €
PERERA ELSEWHERE
Perera Elsewhere ist Frontfrau, Produzentin, Songwriterin
und DJ. Sie kommt aus London, lebt in Berlin und geistert
durch die Popavantgarde. Beeinflusst von der Ravekultur
der 1990er Jahre, dem Trompetenunterricht zu Schulzeiten,
einer ausgeprägten Phase als MC mit ihrer Band
Jahcoozi und Experimenten mit DIY-Elektronik, hat sie sich
Stück für Stück ein eigenes musikalisches Territorium
angelegt. Wo das liegt? Weder im Zentrum noch in der
Peripherie. Ihr »elsewhere« ist eine extraterrestrische
Klanglandschaft: grobkörnige Sounds, verzerrte Stimmen
oder verformte Trompeteneinsätze neben flirrenden
Synthe sizern. »Ich mache keine Konzeptalben und folge
keiner Formel. Aber beim Schreiben und Musizieren geht
alles durch mich hindurch, was in der Welt um uns herum
passiert. Meine Songs sind Reflexionen über das Leben
und die Realität – und die Gründe, warum ich dem entkommen
möchte.« (Pitchfork Magazine)
Perera Elsewhere is a front woman, producer, song-writer
and DJ. She comes from London, lives in Berlin and drifts
like a ghost through pop’s avant-garde. Influenced by 90s
rave culture, school trumpet lessons, a strong phase as
an MC with her band Jahcoozi and experiments with DIY
electronics, she has gradually established her own musical
territory. Where is this? Neither in the centre, nor
on the periphery. Her »elsewhere« is an extra-terrestrial
soundscape: coarse-grained sounds, distorted voices
and warped trumpet passages alongside whirring synthesisers.
»I don’t write songs with a view to making a concept
album, there’s not really a formulaic approach. But in terms
of the content, it usually stems from all the shit that’s
happening in the world around us. Writing and making
music is how I deal with it, so within the songs there are
reflections on life and reality, and the reasons I want to
escape it.« (Pitchfork magazine)
Do 23. September________________ 21.00 Uhr
Tickets: 27 €, ermäßigt 13,50 €
www.ruhr3.com/pop
49
DIE TOTEN
JAMES
JOYCE
BARBARA
FREY
Schauspiel
50
Diese Séance weiß um die Lebendigkeit der Toten, von der Macht der Abwesenden
über die Anwesenden. Sich ganz dem Klang und dem Rhythmus der Sprache hingebend,
öffnet sich in Barbara Freys Inszenierung die Welt des irischen Jahrhundertdichters
James Joyce in all ihren Schattierungen.
»Freys Kunst ist es, den Dingen einen Raum zu geben, die sich der Erklärung entziehen,
dorthin, wo es keine Begrifflichkeiten gibt. Mit ihrer Abschiedsinszenierung (vom Schauspielhaus
Zürich, A. d. R.) überlässt sie dem Publikum etwas, für das erst das Genre gefunden
werden muss. Es ist die Sprache von James Joyce, die Stoff ist für ein Oratorium
und eine Totenbeschwörung. Freys Theater war und ist die Kommunikation mit etwas
Drittem, das verlässlich anwesend ist, mit Unnennbarem, Transzendentem vielleicht –
einer Währung jedenfalls jenseits der gängigen.« (Neue Zürcher Zeitung)
»Barbara Frey übersetzt den Text in einen musikalischen Vorgang, der das Theater als
Kunstwerk feiert, völlig autonom und großartig.« (Süddeutsche Zeitung)
This seance is aware of the liveliness of the dead, of the power that the absent have over
those present. Relying fully on the sound and rhythm of the language, the production,
directed by Barbara Frey, opens up all the many nuances of the legendary Irish writer
James Joyce’s world.
»Frey’s art is to give space to things that resist explanation and for which there is no terminology.
With her farewell production (from Schauspielhaus Zürich, ed.) she bequeaths
the audience something whose genre has yet to be invented. It is the language of James
Joyce that provides the material for an oratorio and a summoning of the dead. Frey’s
theatre was and is communication with a third entity that is reliably present, with what is
unnameable, perhaps transcendent – a currency in any event that is beyond the usual.«
(Neue Zürcher Zeitung)
Nach der gleichnamigen Erzählung
von James Joyce mit Texten
aus Ulysses und Finnegans Wake
Text
James Joyce
Regie
Barbara Frey
Musik
Barbara Frey
Jürg Kienberger
Bühne
Martin Zehetgruber
Kostüme
Bettina Walter
Licht
Rainer Küng
Ton
Jens Zimmer
Dramaturgie
Geoffrey Layton
Mit
Klaus Brömmelmeier
Jürg Kienberger
Claudius Körber
Michael Maertens
Lisa-Katrina Mayer
Elisa Plüss
»Barbara Frey translates the text into a musical event that celebrates the theatre as a
work of art: completely autonomous and magnificent.« (Süddeutsche Zeitung )
Jahrhunderthalle, Bochum
Mi 01. September _______ 20.00 Uhr
Do 02. September _______ 20.00 Uhr
Fr 03. September _______ 20.00 Uhr
Sa 04. September _______ 20.00 Uhr
So 05. September _________ 18.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 50 min
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,
ermäßigt ab 11 €
Deutsch mit englischen
Übertiteln
Deutschsprachige Erstaufführung
am 16. Mai 2019 im
Schauspielhaus Zürich
www.ruhr3.com/toten
51
D • I • E
MICHAEL WERTMÜLLER
ALBERT OEHLEN
RAINALD GOETZ
Musiktheater
Überbietung, Eigensinn, Ungesamtkunstwerk
→ Magazin, Seite 193
52
Alle Sinne in Aufruhr. In einem experimentellen Opernraum kollidieren und verwachsen
dynamische Kohlezeichnungen von Albert Oehlen mit konzentrierter Poesie von Rainald
Goetz. D • I • E ist ein Ort der unaufhaltsamen Transformation. Michael Wertmüller
schickt drei Sängerinnen, eine Rapperin und eine Schauspielerin auf die Jagd nach klarer
Form und Bedeutung in Worten, Körpern und Klängen, die sich permanent entziehen.
Streichquartett, Avantcore, Elektronik, Perkussion und Garage Punk werden zum
Orches ter, das die Stile zelebriert, negiert und auflöst. Wertmüller stößt dabei die Tür zu
einer rauschhaften Überforderungstrance auf.
In einem Multiversum ohne Richtung verwandelt Szenograf Thomas Stammer dreizehn
Zeichnungen in Zeit. Die Musik bewegt diese holografischen Skulpturen rastlos von
Gestalt zu Gestalt. Flüchtig begegnen sie auf der Bühne den lebendigen Körpern. Eine
Reise ohne Ankunft, eine Kunst ohne Kategorien und Definitionen – in dieser Vision sind
Wertmüller, Oehlen und Goetz miteinander verbunden.
Und wovon handelt D • I • E ? Von einer Frau? Vom Sterben? Von Grammatik? Von Linien,
Punkten und Schriftzeichen? Alle Antworten sind richtig – und alle Fragen obsolet.
All the senses are in uproar. In an experimental opera space, dynamic charcoal drawings
by Albert Oehlen collide and intertwine with the dense poetic texts of Rainald Goetz.
D • I • E is a place of irresistible transformation. Michael Wertmüller dispatches three
singers, a rapper and an actor in search of clear form and meaning in words, bodies and
sounds that are consistently elusive. A string quartet, a »Hammmond Avantcore« trio,
electronics, percussion and garage punk merge into an orchestra celebrating, negating
and dissolving these styles as Wertmüller throws open the doors to an ecstatic trance
of excess.
In a multiverse with no particular direction, direction, scenographer Thomas Stammer
transforms thirteen drawings into time. The music moves them tirelessly from one shape
to another in the form of holographic sculptures. On stage, they fleetingly encounter
living bodies. A journey that never arrives, an art that defies categories and definitions –
this is the vision that Wertmüller, Oehlen and Goetz share.
And what is D • I • E about? Is it about a woman? About dying? About grammar? About
lines, dots and letters? All answers are correct – and all questions obsolete.
Uraufführung
Komposition
Michael Wertmüller
Bild
Albert Oehlen
Text
Rainald Goetz
Musikalische Leitung
Titus Engel
Regie
Anika Rutkofsky
Holografische
Musikvisualisierung
Thomas Stammer
Kostüme
Uta Gruber-Ballehr
Creative Coding
Daniel Dalfovo
3D-Animation
Tim Markgraf
Sound Design
Thomas Wegner
Licht
Dietrich Körner
Dramaturgie
Johanna Danhauser
Barbara Eckle
Sopran
Caroline Melzer
Sarah Pagin
Mezzosopran
Christina Daletska
Conferencière
Sylvie Rohrer
Vocals
Catnapp
Steamboat Switzerland
Asasello Quartett
Jealous
Camille Emaille
Kraftzentrale, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Do 02. September_______ 20.00 Uhr
Fr 03. September_______ 20.00 Uhr
Sa 04. September_______ 20.00 Uhr
So 05. September_______ 18.00 Uhr
Sa 11. September_______ 20.00 Uhr
So 12. September_______ 18.00 Uhr
Tickets: 42 €, ermäßigt 21 €
In deutscher Sprache
Kompositionsauftrag und
Produktion der Ruhrtriennale
Gefördert durch die
Kunststiftung NRW
Mit Unterstützung der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia
www.ruhr3.com/die
53
THE HISTORY
OF PHOTOGRAPHY
IN SOUND
IAN PACE
Konzert / Lecture
MICHAEL FINNISSY
The History of Photography in Sound
Zyklus für Klavier solo (1996–2000)
Deutsche Erstaufführung des kompletten Zyklus
Sa 04. September: Chapters I–VII (Konzert und Lecture)
So 05. September: Chapters VIII–XI (Konzert und Lecture)
Klang, der Räume aufschließt
→ Magazin, Seite 195
Klavier und Lectures
Ian Pace
54
Der britische Komponist Michael Finnissy gehört zu den bekannten Vertreter:innen der
sogenannten »New Complexity« – einer Musik von enormer Dichte und schneller Abfolge
von Ereignissen, rhythmischer Vertracktheit und ständiger Verwandlung von musikalischem
Material. Der paradoxe Titel seines Klavierzyklus The History of Photography
in Sound geht aus Finnissys exzentrischem Kompositionsverfahren hervor, denn dieses
gleicht dem Drehen und Schneiden eines Films. Sein Arbeitsmaterial ist ein unendlicher
Fundus von Musik anderer Komponist:innen. Zitate unter anderem von Bach, Berlioz,
Paganini, Debussy wie auch Volks- und Popmusikelemente aus aller Welt verdreht, verschachtelt
und schichtet er so, dass sie kaum mehr erkennbar sind. Unscheinbar und
unablässig webt er eine Musik in die andere hinein – oft Puls gegen Puls. Aus ihrem
alten Kontext gerissen, verlieren Zitate und bekannte Motive ihre künstlerische Bedeutung
und erhalten in Finnissys Verarbeitung durch ihre soziale und historische Bedeutung
eine neue, quasi dokumentarische Funktion. Es ist Musik aus und über Musik.
Durch die elf gänzlich unterschiedlichen Kapitel ließ sich Finnissy von bildhistorischen
Phänomenen unter anderem von Eadweard Muybridge oder Edvard Munch den Weg
weisen, ebenso von philosophischen Gedanken über Fotografie und Reproduktion von
Susan Sontag, Roland Barthes oder Walter Benjamin.
Über zwei Nachmittage verteilt spielt der britische Pianist und Musikwissenschaftler
Ian Pace die deutsche Erstaufführung des fast sechsstündigen Gesamtzyklus und
führt das Publikum zu Beginn beider Teile persönlich in diesen faszinierenden Kosmos
ein, der sich so spielerisch wie monumental über die Grenzen zwischen Klang, Bild und
Zeit hinwegsetzt.
The British composer Michael Finnissy is a prominent exponent of the so-called »New
Complexity« – a music that is extremely dense and contains a rapid succession of
events, rhythmic complexity and the constant reworking of musical material. The paradoxical
title of his piano cycle The History of Photography in Sound is derived from
Finnissy’s eccentric process of composition, because it is similar to the filming and
editing of a film: the material he works with is a never-ending archive of music by other
composers. He reverses, interleaves and overlays quotations from composers including
Bach, Berlioz, Paganini and Debussy, as well as elements of folk and pop music from
around the world, so that they are barely recognisable. Inconspicuously but relentlessly,
he weaves one piece of music into another – often one pulse against another. Removed
from their old contexts, quotations and familiar motifs lose their artistic meaning and,
in Finnissy’s reworking, they gain a new, documentary function due to their social and
historical significance. It is music from and about music.
Finnissy allowed himself to be guided through eleven entirely different chapters by art
historical phenomena such as Eadweard Muybridge and Edvard Munch, along with philosophical
ideas about photography and reproduction by Susan Sontag, Roland Barthes
and Walter Benjamin.
The British pianist and musicologist Ian Pace will divide the German premiere of this
almost six-hour cycle across two afternoons, prefacing each part with a lecture, introducing
the audience to this fascinating world that defies the borders between sound,
image and time in a manner that is both playful and monumental.
Gebläsehalle, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Tickets: 22 / 32 €,
ermäßigt ab 11 €
Sa 04. September_________16.00 Uhr
So 05. September_________16.00 Uhr
Dauer:
4. Sept.: 5 h, 3 Pausen
5. Sept.: 3 h 40 min, 2 Pausen
www.ruhr3.com/history
55
PAISAJES PARA NO
COLOREAR /
NICHT AUSZUMALENDE
LANDSCHAFTEN
MARCO LAYERA
TEATRO LA RE-SENTIDA
Junge Triennale / Schauspiel /
für Jugendliche und Erwachsene
ab 15 Jahren
Als Frau geboren zu sein, bedeutet Widerstand
→ Magazin, Seite 163
56
»Wir mussten es ertragen, belästigt, begrabscht, angemacht, beleidigt, diskriminiert,
verunglimpft, zusammengeschlagen, vergewaltigt, entführt, aufgespießt und ermordet
zu werden, nur weil wir eine Vagina haben und Minderjährige sind.« Neun junge Darsteller:innen
aus Chile treten auf die Bühne, um sich der Gewalt entgegenzustellen, von der
junge Frauen in Lateinamerika bedroht werden. Und auch in Europa ist Gewalt gegen
Mädchen und Frauen bis heute keine Seltenheit – Prävention, Schutz und konsequente
Strafverfolgung sind jedoch längst nicht selbstverständlich. In Deutschland werden laut
der Bundeszentrale für politische Bildung »rund 35 Prozent der Frauen nach ihrem 15.
Lebensjahr irgendwann Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt.«
Entstanden ist Paisajes para no colorear aus den Geschichten der Darsteller:innen und
Interviews mit über 100 weiteren chilenischen jungen Frauen. Mit mitreißender Energie
und ansteckender Wut erzählen die Performer:innen die realen Geschichten von Diskriminierung
und körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt gegen Mädchen und
Frauen. Sie reflektieren, welche Folgen veraltete Rollen- und Geschlechterbilder haben,
machen sichtbar, was oft hinter verschlossenen Türen stattfindet.
Und so bitten die neun jungen Performer:innen stellvertretend für die Hälfte der Menschheit
um Unterstützung für längst überfällige Veränderungen: »Wir wollen eine sympathische,
unterstützende Gesellschaft schaffen. Wir wollen dieses System von den Wurzeln
her transformieren und seine Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten überwinden!«
Ein empowerndes Stück für Jugendliche, ein bewegender Appell an alle Erwachsenen zu
Solidarität und gesellschaftlichen Veränderungen.
»We had to put up with being hassled, groped, hit on, insulted, discriminated against,
disparaged, beaten up, kidnapped, impaled and murdered, just because we have a
vagina and are under age.« Nine young performers from Chile take to the stage to confront
the violence that threatens young women in Latin America. In Europe, too, violence
against young women and girls is not rare – but prevention, protection and consistent
punishment cannot be taken for granted. The Federal Agency for Civic Education writes:
»In Germany […] around 35 per cent of women over the age of 15 become victims of
physical and/or sexual violence at some point.«
Paisajes para no colorear was created from the stories of its young performers and
interviews with a further 140 young women from Chile. In this moving piece of theatre,
the young performers tell real stories of physical, mental and sexual violence and discrimination
against women and girls. They demonstrate the consequences that antiquated
role and gender images bring with them and make visible what often happens
behind closed doors – and has become so horrifyingly everyday that it barely attracts
attention or is made public, because the victims are no longer able to speak.
The nine young performers represent half of humanity in requesting support for changes
that have been needed for too long: »We want to create a sympathetic, supportive society.
We want to transform this system from the roots up and overcome its injustices
and inequalities!«
An empowering play for young people, a moving appeal to all adults for solidarity and
social change.
Regie
Marco Layera
Bühne
Pablo de la Fuente
Kostüme
Daniel Bagnara
Musik
Tomás González
Licht
Pablo de la Fuente
Regieassistenz
Carolina de la Maza
Dramaturgische Beratung
Francisca Ortiz
Anita Fuentes
Soledad Escobar
Dramaturgie RT
Anne Britting
Mit
Ignacia Atenas
Paula Castro
Fredderick Undomiel Vásquez
Daniela López
Almendra Menichetti
Angelina Miglietta
Remmý Erwin Morgado
Constanza Poloni
Rafaela Ramírez
Salzlager, UNESCO-Welterbe
Zollverein, Essen
Mi 08. September_________ 11.00 Uhr
Mi 08. September_________18.00 Uhr
Do 09. September_________ 11.00 Uhr
Fr 10. September_________19.00 Uhr
Sa 11. September_________19.00 Uhr
Mo 13. September_________ 11.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 30 min
Tickets: 12 €, ermäßigt 6 €
Schulen ab 5 € pro Person
Audioeinführung
www.ruhr3.com/paisajes
Spanisch mit deutschen und
englischen Übertiteln
Triggerwarnung: In diesem Stück
geht es explizit um Gewalt gegen
Mädchen und Frauen in
unterschiedlichen Formen. Falls
Sie genauere Informationen
benötigen, um einzuschätzen, ob
Sie das Stück anschauen können,
wenden Sie sich gerne an
jungetriennale@ruhrtriennale.de.
Eine Produktion von GAM
(Centro Cultural Gabriela
Mistral) in Koproduktion mit
Teatro La Re-Sentida
Mit freundlicher Unterstützung
durch die RAG-Stiftung
Weitere Angebote der Jungen
Triennale für Schulen finden Sie
auf S. 78
www.ruhr3.com/paisajes
57
ELIAS
FELIX
MENDELSSOHN
BARTHOLDY
Konzert
FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY
Elias Oratorium op. 70 (1946)
Sopran
Carolina Ullrich
Alt
Anke Vondung
Tenor
Werner Güra
Bass
Michael Nagy
Chorwerk Ruhr
Concerto Köln
Musikalische Leitung
Florian Helgath
58
»Es soll diese Jahre weder Thau noch Regen kommen«, prophezeit Elias die Katastrophe,
begleitet von dunklem Orchestergrollen. Trotzdem ist das Geheul des Volkes
groß, als sich die Natur dem sündigen Leben versperrt, Hunger und Krankheiten auf
Erden einziehen. Elias gelingt es zwar, die Herrschaft der Baal-Priester zu stürzen, aber
nicht, die opportunistische Masse zur Umkehr zu bewegen. Der alttestamentarische
Stoff stellte Mendelssohn Bartholdy vor eine Herausforderung: Wie komponiert man
ein Wunder? Die Lösung war genial: Er brachte nicht das Ereignis selbst zum Klingen,
sondern spiegelte es in der Überwältigung der Zeug:innen. So durchlaufen Feuerzungen
die Chorpartie und Regengüsse das Orchester. Und dann erscheint Gott selbst: im Bericht
eines Kindes – ganz leise. Trotz des biblischen Stoffes war das Oratorium Elias nie
für den Gottesdienst gedacht. Die durch und durch dramatische Anlage macht deutlich:
Es ist die Zeit der Grand Opéra. Unter der Leitung von Florian Helgath werden Chorwerk
Ruhr, Concerto Köln und ein herausragendes Solist:innenensemble dieses opulente wie
fesselnde Stück Musikgeschichte erzählen.
»There shall be neither dew nor rain« is Elijah’s prophecy of disaster, accompanied by
dark rumblings from the orchestra. Nevertheless, the people raise a great cry when
nature revolts against a life of sin, and hunger and disease invade the Earth. While Elijah
succeeds in toppling the regime of the priests of Baal, he does not manage to persuade
the opportunistic mass to change their ways. This Old Testament story presented
Mendelssohn with a challenge: how does one compose a miracle? The solution he came
up with was brilliant: rather than presenting the sound of the event itself, he showed
it reflected through the overwhelmed reactions of those who witnessed it. As a result,
tongues of flame ripple through the choral part and torrents of rain cascade through the
orchestra. And then God himself appears: described by a child – very quietly. Despite its
Biblical origins, the oratorio Elijah was never intended to be performed as a religious service.
Its thoroughly dramatic approach makes clear: this is the time of the Grand opéra.
Under conductor Florian Helgath, Chorwerk Ruhr, Concerto Köln and an outstanding
ensemble of soloists will present this opulent and gripping piece of musical history.
Jahrhunderthalle, Bochum
Übernahme aus dem Programm
der Ruhr triennale 2020
Do 09. September_______ 20.00 Uhr
Fr 10. September_______ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 37 / 52 / 67 €,
ermäßigt ab 11 €
Eine Produktion von Chorwerk
Ruhr für die Ruhrtriennale.
Dauer: 3 h, 1 Pause
www.ruhr3.com/elias
59
CASCADE
MEG STUART
DAMAGED GOODS
PHILIPPE QUESNE
BRENDAN
DOUGHERTY
Tanz
Den Blick öffnen auf das, was jenseits der Gegenwart liegt
→ Magazin, Seite 190
60
Meg Stuarts international gezeigte Arbeiten bewegen sich zwischen Tanz und Theater,
zwischen Bewegung und Erzählung. Immer wieder definiert die Choreografin, deren
Lebenswerk 2018 mit dem Goldenen Löwen der Venedig Biennale gewürdigt wurde,
ihre künstlerische Arbeitsweise neu und erforscht die Übersetzung ihrer choreografischen
Konzepte in andere Bereiche. In CASCADE sucht Stuart mit sieben Tänzer:innen
nach einem Halt im entropischen Strom der Zeit. Kann es gelingen, der Vergänglichkeit
und Linearität der Zeit zu widerstehen? Die Tänzer:innen begegnen und konfrontieren
einander in komplexen rhythmischen Strukturen und imaginieren eine neue Welt, eine
Zeitlichkeit, in der vermeintlich unvermeidbare Konsequenzen ausbalanciert werden
können. Dabei entfaltet sich in einem Wechselspiel aus Fürsorge und Abstoßung zugleich
eine disruptive Triebkraft. Rausch und tiefer Fall folgen einander auf dem Fuße. Im
freien Fall durch eine zerbröselnde Zeit verlieren die Körper die Orientierung, Prinzipien
werden wiederholt, gebrochen und umgeformt. Welchen Preis gilt es zu bezahlen, welche
Träume aufzugeben, um weiterzuträumen?
Mit CASCADE kreierte Meg Stuart ein Werk über die Kapitulation vor dem, was wir
übereinander nicht wissen, und eine Liebeserklärung an das Unbekannte. Gemeinsam
mit dem Bühnenbildner und Theatermacher Philippe Quesne entstand eine bildliche
Einfassung dieser schwankenden, flackernden Zone. Zur von Brendan Dougherty komponierten,
treibenden Musik, live von zwei Schlagzeuger:innen interpretiert, begeben
sich die Tänzer:innen auf die Suche nach anderen Formen der Interaktion und kollektiven
Organisation.
Meg Stuart’s internationally presented works shift between dance and theatre, between
movement and narrative. The choreographer, who was awarded the Golden Lion for lifetime
achievement at the Venice Biennale 2018, repeatedly reinvents her artistic working
methods and explores how to transpose her choreographic ideas to other media. In
CASCADE, Meg Stuart and seven dancers look for ways to resist the arrow of time.
Meeting in structures of rhythmic complexity, they propel their bodies and imaginations
into a new temporal space, envisioning a new Earth and rebalancing inevitable outcomes.
In a game of refusal and care, disruption becomes a driving force: rushes and falls
succeed one another, bodies lose their bearings, principles are repeated, interrupted
and transformed. Hovering at the edge of uncertainty, the dancers wonder what kind of
dream they need to give up in order to keep dreaming, what kind of body they need to
acquire to keep going.
CASCADE is a surrender to what we don’t know about the other. Stuart collaborated
with set designer and theatre director Philippe Quesne to bring this flickering, fluctuating
world to life. Driven by Brendan Dougherty’s score, performed live by two percussionists,
the dancers embark on a free fall through the crumbling of time.
Choreografie
Meg Stuart
Szenografie, Licht
Philippe Quesne
Dramaturgie
Igor Dobricic
Musikalische Komposition
Brendan Dougherty
Live-Musik
Brendan Dougherty
Philipp Danzeisen
Kostüme
Aino Laberenz
Assistenz Szenografie
Elodie Dauguet
Assistenz Kostüme
Patty Eggerickx
Assistenz Kreation
Ana Rocha
Kreiert und performt mit
Pieter Ampe
Jayson Batut
Márcio Kerber Canabarro
Mor Demer
Davis Freeman
Renan Martins de Oliveira
Isabela Fernandes Santana
PACT Zollverein, Essen
Deutsche Erstaufführung
Fr 10. September_______ 20.00 Uhr
Sa 11. September_______ 20.00 Uhr
So 12. September_______ 20.00 Uhr
Tickets: 27 €,
ermäßigt 13,50 €
Eine Produktion von Damaged
Goods, Nanterre- Amandiers
(Paris), PACT Zollverein (Essen),
Ruhrtriennale – Festival der
Künste 2020
In Koproduktion mit December
Dance (Concertgebouw und
Cultuurcentrum Brugge), Festival
d’Automne à Paris, HAU Hebbel
am Ufer (Berlin), Perpodium
(Antwerpen), Théâtre Garonne –
scène européenne (Toulouse),
Arts Centre Vooruit (Gent)
Unterstützt durch Fondation
d’entreprise Hermès im Rahmen
des Programms New Settings
Die Kreation von CASCADE
wurde durch Tax Shelter der
Bel gischen Regierung unterstützt.
Meg Stuart und Damaged Goods
werden von den flämischen
Be hör den und der flämischen
Gemeinschafts kommission
unterstützt.
Veranstaltet von PACT Zollverein
für die Ruhrtriennale.
www.ruhr3.com/cascade
61
POINT LINE AREA.
EIN PERKUSSIONS-
RITUAL
FRITZ HAUSER
Konzert / Performance
Jede:r hat einen eigenen Sound
→ Magazin, Seite 200
62
64 Schlagzeuger:innen bringen die monumentale Kraftzentrale im Landschaftspark
Duisburg-Nord zum Tönen. Die Aufstellung erinnert an ein voll besetztes Schachbrett:
Abstandsregeln dienen hier als optisches Strukturelement. In Fritz Hausers Raum-
Klang-Komposition erhalten die Spieler:innen eine individuelle Hörbarkeit und lösen
sich gleichzeitig in einem Sound-Mosaik von 400 m² auf. Zwar verfügen alle über die
gleiche Grundausstattung an Instrumenten, doch in Material, Bauweise und Charakter
unterscheiden sich diese ebenso wie die Menschen, die sie zum Klingen bringen. In
feierlicher Konzentration verbinden sie punktuelle Klangereignisse zu rhythmischen
Linien und lassen sie zu monochromen Klangflächen anschwellen. Feine Nuancen
und extreme dynamische Kontraste erwachsen aus dem kollektiven Perkussionsritual.
Fritz Hauser koloriert ein Klangmeer, wo einst Hochofenwind produziert wurde.
Konzept, Komposition, Leitung
Fritz Hauser
Künstlerische Projektbegleitung
Boa Baumann
Béatrice Goetz
Licht
Rolf Derrer
Dramaturgie
Johanna Danhauser
Mit
64 Schlagzeuger:innen
64 student percussionists fill the monumental Kraftzentrale in the Landschaftspark
Duisburg-Nord with sound. The setup is reminiscent of a chess board filled with pieces:
rules on social distancing are used here to create a visual structure. In a composition of
space and sound, the performers are visible as audible while simultaneously dissolving
into a sound mosaic that covers 400 m². Each percussionist has the same basic kit: a
snare drum, a cymbal, wood blocks and a tam-tam. With majestic concentration they
combine selective sonic events into rhythmic lines and allow these to build into monochrome
soundscapes. Subtle nuances and extremely dynamic contrasts grow out of
this collective percussion ritual. Fritz Hauser colours an ocean of sound where once the
winds of a blast furnace blew.
Kraftzentrale, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Uraufführung
Do 16. September_______ 20.00 Uhr
Fr 17. September_______ 20.00 Uhr
Sa 18. September_______ 20.00 Uhr
Dauer: ca. 1 h 10 min min
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,
ermäßigt ab 11 €
Mit Unterstützung der Schweizer
Kulturstiftung Pro Helvetia
Parallel zur Veranstaltung am
18. September wird das Konzert
als Livestream übertragen.
Ab dem 20. September ist Point
Line Area auch als Video-on-
Demand auf der Homepage der
Ruhrtriennale zu sehen.
Mehr Infos unter:
www.ruhr3.com/digital
www.ruhr3.com/point
63
LOS AÑOS /
DIE JAHRE
MARIANO
PENSOTTI
GRUPO MAREA
Schauspiel
Porträt: Mariano Pensotti
→ Magazin, Seite 204
64
»Der Unterschied zwischen dem, wie man glaubt zu werden, und dem, wie man wirklich
wird, ähnelt dem Verhältnis zwischen Utopien und gescheiterten Gesellschaften, die in
deren Namen entstanden.« Mariano Pensotti
Ein junger Mann dreht in einem Armutsviertel von Buenos Aires eher zufällig einen
Dokumentarfilm über einen kleinen Jungen. Mit dem Sozialporträt gelingt ihm der
Durchbruch. 30 Jahre später möchte er an diesen Startpunkt zurückkehren. Er sucht
die Orte und Menschen von damals wieder auf und versucht die Beziehungen zu seinen
Freunden und seiner Familie zu reaktivieren.
Mariano Pensotti zeigt die zeitlich auseinanderliegenden Geschehen simultan in zwei
aneinandergrenzenden Räumen. So erzählt er in Los Años die Geschichte eines Mannes
in zwei unterschiedlichen Lebensabschnitten im direkten Vergleich. Mit ihm altern seine
Frau, seine Tochter, seine Freunde, seine Träume und Visionen. Ideen und Ambitionen
auf der einen Seite, Projekte und Desillusion auf der anderen. 2021 versus 2051. Da die
Handlung nicht historisch, sondern zukünftig prognostiziert wird, ist das Spiel mit den
Zeiten oft kurios komisch, aber auch tragisch traurig. Los Años zeigt unsere Gegenwart
als unsere zukünftige Vergangenheit: kein schöner Anblick.
»The difference between what one believes one will turn into and what one in fact becomes
is similar to the difference between utopias and failed societies that were created in their
name.« Mariano Pensotti
A young man rather accidentally makes a documentary film about a little boy in a poor
quarter of Buenos Aires. This social portrait successfully provides the starting point of a
career to which he will return 30 years later. He revisits locations and people from that
time and attempts to reactivate relationships with his friends and family.
Mariano Pensotti shows both actions simultaneously in two adjacent spaces. By doing
so, in Los Años he tells the story of a man through two different moments of his life
in direct comparison. His wife, his daughter and his friends age along with him – and
so do his dreams and visions. Ideas and ambitions on one side. Projects and disillusionment
on the other. 2021 vs. 2051. As the narrative is not historical but projected
into the future, its playing with time is often strangely comic, but also tragically sad.
Los Años shows our present as our future past. Not a pretty sight.
Text, Regie
Mariano Pensotti
Bühne, Kostüme
Mariana Tirantte
Künstlerische Produktion
Florencia Wasser
Musik
Diego Vainer
Sound Design
Ernesto Fara
Licht
David Seldes
Video
Martin Borini
Dramaturgie
Aljoscha Begrich
Dramaturgie Kammerspiele
München
Martín Valdés-Stauber
Bühnenbildassistenz
Juan Reato
Mit
Marcelo Subiotto
Mara Bestelli
Paco Gorriz
Bárbara Masso
Bernardo Arias Porras
Diego Vainer (Musician)
Jahrhunderthalle Bochum
Übernahme aus dem Programm
der Ruhr triennale 2020
Uraufführung
Fr 17. September_______ 20.00 Uhr
Sa 18. September_______ 20.00 Uhr
So 19. September_______ 18.00 Uhr
Mo 20. September_______ 20.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 / 42 / €,
ermäßigt ab 11 €
Spanisch mit deutschen und
englischen Übertiteln
Los Años ist eine Koproduktion
zwischen Ruhrtriennale,
Münchner Kammerspiele, HAU
Hebbel am Ufer, Künstlerhaus
Mousonturm und Complejo
Teatral de Buenos Aires.
Mit freundlicher Unterstützung
des Goethe-Instituts.
www.ruhr3.com/diejahre
65
THELONIOUS
BENJAMIN
VANDEWALLE
ZONZO
COMPAGNIE
Junge Triennale / Konzert / für Kinder
ab 6 Jahren
66
Nach der international gefeierten Produktion Mile(s)tones über Miles Davis hat die Zonzo
Compagnie eine weitere Konzertperformance für Kinder und Familien über einen legendären
Jazz-Musiker entwickelt: Thelonious Monk! Das eigenwillige Genie Monk machte
Musik voller überraschender Harmonien und aufregender Rhythmen.
Die Musiker des abenteuerlustigen Jazztrios De Beren Gieren aus Belgien entführen
uns in die einzigartige Musikwelt des New Yorker Jazz-Helden. Thelonious’ Experimentierfreude
ist ansteckend! Im beeindruckenden Videodekor mit Bildern von Nele Fack
erleben wir immer neue Facetten dieses faszinierenden Musikers.
Benjamin Vandewalle hat eine lebhafte Produktion inszeniert und die Musiker zu einer
lustigen Choreografie verleitet. Auf der rasanten Reise im Bebop-Zug kommen wir dem
»Genie der modernen Musik« ganz nah. Egal, wo wir landen – es wird sicher eine verrückte
Fahrt!
Following its international hit Mile(s)tones, about Miles Davis, Zonzo Compagnie has
come up with a production featuring another legendary jazz musician: Thelonious Monk!
The stubborn genius Monk made music full of surprising harmonies and exciting rhythms.
Musicians of the adventurous jazz trio De Beren Gieren whisk us away to the unique
musical world of our New York jazz hero. In an impressive video decor with images by
Nele Fack, they involve us in Thelonious’s compulsion to experiment and show us more
and more new facets of this fascinating musician. Benjamin Vandewalle has directed a
lively production and enticed the musicians to join in with a hilarious choreography.
We ride this bebop train with the »Genius of Modern Music« and get right under Thelonious’s
skin. There’s no saying where we will end up, but it’s sure to be a crazy ride!
Regie
Benjamin Vandewalle
Video
Nele Fack
Kostüme
Johanna Trudzinski
Technik
Pat Caers
Klavier
Seppe Gebruers
Schlagzeug
Simon Segers
Bass
Lieven van Pee
Gebläsehalle, Landschaftspark
Duisburg-Nord
Sa 18. September _________15.00 Uhr
Sa 18. September _________18.00 Uhr
So 19. September _________ 11.00 Uhr
So 19. September _________15.00 Uhr
So 19. September _________18.00 Uhr
Dauer: 50 min
Tickets: 12 €, erm. 6 €
Eine Produktion der Zonzo
Compagnie, in Koproduktion mit
Handelsbeurs, Krokusfestival,
KAAP und De Grote Post.
Unterstützt von Flandern und
dem Creative Europe Programme
der Europäischen Union.
Mit freundlicher Unterstützung
der NRW.BANK
www.ruhr3.com/thelonious
67
LA LUNA EN
EL AMAZONAS /
DER MOND
IM AMAZONAS
MAPA TEATRO
Schauspiel
Die Welt der Lebewesen ist nicht anthropozentrisch
→ Magazin, Seite 183
68
2019 wird über die Existenz indigener Gemeinschaften in selbstgewählter Isolation im
kolumbianischen Amazonasgebiet berichtet. Angezogen von diesem 300 Jahre alten Akt
des Widerstands beginnt Mapa Teatro seine Recherchen und sammelt Dokumente von
Schaman:innen, Anthropolog:innen und Augenzeug:innen. Die Suche nach der Existenz
der abgeschiedenen Indigenen glich der Arbeit von Quantenphysiker:innen, die winzige
Teilchen des Universums aufspüren. Oder der von Astronom:innen, die versuchen, die
Existenz von Planeten aus anderen Galaxien zu bestimmen. Angesichts der Unmöglichkeit
einer direkten Wahrnehmung spüren diese Disziplinen physischen Kräften im Raum nach.
Ein Jahr nach Beginn ihrer Suche muss Mapa Teatro aufgrund der Pandemie für ein Jahr
isoliert arbeiten. Während dieses Jahres erlebt es seltsame Schwingungen im Körper:
das Erscheinen eines dritten Beins, die Berührung eines Tieres, das Geräusch eines
Pfeils, die Anwesenheit einer Grenze, eine nahende Bedrohung.
Trotz einiger Übereinstimmungen sind die von der Pandemie auferlegten Überlebensstrategien
nicht zu vergleichen mit den Formen des Widerstands selbstbestimmt abgeschiedener
Völker im Kampf gegen eine tödliche Politik im transamazonischen Gebiet.
Aus der Summe der Teile bildet Mapa Teatro eine bildreiche dokufiktionale Erzählung.
In 2019, news is published of the existence of indigenous communities living in self-chosen
isolation in the Colombian Amazon region. Attracted by this 300-year-old act of resistance,
Mapa Teatro began to investigate, gathering evidence from shamans, anthropologists
and eye witnesses. Searching for the existence of isolated indigenous peoples is
similar to the work of quantum physicists: it consists of attempting to track down tiny
particles of the universe. It is also like that of astronomers trying to determine the existence
of planets in other galaxies: faced with the impossibility of a direct encounter, they
keep track of forces in space.
A year after starting their search, Mapa Teatro are forced to work in isolation, because
of the pandemic. During this year, they experience strange vibes in their bodies: the
appearance of a third leg, the touch of an animal, the sound of an arrow, the presence
of a boundary, the threat of proximity.
Despite a number of similarities, the survival strategies enforced by the pandemic bear
no comparison with the forms of resistance practised by people who choose to isolate
themselves in their struggle against deadly political policies in the trans-Amazonian
region. Is it possible that our search ultimately consists of allowing these isolated people
to take over our dream, so that we can experience the possibility of a new kind of
existence and a different kind of resistance?
Konzept, Regie
Heidi Abderhalden
Rolf Abderhalden
Dramaturgie
Heidi Abderhalden
Rolf Abderhalden
Aljoscha Begrich
Bühne
Rolf Abderhalden
Jose Ignacio Rincón
Cécile Bickart
Kostüme
Elizabeth Abderhalden
Musik, Sound Design
Juan Ernesto Díaz
Licht
Jef Dubois
Kamera
Heidi Abderhalden
Rolf Abderhalden
Fausto Díaz
Javier Hernández
Mónica Torregrosa
Ximena Vargas
Schnitt
Heidi Abderhalden
Fausto Díaz
Ximena Vargas
Live Video
Ximena Vargas
Inspizienz
José Ignacio Rincón
Santiago Sepúlveda
Technische Direktion
Cécile Bickart
Performance
Heidi Abderhalden
Rolf Abderhalden
Agnes Brekke
Andrés Castañeda
Julián Díaz
Santiago Sepúlveda
Ximena Vargas
Special guests
Daniel Giménez Cacho
Jorge Alirio Melo
PACT Zollverein, Essen
Uraufführung
Sa 18. September_______ 20.00 Uhr
So 19. September_______ 18.00 Uhr
Mo 20. September_______ 20.00 Uhr
Tickets: 27 €, ermäßigt 13,50 €
Spanisch mit deutschen und
englischen Übertiteln
Ab dem 19. September ist
La Luna en el Amazonas auch
als Video-on-Demand auf der
Homepage der Ruhrtriennale zu
sehen. Mehr Infos unter:
www.ruhr3.com/digital
Eine Produktion von Mapa Teatro,
José Ignacio Rincón, Ximena
Vargas in Koproduktion mit
der Ruhrtriennale, Künstlerhaus
Mousonturm, Culture scapes,
Le Phénix Scène Nationale,
Next Festival, Théâtre de la Ville,
Paris Festival d’Automne,
Berlin Biennale
Gefördert von Iberescena,
Kolumbianisches Kultur -
minis terium, Naves Matadero,
Foun dation for Arts Initiatives Ffai
www.ruhr3.com/luna
69
GROSSE
STIMMUNG
EDU
HAUBENSAK
Konzert
EDU HAUBENSAK
GROSSE STIMMUNG I–X (1989–2005)
Deutsche Erstaufführung des kompletten Zyklus
Klavier
Tomas Bächli
Simone Keller
Stefan Wirth
70
Musik ist eine andere Welt. Auf der Bühne stehen zehn Konzertflügel. Zehn große
schwarze Instrumente, jedes einzelne unterschiedlich gestimmt. An allen Wirbeln werden
die Töne der 241 Saiten erhöht oder erniedrigt. Diese verschobenen Tonsysteme sind
in einem großen Zyklus zusammengefasst. Er erscheint wie ein Kreisen von Planeten
unterschiedlicher Größen und Farben. Die schier unendlichen Möglichkeiten von Skordatur
(scordatura: italienisch für Verstimmung) sind von dem Schweizer Komponisten
Edu Haubensak seit 1989 intensiv erforscht worden. GROSSE STIMMUNG I–X entstand
von 1989 bis 2005 und ist das bislang umfangreichste Werk des Komponisten.
Der Zyklus wird bei der Ruhrtriennale in seiner Gesamtheit präsentiert – als vierstündiges
Konzert mit einer Pause. Die Klavierstücke werden von Simone Keller, Tomas Bächli und
Stefan Wirth meisterhaft interpretiert. Edu Haubensak arbeitet mit ihnen seit langem
eng zusammen.
Zehn Konzertflügel. Zehn Solowerke. Zehn Stimmungen. Musik ist eine andere Welt.
Music is another world. On stage stand ten concert grand pianos. Ten huge, black
instruments, each one of them tuned differently. The pitches of all 241 strings have
been raised or lowered. These differing intonation systems have been brought together
in one vast cycle. The effect is like planets of different sizes and colours revolving. The
infinite possibilities created by scordatura (Italian for alternative tuning) have been the
focus of intense research by the Swiss composer Edu Haubensak since 1989. GROSSE
STIMMUNG I–X was created between 1989 and 2005 and remains the composer’s
largest work so far. The cycle will be presented by the Ruhrtriennale in its entirety – as a
four-hour concert with one interval.
The piano parts will be masterfully interpreted by Simone Keller, Tomas Bächli and
Stefan Wirth. Edu Haubensak has worked closely with each of them over a long period.
Ten concert grands. Ten solo works. Ten tunings. Music is another world.
Salzlager, UNESCO-Welterbe
Zollverein, Essen
Übernahme aus dem Programm
der Ruhrtriennale 2020
So 19. September__________ 17.00 Uhr
Dauer: 3 h 45 min, 1 Pause
Tickets: 22 / 32 / 42 €,
ermäßigt ab 11 €
Mit freundlicher Unterstützung
durch die RAG-Stiftung
Mit Unterstützung der
Schweizer Kulturstiftung
Pro Helvetia
www.ruhr3.com/stimmung
71
UNTERSCHEIDET
EUCH! EIN
GESELLSCHAFTS-
SPIEL
TURBO PASCAL
Junge Triennale / Digitale Performance /
für Schulklassen ab 10 Jahren
72
Wir haben unterschiedliche Eltern. Wir leben in unterschiedlichen Städten und Stadtteilen.
Wir gehen in unterschiedliche Schulen. Wir haben schon bei der Geburt nicht
gleich viel Geld. Wir werden nach Geschlechtern sortiert. Und wir haben unterschiedliche
Träume und Wünsche.
Menschen unterscheiden sich sehr voneinander. Manche dieser Unterschiede sind freiwillig
und manche erzwungen, manche sichtbar und manche versteckt. Fest steht, dass
wir in gesellschaftliche Ordnungen und Einordnungen hineinwachsen. Schon zu Beginn
des Lebens starten wir nicht mit den gleichen Spielkarten.
Unterscheidet euch! entstand 2019 am Theater an der Parkaue als interaktives Bühnenstück.
2021 hat das Theaterkollektiv Turbo Pascal ihre Wimmelperformance zu einem
digitalen Spielformat weiterentwickelt. In einer interaktiven Zoom-Performance macht
Turbo Pascal soziale Unterschiede und die Frage nach der eigenen Position für und mit
einem jungen Publikum spielerisch sicht- und verhandelbar.
Für die Teilnahme an der Online-Performance benötigt man pro Person einen PC,
Laptop oder ein iPad mit Kamera und Mikrofon (am besten mit Kopfhörern). Mit Handys
funktioniert das Stück leider nicht.
We have different parents. We live in different cities and districts. We go to different
schools. Even at birth we don’t have the same amount of money. We are divided by gender.
And we have different dreams and desires.
People are different from each other. Some of these differences are one’s own choice
and some of them aren’t, some are visible and some are hidden. What is certain is that
we grow into social systems and categories. Even at the beginning of life, we don’t all
start out with the same cards.
Unterscheidet euch! was created in 2019 at Theater an der Parkaue - Junges Staatstheater
Berlin as an interactive stage play. In 2021, the theatre collective Turbo Pascal
developed their »Wimmelperformance« into a digital play format. Within an interactive
Zoom performance, Turbo Pascal make social differences and the question of one’s own
position playfully visible and negotiable for and with a young audience.
Konzept, Regie
Turbo Pascal
Bühne, Kostüm
Janina Janke
Musik
Friedrich Greiling
Elektronische Requisiten
Georg Werner
Dramaturgie
Karola Marsch
Digitale Inspizienz
Janina Janke
Margret Schütz
Dramaturgische Beratung
digitales Spielformat
Jutta Wangemann
Dramaturgie RT
Anne Britting
Mit
Wolfgang Boos
Friedrich Greiling
Hanni Lorenz
Angela Löer / Frank Oberhäußer /
Eva Plischke
To participate in the online performance, each person needs a PC, laptop or iPad with
camera and microphone (preferably with headphones). Unfortunately, the piece does
not work with mobile phones.
Zoom
Mi 15. September _________10.00 Uhr
Do 16. September _________10.00 Uhr
Fr 17. September _________10.00 Uhr
Tickets: 5 €
In deutscher Sprache
Ticketbuchung ausschließlich
unter jungetriennale@
ruhrtriennale.de möglich
Eine Produktion des THEATER
AN DER PARKAUE – Junges
Staatstheater Berlin.
www.ruhr3.com/turbopascal
73
FUMEUX FUME
HUELGAS
ENSEMBLE
Konzert
MAGISTER PEROTINUS (1207–1238)
Viderunt omnes
PIERRE DE MANCHICOURT (ca. 1510–1564)
Jubilate Deo
ANONYME (Zypern, ca. 1380)
O radix Jesse
JOSQUIN DESPREZ (ca. 1455–1521)
Sanctus aus der Missa Faisant regretz
SOLAGE (ca. 1380)
Fumeux fume
GUILLAUME DE MACHAUT (1300–1377)
Gloria aus Messe De Nostre Dame
JACOBUS CLEMENT (ca. 1515–1556)
Qui consolabatur me
ANONYME (Albion, ca. 1320)
Virgo salvavit hominem
SCIPIONE LACORCIA (ca. 1580 – nach 1620)
Stravagante pensiero
ANONYME (Winchester, 10. Jahrhundert)
Alleluia Judicabunt
CIPRIANO DE RORE (1516–1565)
Calami sonum ferentes
Huelgas Ensemble
Musikalische Leitung
Paul Van Nevel
74
Gesang ist so flüchtig wie Rauchkringel. Er lässt sich nicht konservieren oder im
Museum ausstellen, er existiert nur im Augenblick. Deshalb braucht es Zeitreisende wie
die Sänger:innen des belgischen Huelgas Ensembles, die uns Zuhörende in die Geheimnisse
der frühen Musikgeschichte einweihen. Wer einmal in den Bann ihrer überirdischen
A-cappella-Netze gezogen wurde, will tiefer hinabsteigen in das Reich der Vokalpolyphonie.
Paul Van Nevel, der musikalische Leiter des Ensembles, hat archäologische Pionierarbeit
auf diesem Gebiet geleistet und zahlreiche mehrstimmige Werke von Mittelalter
bis Frühbarock ausgegraben, über deren Komponisten man heute oft kaum mehr als
eine Grabinschrift kennt. Sein Programm für die Ruhrtriennale versammelt die freien
Radikale der Alten Musik, jene Regelverstöße und waghalsigen Experimente, die – wie
so oft – Innovationen in die Wege geleitet haben. Ein Organum aus Winchester von
1050 etwa gilt als erster Hinweis auf die Einführung einer zweiten Melodiestimme, die
das gängige Notationssystem sprengte; Pérotins frühes vierstimmiges Viderunt omnes
inspirierte indessen die Minimal Music des 20. Jahrhunderts; und das nahezu psychedelische
altfranzösische Rondo Fumeux fume par fumée deutet musikalisch aus, was die
mysteriös verschlungenen Worte verströmen.
Singing is as ephemeral as curls of smoke. It cannot be preserved or exhibited in a
museum: it exists only in the moment. That’s why we need time travellers like the singers
of the Belgian Huelgas Ensemble to initiate us into the secrets of the history of early
music. Anyone who has ever fallen under the spell of their other-worldly a capella
textures will find themselves exploring the profound depths of vocal polyphony. Paul
Van Nevel, the ensemble’s Musical Director, has conducted pioneering archaeological
work in this field, unearthing numerous polyphonic works dating from the Middle Ages
to the early Baroque period, whose composers are often recorded in little more than an
inscription on a gravestone. His programme for the Ruhrtriennale brings together the
free radicals of ancient music: rule-breakers and daring experimentalists who – as is
so often the case – paved the way for innovation. An organum from Winchester from
around 1050 is regarded as the first evidence of a second melodic voice that blew apart
the established system of notation: Pérotin’s early four-part Viderunt omnes inspired the
minimal music of the 20th century; and the almost psychedelic ancient French rondo
Fumeux fume par fumée expresses what its mysteriously convoluted lyrics resonate in
musical form.
Salzlager, UNESCO-Welterbe
Zollverein, Essen
Fr 24. September________20.00 Uhr
Sa 25. September________ 17.00 Uhr
Tickets: 22 / 32 / 42 €,
ermäßigt ab 11 €
Mit freundlicher Unter stützung
durch die RAG-Stiftung
www.ruhr3.com/fume
75
NACHTRAUM
KLANGFORUM
WIEN
DAISY PRESS
Konzert
MIRELA IVIČEVIĆ
Sweet Dreams (2019)
RAGNHILD BERSTAD
trānseō (2021)
Deutsche Erstaufführung
IANNIS XENAKIS
Persephassa (1969)
EMMANUEL NUNES
Nachtmusik I (1978)
REBECCA SAUNDERS
Fragments of Yes
GÉRARD GRISEY
Vers la lumière du jour (1978)
SALVATORE SCIARRINO
Let me die before I wake (1982)
GEORG FRIEDRICH HAAS
In iij. Noct. 3. Streichquartett (2001)
Klangforum Wien
Sopran
Daisy Press
Musikalische Leitung
Bas Wiegers
76
Im Einschlafen, kurz bevor das Unterbewusstsein das Zepter übernimmt, hält der noch
luzide Geist den Schlüssel zu einer zeitvergessenen Welt voller Weisheit, Fantasie und
Angst in der Hand. Auf Matten gebettet taucht das Publikum mit dem Klangforum Wien
in einen monumentalen Nachtraum ein und folgt nacht- und dunkelheitsaffinen Komponist:innen
auf unterschiedlichen Wegen in dieses unergründliche Zwischenreich.
Vor der deutschen Erstaufführung von Ragnhild Berstads neuem Werk trānseō entlässt
Mirela Ivičević das Publikum mit ihrem verstörenden Gutenachtkuss Sweet Dreams in die
unberechenbare Sphäre der Nacht. Mitten in einem sechseckigen Klangraum archaisch
roher Perkussionsmusik findet es sich in Iannis Xenakis’ Persephassa wieder, von wo Emmanuel
Nunes mit seiner Nachtmusik I das Tor zu einer nächtlichen Nostalgie auftut, die
wie ein sanfter Spuk die Gegenwart aufsucht. Im Herzen des Nachtraums schlummern
Fragmente aus Rebecca Saunders’ traumwandlerischem Meisterwerk Yes, einer großen
Ensemblekomposition, in der sie mit Molly Blooms letztem Monolog aus James Joyces
Ulysses den schmalen Grat zwischen Schlaf- und Wachzustand entlangbalanciert.
Aus dem tiefen Nachttaumel schlägt Gérard Grisey mit Vers la lumière du jour den Weg
in Richtung Tag ein, doch Salvatore Sciarrino zwingt mit Verweis auf die engen Bande
zwischen Schlaf und Schlafes Bruder im Klarinettensolo Let me die before I wake wieder
zur Umkehr. Georg Friedrich Haas schließlich hüllt den Raum mit seinem 3. Streichquartett
In iij. Noct. in einen Mantel absoluter Dunkelheit und taucht alles in einen
Rausch der Mikrotöne.
While falling asleep, just before unconsciousness takes control, our still lucid minds hold
the key to a world that time forgot, filled with wisdom, fantasy and fear. Lying on mats,
the audience will immerse themselves with Klangforum Wien in a vast nocturnal dream
and follow composers with an affinity for night and darkness along a variety of paths into
this unfathomable intermediate realm.
After the German premiere of Ragnhild Berstad’s new work trānseō, Mirela Ivičević will
let the audience loose in the unpredictable domain of dreams with her unsettling goodnight
kiss Sweet Dreams. They will find themselves again in the centre of a hexagonal
soundscape in Iannis Xenakis’ Persephassa, from where Emmanuel Nunes and his
Nacht musik I will open the doorway to nocturnal nostalgia that seeks out the present
like a gentle ghost. Slumbering at the heart of this nocturnal space lie fragments of
Rebecca Saunders’ masterpiece Yes, a large-scale ensemble composition, in which she
balances on the fine edge between sleeping and waking states in Molly Bloom’s closing
monologue from James Joyce’s Ulysses.
Gérard Grisey beats a path out from the turmoil of the night towards the light of day with
Vers la lumière du jour, though Salvatore Sciarrino forces us to return by pointing out the
close ties between sleep and sleep’s brother in his clarinet solo Let me die before I wake.
Finally, in his third string quartet, In iij. Noct., Georg Friedrich Haas wraps the entire space
in a cloak of complete darkness and plunges everything into an ecstasy of microtones.
Jahrhunderthalle Bochum
Sa 25. September_________22.00 Uhr
Dauer: 5 h, mit Pausen
Tickets: 35 €,
ermäßigt 17,50 €
Die Veranstaltung wird vom
WDR für den Hörfunk
aufgezeichnet und zu einem
späteren Zeitpunkt in WDR 3
Konzert gesendet.
www.ruhr3.com/nachtraum
77
JUNGE TRIENNALE
Die Junge Triennale zeigt Produktionen für junges Publikum,
Familien und Schulklassen bei der Ruhrtriennale und lädt
Kinder und Jugendliche zu künstlerischen Projekten und
Workshops ein. Die Jugendgruppe Safe Space Teens trifft
sich ganzjährig und freut sich immer über neue Mitglieder.
The Junge Triennale presents productions at the Ruhrtriennale
for young audiences, families and school classes,
and invites children and young people to take part in
artistic projects and workshops. The youth group Safe
Space Teens meets all year round and is always happy to
welcome new members.
SCHULEN
Für Schulklassen und -kurse ab Klassenstufe 10 bieten wir
Vorbereitungsworkshops zu Paisajes para no colorear /
Nicht auszumalende Landschaften (S. 54) an und das digitale
Spielformat Unterscheidet euch! (S. 72).
Gerne beraten wir Lehrkräfte zum gesamten Programm
der Ruhrtriennale 2021 und organisieren Workshops oder
Gespräche zur Vor- bzw. Nachbereitung des Veranstaltungsbesuchs
mit Schüler:innen oder dem Kollegium.
SCHOOLS
We offer preparatory workshops for school classes and
courses at Class 10 level and above to Paisajes para no
colorear / Landscapes Not For Colouring (p. 54) and for
the digital game format Unterscheidet euch! (p. 72)
We will be happy to advise teachers on the entire Ruhrtriennale
2021 programme and to organise workshops
or talks either before or after seeing a performance with
students or colleagues.
TEENS IN THE HOUSE
EINE JUNGE RESIDENZ
Wer hat ein eigenes Haus? Wir!
Wir sind Jugendliche aus dem Ruhrgebiet und schaffen
uns zusammen mit der Jungen Triennale Privatsphäre
mitten im Festival. Wir bauen unsere eigenen Häuser und
erkunden von hier aus die Ruhrtriennale, setzen uns in
künstlerischen Workshops mit den Ausdrucksformen der
Produktionen auseinander, treffen Künstler:innen zum
Austausch, berichten auf Social-Media-Kanälen und erarbeiten
eine eigene Installation.
Who has a house of their own? We do!
We’re young people from the Ruhr region and together
with the Junge Triennale we’re going to create our own
private space in the middle of the festival. We are going
to build our own houses together, and from there we will
explore the Ruhrtriennale, investigate the forms of expression
used in the productions in artistic workshops,
meet artists, report on social media and create our own
installation.
Dramaturgie
und Projektleitung
Anne Britting
Projektmitarbeit
Timo Kemp
FSJ Kultur
Olivia Marschalek
Die Junge Triennale wird
gefördert durch die Stiftung
Mercator.
Ticket-Informationen für Schulen
auf Seite 218. Weitere Informationen
unter
www.ruhr3.com/tickets
Ticket information for schools is
on page 218. Further information
is available at
www.ruhr3.com/tickets
Informationen und Tickets
ab 5 € für Schulen:
jungetriennale@ruhrtriennale.de
Essen
4., 5. und 8. – 11. September
ab 14 Jahren
Anmeldung:
jungetriennale@ruhrtriennale.de
Social Media: @jungetriennale
78
www.ruhr3.com/teens
FESTIVALCAMPUS
Auch für die erste Ausgabe der Ruhrtriennale unter
der Intendanz von Barbara Frey ist wieder ein Festivalcampus
in Vorbereitung. Insgesamt zehn Hochschulen
aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz
haben ihre Teilnahme zugesagt. Das Campusprogramm,
das seit 2012 ein fester Bestandteil der Ruhrtriennale ist,
bietet internationalen Studierenden aus unterschiedlichen
künstlerischen und kulturtheoretischen Disziplinen im
Rahmen eines vielseitigen Workshopprogramms Einblick
in die Arbeitsweisen der Festivalkünstler:innen sowie die
Möglichkeit, in einen lebendigen Diskurs zu treten –
sowohl untereinander, mit den Künstlerinnen und Künstlern,
wie auch mit dem Team der Ruhrtriennale selbst. Das
Seminar- und Workshopprogramm wird von Lehrenden
der Partnerhochschulen in enger Auseinandersetzung mit
dem Festivalprogramm konzipiert.
Die Teilnahme von Studierenden aus den verschiedenen
Universitäten und Hochschulen bietet einen intensiven
und kritischen Austausch unterschiedlichster Positionen.
Die besondere ästhetische Anschauung und die Erfahrungen
des Diskurses, wie der Campus sie bereitstellt,
bilden die Grundlage für eine lebendige und gesellschaftlich
relevante künstlerische und kulturelle Arbeit, die nur
durch Austausch, Kritik und Diskussion entstehen kann.
Auf diese Weise möchte der in enger Zusammenarbeit mit
Kurator:innen, Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Dramaturg:innen
und Lehrenden konzipierte Festivalcampus
Impulse in die Lehre an den Hochschulen zurückgeben.
Also for 2021 a Festival Campus is planned for the first
Ruhrtriennale edition under Artistic Director Barbara Frey.
A total of ten universities from Germany, the Netherlands
and Switzerland will participate. The Campus
programme, which has been a regular part of the Ruhrtriennale
since 2012, offers international students from
a range of artistic and theoretical disciplines insights
into the working processes of festival artists through a
wide-ranging workshop programme, together with the
chance to enter into lively discourse – among themselves,
with the artists and with the Ruhrtriennale team. The programme
of seminars and workshops is led by teachers
from our partner universities and is devised to engage
closely with the festival programme.
The participation of students from a broad range of
universities and art schools provides an intensive and
critical exchange between very different positions. The
particular aesthetic view and experience of discourse
made available by the Campus form the basis for artistic
and cultural work that is both lively and socially relevant,
and of a kind that can only arise through exchange,
criticism and discussion. In this way, the Festival Campus,
which is conceived in close collaboration with curators,
artists, academics, dramaturgs and teachers, wishes to
stimulate teaching at the universities in return.
Bochum
Gefördert von der E.ON Stiftung
Konzeption, Durchführung
Dr. Philipp Schulte
Anna Raisich
www.ruhr3.com/campus
79
PAPPELWALDKANTINE
Festivalzentrum
Wir werden in diesem Jahr den Pappelwald vor der Bochumer
Jahrhunderthalle in einen Gastgarten verwandeln
und laden Sie herzlich ein, im kühlen Schatten der Bäume
nachhaltige Produkte aus regionaler Erzeugung zu genießen.
Entdecken Sie die Vielfalt vegetarischer und veganer
Gerichte und genießen Sie in einzigartiger Atmosphäre
unsere Leckerbissen, denn unser nachhaltiges und faires
kulinarisches Angebot wird keine Wünsche offenlassen;
auch wenn wir uns in diesem Jahr bewusst gegen Fleisch
entschieden haben.
Die Pappelwaldkantine ist ein Ort des Verweilens, an dem
sich die Künstler:innen, die Beteiligten des Festivals und
Sie begegnen können, ein Ort der Kommunikation und
des Austauschs. Ganz gleich, ob Sie vor der Vorstellung
ein Glas Sekt trinken möchten oder beim Spaziergang im
Park eine Stärkung vertragen können, wir heißen Sie willkommen.
In der Konzeption unseres kulinarischen Festivalzentrums
legen wir den Fokus auf Müllvermeidung und
Upcycling, auf regionale Vielfalt und internationale Speisen
und beleben damit den kleinen Hain aus 311 Pappeln, der
im Jahr 2006 unter der Intendanz von Jürgen Flimm in Zusammenarbeit
mit der Stadt Bochum und dank zahlreicher
Spenden von Bürger:innen gepflanzt werden konnte.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch!
This year, we will turn the poplar trees in front of the
Jahrhunderthalle in Bochum into a garden for visitors:
members of the audience are most welcome to enjoy
sustainable produce sourced within the region in the cool
shade. Discover the wide range of vegetarian and vegan
dishes and enjoy our delicacies in this unique atmosphere:
our sustainable fairtrade menu will cater for everyone’s
desires, even though this year we have made a deliberate
decision to exclude meat.
The poplar canteen is a place to linger, where artists, the
festival team and our audience can meet, a place with few
barriers to communication and exchange. Whether you
want a glass of sparkling wine before the performance or
something to sustain you for a walk in the park, you will be
welcome here. In conceiving our culinary festival centre,
we have focused on reducing waste and upcycling, and on
regional variety and international dishes, thus enlivening
the small grove of 311 poplars that was planted in 2006
under the directorship of Jürgen Flimm, in cooperation
with the city of Bochum and thanks to numerous donations
from citizens.
We look forward to your visit!
Pappelwald vor der
Jahrhunderthalle Bochum
Gefördert von der E.ON Stiftung.
15. August – 25. September
Eintritt frei
Öffnungszeiten unter
www.ruhr3.com/pappelwald
80
www.ruhr3.com/pappelwald
FESTIVALBIBLIOTHEK 2021
Festivalzentrum
Seit Mitte März 2021 geben die von uns eingeladenen
Künstler:innen auf der Website der Ruhrtriennale Auskunft
darüber, welche Bücher sie durch die kunstarmen
Zeiten des Lockdowns gerettet haben. Wir haben diese
Frage an sie verbunden mit der Bitte, uns diese Titel
im Sommer als Gastgeschenk mitzubringen. Die daraus
entstandene Bibliothek ist für alle Besucher:innen vom
15. August bis zum 25. September 2021 während der Öffnungszeiten
der Pappelwaldkantine auf dem Jahrhunderthallenvorplatz
in Bochum öffentlich zugänglich. Gegen ein
Pfand lassen sich die Titel ausleihen und vor Ort lesen.
Since mid-March 2021, the artists we have invited to the
festival have been providing information on the Ruhrtriennale
website about the books that have kept them
going through the art-deprived times of lockdown. We
linked this question with a request to bring us a copy of
these books as a gift in the summer. The resulting library is
publicly open to all visitors from 15 August to 25 September
2021 during the opening hours of the Poplar Canteen
outside the Jahrhunderthalle in Bochum. The books may
be borrowed for a deposit and read on site.
Mit Beiträgen von / With contributions by:
Heidi und Rolf Abderhalden, Adi, Uri, Paz (Jealous), Patricia Alessandrini, Lukas Bärfuss, Aljoscha Begrich, Emese
Bodolay, Klaus Brömmelmeier, Christina Daletska, Daniel Dalfovo, Virginie Déjos, Titus Engel, Paige A. Flash, Regina
José Galindo, Alba Gentility-Tedeschi, Esther Geremus, Fritzi Haberlandt, Corinna Harfouch, Edu Haubensak, Fritz
Hauser, Anja Herden, Mette Ingvartsen, Susanne Jablonski, Jürg Kienberger, Deborah Korley, Annamária Láng,
Marco Layera, loekenfranke, Katharina Lorenz, Michael Maertens, Amirhossein Mashaherifard, Bush Moukarzel, Olga
Neuwirth, Lucas Niggli, Albert Oehlen, Akiko Okamoto, Amanda Piña, Mariano Pensotti, Jean Peters, Marino Pliakas,
Elisa Plüss, Philippe Quesne, Asad Raza, Sylvie Rohrer, Anika Rutkofsky, Markus Scheumann, Stefan Schneider,
Yana Shlyabanska, Jascha Sommer, Josh Sneesby, Thomas Stammer, Mats Staub, Diego Vainer, Gisèle Vienne, Isabelle
Volkaert, Bettina Walter, Chris Watson, Michael Wertmüller, Martin Zehetgruber, Tobias Zielony u. v. a. / and many more
Vorplatz der Jahrhunderthalle Bochum
15. August – 25. September
Eintritt frei
Öffnungszeiten unter www.ruhr3.com/bib
www.ruhr3.com/bib
81
WERKE FÜR EINWERKS GLOCKENSPIEL
Installation
Zweimal täglich schlägt das Glockenspiel im Westpark
charmant-verstimmt Volkslieder für die Spaziergänger:innen
und die umliegenden Siedlungen an. Das Instrument baut
eine Klangbrücke ins letzte Jahrhundert, als auf dem Gelände
noch Stahlglocken im Tiefgussverfahren produziert
wurden – ein weltweiter Exportschlager des Bochumer
Vereins. Für diese Verfahrenstechnik wurde Jacob Meyer
seinerzeit in Fachkreisen belächelt, strategisch war die
Glockenherstellung aber ein ausgeklügelter Zwischenschritt
zur lukrativen Kanonenrohrproduktion.
Bis heute harrt das eigentümliche Werksglockenspiel an
der Auffahrt zur Jahrhunderthalle aus. Seine Signalfunktion
im Arbeitsalltag der Stahlindustrie hat es längst verloren,
Nationalhymnen für prominenten Besuch werden
nicht mehr angestimmt. Der Schlagzeuger Fritz Hauser
komponiert darauf eine Anti-Fanfare für das Festivalgelände
und sorgt durch die lustvolle Überdehnung von
Tonreihen für Irritation, denn das Glockenspiel hat sich
längst als »Zeitansage« etabliert. Hauser nimmt dabei das
ehemalige Repräsentationsinstrument als Klangkörper sehr
ernst: wissend um den alles umspannenden Kosmos vom
lichten Klang eines Gebetsglöckchens zur Bedeutungsschwere
einer Totenglocke.
Twice a day, the glockenspiel in the Westpark plays folk
songs in a charmingly out-of-tune way for people strolling
around and the neighbouring residents. The instrument
provides an acoustic connection with the last century,
when steel bells were still produced on this site using the
deep-casting technique – a worldwide export success for
the Bochumer Verein. At the time, plenty of professionals
made fun of Jacob Meyer for this technique, but, in strategic
terms, manufacturing bells was a clever stepping-stone to
the lucrative production of gun barrels.
To this day, the idiosyncratic factory glockenspiel is still
there on the approach road to the Jahrhunderthalle. It has
long since lost its practical function as a signal for the
steel industry and it no longer strikes up national anthems
for prominent visitors. The percussionist Fritz Hauser
will compose an anti-fanfare for the festival site, causing
irritation with the joyous over-extension of tone series,
because the glockenspiel has indicated the time for a
long while now. Hauser will treat this once representative
instrument seriously as a musical ensemble, one that
includes everything on a spectrum from the bright sound
of a prayer bell to the ominous meaning of the death knell.
Komposition
Fritz Hauser
Dramaturgie
Johanna Danhauser
Auffahrt zur Jahrhunderthalle
auf Höhe des Parkhauses
15. August – 25. September
Eintritt frei
Täglich um 11 und 16 Uhr
sowie 20 Minuten vor
Beginn der Vorstellungen
in der Jahrhunderthalle.
Daily at 11 am and 4 pm
and 20 minutes before the
start of the performances
in the Jahrhunderthalle.
82 www.ruhr3.com/werksglockenspiel
WIE HÄLTST DU ES MIT DEM WACHSTUM?
PODIUM GEMEINSAM MIT DER
E.ON STIFTUNG
Wie zumutbar ist es, ab sofort auf die Mango aus Peru zu
verzichten und stattdessen das Gemüse aus dem heimeligen
Garten zu ernten, in dem wir endlich Quality Time mit
unseren Kindern verbringen, statt hechelnd im Hamsterrad
des Immermehr?
Moment – sind Kinder nicht das Klimaschädlichste überhaupt?
Ein Baby muss im Schnitt 5000-Mal gewickelt
werden und das ist nur ein Bruchteil des von ebenjenem
Baby verursachten Mülls. Dann doch lieber Stoffwindeln?
Aber woher kommt die Baumwolle und was ist mit dem
Wasserverbrauch? Dann doch lieber keine Kinder? Oder
gibt es nicht schon längst klimaneutrale Hightech-
Windeln? Können wir also einfach weiterwickeln und auf
die Kraft technischer Innovation hoffen?
Und was ist mit jenen, die keinen Garten, keine Kinder
und kein Geld haben, um das »richtige« Leben gegen das
»falsche« zu behaupten? Ist Wirtschaftswachstum vom
Ressourcenverbrauch zu entkoppeln, und wie sehr lässt
sich diese Forderung in unserer kapitalistischen Gesellschaft
von der sozialen Frage trennen? Sollen wir lieber
auf nachhaltige Rohstoffe setzen und unsere Wälder
abholzen oder doch eher den heimischen Wald schützen
und stattdessen auf die Wälder in Sibirien und Brasilien
zurückgreifen? Wie groß ist unser Handlungsspielraum
und wie zur Hölle sollen wir leben?
Wenn wir über Wachstum reden, dann reden wir im
Grunde über alles, denn Wachstumszwang ist der Motor
der Industriestaaten. Ohne Wachstum kein Kapitalismus.
Aber wie viel Kapitalismus verträgt unser Klima?
How reasonable is it to immediately stop eating mangoes
from Peru and harvest vegetables from our homely gardens
instead, to finally spend quality time with our children
rather than slogging away on a never-ending treadmill?
But wait – doesn’t having a child cause more environmental
damage than anything else? On average, a baby
requires 5,000 nappy changes – and that’s just a fraction
of the waste one baby generates. Then why not use cloth
nappies? But where does the cotton come from and what
about the water they will use? Then maybe we shouldn’t
have any children – or aren’t there hi-tech carbon-neutral
nappies by now? Can’t we just keep going and put our
hope in the power of technical innovation?
And what about people who have no gardens, no children
and no money that they can use to be able to claim to
be living the »right« life as opposed to the »wrong« one?
Can economic growth be uncoupled from the consumption
of resources – and to what extent can this demand
be separated from social issues in our capitalist society?
Should we rely on sustainable resources and chop down
our forests or should we protect domestic forestry and
rely on Siberia and Brazil as sources of timber? How much
room do we have for manoeuvre? And how the hell are we
supposed to live?
When we talk about growth, we’re basically talking about
everything, because compulsory growth is the motor that
drives our industrial states. Without growth there would be no
capitalism. But how much capitalism can our climate take?
Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg-Nord
Di 17. August – 19.00 Uhr
Eintritt frei
Anmeldung unter
www.ruhr3.com/wachstum
Gefördert von der E.ON Stiftung
Unsere konkreten Maßnahmen zur Nachhaltigkeit finden Sie hier:
www.ruhr3.com/ruhrhaltigkeit
Moderation
Dr. Stephan Muschick
Gäste
Prof. Dr. Niko Paech
Ulrike Herrmann
Prof. Dr. Christoph Schmidt
Christiane Grefe
www.ruhr3.com/wachstum
83
RUHRHALTIGKEIT
Als internationales Festival der Künste, das in denkmalgeschützten,
weitverzweigten Industriestandorten des
Ruhrgebiets stattfindet, sind wir täglich konfrontiert mit
den Auswirkungen der Montanindustrie für die Natur und
den strukturellen Problemen der Mobilität in Nordrhein-
Westfalen. Die Gründung der Ruhrtriennale im Jahr 2002
markiert zugleich ein Umdenken im Umgang mit dieser
Vergangenheit und zeigt die Möglichkeiten und Chancen
auf, die in der kulturellen Umwidmung ebenjener Orte liegen.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir durch unsere
Arbeit für die Neuproduktion von Bühnenbildern und
Kostümen verantwortlich sind, Ressourcen verbrauchen,
Emissionen freisetzen, Flugreisen verursachen und teilweise
selbst auf das Auto angewiesen sind, um von einem
Spielort zum anderen zu gelangen.
Wo genau liegen also unsere Möglichkeiten als internationales
Festival? Wie kann man überhaupt noch etwas
produzieren, wenn man Emissionen reduzieren und die
Ressourcenverschwendung eindämmen will? Auch wir sind
in einem Dilemma, denn auf Kunst zu verzichten kann
keine Alternative sein.
Ist es angesichts all dieser Widersprüche richtig, sich
hinter liebgewonnenen Ideologien zu verstecken? Wie
können wir Berührungsängste mit dem Thema abbauen
und zugleich zeigen, dass die kritische Selbstbefragung
der eigenen Nachhaltigkeit nicht zwangsläufig einer
kunstfeindlichen, asketischen Verbotslogik entspringen
muss, sondern eine kreative, offene und lustvolle Auseinandersetzung
sein kann?
Einige dieser Fragen können wir derzeit noch nicht beantworten,
manche lassen sich nicht lösen, aber sie dienen
uns als Leitfaden und sollen sukzessive in alle Bereiche
unseres Festivals hineinwirken, um einer nachhaltigen
Betrachtungsweise den Weg zu ebnen. Auf diesem Weg
haben wir bereits verschiedene Maßnahmen getroffen,
andere angestoßen, Verbündete und Partner:innen gefunden
– beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit dem
Studiengang Nachhaltige Entwicklung der Hochschule
Bochum oder unsere Beteiligung am Aktionsnetzwerk
Nachhaltigkeit.
Die Ergebnisse dieses Prozesses werden wir sukzessive
auf unserer Website veröffentlichen unter www.ruhr3.com/
ruhrhaltigkeit
As an international arts festival that takes place in the
widespread network of former industrial sites across the
Ruhr region that are now protected monuments, every
day we are confronted with the devastating effects of the
overexploitation of nature by the coal and steel industry
and the structural problems of mobility within North
Rhine-Westphalia. The Ruhrtriennale’s foundation in 2002
simultaneously marked a change in thinking about how to
approach that past while also revealing the opportunities
contained in repurposing these unique locations for culture.
At the same time, it is clear to us that, in our work producing
new stage and costume designs, we are responsible
for the use of resources, the release of emissions and air
travel, and that, at times, we ourselves require cars to
travel from one venue to another.
So, what options do we have as an international festival?
How can we produce anything if we want to reduce emissions
and our consumption of resources? We too are in
a dilemma, because giving up art or becoming a regional
festival cannot be a viable alternative.
Is it right to hide behind ideologies we have become fond
of in the face of all these contradictions? How can we
counter fears of engaging with this topic and, at the same
time, demonstrate that asking critical questions about our
own sustainability does not necessarily have to be derived
from an anti-artistic, ascetic logic of prohibition but can
also be a creative, open and joyous exploration?
We still don’t know exactly how to do this ourselves. Some
questions may have no practical answers and some tasks
may not be solvable, but they serve us as a guideline and
should successively have an effect on all areas of our festival
in order to pave the way for a sustainable approach.
On this path, we have already taken various measures,
initiated others, and found allies and partners – for example,
through our cooperation with the course of study for
sustainable development at Bochum University of Applied
Sciences or our participation in the Aktionsnetzwerk
Nachhaltigkeit (Sustainability Action Network).
Gefördert von der E.ON Stiftung
84 www.ruhr3.com/ruhrhaltigkeit
GEISTER
FOTOGRAFIEN VON
TOBIAS ZIELONY
85
Der Foto- und Videokünstler Tobias Zielony, 1973 in Wuppertal
geboren und aufgewachsen, folgt in Geister Spuren
seines Großvaters, eines Bergarbeiters, der sein Leben in
Gelsenkirchen verbracht hat. Kurz nach Zielonys Geburt
verstarb er. Im Auftrag der Ruhrtriennale 2021 suchte der
Fotograf nun die Orte der Familienerzählung auf.
Zwei Wochen nach den Aufnahmen spazierte Tobias
Zielony entlang der gleichen Wege mit der 20 Jahre später
ebendort geborenen Autorin Enis Maci. Ihre Geschichten
überlagerten sich mit den seinen. Entstanden ist daraus der
Text In der Gegend.
Vom 25. Juni bis 26. September 2021 präsentiert das
Museum Folkwang die erste Überblicksausstellung von
Werken Tobias Zielonys, dessen Bildsprache bereits jetzt
schon für viele jüngere Fotograf:innen und Videokünstler:innen
wegweisend geworden ist.
The photographer and video artist Tobias Zielony, born
and raised in Wuppertal in 1973, follows in Ghosts the
traces of his grandfather, a miner who spent his life
in Gelsenkirchen. Shortly after Zielony’s birth he died.
Commissioned by the Ruhrtriennale 2021, the photographer
now visited the places of the family narrative.
Two weeks after taking the pictures, Tobias Zielony
walked along the same paths with the author Enis Maci,
who was born 20 years later in the same place. Her stories
overlapped with his, the text In the neighbourhood
is the result.
From 25 June to 26 September, 2021 the Museum Folkwang
will present the first survey exhibition of works by
Tobias Zielony, whose visual language has already become
groundbreaking for many younger photographers
and video artists.
134
IN DER GEGEND
VON ENIS MACI
Wir treffen uns im Café del Sol, einem dieser Orte, die
Halt geben. Das Fertighaus als Neandertalerhöhle. Kolonialstil
in BRD-Ambiente. Ein Versprechen, vergleichbar
mit dem der Karstadt-Umkleidekabinen, der DB-Lounges
und der Neckermann-Reisebüros, vergleichbar also mit
raumgewordenen Artefakten – oder, vielleicht richtiger:
artefaktgewordenen Räumen – einer soeben vergangenen
Gegenwart.
Einmal sah ich in Leipzig einen alten Herrn aus dem in
Sandstein gezwängten Karstadt in die Dämmerung treten,
so wie er schon an derselben Stelle aus einer sozialistischen
Kaufhalle herausgetreten war, und vorher noch –
als Kind vielleicht – aus dem Warenhaus Althoff. Nicht der
Karstadt, um dessen Erhalt neben den Mitarbeiter:innen
bloß ein paar nostalgische Zugezogene kämpften, war das
Artefakt, der Alte war es. Er hatte alles gesehen.
Das Café del Sol aber ist noch da. Seine Artefaktwerdung –
und die unsrige – steht noch bevor. Das alles fällt mir
ein, als ich Tobias auf der Terrasse treffe. Orangensaft,
Cappuccino-Art aus Kakaopulver, der regenbogenfarben
geblichene Zopf der Kellnerin.
Das alles könnte erzählenswert sein, weil ja auch diese
Stadt als Artefakt am leichtesten zu lesen ist.
Zwischen den Lockdowns ein Kneipenbesuch im Keller
eines Berliner Einkaufszentrums. Die Wirtin zückt ihr
Telefon und bittet mich, eine bestimmte Straße in Schalke
zu bewerten. Gute oder schlechte Gegend? Es stellt sich
heraus, dass ihr neuer Freund – Fernfahrer, Fernbeziehung,
unter so romantischen Bedingungen geschlossen,
dass eine Nacherzählung niemals Gerechtigkeit täte –, es
stellt sich heraus, dass ihr neuer Freund, den sie bald besuchen
wird, in eben jener Straße wohnt. Mir scheint sie
absolut in Ordnung.
»I cut the bread for them and they run« singt Sibylle Baier
in Alice in den Städten, und: »Love them if ever they
come, wherever they’re gone«. In Wuppertal wohnt Alices
Großmutter nicht, und auch nicht im Ruhrgebiet. In einer
alten WDR-Doku die beiden Gastarbeiterväter jener Karnaper
Jugendlichen, die zur Thrash-Metal-Band Kreator
gehören. Der eine sagt, sie müssten es doch wenigstens
einmal versuchen, mit der Musik. Der andere will, dass
sein Sohn einer sicheren Arbeit nachgeht, und zwar sofort.
Die beiden Väter, wie sie auf den krummen Gehwegplatten
zwischen zwei Rasenstücken stehen. Ein Sohn
wird aussteigen, bevor die Band zu Weltruhm kommt, der
andere wird dabeibleiben. Im Proberaum neben dem ihren
übt ein junger Mann Flamenco-Gitarre. Er respektiert seine
Nachbarn, weil auch ihre Musik eine komplizierte ist.
Als die Zeche Carl aufgegeben wurde, waren die Väter
noch Kinder. Die Entzauberung Amerikas, lese ich in einer
Filmkritik zu Alice; hoch oben die Bahnen, in Queens, in
Wuppertal, zwischen den Stahlwerken, denke ich.
Gegenüber jener Stelle, an der der Elefant Tuffi in die
Wupper stürzte, steht Friedrich Engels, 3,85 Meter groß,
mit chinesischen Zügen und bronzenem Mao-Kragen, von
Touristen umringt, auf halber Strecke zwischen Paris und
Berlin. Artefakt. Vor der Bundeszentrale der Marxistisch-
Leninistischen Partei Deutschlands, in Horst, auf einem
öffentlich erscheinenden, in Wahrheit aber unter Privatbesitz
stehenden Stück Bürgersteig, wie wir es sonst
bloß aus London, New York oder Dubai kennen, wurde
eine Statue Lenins aufgestellt, 2,15 Meter groß und silbrig
glänzend wie ein Power Ranger.
Tobias und ich laufen nach Ückendorf. In einem Schaufenster
beobachten wir einen Riesenpudel. Wie die Hundefriseurin
sein Kinn zwischen ihre Fingerspitzen nimmt und
ihm ernst in die Augen schaut. Am Gebrauchtwagenhandel
keine Spur mehr von diesen holografischen, blau und
weiß und knallrosa funkelnden Wimpeln, die an einem
Band über dem Zaun flattern müssten.
Wie umgehen also mit einem Leben in umgestürzten Kulissen?
Was Tobias macht: sich reinstellen in den Spalt zwischen
Dings und Ding.
135
Enis Maci
Teenager, im künstlichen Licht, um ein Auto herumstehend.
Nach der Hochzeit riet uns der Parkplatzwächter,
den Champagner – drinking in public forbidden – besser
zu verstecken, Flasche rumreichen im Honda Accord,
Schlager, gute Laune, Hotboxing – unvorstellbar gerade –,
welcome to our love, möglichste aller Welten.
Wie umgehen also mit den Ruinen, wenn jedes Sprechen,
das von ihnen handelt, längst produktiv gemacht, Ware
geworden ist? Wenn die Worte, die ich habe, geschliffen
sind an gerade dieser Rede von erschöpften Flözen, Peripherie,
Wiedergeburt?
Und dann, an der Bochumer Straße, die seit 15 Jahren
geschlossene Spielhalle, verblichene Originaleinrichtung,
natürlich könnte man hier einen Film drehen, aber was
brächte das? Der schale Atem der Spielenden scheint
noch immer im Raum zu hängen. Nur wenige Minuten am
Tag lässt das Sonnenlicht die Stäubchen auf dem Teppichboden
leuchten; nur wenige Minuten am Tag dringt
es durch den unbebauten Weg zwischen dem gläsernen
Gebäude des Wissenschaftsparks auf der einen und dem
Amtsgericht auf der anderen Seite.
Ein Freund erzählt mir später, er habe kürzlich erst den lang
ersehnten Scheidungstermin seiner Eltern auf der Hollywoodschaukel
im Café del Sol abgewartet. Während er
die Werbung für den wöchentlich angebotenen Schnitzelurlaub
studierte, gerann die Cappuccino-Art in seiner
Tasse zu Brei. Irgendwann rief er seine Mutter an – wie
lang kann eine Scheidung unter Besitzlosen schon dauern?
Die hatte sich in der Zwischenzeit mit dem Rechtsbeistand
WAS TOBIAS MACHT:
SICH REINSTELLEN IN
DEN SPALT ZWISCHEN
DINGS UND DING.
der Gegenseite angefreundet und rauchte mit ihm eine Zigarette
im Lichtkorridor zwischen Gericht und Park. In der
Spielhalle glühten die Partikel. Ende einer Ehe mit einem,
den selbst der eigene Anwalt nicht ertragen kann.
Schon wieder Frühling in den Städten: Die Vögel kehren
aus dem Süden zurück, die Trinker sitzen wieder an ihren
Plätzen.
Erstes Mal kiffen, im Regen, unter den Pappeln am Ende
des Parks. Erstes Mal die Polizei belügen, auf dem Erdgeschossbalkon
in der Ottilienstraße. Allererste Erinnerung,
am Spielplatz dort, meine Kinderfinger, die sich
der Brennnessel nähern. Vergebliche Versuche, mich
auf zuhalten. Allererster klarer Gedanke meines Lebens:
»Warum nicht?« Dann: Geheul.
Ich hab nie irgendwelche Tricks gekonnt. Auf dem Skateboard
nicht und nirgends. Ich hab immer zu den Zaungästen
gehört, den Mädchen, die aus dem Fenster gucken,
den immer bisschen Verwirrten, deren Zugangsberechtigung
jederzeit entzogen werden kann.
136
Tobias Zielony
Am Flöz Sonnenschein biegen wir ab. Stiefmütterchenrabatte,
»Wachsamer Nachbar«, »Warnung vor dem
Hunde«. Wilde Gärten, kleine Doppelhaushälften, der
hellgelbe Anstrich blättert. Eine Frau krault einem Kätzchen
den Nacken und schaut ins Nichts. Dummköpfe
würden diese Siedlung heruntergekommen nennen. Die
Mieter ertrugen Zwangsräumungen und zugemauerte Eingänge
und gewannen 1979 den Kampf gegen den Abriss
ihrer Häuser. Meiner Mutter erschienen sie im Jahr 1992
so perfekt, dass sie sich ihr Leben dort ausmalte. Heute
steht die Siedlung unter Denkmalschutz.
Wo jetzt ein unerklärliches, wie falsch verschifftes Neubaugebiet
und ein Skatepark sind, wo das Geröll noch
da, aber schon von wilder Möhre, Hornklee und Braunelle
überwachsen ist, war einmal der Kohlebunker von hohen
Absperrungen umschlossen. Als Jugendliche brachen
wir gemeinsam mit einem Sozialarbeiter ein. Er hatte zu
diesem Zweck einen Bauhelm mitgebracht. Einmal aufgesetzt,
verlieh er ihm magische Autorität, und niemand
hielt ihn davon ab, Zäune anzuheben, Maschen aufzuschneiden
und uns ins Innere der Ruine einzulassen. Wir
stiegen über Glühbirnen, Dosen und Maschinenteile und
schrieben unsere Namen auf die Höhlenwände. Als Echo
kamen sie zu uns zurück.
Fotos: Max Zerrahn (Enis Maci), Gene Glover (Tobias Zielony)
137
138
139MAGAZIN
BEGEGNUNGS-
KANTEN
VOM ERLEBEN DES RUHRGEBIETS
UND DEM GENUSS DES
ZUSAMMENHANGSLOSEN RAUMES
VON ALJOSCHA BEGRICH
WEGE
Aljoscha Begrich, Stefan Schneider, Peng! Kollektiv, Anna Kpok,
loekenfranke, RUHRORTER, tehran re:public
14. August – 25. September 2021
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/wege
140
Wenn ich will, dass Gäste die Stadt, in der ich wohne,
verstehen, steige ich mit ihnen auf den Fernsehturm. Von
dort oben gibt es einen guten Überblick und die Struktur
der Stadt ist schön lesbar. Also stieg ich, als ich das erste
Mal im Ruhrgebiet war, auf einen Förderturm, aber ich verstand
überhaupt nichts. Ich sah nur Hügel (später erfuhr
ich: Halden) und andere Fördertürme (später erfuhr ich:
museale Anlagen). Es war schön, aber bot weder Übersicht
noch Erkenntnis. Also bewegte ich mich fortan durch
einen von mir nicht erkannten Raum. Mit der Straßenbahn,
die merkwürdigerweise nicht Vororte miteinander
verband und dabei durch ein Zentrum fuhr, sondern Zentren
verband und dabei durch Vororte fuhr. Mit dem Auto
das meist stand und wenn es fuhr, flogen die Abfahrtsschilder
der Autobahn mit immer neuen Städte namen im
Sekundentakt an mir vorbei. Oder mit dem ICE, der viel
von Intercity aber wenig von Express hatte. Wollte ich
laufen oder Rad fahren, hieß es immer: Nein, viel zu weit.
Also stand ich oft an Haltestellen: Halte stellen neben verlassenen
Industrieanlagen, Haltestellen an Wald rändern,
Haltestellen zwischen endlosen Schienen, Haltestellen an
Schafsweiden, Tankstellen, Brücken oder direkt auf der
Autobahn. Oft dachte ich: Hier kommt nie was, denn hier
ist das Ende. Aber dann kam immer irgendwann irgendwas
– meistens relativ klein, fuhr los und wenig später
ging die Stadt – oder das, wovon alle sagten, es sei nicht
eine Stadt, sondern das Ruhrgebiet – wieder weiter. Später
fuhr ich dann doch Rad und wunderte mich über den
rasanten Wechsel von Starkstromtrassen und Schrebergärten,
Häfen und Wiesen, Häusern und Arbeitsstätten.
Immer wieder machte ich die eine Erfahrung: Es gibt kein
Ende, es geht weiter. Und immer wieder hatte ich dieses
Gefühl: Ich verstehe den Raum nicht.
Also versuchte ich, eine Karte zu kaufen, die diesen Raum
abbildet. Aber das war gar nicht so einfach: Es gab die
einzelnen Städte, das nördliche und das südliche Ruhrgebiet,
aber keinen richtigen Gesamteindruck. Dann kam
Google Earth und brachte den »Overview«. Ich konnte
endlich das Ruhrgebiet von oben betrachten. Wie merkwürdig
es aussah. So zerklüftet, so unstrukturiert und
doch so gleichmäßig. Auf jeden Fall ganz anders als andere
städtische Regionen. Was für ein urbaner Raum ist
das? Nicht zentral, sondern polyzentristisch, nicht line ar,
sondern komplex, nicht hierarchisch, sondern solidarisch?
Neben vielen Besonderheiten sticht beim ersten
Blick ins Auge: die außergewöhnliche Agglomeration von
Siedlungen, die scheinbar willkürlich durchwachsen sind
von Natur- und Industrieflächen. In einer historischen
Einmaligkeit entwickelte sich das Ruhrgebiet gleichzeitig
mit und durch die Extraktion der Steinkohle und ihre Verarbeitung.
Dies meint nicht nur Industrieareale und ihre
architektonischen Überreste, sondern auch die Aufteilungen
zwischen Wohnanlagen, Natur und Industrie. Was
anderenorts getrennt ist, liegt hier alles zusammen. Alle
Räume sind dem Primat der Montanindustrie nachgeordnet,
durch die einzelnen Nutzungsräume sind Zwischenräume
entstanden, die anschließend in ihrer Bestimmung
definiert wurden.
Dieser Blick von oben ist in den letzten Jahren immer wieder
beschrieben worden, aus der Perspektive der Stadtplanung,
der Soziologie, der Politik. Zentrale Merkmale des
Ruhrgebiets wurden erkannt und diese strukturelle Besonderheit
mit dem Begriff »Ruhrbanität« ausgezeichnet.
Einige Begriffe, wie etwa »Dezentralität«, sind mittlerweile
ins Selbstverständnis der Region und Merkwürdigkeiten
141
wie »Polystruktur« in die Selbstzuschreibung der Bewohner:innen
übergegangen. Warum aber wird so selten
über das geschrieben, was die Struktur zusammenhält?
Kein Netz ohne Faden. Die Ansammlung von Dörfern und
Städten würde sich längst aufgelöst und verflüchtigt haben,
wäre gar nie so entstanden, wenn diese nicht verbunden
gewesen wären und es noch sind: durch Pfade, Wege,
Routen, Bahnen, Strecken, Schienen, Flüsse, Straßen.
Alles ist verbunden. Es gibt nicht nur Siedlungen, Industrieanlagen
und Wiesen, sondern auch die Verbindungen
dazwischen. Die Verkehrswege legen sich wie ein autonomes
Netz aus Fäden über das Revier. Sie entstanden
aus der Notwendigkeit, Menschen und Waren zu transportieren.
Und wenn ich genau hinschaue, kann ich sogar
die Vergangenheit darin lesen. Die Adern, die sich aus
historischen Feldwegen entwickelten, bilden bis heute die
Grundstruktur zwischen den Kristallisationspunkten. Die
traditionelle Handelsroute, der Hellweg, ist immer noch
die zentrale Ost-West-Achse. Aber oftmals waren Wege
nicht nur verbindende Elemente zwischen den Wohnorten
und Industrieanlagen, sondern oft auch trennende
Elemente, die Zäsuren in die Landschaft brachten. Schienenwege,
Wasserstraßen und Asphaltflächen verbanden
und trennten gleichzeitig Räume – und sortierten so die
Landschaft.
Die Routen sind nicht nur die Grundstruktur, sondern auch
die Essenz dieser Region: Hier kann ich die Besonderheit
der Region erfahren und verstehen, denn nirgendwo in der
Welt kann ich stundenlang Straßenbahn fahren, ohne umzusteigen,
mit dem Bus auf der Autobahn stehen oder mit
einem ICE alle zehn Minuten stoppen. Und gleichzeitig ist
das eben die gleiche Region, durch die ich kilometerlang
mit dem Fahrrad durch Grünstreifen radeln kann, ohne an
einer Ampel zu stoppen, oder ich 60 Minuten warten muss,
bis mich die nächste S-Bahn in das andere Stadtviertel
bringt. Je länger ich im Ruhrgebiet unterwegs bin, desto
mehr scheint mir, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt,
dieses Gelände, die Un-Stadt, diese Region zu ver stehen,
als sie zu durchstreifen, zu erlaufen und zu durchfahren.
Ich kann hier auf keinen Fernsehturm steigen, ich muss
mittendurch. Aus einem Stillstand ist hier kein Überblick zu
gewinnen. Aber sobald ich mich auf die Straßen begebe, erkenne
ich die Vielfalt der Orte, die Diskrepanz der Entwicklungen
und die Diversität der Menschen. Denn auf öffentlichen
Wegen bin ich – obwohl allein reisend – gleich immer
in Gemeinschaft. Egal, ob ich nur verstohlen über den Rand
meiner Zeitung hinweg die Jugendlichen und ihre Codes beobachte,
direkt im Gespräch mit meinen Mitreisenden bin
oder einfach nur zusammen mit anderen an der Haltestelle
leide: das Erfahren der Wege ist ein gemeinschaftliches.
142
WIE KÖNNEN DIE ROUTEN ENTLANG DER
BEGEGNUNGSKANTEN ZU GELEGENHEITEN DER
BEGEGNUNG WERDEN?
Und was wäre dieser Raum ohne seine Menschen?
Expert:innen nennen die inneren Ränder, dort, wo die
jeweiligen Ordnungseinheiten des Raumes aneinanderstoßen,
Begegnungskanten. Genau an diesen Kanten
– zwischen Feldern und Industrieanlagen, Wohneinheiten
und Grünflächen – verlaufen die Wege. Wie können die
Routen entlang der Begegnungskanten zu Gelegenheiten
der Begegnung werden? Mit sechs lokalen Künstler:innenkollektiven
teile ich seit über einem Jahr diese Frage.
Denn niemand kann besser über die Gegend sprechen als
die, die schon da sind. Die starke freie Szene NRWs hat
vielfältige Kollektive und Künstler:innen hervorgebracht.
Einige davon – Anna Kpok, loekenfranke, Stefan Schneider,
Peng! Kollektiv, RUHRORTER, tehran re:public – ermutigte
ich, sich für die Ruhrtriennale und ihr Publikum auf den
Weg zu machen. Noch einmal da langzufahren, wo sie immer
schon langgefahren sind, um nochmal genau hinzuschauen,
um zu überlegen, was und wie es gezeigt werden
könnte, um zu sehen, was nicht zu sehen ist. Viele Wochen
und viele Kilometer später werde ich eingeladen, im
Dauer regen durch entleerte Gegenden Duisburgs mit dem
Rad zu fahren, in überfüllten Straßenbahnen lose Blätter
zu lesen, mir an verwaisten Haltestellen Audiofiles runterzuladen
oder im Regionalexpress Sprachnachrichten anzuhören.
Ein Abenteuer beginnt, das Schritt für Schritt
weitergeht und nun auf Begegnung an der Kante wartet.
ALJOSCHA BEGRICH ist seit 13 Jahren im Ruhrgebiet unterwegs. Zuerst arbeitete er als Bühnenbildner
am Schauspielhaus Bochum (2008), 2013 an der Oper Dortmund. Zwischen 2015
und 2017 zog er mit Truck Tracks von Rimini Protokoll als Kurator durch weitere Städte,
u. a. Recklinghausen und Mülheim. Seit 2020 ist er Dramaturg für interdisziplinäre und
site-specific Projekte bei der Ruhrtriennale.
Das Kartenmaterial stammt aus der Publikation: Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets,
hrsg. v. Christa Reicher, Klaus R. Kunzmann, Jan Polívka, Frank Roost, Yasemin Utku , Michael Wegener, Jovis Verlag, 2011.
143
ES SCHÜRFT
ZURÜCK
BARBARA FREY UND UTA C. SCHMIDT
—
EINE BEGEGNUNG
In Es schürft zurück begegnen sich die Gedankenwelten der Regisseurin und
Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey und der aus Herne kommenden
Geschichtswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Dr. Uta C. Schmidt.
Während Spaziergängen durch das Ruhrgebiet und der gemeinsamen
Lektüre von Edgar Allan Poes Der Untergang des Hauses Usher halten sie Ausschau
nach Rissen, Mythen und melancholischem Geist – Ästhetisches und
Historisches nähern sich an.
DER UNTERGANG DES HAUSES USHER
Edgar Allan Poe / Barbara Frey
Schauspiel ab 14. August 2021
Siehe S. 24 _______________ www.ruhr3.com/usher
144
Uta C. Schmidt: Zuerst möchte ich mich bedanken, dass
mit Ihrer Einladung so plötzlich und unerwartet Edgar Allen
Poe in mein Leben getreten ist. Die Geschichte Poes hat
ja erst einmal nichts mit dem Ruhrgebiet zu tun. Interessanterweise
finde ich als Historikerin aber sofort Anknüpfungspunkte.
Bereits der Einstieg in die Geschichte erinnert
mich an Reise berichte von Schriftstellern des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts, die von außen hierherkamen und
das, was sie sahen, hörten, fühlten, rochen, zu beschreiben
versuchten. Sie empfanden stets eine tiefgreifende
Niedergeschlagenheit. Was historisch gesehen durchaus
mit diesem Arbeitsort zu tun hatte, mit dem harten Leben
der Arbeitsbevölkerung und der Umweltverschmutzung.
Man wurde wohl wirklich niedergeschlagen, wenn man
all das Elend gesehen hat. Für mich war das irre: Als
ich in den Untergang des Hauses Usher hineingezogen
wurde und dachte: Ja, das kann eine Möglichkeit sein,
sich dieser historischen Erfahrungswelt in einer anderen
Sprache zu nähern.
Barbara Frey: Zum Beispiel bei diesen Sätzen von Poe:
»Ich weiß nicht, wie es zuging – aber schon beim ersten
flüchtigen Anblick des Gebäudes überkam mich eine
Empfindung unerträglicher Melancholie. Ich sage unerträglich;
denn das Gefühl wurde durch keine jener
halb angenehmen, weil poetischen Regungen gemildert,
mit denen das Gemüt gewöhnlich selbst die finstersten
Natureindrücke des Öden und Schrecklichen
aufnimmt.«
Hier taucht der selbstreflexive Dichter kurz auf und sagt:
Es ist anders als sonst, nämlich ohne jeden Anflug von
Poesie – ein unheimlicher Gedanke.
UCS: Und für mich, die sich ja bewusst für ein Leben im
Hier und Jetzt des Ruhrgebiets entscheidet, gibt es abseits
der »bürgerlichen Rede«, dass es hier so schrecklich
aussieht, auch eine eigene Poesie. Wenn ich mit
Ihnen durch Wattenscheid fahre oder nach Herne auf
die Wiescherstraße, wo wir inmitten all dieser Baustile
und Stadtentwicklungsprojekte der 1960er-Jahre stehen,
dann sieht es dort nicht aus wie in Zürich und auch nicht
wie in Berlin, es hat für mich eine eigene Gestalt. Natürlich
frage ich mich sofort: Fange ich jetzt an, das Ganze
zu romantisieren?
BF: An einer anderen Stelle beschreibt Poe etwas, was
eigentlich nicht sein kann:
»Meine Einbildungskraft war so überreizt, daß ich
wahrhaftig glaubte, über dem ganzen Haus und Anwesen
hänge eine Dunsthülle, nur ihnen und ihrer unmittelbaren
Umgebung eigen – eine Dunsthülle, die
nichts mit der Himmelsluft gemein hatte, sondern den
abgestorbenen Bäumen und den grauen Mauern und
dem stillen Weiher entstiegen war – ein verderblicher
und geheimnisvoller Schleier, trübe, träge, kaum wahrnehmbar
und von bleiernem Grau.«
Was ist es, was er da sieht? Diese Zwischenwahrnehmung
finde ich interessant: Er schaut und spürt
etwas und weiß gleichzeitig, dass es nicht wirklich da
sein kann. Und doch ist es da.
Mir ist das Ruhrgebiet ja viel fremder als Ihnen, aber
für mich stellt sich, seit ich hier bin, genau diese Frage:
Stülpt sich da etwas aus meiner Vorstellung heraus,
was nichts mit der Region zu tun hat, oder gibt es hier
einen bestimmten melancholischen Geist? Und wenn
ja, wodurch entsteht er?
UCS: Die Schriftsteller, die die Regionen der Montanindustrie
bereisten, haben die Gegend als nervös und lärmend
beschrieben, sie konnten aber auch nicht wirklich
greifen, was sie sahen. Und selbstverständlich – je nachdem,
in welchem Stadium der Produktion sich Kokereien
oder Hochöfen befanden, stieg ganz real eine »Dunsthülle,
die nichts mit der Himmelsluft gemein hatte«, auf,
und über allem lag ein »verderblicher und geheimnisvoller
Schleier«, trübe, träge und von bleiernem Grau bis schwefeligem
Gelb, der allerdings wirklich wahrnehmbar, gesundheitsschädlich
und körperlich belastend war.
BF: Die reale Dunsthülle mischt sich mit der literarischen.
Das Materielle dringt vollständig in die Seele ein.
»Er lebte ganz im Banne gewisser abergläubischer
Vermutungen in Bezug auf das Haus, das er bewohnte
und aus dem er sich seit vielen Jahren nicht herausgewagt
hatte; er fühlte sich einem Einfluß ausgesetzt,
dessen vorgebliche Macht in allzu vagen Worten umschrieben
wurde, als daß ich sie hier wiedergeben
könnte […] einem Einfluß, den das rein Stoffliche der
grauen Mauern und Türmchen und des düsteren Weihers,
in den sie alle hinabschauten, nunmehr auf den
geistigen Kern seines Daseins ausübte.«
UCS: Dies ist eine Stelle, bei der mir ein Erlebnis aus Gelsenkirchen
in den Sinn kam: Gelsenkirchen hat seine Fußgängerzone
neu gestaltet. Ich sitze in der Sonne in einem
Café vor dem Rathaus und freue mich: »Wie schön das
geworden ist!« Und der Mann am Nebentisch murrt: „Ja,
aber im Sommer muss man immer das Unkraut da wegziehen.«
Später: »Ihr habt ein tolles Theater«, es kommt
direkt zurück: »Aber was das alles kostet!« Immer wirkt
etwas so mächtig, dass man sich nicht freuen kann. Ist
das vielleicht dieser melancholische Geist – oder nennt
man das literarisch »Schwermut«?
BF: Womöglich. Ich nehme die Menschen hier aber
nicht als schwermütig wahr …
UCS: Diese Schwermut trifft vielleicht auch nur auf bestimmte
Generationen zu. Sie haben im Strukturwandel
ihre Arbeit und damit ihren Lebensinhalt verloren. Sie
waren zudem Teil der großen heroischen Erzählung vom
Wiederaufbau und dem bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder.
Nun sind sie herausgefallen aus dem »Wir
sind wieder wer!«. Wie tief muss der Arbeitsbegriff der
Industriegesellschaft in diesen Aufbaugenerationen verinnerlicht
sein?
BF: In der Literatur von Poe spielt Arbeit überhaupt
keine Rolle. Es ist vielmehr das Gegenteil: Ein hochnervöser
Müßiggang; man nimmt alles wahr und kann
durch Wände schauen. Es geht nie um Beruf oder Ausübung
von Arbeit. Poe ist ein antibürgerlicher Schriftsteller
gewesen. Es gibt bei ihm keine moralische Erbauung,
keine Bildungsbegriffe, keinen jungen Helden,
der auf Reisen geht und geläutert zurückkommt. Es
gibt überhaupt keine Helden.
Ist die Melancholie bei Poe, die aus dem endlosen
Grau der Tage aufsteigt, eine andere als die, die auf
den Wegfall der Arbeit folgt? Wie nehmen denn die
Leute, die jeden Tag an den Zechen und Kokereien
vorbeifahren, diese wahr? Assoziieren sie etwas
145
Barbara Frey
ganz Konkretes, Unsentimentales damit: Das alles
ist nun vorbei? Oder gibt es eine Romantisierung des
Vergangenen?
UCS: Das lässt sich sicherlich nicht pauschal beantworten.
Es hat sich zuerst bei jenen, deren Werke stillgelegt
wurden, eine Haltung ausgeprägt, die sich beschreiben
lässt mit: »Hau weg die Scheiße!« Zunehmend zeigen wir
unsere besondere Form von Kulturlandschaft mit Freude:
Wir fahren mit unserem Besuch zur Jahrhunderthalle oder
auf Zollverein. Junge Leute eignen sich schon lange die Industrieorte
als Treffpunkte an. Was dann schon wieder zu
Konflikten führt, wenn es Lärm gibt und vermeintlich alles
vermüllt wird. Und dann gibt es die Kulturschaffenden, die
sich – wie Sie – künstlerisch mit Geschichte, Gegenwart
und Zukunft der Region auseinandersetzen.
BF: Mich interessiert etwas Ästhetisches.
»Winzige Pilze überzogen das ganze Äußere und hingen
in feinem verworrenem Netzwerk von den Dachtraufen.«
Poe beschreibt eine Hochzeit des Mauerwerks mit der
Natur. Das Haus ist von Menschenhand gebaut worden
und jetzt holt die Natur es sich wieder zurück.
Im Landschaftspark Duisburg-Nord zum Beispiel kann
man auf Spaziergängen sehen, wie Pflanzen in die Industrieruinen
hineingezüchtet werden. Man sieht Kultur
und Natur nebeneinander und damit den Wunsch
der Menschen, dass sich die Natur alles zurückholte.
Nachdem wir zuvor alles kaputt gemacht haben. Eine
widersprüchliche, verschrobene Romantik. Bei Poe
steht das verfallende Schloss für den Verfall der einsamen
Seele. Roderick Usher ist eins geworden mit dem
Mauerwerk. Das ist reine Literatur.
Was dringt in unsere Seele ein, wenn wir auf Industrieruinen
blicken, in denen Blumenbeete wachsen?
UCS: Ja, eine riesige Skulptur!
ICH BIN FASZINIERT,
WENN ICH MIR EINE
ZECHE ANSCHAUE
ODER DEN HOCHOFEN
IM LANDSCHAFTSPARK
VON AUSSEN
BETRACHTE, DIESES
GEWIRR VON ROSTIGEN
ROHREN. JE LÄNGER
ICH HINSCHAUE,
DESTO MEHR SEHE
ICH IRGENDWANN
EIN GIGANTISCHES
KUNSTWERK.
146
BF: Wie kommt man darauf, solche Architekturen zu
denken? Denn wenn man es nicht gedacht hat, nicht in
Sprache gefasst und nicht »ausgerechnet« hätte, dann
könnte es da ja nicht stehen. Mich interessiert immer
dieser Transfer, wie in der Literatur. Was wir gemeinsam
gelesen haben, kommt ja aus dem Hirn von Edgar
Allen Poe und schließlich ist es in unserem Hirn. Das
Reizvolle an dieser Gegend ist die ständige Provokation,
darüber nachzudenken, was wir eigentlich tun. In
der Schweiz schürft man nicht in der Erde, man steigt
nicht hinab. Stattdessen gibt es diese merkwürdige
postkartenhafte Idylle, die sich immer weiter entfernt,
je näher man ihr kommen möchte.
Hier ist es umgekehrt: Es entzieht sich mir nicht, sondern
lockt mich und treibt mich in eine Art des produktiven
Nichtverstehens. Auf meinen Fahrten durch das
nördliche Ruhrgebiet denke ich beim Anblick all der
Ungetüme, die in der Landschaft stehen: Hier wurde
fast zwei Jahrhunderte lang in der Erde geschürft, und
jetzt werde ich geschürft. Es schürft zurück, es stöbert
mich auf und beunruhigt mich.
UCS: Für mich stellen sich diese Fragen an anderer Stelle:
Welche menschliche Energie wurde hier eingesetzt – an
Erfindergeist, an Arbeitskraft, an Menschenleben – alles
investiert, um diesen Rohstoff zu gewinnen? Ein wenig
versteht man es vielleicht erst, wenn eine Zeche dichtmacht:
Erst haben sie jede einzelne Schraube unter Tage
transportiert und hinterher wird alles, eben jede kleinste
Schraube, wieder über Tage geholt. Dieser Aufwand
ist doch im Hinblick auf die menschliche Energie unvorstellbar.
Gleichzeitig kann ich ganz prosaisch im Archiv
nachforschen, was für Profit gemacht wurde. Ich kann
das emotionslos als Verhältnis von Kapital und Arbeit verhandeln.
Aber es ist mehr. Um das andere annähernd zu
fassen, brauchen wir vielleicht die Sprache von Literatur
und Poesie. Natürlich lässt sich die Industriegeschichte in
Bruttoregistertonnen erzählen. Aber durch Literatur tun
sich vielleicht weitere Aspekte auf, sie lädt ein, anders darüber
nachzudenken.
BF: Der Kopf als Bergwerk, die Seele als Bergwerk, da
stellt sich für mich die Frage nach der Maßlosigkeit. Ist
der Bergbau an seiner Maßlosigkeit untergegangen?
UCS: Naja, der Steinkohlenbergbau ist im Ruhrgebiet nicht
an seiner Maßlosigkeit untergegangen, sondern daran,
dass er zu teuer war und zu stark subventioniert werden
musste, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Und
dann ist er ja nicht untergegangen, sondern es war eine
politische Entscheidung, das Ende des subventionierten
Steinkohlenbergbaus einzuleiten.
BF: Aber das hat ja etwas mit einer Maßlosigkeit zu
tun, es sprengt etwas das Maß und dann ist es, wie
man sagt, nicht mehr rentabel.
UCS: Okay, so ja.
BF: Und diese Maßlosigkeit finde ich auch bei Poe interessant.
Wenn man ihn als Stilisten liest, forscht er
an der absoluten Grenze des Sagbaren: Alles ist unglaublich
fürchterlich oder noch schreckenerregender.
In diesem Superlativischen steckt für mich die reine
Freude an der Kunst. In der Kunst geht es ja immer
auch um Überschuss, um das Paradiesische und das
Katastrophische. Das Schöne und das Fürchterliche
sind benachbarte Zonen. Aber nicht nur in der Kunst …
UCS: Einige meiner Kolleg:innen diskutieren, dass mit
dem Ende des Bergbaus auch das Ende des Ruhrgebiets
gekommen sei. Das sehe ich anders. Da rede ich mit dem
Philosophen Roland Barthes: Zwar hat diese spezielle Ge
Uta C. Schmidt
147
schichte ein Ende gefunden. Aber jetzt beginnt die große
Zeit des Mythos. Und daran arbeiten Menschen von unterschiedlichen
Orten aus: Da gibt es Gruppen, die diese
Kumpel-Nummer fahren mit blau-weiß gestreiften Hemden
und »harte Arbeit« beschwören. Es gibt die Szene, die
Lust hat auf urbanes Leben, die sagt: Hier können wir, anders
als in Berlin, Dinge machen, hier gibt’s noch etwas zu
entwickeln. Und natürlich kann man mit Herbert Grönemeyer
»tief im Westen« an der Currywurstbude stehen
und den Mythos dort leben.
BF: Es hat ja auch etwas Heroisches, wenn man über
einen Untergang sprechen kann und dass es nie wieder
so sein wird, wie es war. Man hält es sich damit auch
ein Stück weit vom Leib und mystifiziert es.
Könnte ein Teil der hier spürbaren Melancholie nicht
auch daher rühren, dass der Bergbau gefährlich war
und der Tod in der Grube lauerte? Das muss ja auch
irgendwo »hingegangen« sein.
UCS: Frauen, Mütter, Töchter von Bergleuten unterschiedlicher
Generationen berichteten, dass die Angst immer
präsent war, dass »er nicht mehr nach Hause kommt«.
Doch sie haben sich damit arrangiert und die Oma gut
gepflegt, um möglichst lange von ihrer Bergbau-Rente zu
profitieren, um das mal in ein provokantes Bild zu fassen.
Es könnte schon sein, dass sich aus diesem Spannungsverhältnis
eine Melancholie in die Region eingeschrieben
hat, die noch präsent ist.
BF: Wo sind die Risse und Schneckenspuren in unserer
Zivilisation? Was transportiert der Haarriss, der sich
über die Fassade des Hauses Usher zieht?
Bei Poe muss man abtauchen. Es ist ein In-die-Dunkelheit-Hineingehen
und dabei verlässt man die Welt, in
der man ist, und kommt als Leser:in mit einer anderen
Welt angereichert zurück. Dieser Weltenwechsel ist für
mich auch im Zusammenhang mit dem Bergbau interessant.
Und die Figur, die diesen Wechsel hier für mich vollzieht,
ist der Kumpel, der zum Helden wird, weil er mir irgendwie
das Gefühl gibt, ich wäre selbst hinabgestiegen, als
wäre das ganze Ruhrgebiet in der Grube gewesen. Die,
die wirklich in die Grube gegangen sind, haben eine
Stellvertreterfunktion.
UCS: Immer Zeche und Stahlwerk, doch nicht erst mit den
Universitäten in den 60er-Jahren hat es im Ruhrgebiet
eine Bildungsgesellschaft gegeben, haben sich ganz viele
»Aufstiegsbiografien« entwickelt. Das ist mindestens genauso
wichtig für die heutige Erzählung der Region wie der
Bergbau, der übrigens viel zu dieser Bildungslandschaft
beigetragen hat. Doch die spezielle Folklorisierung und
Romantisierung des Bergbaus läuft auf Hochtouren.
BF: Könnte diese Folklorisierung auch eine Form der
Besänftigung sein? Eine Linderung des Schmerzes
über den Verlust eines »goldenen Zeitalters«, eines
Gefühls der Zusammengehörigkeit? Dieser Schmerz
steckt in allen Künsten: Er ist das Erkennen der eigenen
Einsamkeit.
UCS: Es ist doch eine Perspektive, die Sie zum Glück
in Ihrer Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet einnehmen
können! Denn alles andere würde ja zu nichts
Neuem führen.
Und ich werde herausgefordert, hinter meine Geschichtswissenschaft
zurückzutreten, um diese literarische Erfahrung
an mich heranzulassen. Auch das Ende vom
Untergang des Hauses Usher eröffnet Assoziationen zur
realen Situation: Da ist der »tiefe dumpfige Teich« und das
»Gebraus von tausend Wassern«, das nicht nur in der
Literatur am Hause Usher tobt, sondern auch real im Ruhrgebiet
bedrohlich wirkt. Wenn das Grubenwasser in der
Bergbaufolgelandschaft nicht permanent weggepumpt
würde, gäbe es bald das Ruhrgebiet nicht mehr. Doch in
der Literatur muss der Untergang kommen …
BF: Er ereignet sich über ein Geräusch – ein »lärmendes
Tosen« – und dann Stille.
»Während ich noch starrte, wurde dieser Riß zusehends
breiter – ein wütender Stoß des Wirbelsturms
fuhr daher – das ganze Rund des Erdtrabanten wurde
plötzlich sichtbar – schwindelnd sah ich die mächtigen
Mauern auseinanderbersten – hörte ein langes lärmendes
Tosen wie das Gebraus von tausend Wassern –
und der tiefe dumpfige Teich zu meinen Füßen schloß
sich langsam und lautlos über den Trümmern des
Hauses Usher.«
Poe, Edgar Allen: Der Untergang des Hauses Usher, in: Sämtliche Erzählungen / Edgar Allen Poe (1. Band), herausgegeben von: Günter Gentsch,
übersetzt von: Barbara Cramer-Nauhaus, Insel-Verlag, Frankfurt/Main 2002, S.297–320.
Fotos: Daniel Sadrowski
148
LÄMMERSEELEN
VON MERVE EMRE
Leonora Carrington
BÄHLAMMS FEST
Musiktheater von Olga Neuwirth
Libretto von Elfriede Jelinek nach dem Drama
Das Fest des Lamms von Leonora Carrington
ab 15. August 2021
Siehe S. 32 _______________ www.ruhr3.com/baehlamm
Silvester 1940. Die surrealistische Malerin und Autorin
Leonora Carrington, soeben aus einer psychiatrischen
Anstalt unweit von Santander entlassen, wird mit dem
Zug nach Madrid in Ávila, der Stadt der Steine und Heiligen,
aufgehalten. Draußen ist es kalt, bitterkalt, öde und
freudlos, und von ihrem Fensterplatz aus sieht sie ein paar
Gleise weiter einen Güterzug. Seine Waggons sind dunkel,
aber darin zittert hilflos etwas Weißes; die Waggons sind
voller Schafe, die vor Kälte brüllen. »Die leidenden Schafe
werde ich mein Lebtag nicht vergessen«, erinnert sich
Carrington beinahe fünfzig Jahre später im Nachwort zu
Unten1, den Memoiren ihrer Flucht aus Europa. »Es war
die Hölle. Der Zug blieb stehen, ich weiß nicht, wieso, über
Stunden, und wir hörten dieses absolut höllische Klagen.«
1 Leonora Carrington, Unten, aus dem Französischen von Edmund Jacoby, Frankfurt 1994.
149
»Schafe haben keine Geister, denn Schafe haben keine
Seele«, schrieb Virginia Woolf in Zwischen den Akten 2,
ihrem Roman von 1941 über pastorale Festumzüge unmittelbar
vor dem Krieg. In Das Fest des Lamms 3 von
Carrington, einem Dreiakter beinah aus demselben Jahr,
verfügen Schafe über mehr Seele als Menschen, jene einsamen,
elenden Geschöpfe, deren weltliche Begierden
– nach Sex, Geld, Macht – mit regelmäßiger Brutalität
ihre Häupter erheben und zu Blutvergießen führen. Der
Faschismus war ein Ausdruck für den Machtwillen des
Menschen, aber bei weitem nicht der einzige. Ein anderer
war das Familienleben, und für Carrington reichten dessen
Erniedrigungen zurück ins Jahr 1917, als sie in England
geboren wurde. In Hazelwood Hall, dem grimmigen, gotischen
Landhaus ihrer Familie in Silverdale, Lancashire,
hatte das Textilimperium ihres Vaters seinen Sitz. Gnadenlos
und mit einem scharfen Gespür für römisch-katholische
Pietät herrschte er über seine drei Fabriken und
seine einzige Tochter. »Ich fürchtete meinen Vater mehr
als Hitler«, äußerte Carrington später. Sie hatte dunkle
Haare, dunkle Augen, war elfengleich und klug; besaß
eine unanständige Fantasie und einen schlimmen Humor;
ein kleines Mädchen, das den Nonnen, die es in mehreren
Klosterschulen nicht bändigen konnten, verhasst war, und
eine Heranwachsende, die von ihrem Kindermädchen und
ihrer Mutter Marion geliebt wurde. Marion meldete sie zum
Kunstunterricht in London an, wo Leonora dem deutschen
Surrealisten Max Ernst begegnete und sich in ihn verliebte.
Er war 19 Jahre älter als sie und verheiratet. 1936 reisten
sie zum ersten Mal nach Paris, dann zogen sie in ein kleines
Steinhäuschen in Saint-Martin-d’Ar dèche, wo sie lebten
und malten, bis die Nazis kamen und Ernst von den Franzosen
als »entarteter Künstler« interniert wurde. Verzweifelt
floh Carrington von Frankreich nach Spanien, wo sie
jenen Zusammenbruch erlitt, der zu ihrer Einweisung in
Santander führte – »in ein Sanatorium voller Nonnen«,
schrieb sie – und, nachdem sie wieder in Freiheit war, zu
den brüllenden Schafen im Zug.
NOCH BEVOR EIN WORT
GESPROCHEN WIRD,
GEBEN UNS SCHON
CARRINGTONS
REGIE-ANWEISUNGEN
ZU VERSTEHEN, DASS
MIT DIESER FAMILIE
ETWAS GANZ UND GAR
NICHT STIMMT.
Das Fest des Lamms schildert kein militärisches Drama,
sondern ein familiäres, einen grotesken Kampf um Selbstbestimmung
und Freiheit, der zeigt, dass das gewöhnliche,
bürgerliche Leben schärfere Zähne und Klauen hat, als die
Natur sich je zu erträumen wagte. Der erste Akt beginnt mit
einer Szene ähnlich dem Waggon, den Carrington in Unten
beschreibt, »ein ziemlich merkwürdiger Raum, dessen Erkerfenster
auf eine wilde, verlassene Hügelkette blickt«. Alles
in diesem Zimmer erwacht entweder gerade zum Leben oder
ist im Sterben begriffen – in Carringtons Prosa ist es ebenso
unmöglich, Lebendiges von Totem zu unterscheiden, wie
Menschen, Tiere und Gegenstände auseinanderzuhalten.
»Die Möbel stehen auf ihren Spindelbeinchen so lustlos herum
wie eine Gruppe alter Damen in Rokokounterwäsche.
[…] Die meisten Ornamente zeigen Pferde in komischen und
gequälten Evolutionsphasen.« Hier sitzt die alte Mrs. Carnis
und verschlingt eine faulig riechende Garnele mit Bohnensalat,
ihr Gesicht liegt »wie eine tote Perle blass und wertvoll«
in ihrem violettfarbenen Spitzenkragen, ihre Hände
»mit den absonderlichen Knoten und Falten« sind wie »zwei
Albino-Seesterne«. Ein lasziver, sprechender Hund namens
Henry schlüpft ins Zimmer, gefolgt von der sechzehnjährigen
Theodora, »groß und wild« mit »immenser schwarzer Mähne«.
(Die Beschreibung gemahnt an Carringtons eigene dunkle
Haarpracht in ihrem Self-Portrait (Inn of the Dawn Horse) von
1938. Als Kindsbraut wird Theodora von ihrem viel älteren
Ehemann verfolgt, Mrs. Carnis’ übellaunigem, rachsüchtigem
und Ingwerwein saufendem Sohn Philip. Wir erfahren, dass
seine erste Ehefrau Elizabeth sechs Jahre früher auf mysteriöse
Weise verschwand. Mitten im ersten Akt taucht sie
plötzlich wieder auf, funkelt alle mit »wasserblassen« Augen
an, während ihre Haare ihr Gesicht rahmen »wie die Flossen
eines Metallfischs«.
Noch bevor ein Wort gesprochen wird, geben uns schon
Carringtons Regieanweisungen zu verstehen, dass mit
dieser Familie etwas ganz und gar nicht stimmt. Endlich
sprechen sie doch, äußern aber nur schnippische Bemerkungen,
Knurren, Zähneblecken und werfen sich so
hasserfüllte wie lustige Beleidigungen an den Kopf. »Dein
Mund schmeckt wie der Käfig einer Hyäne«, sagt Theodora
zu Philip, als er sie zu küssen versucht – wobei die Hyäne
eine wiederkehrende Unheilsfigur in Carringtons Prosa
ist, angefangen mit ihrer ersten Kurzgeschichte Die Debütantin
von 1935. Mrs. Carnis’ Salon atmet die kränkliche,
klaustrophobische Intimität eines Schlachthofs, noch ehe
wir erfahren, dass jemand die Schafe der Familie ermordet.
Dies vermeldet ein Schäfer, der das Haus zweimal besucht:
zuerst am Anfang des ersten Aktes, um die Familie
zu warnen, dass jemand den Schafen die Köpfe abbeißt;
dann an seinem Ende als kopflose Leiche, die zur Tür hereinstürzt,
in seinen Armen ein kopfloses Schaf »wie eine
merkwürdige Madonna mit Kind«, schreibt Carrington.
Das Lamm, die Madonna und ihr Kind – man erkennt, wie
die Ikonen aus Carringtons katholischer Kindheit sich vor
dem Publikum aufstellen, allerdings ohne das warme Versprechen
von Gottes Liebe und Erlösung. Offen zutage
2 Leonora Carrington, Between the Acts, London 1941.
3 La Fête de l’agneau / The Baa-Lamb’s Holiday (deutsch: Das Fest des Lamms), 1940.
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treten die grausamen Opfer, die Frauen, Kindern und Tieren
in diesen gottlosen Gefilden abverlangt werden.
Auch wenn dem Publikum früh im Stück die Schuppen von
den Augen gerissen werden, bleiben die Figuren verhext,
sie wandeln in geradezu hysterischen Lust- und Wutzuständen
über die Bühne und sehnen sich nach Befreiung.
Im zweiten Akt ziehen wir uns mit Theodora ins Kinderzimmer
zurück. Hier erwarten wir melodische Reime über
die Reinheit und das Glück von Schafen, jedoch ist das
Kinderzimmer nicht weniger heruntergekommen als der
Salon. Zwischen Spinnweben, zerrissenen Büchern und
»den melancholischen Geistern sadistischer Kinder« hat
Theodora eine Affäre mit Philips Bruder Jeremy, einem
Geschöpf mit strammem, »leuchtend weißem« Körper,
einem riesigen Wolfskopf und der Neigung, Schafen und
Schäfern den Kopf abzubeißen. »Kinder wissen etwas,
das sie nicht sagen können; sie mögen Rotkäppchen und
den Wolf im Bett!«, schrieb Djuna Barnes in ihrem modernistischen
Meisterwerk Nightwood. Das Fest des Lamms
verletzt dieses Tabu, indem es alle schrecklichen Geister,
die das Kinderzimmer heimsuchen, als Zeugen der Liebe
zwischen einem Mädchen und einem Wolf aufruft: »einen
blinden Kanarienvogel, ein ersoffenes Kätzchen, das Skelett
einer Ratte, zwei gekochte Goldfische, ein oder zwei
flügellose Schmeißfliegen«. Als einziges nicht totes Wesen
dort wird Theodora von Jeremy aufgefordert, sich zu töten.
»Du würdest eine köstliche Leiche abgeben«, sagt er ihr,
während sie Lammblut trinken. Seine kühle, fröhliche Begeisterung
für ihren Selbstmord, dafür, dass sie nichts
weiter als eine »köstliche Leiche« hergibt, verweist auf das
1925 von André Breton, Yves Tanguy, Jacques Prévert und
Marcel Duchamp erfundene gemeinsame Zeichenspiel,
eine Technik, mit der das Unbewusste freigesetzt wird,
indem mehrere Künstler Körperteile auf ein gefaltetes
Stück Papier malen, ohne dass einer die Zeichnungen
des anderen sieht. Ebenso verweist es aber darauf, dass
Surrealisten, auch Carringtons Liebhaber Ernst, Frauen
als fragmentierte, geisterhafte Objekte dargestellt haben,
ihre Köpfe, Brüste und Rümpfe als austauschbare Bausteine
der Vision ästhetischen Segens der männlichen
Künstler. Tatsächlich erfährt Theodora, dass Philips Ex-
Frau Elizabeth auch Jeremys Liebhaberin war und dass sie
zurückgekehrt ist, um ihren rechtmäßigen Platz im Haus
neben Philip und im Moor bei Jeremy zu beanspruchen.
Und was ist mit den sterbenden Schafen? Sind sie so unschuldig,
wie die Kinderreime im Stück und die christliche
Ikonografie nahelegen? Nicht im Geringsten. Sie sind ausgesprochen
dionysische Geschöpfe, irrsinnig und lachhaft
sexualisiert, und verhöhnen lustvoll blasphemisch
den Ausspruch des Johannes »Siehe das Lamm Gottes,
das der Welt Sünde trägt«. Im dritten Akt, der am Weihnachtsabend
bei Vollmond spielt, treffen wir den »enorm
korpulenten« Schafbock, der vor Freude »über den dicken
Rauch seiner Pfeife« brüllt und Mary beäugt, »pechschwarz«,
»ein wunderschönes junges Schaf, die einzige
Jungfrau der Herde«. »Ihr Fell ist mit roten Blumen geschmückt,
ihre Hufe sind aus Gold und funkeln wie vier
neue 20-Schilling-Münzen«, schreibt Carrington. »Dramatisch
wirft sie sich in Pose, es folgt eine Stille, dann
schlägt sie ihre goldenen Vorderhufe wie Kastagnetten
zusammen und windet sich zur Melodie eines schmachtenden
Walzers in die Mitte.« Das Krippenspiel verwandelt
sich in einen spanischen Striptease, das schwache
Lämmchen wird zum schwarzen Schaf der Familie – eine
Jungfrau, die zur »Sünderin« werden will, wie Maria Magdalena,
Marys Namensvetterin, im Evangelium nach Lukas
beschrieben wird. Marys Tableau ist das düstere Zerrbild
des erstaunlichen Mittelteils von Jan van Eycks »Genter
Altarbild«, das die Anbetung des mystischen Lamms in
reinem Weiß und unter einem goldenen Schauer darstellt.
Ungeachtet der Wunde in seiner Brust steht es zentral auf
einem roten Altar und blutet triumphierend in einen Kelch,
während die Apostel und die Engel vor ihm knien. In Das
Fest des Lamms verweist dieser Triumph auf eine entsetzliche
Wendung. Jeremy kann Mary-mit-den-goldenen-
Hufen nicht widerstehen, er tötet sie und flieht vom Ort
des Verbrechens. Zurück bleibt Theodora in einer Pfütze
aus dem Blut des jungfräulichen Schafs. Der Sex und die
Wildheit der Moore sind nicht so sehr Flucht vor dem Haus
Carnis als vielmehr sein Double, nur bar aller menschlichen
Verstellung und Höflichkeit. »Wie amüsant muss es sein,
Schafe zu töten, während ringsum sanft der Schnee rieselt
und alle Weltenklänge zur Sprache eines Tauben herabgedämpft
werden«, sagt Theodora.
FRAUEN UND TIERE,
AUCH WENN SIE
SICH DESSEN NICHT
BEWUSST SIND,
SOLLTEN SICH IN EINEM
KOSMISCHEN KAMPF
GEGEN MÄNNER UND
IHRE SPEKTAKULÄRE
HYBRIS VERBÜNDEN.
Wie in allen Arbeiten von Carrington – ihren Gemälden,
Kurzgeschichten und auch ihrem Roman Das Hörrohr 4 –
äußern Komik und Grausamkeit starke Kritik an der Ausbeutung
der Frauen durch Männer und der nichtmenschlichen
Welt durch den Menschen. Frauen und Tiere,
auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, sollten
sich in einem kosmischen Kampf gegen Männer und ihre
4 Leonora Carrington, Das Hörrohr, übersetzt von Tilman Sprengler, Frankfurt 1976.
151
spektakuläre Hybris verbünden. Die Blutspur reicht von
der gefallenen Madonna über Mary-mit-dem-schwarzen-
Fell zu den jungen Frauen des Stücks, der pflichtvergessenen
Theodora und Elizabeth, die von ihren geliebten
Männern gegeneinander aufgewiegelt werden. Während
Mrs. Carnis in ihrem verrottenden Haus auf ewig glücklich
begraben ist, stolpern Theodora und Elizabeth mit bluttriefenden
Mündern durch die Sümpfe. Rasend brüllen sie
mit derselben durchdringenden Hoffnungslosigkeit der
Schafe, die Carrington einst im Güterzug gehört hat. Am
Schluss des Stücks erscheint Jeremys Geist vor Theodora,
um sie endgültig am Verlassen des Hauses zu hindern, am
Sterben und daran, ihm ins Jenseits zu folgen, wo ihr Geist
dieselbe ewige, schrankenlose Freiheit genießen könnte
wie er selbst. Gierig spricht er von ihrem Körper und kettet
sie daran mit einer durchtriebenen Mischung aus Schmeichelei
und Drohungen. »Hässlich wärst du, ganz verwelkt
von der Kälte. Ich würde dich nicht mehr lieben. Ich liebe
nur schöne Frauen«, warnt er sie. »Wenn ich tot bin, musst
du daran denken, dass ich dich liebe. Weder Geborgenheit
noch Trost sollst du annehmen. Du sollst bleich und
schön sein … vor allem tragisch. Wild und tragisch … aber
niemals hässlich. Denk daran. Wenn du hässlich zu mir
kommst, schicke ich dich fort.«
MIT DER KOMPONISTIN
OLGA NEUWIRTH UND
IHRER LIBRETTISTIN
ELFRIEDE JELINEK HAT
CARRINGTON EINE
WEITERE KÜNSTLER-
INNEN GEMEINSCHAFT
GEFUNDEN, DIE
DIESMAL DIE FESSELN
VON ZEIT UND RAUM
ÜBERWINDET.
Nur schwerlich findet sich etwas Versöhnliches in der
letzten Szene des Stücks, in Theodoras qualvollem Abschied,
als der Mann, dem sie jedes Opfer zu bringen
bereit war, sie verlässt. Nichts darf sie erwarten, zumindest
nicht in dieser Welt. »Ende. Klagemusik, Weinen und
Klatschen«, heißt der letzte Satz der Regieanweisungen.
Das Gemeinschaftsgefühl, aus dem Carringtons späteres
Schreiben und Malen seinen freudigen, utopischen Feminismus
bezieht, fehlt in dieser eisigen Landschaft, in diesem
Haus, das »nach Alter und Tod stinkt«.
»Vielleicht werden wir einander schon bald verstehen«,
sagt Elizabeth zu Theodora bei ihrer ersten Begegnung,
jedoch erstreckt sich dieses Verständnis lediglich auf das
Leid, das sie durch die Gebrüder Carnis erdulden, nicht
auf den Willen oder das Vermögen, es gemeinsam abzuwenden.
Die Kritik in Das Fest des Lamms mündet nie
in eine positive Vision dessen, wie eine andere, lebensfrohere
und gerechtere Welt zu schaffen wäre. 1940 lag
Carringtons Ankunft in Mexiko-Stadt noch vor ihr, wo
sie, gemeinsam mit Remedios Varo und Kati Horna, eine
Gemeinschaft aus Exilkünstlerinnen schmieden wird, die
die Bedeutung der gemeinsamen Praxis künstlerischen
Schaffens betont. Die meisten Frauen, denen sie in ihrer
Jugend in Europa begegnet, haben in Unten kurze Auftritte
als Sexrivalinnen oder unterdrückerische Pflegepersonen.
Allen voran Frau Asegurado, Schwester in der Anstalt
in Santander und willige Helferin des sadistischen Doktors
Don Luis. Sie erzählte Carrington eine Geschichte
von einer jungen, toten Frau namens Covadonga, die
Carrington als ihre Doppelgängerin begriff, ganz wie in
der Beziehung zwischen Theodora und Elizabeth. »Frau
Asegurado hat mir oft von der Covadonga erzählt und
ihren Tod rätselhaft ausgeschmückt; ich glaube, dass Don
Luis sie zu Tode gefoltert hat, um sie vollkommen zu machen,
so wie er auch mich folterte.« Zusammen mit den
brüllenden Schafen könnte die Geschichte der Covadonga
als Don Luis’ köstlicher Leichnam die Saat für die
Handlung in Das Fest des Lamms gelegt haben.
Mit der Vermessung der Distanz zwischen 1940 und den
1990er-Jahren, zwischen The Baa-Lamb’s Holiday und
dessen Opernadaption Bählamms Fest (1992–98), lässt
sich ein Hoffnungsschimmer in der öden und erdrückenden
Atmosphäre des Stücks erahnen. Mit der Komponistin
Olga Neuwirth und ihrer Librettistin Elfriede Jelinek hat
Carrington eine weitere Künstlerinnengemeinschaft gefunden,
die diesmal die Fesseln von Zeit und Raum überwindet.
Zwei verwandte Seelen, ebenso scharf und komisch
und fantasiebegabt wie sie selbst. In Bählamms
Fest hören wir die höllische Klage der leidenden Schafe,
erleben Carringtons bleiche und verlassene Landschaft
als eine Reihe von Klängen, die aus ihrer Vergangenheit
in unsere Gegenwart herübertönen. Schon der Anfang:
dunkle, vollkommene Stille, dann ein plötzlicher, langgezogener,
schwebender, durchdringender Schrei – ist das
ein Blasinstrument oder eine Frauenstimme? – begleitet
vom Rascheln und Knarren unsichtbarer Geister. Der
ruhige, gebieterische Ton, mit dem Mrs. Carnis die erste
Szene eröffnet und ihre Diener herumkommandiert, wird
von Theodora in der zweiten Szene gestört. Ihre Stimme
ist einmal brüchig vor Angst und ringt um die Höhen ihres
Tonumfangs; dann singt sie schlichte und gefällige Kinderlieder
und präsentiert sich infantil und gefügig. Die elektronische
Dopplung der gewalttätigen Stimmen von Philip
und dem Schäfer in der dritten Szene lässt ahnen, wie
es ist, von Männern eingekesselt zu sein; sie sind überall;
ihr Zorn ist unausweichlich, ihre Macht verstärkt von
den industriellen und technischen Mitteln, über die sie
verfügen. Als Elizabeth in der vierten Szene auftritt, hallt
im schrillen, vorwurfsvollen Tirilieren ihrer Heimkehr
– »Mein armer kleiner Philip, du siehst nicht gut aus« –
152
der Eröffnungsschrei der Oper wider, als ob das leblose
Ding, das ihn hervorgebracht hat, menschliche Form
angenommen und ins Haus gekrochen wäre. Ebenso ist
Neuwirths Entscheidung, Jeremy als Countertenor zu besetzen,
eine großartige Auferstehung: Zunächst werden
die Geister der Kastraten beschworen, die von klassischen
Komponisten für die Stimmen von außerweltlichen,
merkwürdigen Geschöpfen verwendet wurden, dann
– mittels Neuwirths innovativem Einsatz elektronischen
Klangmorphings – echtes Wolfsgeheul.
Jeremys transzendenter Gesang verweigert sich jedem
Konzept von Stimme als männlich, weiblich, menschlich
oder tierisch, natürlich oder künstlich und bringt den komischen
Aspekt der Oper zum Tragen. »Ich finde, darüber,
dass man ein menschliches Wesen ist, kann man nur
lachen«, schreibt Olga Neuwirth 1998 in ihren Aufzeichnungen
zu Bählamms Fest und ist mit Carrington überzeugt,
dass der menschliche Körper eine harte Schmuckhülle
darstellt, einen lächerlichen Mechanismus, der die
vielen in ihm wütenden Geister birgt und verbirgt. Man
bedenke die weiteren Techniken, mit denen Neuwirth und
Jelinek unser Augenmerk auf die Künstlichkeit von Körpern
lenken: die Geister, die in der fünften Szene auf eine Leinwand
projiziert werden; die Videospiel-Schafe, die beim
Bacchanal in der achten Szene mit »Piepen, Quietschen
und Sirenengeräuschen« sprechen; der Ghettoblaster, der
Jeremys Text übernimmt, wenn er und Theodora in Szene
12 auseinandergehen. Keine dieser Techniken zielt darauf
ab, natürliche Klänge oder Erscheinungen getreulich
abzubilden. Vielmehr lenken sie unsere Aufmerksamkeit
darauf, wie die Natur, als Gegensatz zur und getrennt von
der Kultur, sowie auch das Reale, als Gegensatz zum und
getrennt vom Irrealen, menschengemachte Vorstellungen
sind, mit denen kontrolliert werden soll, welche Arten von
Allianzen – zwischen Menschen und Tieren, Lebenden
und Toten – denkbar oder möglich sind.
Wenn es sich hierbei um Konstrukte handelt, auf die
Männer ihre Macht gründen, dann sind sie allerdings
schwächlich und leichter umzustürzen, als wir denken
mögen. Über Jeremys Erscheinung als Geist schreibt
Jelinek: »Seine billige Verlogenheit und seine zweitklassige
Geisthaftigkeit sollte schmerzlich sichtbar gemacht
werden.« In Bählamms Fest gibt es keinen Grund, wieso
Theodora und Elizabeth ihn nicht bezwingen sollten, auch
wenn eine feministische Revolution eine zu dogmatische
und grobe Bearbeitung von Carringtons Stück wäre. Stattdessen
erhält Theodora in der strahlenden Schlussszene
der Oper die Möglichkeit, zu altern und mit schmerzlichem
Wissen auf ihre Jugend zurückzublicken. »Dieses Moment,
dass man sehr jung ein einschneidendes Erlebnis haben
kann, mit dem man dann weiterleben muss, spielt in diesem
Musiktheater am Ende eine entscheidende Rolle«,
schreibt Neuwirth. »Theodora wird zwar verlassen, kann
aber aus ihrem Erlebten, ihrem Schmerz, ihrem verlorenen
Liebesjubel vielleicht Schlüsse ziehen und bewusst und
mit realer Hoffnung und Kraft von Neuem beginnen.«
Genau das hat Carrington nach ihrer Entlassung aus der
Gefangenschaft 1940 getan, wie es so viele gewöhnliche
und untragische Geschöpfe, deren Herz gebrochen wurde,
bis heute tun.
DR. MERVE EMRE, geboren in Adana (Türkei), ist außerordentliche Professorin
für Englische Literatur an der University of Oxford und Fellow am Wissenschaftskolleg
zu Berlin. Sie schreibt regelmäßig für die Zeitschriften The
New York Review of Books und The New Yorker. In letzterer erschien in
der Ausgabe vom 28. Dezember 2020 ihr Artikel How Leonora Carrington
Feminized Surrealism.
Foto: Lee Miller Archives, England 2021. All rights reserved. leemiller.co.uk
153
INMITTEN DES
GANZEN
VIER GEDICHTE VON REGINA JOSÉ GALINDO
APARICIÓN / ERSCHEINUNG
Regina José Galindo
Digitale Installation ab 15. August 2021
Siehe S. 30 _______________ www.ruhr3.de/erscheinung
154
BRINGST DU MICH UM
KEHRE ICH WIEDER ALS RUDEL
AUS HÜNDINNEN
AUS WÖLFINNEN
AUS SCHWESTERN.
—
DER TAG DES UNGLÜCKS
FAND KEIN ENDE.
DIE NACHT
ERHELLTE SICH NIE.
WAS BLIEB, WAR DIE KÄLTE
ÜBER TAGE
JAHRE
LEBEN.
155
WIR WERDEN UNS WEHREN
MIT DEN FÄUSTEN
FINGERNÄGELN
ZÄHNEN
STIMMBÄNDERN
SCHEIDE
UTERUS
EIERSTÖCKEN.
WIR WERDEN UNS WEHREN MIT WAHRHEITEN
MONDWECHSELN
ÜBERLIEFERTEN KRÄFTEN.
WIR WERDEN UNS WEHREN MIT LIEDERN
IDEEN
DER STIMME.
MIT GEDICHTEN
GEWEBTEM
BILDERN
AKTIONEN.
WIR WERDEN UNS WEHREN, WIR ALLE
UND EINE JEDE
SIND WIR DOCH ALLE EINE
UND FEHLT UNS EINE
SIND WIR NICHT ALLE.
156
WIR WERDEN UNS WEHREN, WIR ALLE
BEVOR WIR NOCH ALLE FALLEN
SONST BLEIBT VON UNS
NICHT EINE.
DER TOD KENNT KEINE METAPHER
IST EINFACH UND DEUTLICH.
DU GEHST NICHT MEHR
BIST STARR
INMITTEN DES GANZEN.
DIE UHR
— INDES —
LÄUFT WEITER.
Ü: Svenja Becker / Foto: David Pérez
157
AN DIE VERFLUCHTE
ROLLE, DIE WIR SPIELEN:
GISÈLE VIENNE
VON ELSA DORLIN
L’ÉTANG / DER TEICH
Robert Walser / Gisèle Vienne
Tanz / Performance / Schauspiel ab 18. August 2021
Siehe S. 34 _______________ www.ruhr3.com/etang
158
Gisèle Vienne begibt sich auf eine akribische, hartnäckige
und anspruchsvolle Suche. Sie erkundet den Rahmen der
Intelligibilität, die unsere Gestik, unsere Vorstellungskraft
und unsere kollektiven Mythen, unsere Identitäten, unsere
Moral und letztendlich die soziale Ordnung bestimmt. Eine
Erkundung dessen, wie wir uns für andere, für uns selbst
verständlich machen müssen, bis hin zu unseren Körperbewegungen,
unseren Blicken, unseren Impulsen, unseren
Sehnsüchten, unseren Erregungen bis hin zu unserer
Haltung und unserer Art zu gehen, in denen sich unsere
Gefühle, unsere Vorstellungen, unsere Empfindungen,
unsere Fantasien und unsere intimsten Schamgefühle abspielen;
so viel ursprüngliches, unverarbeitetes Material,
das auf die gewinnbringendste und produktivste Art und
Weise verarbeitet werden muss. Gisèle Vienne geht der
Sache auf den Grund: Sie versucht die imaginäre Maschinerie
unserer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften
zu demontieren und zu sezieren. Sie sucht zu
durchbrechen, was den Diskurs von Toleranz und Respekt,
von Gut und Böse, von gleichen Rechten und individuellen
Freiheiten und der permanenten, prosaischen, zügellosen
extremen Gewalt, die unsere Demokratien erzeugen, verbindet:
zuallererst die Gewalt der Bilder und der Imagination.
Eine profitable Überproduktion, die wir so lange
übermäßig konsumieren, bis wir uns selbst verkaufen, uns
selber bis an den Rand des Ekels verzehren – Geschichten,
Erzählungen, Fotografien, Filme, Zeitungen, Karikaturen,
Zeichnungen, Anzeigen, Profile, Newsfeeds … alles ist
verschlüsselt, um Gewalt zu verkaufen, unsere Gewalt,
um sie produktiv zu machen. So entsteht eine vorherrschende
Norm einer weißen, üppigen, blonden, postadoleszenten,
»sexy« Weiblichkeit, die unser Leben, unsere
Körper beherrscht, die wir mit Zeit, Energie, Emotionen,
Accessoires, Kunstgriffen und Skalpellen erkaufen und
die uns schwitzen lässt und uns weh tut (die Füße, der
Magen, die Haut, die Haare … das Herz), die uns neidisch
macht, die uns erfreut, wenn all unser Geld und unsere
Arbeitskraft (die Arbeit eines ganzen Lebens, die darin besteht,
zur Frau zu werden …) durch den männlichen Blick
und die heterosexuelle Ausbeutung Bestätigung erfahren.
Doch gleichzeitig wird diese weiße, üppige, oft blonde
Frau, die immer auf die eine oder andere Weise aufregend
ist, in 90 % der visuellen Produktionen, von denen
wir umgeben sind, unerbittlich und so schnell wie möglich
abgeschlachtet, unterworfen, gefickt oder verprügelt. In
der Werbung für Luxusartikel, mit der unsere Städte und
U-Bahnen überzogen sind bis hin zu den Kinosälen und
Computerbildschirmen, in den am meisten ästhetisierten
Fantasien bis hin zur Massenpornografie ist diese Frau,
die Frau, »nützlich«, sie verkauft. Euer Tod, eure Vergewaltigung,
eure blauen Flecken, eure Tränen und euer
Schweiß bringen Geld ein. Und währenddessen werden
»reale« Frauen umgebracht, umgeben von einer allgemeinen
Gleichgültigkeit, willenlos und mit einem einfachen
Eintrag in der Rubrik »Nachrichten«, täglich sterben sie
an den Schlägen ihrer Lebensgefährten, »ihrer« Männer,
auch in Demokratien, die sich stolz auf der erlangten
Gleichberechtigung von Mann und Frau ausruhen; sie
sterben wie ein Tribut an »das blonde Mädchen mit den
großen Brüsten«, emblematisch für eine Thanatopolitik,
patriarchalisch zwar, aber demokratisch.
SIE ERKUNDET DEN
RAHMEN DER
INTELLIGIBILITÄT, DIE
UNSERE GESTIK,
UNSERE VOR-
STELLUNGS KRAFT UND
UNSERE KOLLEKTIVEN
MYTHEN, UNSERE
IDENTITÄTEN, UNSERE
MORAL UND
LETZTENDLICH DIE
SOZIALE ORDNUNG
BESTIMMT.
Von Gisèle Vienne immer wieder aufgegriffen, wird dieses
Motiv in Jerk auf die Spitze getrieben. Gisèle Vienne und
Dennis Cooper arbeiten und ziehen eine Spur: Der Serienkiller
massakriert nicht so sehr Individuen, das Subjektive,
159
sondern Stereotypen, Motive, die unsere Vorstellungskraft
durchziehen – es reizt ihn, Vorstellungen, Charaktere,
verkörperte Normen zu töten, reiche, gebildete und
dekadente Teenager, aufgewachsen mit Horrorserien und
Videospielen. Er selbst ist eine Karikatur, paradigmatische
Figur einer angelsächsischen kulturellen Hegemonie, der
neueste Avatar einer degenerierten Mythologie des einsamen
Vigilanten weißer Vorherrschaft. So tötet der Killer
genau so, wie wir einen Hit im Radio mitträllern: Nachdem
wir ihn so oft gehört haben, kennen wir die Melodie, ein
paar Strophen, die wir singen können, ohne uns bewusst
zu sein, dass diese Melodie, dieses Lied, in uns verankert,
auswendig gelernt ist, ob es uns nun gefällt oder nicht. In
Jerk sind die Abgründe, die sich von Zeit zu Zeit auftun,
diejenigen, die uns einen Blick auf die Dichte der Realität
werfen lassen, wo das Leben, jedes einzelne, einzigartig,
trotz seines Hauchs von »Déjà vu«, dem normativen
Szenario zu widerstehen und zu widersprechen scheint.
Aber die schändlichste, erschreckendste, unmoralischste
und blutigste Dimension besteht nicht so sehr in den
Folterszenen, nicht einmal in der lautstarken Szene der
blutrünstigen Sodomie einer Marionette, sondern in dem
Bewusstsein, dass wir, die Zuschauer, die Schreie der
Opfer, ihre Bitten, als völlig nichtig empfinden. Der gesellschaftliche
Kontext, das Erzählmotiv und das Bild, das
wir antizipieren, haben uns gelehrt, den Tod des Opfers
zu erwarten, seine Hilflosigkeit, seine extreme Verletzlichkeit
zu bezeugen und schließlich jenen ultimativen Moment
der banalen und unterhaltsamen Absurdität seiner
Aufopferung herbeizusehnen: Das Opfer stirbt sowieso,
es steht geschrieben, es ist klar und bekannt, es ist das,
was geschehen muss, und wir sind mit dieser Gleichgültigkeit
aufgewachsen, dass ganze Bevölkerungsgruppen zum
Tode bestimmte Wesen sind. Wir wären fast enttäuscht,
wenn es anders wäre (und überhaupt, was fällt uns als
Erstes ein, wenn wir von »Migrant:innen« sprechen, wenn
wir von »Hungersnot«, von »Unruhen«, von »Familiendramen«
sprechen?).
Was drängt uns Gisèle Vienne zu erkennen, wenn sie
weiße Mädchen, zerbrechliche Heranwachsende und
stumme Puppen in dichten, hochgewachsenen Wäldern
inszeniert? Was trägt sie uns auf, wenn nicht unsere
eigenen »Erwartungen«, unsere eigenen Kategorien,
unsere eigenen Gewohnheiten der Grausamkeit, die uns
beim Anblick des Kindes und des Baumes nach Blut und
Drama lechzen lassen (und sogar unsere Angst, dass es
so kommen wird), zu thematisieren. Unterdessen schaudert
es uns alle am Rande der dunklen Wälder, aber die
eigentliche Funktion dieses abgedroschenen Mythos
besteht darin, uns blind, taub und gefühllos – und damit
radikal und absolut grausam, sadistisch – gegenüber den
Kindern zu machen, die nicht im Wald, sondern unter dem
Bombenhagel oder in Kanus im Mittelmeer sterben. Ob es
Mythen, Normen, Erzähl- und Vorstellungsmotive gibt, ist
nicht der Punkt – es gibt sie auf jeden Fall: und die Frage
ist nicht nur, welche. Mit anderen Worten: In welchen
schwelgen wir aus Gewohnheit? Um welche Leere zu
füllen, um welche Realität zu verdecken, um was zu vergessen?
Und vor allem, was formen, fabrizieren und produzieren
diese Mythen? Was kosten sie uns, was nehmen
sie uns, indem wir an ihnen festhalten? Was erhalten wir
aufrecht, insbesondere in Bezug auf das Begehren, die
Erotisierung der Dominanz, die Gewaltkultur, aber auch
die Amnesie hinsichtlich dessen, was es heißt, Zeuge,
Opfer oder Akteur der rohen Gewalt zu sein, die wir jeden
Tag erleben? Und was bringen sie in materieller, ideologischer,
politischer und wirtschaftlicher Hinsicht an Grundlegendem
ein? In Bezug auf die soziale Disziplin, in Bezug
auf das unschuldige Kollektiv?
DAS OPFER STIRBT
SOWIESO, ES STEHT
GESCHRIEBEN,
ES IST KLAR UND
BEKANNT, ES IST
DAS, WAS GESCHEHEN
MUSS, UND WIR
SIND MIT DIESER
GLEICHGÜLTIGKEIT
AUFGEWACHSEN,
DASS GANZE
BEVÖLKERUNGS-
GRUPPEN ZUM
TODE BESTIMMTE
WESEN SIND.
Das lässt mich daran denken, wie arm wir an Gegenmythologien,
an dissonanten Darstellungen sind; wie schwierig
es ist, etwas zu produzieren, das die Größenordnung des
noch nie Dagewesenen, des Unerwarteten hätte und das
die Kraft besäße, die abgeschottete Welt unserer verdummenden
und für den sie nährenden Markt profitablen
Vorstellungskraft zu implodieren. Diese Beobachtung impliziert
natürlich die Frage nach den Bedingungen einer
möglichen Verschiebung, einer Dezentrierung, aber auch
einer Umkehrung des Imaginären – das heißt nach den
Bedingungen einer Wiederherstellung des Möglichen. Es
reicht nicht, Rotkäppchen zu bewaffnen, damit sie dem
Wolf das Maul stopfen kann – es reicht nicht, auch wenn
es nicht unangenehm ist, sich das vorzustellen (bei allem
Respekt vor der Psychoanalyse), sich dieses zerbrechliche
und hilfsbereite kleine Mädchen vorzustellen, das
den Wolf fängt und ihm die Kehle durchschneidet, ihm
den Schwanz abschneidet und ihn dazu bringt, ihn zu
fressen, bevor ihm einfällt, dass er die Großmutter, das
160
Kind massakrieren könnte und damit ganze Generationen
verängstigt, die, anstatt Angst vor dem Menschen zu haben,
vor dem Großvater, dem Vater, dem Chef, dem Jäger oder
dem Nachbarn, sich daran machten, das Tier auszurotten.
Kurzum, es reicht nicht aus, die Rollen umzukehren, auch
wenn dies didaktisch sinnvoll sein kann. Aus der Sicht von
Gisèle Vienne gibt es einen subtileren, methodischeren
Weg: Man muss zunächst die Rahmenbedingungen entwirren,
auseinandernehmen, dekonstruieren und dabei
Möglichkeiten zur befreienden Neugestaltung eröffnen.
Gisèle Viennes Werk besteht also darin, die Zeit anzuhalten:
Sie will sich die Zeit nehmen, die nötig ist, um alle
Dimensionen dieses kontinuierlichen Moments zu analysieren,
in dem die Rahmenbedingungen auf uns und in uns
wirken; in dem wir nicht nur das Objekt oder die Relais
sozialer Mythen sind, sondern selber »mystifizieren«. So
können wir die Blondine bewaffnen.
Gisèle hingegen setzt auf die Aufregung und Faszination
vom guten Familienvater oder Psychopathen (der lediglich
der umgekehrte Doppelgänger ist), der in unserer Vorstellung
lauert, anstelle einer Darstellung dessen, was es
bedeutet, sich aufzulehnen, sich zu erheben, zu zerstören,
zu widerstehen, umzustürzen und sich schließlich gegen
tödliche Regimes zu wehren. Diese für ihr Schaffen so
charakteristische Auseinandersetzung wurde niemals
präziser auf ihre Methodik hin untersucht als bei Crowd
(Menge). In diesem Werk befasst sich Gisèle Vienne mit
dem Momentum der Geste, indem sie alle Ideen, alle
Emotionen, alle Darstellungen oder Erfahrungen als Bewegungsabläufe
begreift; indem sie die sozialen Beziehungen,
das politische Geflecht der Interaktionen in und
durch das choreografische Denken begreift. Es geht also
darum, die soziale und moralische Verschlüsselung dieser
Bewegungen zu reflektieren; und sie entscheidet sich
dafür, dies zu tun, indem sie den Moment einfängt, in dem
diese abgelenkt, umgelenkt, gefügig oder widerspenstig,
zurückgehalten oder betont werden; den Moment, in dem
sie im Konflikt sind, in dem wir konfliktgeladen sind. Indem
sie eine paradigmatische Szene der zeitgenössischen
Trance aufgreifen, einen Rave, der gemeinhin als nutzlose,
unproduktive, ausschweifende und unmoralische Zusammenkunft
wahrgenommen wird, eine Masse der der postideologischen,
präapokalyptischen No-Future-Generation
… indem sie das scheinbar Absurdeste aufgreift, was im
Hinblick auf die philosophische, künstlerische, kritische
und politische Bedeutung das Dürftigste zu sein scheint,
befasst sich Gisèle Vienne mit unseren körperlichen Existenzbedingungen,
mit der Unreinheit unserer Lebenswege,
der Komplexität unseres Lebens, der Ambivalenz unserer
Sehnsüchte, dem Antagonismus, der Spannung, der Krise
in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt. Alles
kann schnell, ruckartig, rhythmisch sein, wie um sich besser
darauf vorzubereiten, die Bewegung in der Schwebe zu
halten. Indem man also eine Bewegung bis zum Äußersten
ver-lang-samt, geht es darum, ihre Fragilität zu verstehen,
das heißt sowohl ihre Zwänge als auch ihre Widerstandskraft,
und so ihr Potenzial wiederherzustellen; aber es geht
auch darum, ihre Macht zu verstehen: die, ein Ereignis zu
schaffen, sich auf die Realität einzulassen, sich in einer
Welt zu verwirklichen, eine Gemeinschaft zu bilden, ein politisches
Sprachrohr zu schaffen. In dieser Untersuchung
der mikroskopischen Skala des Politischen offen bart sich
eine Positivität: Sie untergräbt nicht nur die Mythen, sozialen
Konstruktionen, Normen und Disziplinen von Körpern
und Leben, Wünschen und Vorstellungen, Weltanschauungen,
sondern gibt den gelebten Dimensionen Substanz,
für die wir noch keine Worte und Diskurse, Erzählungen
und Bilder, Disziplinen und Ästhetiken haben. Aus diesen
Dimensionen, unterirdisch, okkult, komponiert Gisèle
Vienne eine Partitur, einen Chor, eine Grammatik, einen
Gedanken, ein Ritual, ein Universum. Ihr Universum, unser
Universum, ist äußerst kritisch: das routinemäßige Summen
unserer Mythen, unserer Wünsche und unserer Fantasien,
unserer genormten Existenzen, unserer Identitäten
als Verbraucher:innen, unserer massenkonsumierten,
reproduzierbaren, wegwerfbaren Identitäten, unserer demokratischen,
gedächtnislosen und selbstgefälligen, verrohten
und verrohenden Impulse … all das ist letztlich nicht der
Mittelpunkt, das Ziel der Produktion. Hierfür ist Gisèle
Vienne nicht verantwortlich. Auf der Bühne geht es nicht
darum, uns mit möglichst geringem Aufwand von unseren
Verblendungen zu befreien, in einer zeitlichen Parenthese,
in der wir in der Raumzeit der Aufführung darüber nachdenken
könnten, um uns zu entlasten, um uns zu schonen
und dann in aller Ruhe in unser »richtiges« Leben zurückzukehren.
Auf der Bühne wird eine andere Ontologie des
Lebens durchgespielt, unserer politischen Wut. Es gibt
Gesten, bei denen wir deutlich ihren unreinen, eigen
sinnigen und verlangsamten Impuls wahrnehmen; auf der
Bühne gibt es Wesen aus Fleisch, Lumpen und Silikon, es
gibt Monster, wahnhafte, halluzinierte, hellsichtige Figuren,
Auftritte von Marionetten, von Puppen. Sind die Puppen
Figuren, Stereotypen, die in Bedrängnis gebracht werden
müssen? Oder stellen sie vielmehr die Bruchstellen in der
Tragödie der Zeit dar, die unbeugsamen Widerständler
gegen die rohe Gewalt der Welt?
MAN MUSS
ZUNÄCHST DIE
RAHMEN BE DINGUNGEN
ENT WIRREN,
AUS EINANDER NEHMEN,
DEKONSTRUIEREN
UND DABEI
MÖGLICH KEITEN ZUR
BEFREIENDEN
NEUGESTALTUNG
ERÖFFNEN.
161
Die Puppen stehen für dich, für mich, für euch, für uns, sie
sind diejenigen, die mit ihrem Blick ins Leere oder unter
ihre Kapuzen dennoch auf unsere Schwachstellen, unsere
zur Neige gehenden Reserven, unsere Abgründe und
unsere Sorgen, unsere lebenswichtigen Grenzen starren:
Sie sehen uns in die Augen, sie rufen uns zu. Sie sind es,
die bewegungslos Bedeutungszusammenhänge, Formen
der Assoziation und Dissoziation von Lautbild und Begriff,
Erwünschtem und Unerwünschtem verschieben, sie
deuten auf Verzerrungen, Komplikationen, Behinderungen,
Entstellungen, aber auch auf Erinnerungen, Erfahrungen,
Möglichkeiten, die in ihnen liegen. Und dann sind sie still
und nachdenklich: Sie transportieren nicht die Stimme
der »Stimmlosen«, sondern der »Ungehörten«: jener
Existenzen, die sprechen, sich ausdrücken, kämpfen,
zögern, rufen und schreien, die sich aber in der Leere, im
Unwirklichen erschöpfen, die wir mit ohrenbetäubenden
Geräuschen, mit der Frage »Warum?«, »beruhigenden«
Worten, Ratschlägen, Urteilen, Diagnosen, Beleidigungen,
Lügen, autoritären Aufforderungen zum Schweigen oder
zum richtigen, angemessenen Sprechen zudecken. Gisèle
Viennes Puppen sind so still wie der Tod und doch stelle
ich mir vor, wie sie Ränke schmieden: Sie organisieren
sich, sie reden miteinander und schließen sich zusammen,
um die Unordnung zu verallgemeinern, um sie absolut zu
machen, um unsere verfluchten Rollen, unsere Lebensenergien
zurückweichen zu lassen, um unsere kapitalistischen
Fantasien, die umgebende Pornografie des Weltuntergangs
und unserer quälenden Bedeutungslosigkeit,
unsere Ohnmacht zu verklären – die uns ermächtigen,
uns zu entlasten oder zu opfern –; dass sie unsere Rachegelüste,
unsere Verweigerungen erregt, dass sie unsere
Wunden lindert, dass sie unsere Wahrnehmungen schärft,
dass sie uns im Augenblick der Krise festhält, in der die
Zukunft ausgesetzt ist, direkt vor unseren Augen: Es genügt
eine Geste, ein synchroner Impuls. »Es ist leichter,
sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des
Kapitalismus«, mit dieser Aussage bezog sich F. Jameson
auf die libidinöse Ökonomie des fortgeschrittenen Neoliberalismus.
Mit Gisèle Vienne könnte man auch weitergehen:
»Es ist leichter, sich die Tötung kleiner Mädchen
vorzustellen als das Ende des neoliberalen Patriarchats.«
ELAS DORLIN ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris 8
Vincennes-Saint-Denis. Sie gilt als eine der führenden französischen
Theo retikerinnen der Gegenwart. Mit ihr befindet sich die Künstlerin
Gisèle Vienne im intensiven Austausch über ihrer beider Arbeit.
Foto: Gisèle Vienne
162
ALS
FRAU GEBOREN
ZU SEIN,
BEDEUTET
WIDERSTAND
EINE INTERVIEWCOLLAGE VON ANNE BRITTING
MIT ANGELINA MIGLIETTA,
ALMENDRA MENICHETTI, CONSTANZA POLONI,
DANIELA LÓPEZ, FREDDERICK VÁSQUEZ
UND IGNACIA ATENAS
PAISAJES PARA NO COLOREAR / NICHT AUSZUMALENDE LANDSCHAFTEN
Marco Layera / Teatro La Re-Sentida
Junge Triennale / Schauspiel ab 8. September 2021
Siehe S. 56 _______________ www.ruhr3.com/paisajes
163
In der dokumentarischen Stückentwicklung Paisajes para
no colorear / Nicht auszumalende Landschaften kämpfen
neun junge Darsteller:innen aus Chile gegen die Gefahren,
die das Frausein mit sich bringt, und gegen die gesellschaftliche
Ignoranz gegenüber Jugendlichen. Die Arbeit
an dem Stück hat das Leben der jungen Performer:innen
verändert.
Anne Britting, Dramaturgin der Jungen Triennale, hat ihnen
Fragen zu dem Projekt geschickt und aus einer Auswahl
ihrer Antworten diese Interviewcollage zusammengestellt.
Ein Glossar auf S. 169 liefert Erklärungen zu den unterstrichenen
Begriffen.
01
Wie habt ihr das Stück entwickelt?
IGNACIA ATENAS Improvisationen, Recherchen über
Femizide, viel biografische Arbeit und eine Reihe weiterer
Aufgaben bildeten die Grundlage für das Stück.
FREDDERICK VÁSQUEZ Paisajes entstand in einem
kollektiven Prozess: Wir alle probierten die Szenen
durch, um jeweils etwas dazu beizutragen, und besprachen
uns dann mehrfach, um zu sehen, wie wir
damit zurechtkommen und so.
ANGELINA MIGLIETTA Es war ein ausgesprochen
wunderbarer Prozess, so frei und einmalig, wie ich es
noch nie erlebt habe. Wir stellten uns vielen Improvisationen,
in denen wir darüber sprachen, was uns
ärgert, gefällt und traurig stimmt, oder die von Situationen
handelten, die wir nirgendwo sonst besprechen
konnten. Daraus ist das Stück entstanden.
02
Was bedeutet es für dich, mit Paisajes para no colorear
auf der Bühne zu stehen, und wie hat dich die Arbeit an
dem Stück verändert?
FREDDERICK Herausschreien zu können, was wir fühlen,
was für uns wichtig ist, einen Raum zu bekommen,
in dem wir als Jugendliche endlich wahrgenommen
werden und uns äußern dürfen.
Die Arbeit an dem Stück hat mir eine offenere Perspektive
auf die Welt gegeben, mich für bestimmte
Angelina Isabella Miglietta Escobar
ist 17 Jahre und die jüngste Tochter einer konservativen Familie.
Sie ist extrovertiert, rastlos und unkonzentriert und hat sich schon
immer für Theater interessiert. Paisajes para no colorear eröffnete ihr
eine neue Welt, sie entwickelte sich weiter und hinterfragte die von
ihrer Familie auferlegten Werte. Heute ist sie Feministin und Aktivistin.
Almendra Menichetti
ist eine 19-jährige Frau, die die Kunst in all ihren Ausdrucksformen
liebt. Seit ihrem zwölften Lebensjahr wirkt sie an Theater- und
Filmprojekten mit. Mit der Teilnahme an Paisajes para no colorear
fand sie einen politischen und feministischen Raum, den sie Tag
für Tag weiterentwickelt.
164
Constanza Francesca Poloni
ist 20 Jahre, besucht seit ihrem achten Lebensjahr Theater-, Tanzund
Kunstworkshops und wirkte an Fernsehserien, Kurzfilmen
und Schultheaterstücken mit. Mit 16 Jahren kam sie zu Paisajes para
no colorear. Seitdem sieht sie sich als Feministin, Aktivistin und
Förderin von gesellschaftlichem Fortschritt.
andere Jugendliche leben oder gelebt haben, und zu
wissen, dass einige davon die gleiche Gewalt erfahren
haben wie ich, lässt mich als Person wachsen und gibt
mir das Gefühl, begleitet zu werden.
Das Stück in andere Teile der Welt zu tragen und zu erkennen,
dass es auch dort mit seinen Themen ankommt
und Mitgefühl erweckt, erfüllt mich mit Sinn. Und ich
merke, dass wir alle miteinander das Gleiche erleben
und dass Kämpfe und Themen wie diese im Theater
gezeigt werden müssen, um Menschen zu treffen und
sie zu Identifikation und Veränderung anzuregen.
Dinge aufgeschlossener gemacht und es mir ermöglicht,
offener mit mir und anderen umzugehen. Dass
wir unsere Botschaft in die Welt tragen können vor
verschiedenen Arten von Publikum, hat einen ganz
großen Zauber.
ANGELINA Auf die Bühne zu gehen und für alle Frauen,
Heranwachsenden und kleinen Mädchen zu sprechen,
die so viel Ungerechtigkeit erlebt haben und noch erleben,
zu erkennen, dass wir nicht alleine sind, dass wir
Einstellungen verändern können … das ist wirklich ein
Traum, aus dem ich nie erwachen möchte.
Es hat mir die nötigen Werkzeuge gegeben, für die Ideale
einzutreten, die mich wirklich ausmachen, und die
vorurteilsbeladenen Haltungen abzulegen, die mein
Umfeld mich angetrieben hat zu glauben. Heute bin ich
sehr stolz auf alles, was ich gelernt habe, und darauf,
dass ich nun meiner Umgebung etwas beibringen und
sie zum Positiven verändern kann.
CONSTANZA POLONI Das Stück hat für mich Erleichterung
bedeutet und mir schlagartig die Augen geöffnet:
Ich schaute mich um und sah, wie Millionen Menschen
das Gleiche erleiden. Ich habe die Schwesterlichkeit
kennengelernt, den Feminismus. Auch habe ich mich
im Theater selbst verstanden wie nie zuvor. Ich habe die
Wichtigkeit des Theaters für Kritik und Wandel erkannt
und seine Funktion als grenzenloses Werkzeug.
DANIELA LÓPEZ Es ist unser Kampf. Ich spüre viel Stolz
und gleichzeitig die große Verantwortung, für viele
junge Menschen zu stehen, die sich von dem Stück
angesprochen fühlen, weil sie oftmals ähnliche Situationen
erlebt haben, wie wir sie auf der Bühne zeigen.
Nach der Arbeit an dem Stück hat sich, glaube ich,
meine Sicht auf die Welt geöffnet. Andere Wirklichkeiten,
andere Verhältnisse kennenzulernen, in denen
Daniela López Quintero
18 Jahre, ist eine junge Feministin, Aktivistin, Veganerin,
Schauspielstudentin und bisexuell. Seit ihrer Kindheit nimmt sie
an verschiedenen Theaterprojekten teil. Mit 15 Jahren wurde sie
Teil der Besetzung von Paisajes para no colorear.
165
03
Was ist der wichtigste Satz oder Moment in Paisajes para
no colorear für dich?
CONSTANZA Für mich steht unvermeidlich der Tod
von Lizette Villa im Vordergrund. Neben dem Gefühl
der Verzweiflung, jemanden zu verlieren, erlebe ich den
Schmerz des Unrechts und der Schutzlosigkeit.
DANIELA Ich glaube, einer der wichtigsten Momente in
dem Stück ist, als Sofia, die aufblasbare Puppe, Selbstmord
begeht. Denn für mich ist das ein Beispiel dafür,
wie eine patriarchale und adultozentrische Gesellschaft,
die die Jugendlichen verdinglicht und vergewaltigt,
unser Leben zugrunde richten kann. Jugendsuizid
ist in unserem Land und in aller Welt ein drängendes
Thema. Und niemand hat sich dieser Situation angenommen,
um diesen jungen Menschen wirklich zu
helfen, ihnen zuzuhören und sie so zu unterstützen,
wie sie es brauchen.
Fredderick Undomiel Vásquez Petrone
ist ein 16-jähriger transgender Junge. Er wusste nie viel über sich
selbst, aber es war ihm immer klar, dass er von der Kunst leben
will, dass dort sein Platz ist. Zusammen mit dem wunderbaren Team
von Paisajes para no colorear ist dieser Traum Wirklichkeit geworden.
IGNACIA Ich habe viel über Gender, Sexualität, gesellschaftliche
Veränderungen, genderbasierte Gewalt
und tausend Sachen mehr gelernt. Während ich mich
selbst veränderte, veränderten sich auch meine Familie
und mein enger Freundeskreis, denn ich habe sie
informiert und dadurch manche Haltung verändert, die
heute wirklich nicht mehr »cool« ist.
Für mich ist es eine Ehre, auf der Bühne stehen zu
können, um ein so wichtiges Thema wie die genderbasierte
Gewalt und die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen
in der heutigen Welt sichtbar zu machen. Eine
Verantwortung, weil du ja versuchst, tausende Generationsgenossinnen
zu vertreten, und das bestmöglich.
Und es ist ein riesiges Glücksgefühl, weil es nichts
Schöneres gibt, als auf die Bühne zu kommen, zu
spielen und die Reaktionen des Publikums zu spüren,
während man eine Botschaft wie diese verbreitet.
ANGELINA Der bewegendste Teil des Stücks ist für
mich der Schluss, wo wir uns an den Händen fassen
und dankbar sind, dass die Erwachsenen uns endlich
zuhören, ohne dass wir unterbrochen werden, und wir
ihnen klarmachen, dass wir viel zu besprechen, mitzureden
und zu erkämpfen haben, dass wir selbst über
unsere Körper verfügen und nie wieder Angst haben
werden.
IGNACIA Ein wichtiger Satz in dieser Szene lautet:
»Nie hat eine Gruppe Erwachsener uns so lange zugehört,
ohne dass wir unterbrochen wurden.« Dieser
Satz benennt den in der Welt herrschenden Adultozentrismus
und wie wir Teenager-Mädchen ständig
zum Schweigen gebracht werden, weil wir angeblich
»weniger wissen«.
Ignacia Atenas
16 Jahre, interessiert sich für Politik, die Welt und Feminismus. Ihr
Traum ist es, Präsidentin von Chile zu werden. Ihre Leidenschaften
sind rhythmische Sportgymnastik – wo sie zu den Besten in Chile
gehört – und Theater. Paisajes para no colorear ist das erste Stück,
an dem sie mitwirkte.
ALMENDRA MENICHETTI Dieses Stück hat mir geholfen,
meine ganzen Ängste auszugraben, meinen
ganzen Hunger und meinen Wunsch, die Wut rauszulassen,
für mich und alle meine Mitstreiterinnen.
166
ALMENDRA Die Sätze, die immer in mir nachhallen
und von denen ich eine Gänsehaut bekomme: »[…]
Stolz werden wir sein, wenn wir unseren Kindern, Enkelkindern
oder nachfolgenden Generationen erzählen,
dass wir mit dreizehn, fünfzehn, sechzehn Jahren ein
Bewusstsein entwickelten und auf die Straße gingen,
dass wir unsere Schulen für uns eroberten. So verkünden
wir die Souveränität unserer Körper, verteidigen
die Freiheit unserer Schritte und stürzen dieses
System, das das weibliche Geschlecht aus den Geschichtsbüchern
und der Literatur ausradiert.«
04
Was bedeutet es für dich, als Frau geboren worden zu sein?
ALMENDRA Seit ich mich erinnern kann, bedeutete
es, zu träumen: vom Prinzen, von der Liebe, von einer
Wunschvorstellung, von Schlössern, von einer Familie.
Es hat bedeutet, mich tausend und ein Mal zu verlieben
und immer ignoriert zu werden, es hat bedeutet, als ich
größer wurde, allmählich zu erkennen, dass ich nicht in
den Rahmen passte, nicht »hübsch«, nicht »groß« genug
war, und ich begann zu leiden. Dann bedeutete es,
Angst zu haben, Zweifel, Unsicherheiten bezüglich meines
Körpers und der Welt. Angst, allein aus dem Haus
zu gehen, Angst vor Sexualität, Angst vor mir selbst,
weil ich Sachen wollte, die »nichts für Mädchen« sind.
Heute bedeutet es, eine sehr intellektuelle Person zu
sein, die nach der »Wahrheit« sucht und hunderte
von Fragen hat, die versucht, sich zu lieben, und die
sich sehr mit dem Feminismus identifiziert, um keine
Angst zu haben, wenn das eigene Kind ein Mädchen
wird, und nicht nach jedem Hupen oder Pfeifen eines
Fremden zu springen. Als Frau geboren zu sein, bedeutet
für mich vor allem Widerstand.
ANGELINA Jede machistische Situation, die eine Gefährtin
erlebt, geht uns genauso an, denn bedauerlicherweise
sind wir alle auf irgendeine Weise Opfer
dieser Gesellschaft. Aber ich bin glücklich, zu sein, wer
ich bin, freue mich, eine Frau zu sein, denn ja, ich bin
hysterisch, verrückt, intensiv, bipolar, emotional, intelligent,
kraftvoll dank der Lehren meiner Lehrerinnen,
Großmütter, Mutter, Schwestern, Nichten und Freundinnen.
In dieser Umgebung fühle ich mich sicher und
möchte von ihnen allen jeden Tag mehr lernen.
DANIELA Als Frau geboren zu sein, macht mich stark
und kämpferisch und lässt mich mit allen fühlen, die
vom System unterdrückt werden. Es bedeutet, mich
mit den Frauen um mich herum zu vereinigen und
schwesterlich zu sein, uns wechselseitig zu begleiten
gegen das Patriarchat. Frau zu sein bedeutet für mich,
die Geschichte tausender Frauen zu tragen, denen das
System Gewalt angetan hat und die gegen dieses System
gekämpft haben, denn dank ihnen kann ich heute
wählen, mich bilden und arbeiten. Frau zu sein heißt,
bereits als Kämpferin und Widerständlerin geboren
zu sein, allein aufgrund der Tatsache, in einer Gesellschaft
zu leben, die gegen uns ist.
FREDDERICK Das ist bei mir etwas kompliziert, weil
ich ein transgender Junge bin und es für mich schon
immer ein ständiger Gefühlskonflikt war, in einem biologisch
weiblichen Körper geboren zu sein. Wegen der
machistischen Gesellschaft, in der wir leben, sah ich
mich in meinem biologischen Geschlecht genauso verletzt
wie in meiner Genderzugehörigkeit.
CONSTANZA Es bedeutet eine Herausforderung, bedeutet
Courage und Widerstand. Frau zu sein ist auch
eine einmalige Welt, eine einmalige Art des Mitfühlens.
IGNACIA Manchmal wäre es auch nett, ein Mann zu
sein, damit du nicht dafür kritisiert wirst, wie du dich anziehst,
hinsetzt oder epilierst – oder einfach, um abends
angstfrei auf die Straße gehen zu können. Aber um
nichts in der Welt würde ich mein Frausein eintauschen.
05
Was willst du auf keinen Fall verlernen oder vergessen beim
Erwachsenwerden?
FREDDERICK Wer ich bin, was mich motiviert, die Dinge,
für die ich kämpfen möchte. Alles, was mich jetzt gerade
ausmacht, hoffe ich, nie zu verlieren.
DANIELA Ich glaube, ich möchte nie den Drang zur
Veränderung verlieren, den Drang, mich zu regen,
wenn etwas mich stört, ungerecht ist oder jemandem
schadet. Ich sehe mich in der Zukunft immer als eine
Person, die den Mund aufmacht, die für das kämpft,
was sie für gerecht hält, und die ständig in Bewegung
ist. Zu jungen Menschen gehört, denke ich, auch das
intensive Empfinden und dass sie ihre Gefühle nicht
verstecken. Auch das möchte ich nicht verlieren, denn
ich spüre, dass es in der Erwachsenenwelt oft nicht
erlaubt ist, zu fühlen und es offen zu äußern.
ALMENDRA Ich will nie aus den Augen verlieren, dass
man immer kämpfen, für das Gerechte eintreten muss
und das Wunschdenken, eine neue Welt zu erschaffen,
niemals aufgeben darf. Ich will nie vergessen, dass
ich, wenn ich Kinder haben sollte, ihnen wirklich
zuhören muss – vor allem in ihrer Jugend, wenn sie
Zweifel haben –, und ich werde ihnen sagen, dass sie
frei sein können.
IGNACIA Dass eine Person, weil sie minderjährig ist,
nicht weniger weiß oder ihre Meinung unmaßgeblich
ist. Dass die Heranwachsenden einen großen Wandel
in der Gesellschaft bewirken können und man sie nicht
zum Schweigen bringen darf.
ANGELINA Ich möchte meine Ideale weiter übermitteln
und an sie glauben, bis eine bessere Welt erreicht
ist. Und mir natürlich den Glauben an die Jugend bewahren
als Weg des Fortschritts. Denn wir und die
kommenden Generationen werden es sein, die den
Wandel vorantreiben, um eine gerechtere Gesellschaft
herbeizuführen. Wir bringen alle Themen auf den Tisch,
167
die uns wichtig sind, und hören auf zu schweigen, wie
unsere Großeltern und Eltern es taten.
CONSTANZA Die Fantasie – die Dekonstruktion der
Wirklichkeit – in der Gruppe zu schaffen und sich
gegenseitig zu unterstützen. Ebenso die Geltung der
jungen Stimmen, die Bedeutung der Kindheit und der
Feminismus als Weg.
06
An was auf dieser Welt wirst du dich niemals gewöhnen?
CONSTANZA Nie werde ich mich an den Machismo
gewöhnen, nie werde ich mich daran gewöhnen, dass
man mich herabwürdigt, weil ich eine Frau bin, auch
nicht an sexistische Kommentare. Ebenso wenig werde
ich mich daran gewöhnen, Unsicherheit zu fühlen.
IGNACIA Neben dem Machismo und der patriarchalen
Gesellschaft, dem Kapitalismus und der Straflosigkeit
[von Verbrechen, Anm. d. Red.] in der Welt und besonders
in Chile werde ich niemals verstehen, dass ich
täglich erfahren muss, dass eine Frau starb, nur weil
sie eine Frau ist. Und dass das System täglich die Menschen
ausbeutet und diese gar kein Leben mehr haben.
DANIELA Ich werde mich nie an das Patriarchat und
den Hass auf die LGBTIQ+-Community gewöhnen.
Ich kann nicht hinnehmen, dass Menschen immer
noch nur wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen
Orientierung Hass erfahren, und jedes Mal, wenn mir
so etwas begegnet, versuche ich etwas dagegen zu
tun, weil es mich verletzt, wütend macht und mich zugleich
antreibt zu handeln.
ANGELINA Nie werde ich mich an Gewalt und fehlendes
Mitgefühl gewöhnen. Der Weg der Veränderung
beruht auf Liebe und Achtung. Nun ist es genug mit
den Waffen, genug mit der Angst, die sie uns eingejagt
haben, wenn wir unsere Stimme erhoben haben, es ist
an der Zeit, dass sie uns zuhören und ein Dialog entsteht.
Wir werden keinen einzigen Tod mehr dulden.
Wir sind Personen, keine Nummern, und von jetzt an
heißt das: »Nie wieder ohne uns.«
FREDDERICK Ungerechtigkeit und Zurücksetzung sind
etwas, das ich nicht ertragen kann. Von früh an bekam
ich beigebracht, mich gegen Unrecht zu wehren und
nicht zuzulassen, dass meine Rechte verletzt werden,
und ich hoffe, es so beizubehalten.
ALMENDRA Um mich herum beobachte ich andauernd
Ungerechtigkeiten – das ist, was ich am meisten
hasse. Aber auch an Gewalt und Armut werde ich
mich nicht gewöhnen, weil ich überzeugt bin, dass sie
zu nichts Gutem dienen, sondern einer gesellschaftlich
und kulturell erlernten Vorstellung entsprechen,
wonach einige privilegiert sind und andere einfach unsichtbar
gemacht werden. Ich halte das für ein Unheil,
das uns daran hindert, uns zu einer mitfühlenderen
Welt hin zu entwickeln.
Textcollage: Anne Britting / Übersetzung aus dem Spanischen: Stefan Barmann / Fotos: privat
168
GLOSSAR
Adultozentrismus, adultozentrische
Gesellschaft
Adult heißt erwachsen. Adultozentrismus
bedeutet also, dass Erwachsene der Mittelpunkt
einer gesellschaftlichen Ordnung
sind, ihre Bedürfnisse an erster Stelle stehen
und sie bestimmen dürfen, auch über Sachen,
die Kinder und Jugendliche betreffen.
Feminismus, feministisch
Feminismus fordert, dass traditionelle Unter
drückung und Benachteiligung aufgrund des
Geschlechts beendet werden – alle Menschen
sollen die gleichen Rechte und Pflichten,
Möglichkeiten und Chancen haben und die
gleiche Anerkennung bekommen, egal ob
Frau, Mann oder divers. Feminist:innen setzen
sich z. B. dafür ein, dass Frauen gleich viel
Geld verdienen – Jobs, die mehr Frauen als
Männer machen, werden oft schlechter
bezahlt. Sie fordern eine gleichmäßige Aufteilung
unbezahlter Arbeiten auf Frauen und
Männer (z. B. Hausarbeit, Kinderbetreuung).
Macht soll gerecht verteilt werden, denn
bis heute sind Führungspositionen und Parlamente,
in denen wichtige Entscheidungen
getroffen werden, mit mehr Männern als
Frauen besetzt. Alle Menschen sollen sich frei
bewegen können und keine Angst vor Beleidigungen
oder Übergriffen haben müssen.
Femizid
Der Mord an einer Frau oder einem Mädchen
aufgrund ihres Geschlechts heißt Femizid,
es ist eine Form genderbasierter Gewalt.
Gender, genderbasierte Gewalt
Im Englischen gibt es zwei Wörter, die beide
»Geschlecht« heißen: »gender« und »sex«.
Gender ist dabei der soziale Aspekt von Geschlecht.
Es beschreibt die Rolle in und die
Erwartungen von der Gesellschaft an eine
Person aufgrund ihres Geschlechts und das
gefühlte und gelebte Geschlecht. »Sex«
dagegen wird für das biologische Geschlecht
(körperliche Geschlechtsmerkmale) verwendet.
Weil es im Deutschen nur ein Wort
gibt, das beides beschreibt – Geschlecht –,
verwendet man auch im Deutschen »Gender«,
wenn nur der soziale Aspekt von Geschlecht
gemeint ist.
Genderbasierte Gewalt ist, wenn eine Person
aufgrund ihres Geschlechts Opfer von Gewalt
wird. Diese Gewalt ist Folge von sozialen
Macht strukturen. Frauen werden sehr viel
häu figer als Männer Opfer von genderbasierten
Gewalttaten.
LGBTIQ+-Community
Steht für die Gemeinschaft von:
Lesbians – lesbischen Menschen
Gays – schwulen Menschen
Bisexuals – bisexuellen Menschen:
Sie lieben sowohl Menschen des gleichen
als auch des anderen Geschlechts.
Transgender – Menschen, die sich nicht
ihrem biologischen Geschlecht zugehörig
fühlen oder weder als Mädchen/Frau
noch als Junge/Mann.
Intersex – Menschen, die geschlechtliche
Körpermerkmale von Frauen und Männern
haben.
Machismo, machistischen Gesellschaft
Das im Deutschen verwendete Wort Macho
kommt von dem spanischen Begriff Machismo.
Der Duden definiert Machismo als ȟbersteigertes
Gefühl männlicher Überlegenheit und
Vitalität«. Machismo äußert sich in einer Art
Männlichkeitswahn und damit einher gehend
einem abwertenden Umgang mit Frauen,
zum Beispiel durch herabwürdigende Sprüche
oder wenn Männer glauben, das Recht zu
haben, über Frauen bestimmen zu können.
Eine machistische Gesellschaft ist stark von
traditionellen Rollenbildern geprägt. Die
Vorherrschaft von Männern ist scheinbar
selbstverständlich, abwertendes Verhalten
gegenüber Frauen alltäglich und geduldet.
Patriarchat, patriarchale Gesellschaft
Im Patriarchat ist das Zusammenleben
geprägt, kontrolliert und repräsentiert von
Männern. Eine patriarchale Gesellschaft
ist so strukturiert, dass Männer eine Vormachtstellung
gegenüber Frauen und
Kindern haben z. B. im Staat/der Politik,
in sozialen Beziehungen und in der Familie.
Transgender, transgender Junge
Zu Transgender siehe LGBTIQ+
Ein transgender Junge ist ein Junge,
dem bei der Geburt aufgrund biologischer
Merkmale das Geschlecht »weiblich«
zu geordnet wurde.
Queers – Menschen, die jenseits der
hetero sexuellen und/oder zweigeschlechtlichen
Norm leben und lieben.
+ steht für alle Menschen, die sich von den
schon genannten Geschlechtsidentitäten
und / oder sexuellen Orientierungen nicht
gemeint fühlen.
169
E CADDI
COME CORPO
MORTO CADE
—
ICH FIEL,
WIE EIN TOTER
KÖRPER FÄLLT
VIER FRAGEN AN
DIE TÄNZERIN
UND CHOREOGRAFIN
FLORENTINA
HOLZINGER ZU
A DIVINE COMEDY
VON SARA ABBASI
A DIVINE COMEDY
Florentina Holzinger
Tanz / Performance ab 19. August 2021
Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/divine
170
Warum ausgerechnet Tod?
Im Grunde beschäftigt man sich in jeder Bühnenarbeit
mit dem Tod, nähert sich dem Tod sogar an. Wenn
man das überspitzt formuliert, sieht das Publikum
Menschen zu, die zwar leben, sich aber durch die verstreichende
Zeit dem Tod sukzessive annähern. Auch
das Publikum ist dem Tod um exakt die Stückdauer
näher gerückt. Ich hatte selber vor einigen Jahren eine
Art Nahtoderfahrung auf der Bühne, aber das war
nicht der ausschlaggebende Grund, mich dem Thema
so explizit zu widmen. Auch nicht die Pandemie, die
ja den Tod den Leuten nochmal präsenter gemacht
hat, der Tod herrscht jetzt nicht mehr in fern liegenden
Krisengebieten oder dem individuellen Drama, sondern
der Tod kommt jetzt in Massen direkt aus dem
Krankenhaus ums Eck. Der Tod ist jetzt das, was es
auf alle Fälle zu vermeiden gilt.
WIE TANZT
DER TOD?
Ich hatte immer eine Faszination für das »Problem« der
Repräsentation von Tod im Tanz. Der Tanz kann viele
Repräsentationsprobleme haben (deswegen wird Tanz
ja nach wie vor nicht so ernst genommen als Kunstform),
aber das des Todes ist doch sehr einschneidend.
Gleichzeitig beschäftigt sich keine Kunstform
so eindringlich mit der Transzendenz des physischen
Körpers wie der Tanz oder nähert sich dieser an – so
habe ich Tanz jedenfalls immer für mich selbst verstanden:
als physische Praxis, die versucht, die Grenze
zwischen menschlich und übermenschlich (more than
human) zu verschieben.
Im Grunde wollte ich existenzielle Fragen, die ich
mir schon immer gestellt habe, künstlerisch nochmal
unter die Lupe nehmen und versuchen, sie durch
das physische Experiment zu beantworten: Wie tanzt
der Tod? Wie tanzen Tote? Wie kann ich mit dem Tod
tanzen? Was genau ist die Präsenz des Todes? Und
wie kann ich in der ständigen Präsenz von Tod überhaupt
leben? Der Totentanz ist natürlich das Leben
an sich. Es sind also Lebe- und dadurch auch Sterbeübungen,
die wir auf der Bühne exerzieren.
Kannst du mehr von deinem Nahtoderlebnis erzählen?
Es war ein Erlebnis, das mich mit meiner eigenen
Endlichkeit und auch Verletzbarkeit konfrontiert hat.
Für mich war davor die Bühne ein Bereich, in dem es
darum ging, die Kontrolle zu verlieren. Das hat sich danach
sehr verändert, ich bin eher zur Kontrollfetischistin
geworden und hab dann plötzlich festgestellt, dass
im kontrollierten Setting fast mehr Raum für Freiheit
sein kann – das hätte ich davor definitiv angezweifelt
und sehe es noch immer sehr zwiegespalten. Meine
ersten Shows waren nur für diesen einen Moment, es
gab keine Wiederholbarkeit und die hat auch niemand
verlangt. Sie hatten mehr dieses: Doing it as if it was
the only and last time – natürlich hochromantisch,
171
aber ich dachte echt nicht, dass da wahnsinnig viel
Zukunft in dem lag, was ich gemacht habe, und wollte
das eigentlich auch nicht.
Später wollte ich meine Miete zahlen und andere Leute
involvieren und auch bezahlen. Mit den Ressourcen anderer
kann man aber nicht mehr so verschwenderisch
sein und plötzlich muss das, was man macht, auch
länger haltbar sein und das Wort Sustainability kommt
auf – was aber nicht dazu verführen darf, konforme
Arbeit zu machen oder sich von Verantwortung und Verantwortlichkeit
übermannen zu lassen. Es braucht eine
dicke Haut fürs echte Experiment – denn es ist schon
so, dass ich Möglichkeiten habe, die viele andere nicht
bekommen, und die muss man schon irgendwie nutzen,
finde ich. Zum Glück habe ich mich überall schon immer
eher als Außenseiterin gefühlt, deswegen hab ich wenig
Stress, Normen zu entsprechen. Wenn ich irgendwo
Unterstützung bekomme – great, aber wenn nicht, dann
denk ich mir, dort hab ich eh nicht wirklich hingewollt.
Ich bin jetzt 35 Jahre alt, also im gleichen Alter wie
Dante, als er in der Mitte seines Lebens plötzlich »vom
Weg abgekommen ist«. Plötzlich hatte ich das Gefühl,
wie kurz mein Leben ist und wie viele Sachen es gibt,
die ich noch machen will. Als Teenager stehen alle Optionen
offen und plötzlich bemerkt man, dass man sich
(unabsichtlich) doch für eine Option entschieden hat.
Ich finde, das ist ein sehr klaustrophobischer Gedanke.
Covid war definitiv ein Reset-Button. Um mich herum
haben plötzlich alle Kinder gekriegt oder Häuser gekauft
und das hat mich insgesamt sehr deprimiert:
Gibts da jetzt eigentlich nichts anderes? Beschäftigt
man sich also jetzt mit der Akkumulation von Eigentum
und versucht Spuren und Gene zu hinterlassen,
während man langsam wegstirbt?
BESCHÄFTIGT MAN
SICH ALSO JETZT MIT
DER AKKUMULA -
TION VON EIGENTUM
UND VERSUCHT
SPUREN UND GENE
ZU HINTERLASSEN,
WÄHREND MAN
LANGSAM WEGSTIRBT?
Gleichzeitig unsere absurd überalterte Gesellschaft
und die gesellschaftlich verankerte, panische Angst
vor dem Tod. Das Unaussprechliche des Todes. Meine
eigene Panik davor. Aber ich denke, es ist eben auch
meine Panik vor dem unerfüllten Leben.
Daran wollte ich mich abarbeiten und hab so eine
»Studiengruppe« an Leuten versammelt, die meiner
Meinung nach einen speziellen (oder sehr bewussten)
Zugang haben zu Leben und Tod – einige aus dem
Tanz und andere aus ganz anderen Bereichen. Leute,
die ich an dieser Verhandlung über den Totentanz teilhaben
lassen wollte, die ihn aber auch aus eigener
Perspektive definieren sollten. Zuallererst haben sich
da natürlich auch ältere Menschen angeboten, die
dieses Merkmal gemeinsam haben: dass sie schon
sehr lange leben und viel überlebt haben. Das an sich
ist schon eine Superpower: und an Superpower bin ich
als Tänzerin natürlich sehr interessiert.
Was fällt dir zu Tod und Weiblichkeit ein?
Hm, ja, da war einfach schon lange ein Zusammenhang
da, Eros und Thanatos. Es war lange Zeit sicher
gängiger, eine Frau als Kunstobjekt zu inszenieren, als
etwas zum Ansehen, eine Erscheinung von Schönheit
– und am schönsten eben im Tod, da wird sie ja
auch zum Objekthaftesten.
Wenn wir uns die europäische Theater- und Kunstgeschichte
des letzten Jahrtausends ansehen, waren da
stark diese zwei Rollen vertreten: Femme fatale und
Femme fragile. Auf der einen Seite die aus Lust mordende
Frau, die Männern zum Verhängnis wird, auf der
andren Seite das ihrem Schicksal ausgelieferte und
fremdbestimmte Opfer.
Diese Stereotype werden in unserer Zeit natürlich
transformiert, auch die Definition von Weiblichkeit
kann vieles sein und ist Identifikationssache. Wir sind
in dieser Hinsicht Kinder unserer Zeit und haben damit
einen sehr spielerischen Umgang. Auf der Bühne
arbeite ich gerne mit vermeintlichen Männerfantasien –
die hab ich nämlich auch. :)
Was interessiert dich an Dantes Todesfantasien?
An Dante per se oder an einer Interpretation seiner
Göttlichen Komödie sind wir eigentlich nicht so interessiert
– wir wollen einfach auch eine Göttliche
Komödie machen, und darunter verstehen wir eine
»Komödie«, die sich mit dem unmöglichsten Bühnenstoff
überhaupt auseinandersetzt, der Verhandlung
von Leben und Tod, und eben auch der Frage nach
Transzendenz. Schon in TANZ haben wir uns mit einer
(eurozentristischen) Vorstellung von Tanz beschäftigt,
und auf Einladung der Ruhrtriennale hatten wir natürlich
Lust, dasselbe mit dem Theater zu tun. Außerdem
wimmelt es in der Göttlichen Komödie eben von oben
genannten Femmes fatales und Femmes fragiles und
das hat uns natürlich auch provoziert … Ich wollte in
dieser Show Performerinnen versammeln, die durch
sogenannte Sterbeübungen führen können, deren
Praxis in Nähe steht zur Verhandlung von Leben und
Tod, jenseits von bloßer Repräsentanz. Oder eben
Leute, die durch ihr Alter einfach diese einmalige Erfahrung
mitbringen, schon lange auf diesem Planeten
gelebt zu haben. Was können sie uns über das Leben
oder seine Sinn- und Unsinnigkeit beibringen.
172
ES WAR LANGE ZEIT
SICHER GÄNGIGER,
EINE FRAU ALS
KUNSTOBJEKT ZU
INSZENIEREN, ALS
ETWAS ZUM ANSEHEN,
EINE ERSCHEINUNG
VON SCHÖNHEIT – UND
AM SCHÖNSTEN
EBEN IM TOD, DA WIRD
SIE JA AUCH ZUM
OBJEKTHAFTESTEN.
Dante wird von unterschiedlichen Charakteren durch
seine Jenseitsreise geleitet, wir spiegeln das wider
durch einen Blick auf das Leben der Tänzerin … und
ihren Umgang mit Alter, Vergänglichkeit und Tod. In
unserer Göttlichen Komödie werden unterschiedliche,
tanztypische Situationen dargestellt, die Schülerinnen
und Lehrerinnen in ihrem Habitat zeigen. Wir wollen
uns eingehend mit dem Totentanz beschäftigen aber
auch mit der Transmission dieses Sujets über Generationen.
Dabei sollen generelle Themen sichtbar
werden: Altern, Identität und Feminität – und wie sich
die Bezugnahme auf den eigenen Körper im letzten
Jahrhundert in diesen Punkten verändert hat … eigentlich
haben wir in unserem Cast ein ganzes Jahrhundert
auf der Bühne vertreten und da ist es schon spannend,
gemeinsam diese Themen zu verhandeln. Auf unserer
Bühne gibt es mehrere Vergils, die durch den Abend
führen werden, durch Totentänze und Sterbeübungen
in dem Bestreben, dass sich schlussendlich Dantes
Erkenntnis bewahrheitet: that it is »the love that moves
the sun and the other stars«.
Außerdem hat mich an der Göttlichen Komödie die Dreiteilung
interessiert, Hölle, Purgatorium und Paradies.
Das ist natürlich megakatholisch konnotiert, aber was,
wenn wir mit der Annahme anfangen, dass diese drei
Welten alle in einer/unserer jetzigen Realität koexistieren
– und besonders durch diese Linse: what is hell for
one might be heaven for another. Diese binären Unterteilungen
von Gut und Böse sind so tief verankert in
unseren moralischen Grundsätzen, ob wir es wollen
oder nicht.
FLORENTINA HOLZINGER (*1986) teilt mit Dantes fiktivem Ich zu Beginn seiner Jenseitsreise
nicht nur das Alter, sondern auch das Interesse für bewegte Körper in Grenzbereichen.
In A DIVINE COMEDY entwickelt sie ihre eigene Göttliche Komödie und holt den Tod
in seinen mannigfachen Erscheinungsformen auf die Bühne. Unserer Dramaturgin Sara
Abbasi fielen dazu einige Fragen ein.
Foto: Appolonia Theresa Bitzan
173
METTE INGVARTSEN:
LEBHAFTE MATERIE
—
VIBRANT MATTER
EIN PORTRÄT VON
MARIETTA PIEKENBROCK
THE LIFE WORK
Mette Ingvartsen
Tanz / Performance ab 14. August 2021
Siehe S. 20 _______________ www.ruhr3.com/life
174
»I want to know how are you doing? So, how are you
doing? We never see each other. This is curious … till
soon …« Drei Choreografinnen treffen sich vor dem Bildschirm,
sie suchen Nähe. Über sieben Monate entwickeln
sie gemeinsam ein Gruppenstück und YouTube ist der
einzige Kanal, über den sie in unregelmäßigen Abständen
zusammenkommen. Where is my privacy, initiiert von
Mette Ingvartsen, ist eine Art digitales Lowtech-Studio,
das künstlerische Prozesse ins Netz verlagert und öffentlich
macht. Ist es möglich, körperlich isoliert voneinander
eine Gemeinschaft zu bilden? Welche Räume eröffnen digitale
Plattformen für die choreografische Praxis? Where
is my privacy ist von 2006. Auf der Höhe ihrer Zeit ist
Mette Ingvartsen häufig um Jahre früher als andere. Ihr
seismografisches Gespür für ästhetische oder soziale
Umbruchmomente zeigt sich manchmal erst zeitversetzt,
wenn die reale Welt machtvoll in den choreografischen
Raum eindringt und uns plötzlich vor Augen führt, wie ihr
Tanz, der eben noch wie ein dunkler Prophetismus wirkte,
beschreibt, was ist.
Heute, im Frühjahr 2021, wo kreative Arbeit seit Monaten
ohne direkten Austausch oder die Nähe aufeinander eingespielter
Teams auskommen muss, sind ihre Bildschirm-
Sessions auf YouTube unfreiwillig aktuell. Daneben wirkt
ihr jüngstes Ensemblestück Moving in Concert – »sich
gemeinsam bewegen«, das 2019 in Brüssel Premiere
hatte, wie die Botschaft aus einer anderen, fernen Welt.
Menschen berühren sich, bilden eine zellartige Architektur
aus Körpern und Licht, driften wieder auseinander, um
sich im nächsten Moment gemeinsam in einen psychedelischen
Tanz einzudrehen.
Mette Ingvartsen, 1980 in Dänemark geboren, gehört zu
den wegweisenden Choreograf:innen ihrer Generation.
Ihre ersten Arbeiten realisiert sie noch während ihres
Studiums an der von Anne Teresa de Keersmaeker gegründeten
Schule P.A.R.T.S. in Brüssel. Während ihre unmittelbare
künstlerische Umgebung die Beziehung von
Tanz und Musik erforscht, geht Mette Ingvartsen einen
Weg, der sie vorübergehend wegführt vom menschlichen
Körper. Sie entwickelt eine Materialästhetik, die wir nicht
auf Anhieb mit Tanz in Verbindung bringen. In ihrer frühen
Performance evaporated landscapes (2009) setzen
künstliche Effekte aus Schaum, Nebel, Licht und Sound
eine Eigendynamik frei, die an Schwarmphänomene erinnert.
Es ist ein »Tanz ohne Tänzer«. Von einem großen
Werk zu sprechen, wäre verfehlt, weil die Performance nur
eine halbe Stunde dauert. Aber in dieser Kürze gelingt ihr
eine brillante Setzung, die schließlich in dem Werkzyklus
Artificial Nature Series mündet.
Bereits der Titel formuliert eine Mischung aus Vorahnung
und Experiment. Im Mittelpunkt steht die Beschäftigung
mit phänomenologischen Wirkungen und eine Grundlagenforschung
des Sinnlichen. Parallel bekommt die
Technik eine immer aktivere Rolle. In der Geschichte
der Tanzmoderne gibt es dafür starke Vorbilder. Die USamerikanische
Choreografin Loïe Fuller (1862–1928) hat
die hypnotische Wirkung ihrer Danse Serpentine nicht nur
ihrer abstrakten Bewegungskunst zu verdanken, sondern
vor allem den Lichtspielen einer aufwendigen Spiegelungsvorrichtung,
die sie selbst entwickelte und anschließend
patentieren ließ. Oder die japanische Aktionskünstlerin
Atsuko Tanaka (1932–2005), die 1956 auf der ersten
Gutai-Ausstellung in einem kimonoähnlichen Electric
Dress aus farbigen Glühlampen, Leuchtröhren und Kabeln
auftrat und japanische Tradition mit moderner Technologie
kombinierte.
AUF DER HÖHE IHRER
ZEIT IST METTE
INGVARTSEN HÄUFIG
UM JAHRE FRÜHER
ALS ANDERE.
In ihrem nächsten Stück The Light Forest (2010) geht
Mette Ingvartsen noch einen Schritt weiter. Sie taucht tief
ein in die Natur und macht einen Wald zur Bühne: »When I
was asked what I would do in Salzburg if I would work sitespecifically,
I immediately thought about the proximity
between the city and the nature around it. […] I was also
very fascinated by the idea that a performance could use
a real space as its location, interested in how to bring
out the performative aspects of the forest after dark.
The beauty, but also the connotations of horror and fear
produced by the forest after dark was to me exciting.«
Mit Einbruch der Dunkelheit tasten sich erste Zuschauer
175
durch den Wald, der sich vom historischen Zentrum Salzburgs
hochzieht bis zur Kuppe des Kapuzinerbergs. Mit
ihren Schritten lösen sie Signale aus, die in den Bäumen
und im Unterholz verborgene Scheinwerfer aufblenden
lassen. Ein feines Gespinst aus Strahlenkränzen setzt ein
magisches Naturspektakel in Gang. Der Wald leuchtet
auf und verdunkelt sich wieder. Die Grenze zwischen
natürlicher und modellierter Natur verwischt, während
der Mensch eine veränderte Rolle einnimmt. Schritt für
Schritt erschafft er eine alternative Form von Landschaft.
Für diese Einwanderung des Künstlichen müssen erst
noch Namen und Begriffe gefunden werden.
2011 ist ein Schwellenjahr. Es ist das Jahr, in dem ein Tsunami
die Nuklearkatastrophe von Fukushima auslöst, deren
Wirkung die ganze Welt erfasst. Schockartig führen
uns die Bilder, die uns aus Tohoku, dem Nordosten Japans,
erreichen, vor Augen, wie verletzbar unser Planet, wie
irritierbar sein Gleichgewicht und wie hoch die Verantwortung
ist, die der Mensch für diese globale Kata strophe
trägt. 2011 ist das Jahr, mit dem die Ankunft des menschengemachten
Zeitalters zu einer unleugbaren Realität
wird. Der Begriff des Anthropozäns wurde schon um die
Jahrtausendwende von dem Atmosphärenforscher Paul
Crutzen in die Diskussion geworfen, als er einen Namen
improvisierte für den wachsenden Einfluss menschlichen
Handelns auf biologische, chemische und meteorologische
Prozesse. Der Begriff sollte noch eine ganze Weile
ein rätselhaftes Abstraktum bleiben und in Wissenschaftskreisen
kursieren, bevor er über philosophische Diskurse
und die Protestkulturen der Klimaaktivisten im Alltag von
Politik und Kunst ankommt. Und mit einem Mal wird klar,
was er eigentlich bedeutet: Unsere Vorstellung von der
Natur ist überholt. Der Mensch formt die Natur, und die
Folgen seines Handelns sind irreversibel. Bildhafter und
poetischer hat es Peter Sloterdijk formuliert: Die Atmosphäre
hat ein Gedächtnis.
Heute, zehn Jahre später, begegnen wir längst auch auf der
Bühne diesen veränderten Kräfteverhältnissen. Bis vor
wenigen Jahren gingen Tanz und Theater von einem Weltgefühl
aus, das bewusst den Menschen, seine Stimme,
seinen Körper, in die Mitte der Welt rückt. Was bedeutet
es, wenn nicht mehr der Mensch im Zentrum der Aufmerksamkeit
steht? Wenn materielle Formationen, ein künstliches
Subjekt, ein Gerät, eine Maske oder ein digitaler
Tanzpartner an seine Seite treten und die Verhältnisse
zum Tanzen bringen. The Artificial Nature Project (2012)
ist im Echoraum dieser Ereignisse entstanden. Auf Mette
Ingvartsen und die künstlerische Richtung, die ihr Werk
nehmen wird, wirkt die Stimmung dieses Katastrophenjahres
wie ein Vorzeichen der kommenden Stunde. Allerdings
belässt sie es nicht bei theoretischen Erkenntnissen,
ihre Sache ist die Theatralisierung naturwissenschaft licher
Fragestellungen. Dazu entwickelt sie Ausdrucksformen,
die sich mit ihren früheren Arbeiten amalgamieren und
den Übergang in diese veränderte Bewusstseinssphäre
sehr konkret, sehr plastisch werden lassen. Es gehe ihr,
sagt sie, um eine Form der Symbiose: »What we do
to things, things also do to us.« Das Publikum von
The Artificial Nature Project sieht sich einem künstlichen
Landschaftsbild gegenüber. Tänzer:innen bewegen mit
Laubbläsern Schwärme aus flirrenden Silberstreifen. Ist es
Laub, Sand oder Konfetti, was da fliegt? Ein beschleunigter
Teilchenwirbel wechselt von einem Zustand in den
nächsten, von Sphäre in Materie, von Fülle in Leere, von
passiver Starre in Dynamik, von flirrender Helligkeit in
Dunkelheit, um schließlich in eine meditative Stille überzugehen.
Eine Art Ballet Mécanique, dessen sinnliche
Schönheit zur Maske eines neuen Schreckens wird.
Mette Ingvartsen hat sich und ihre Kompanie als eine
der ersten an einer tieferen Reflexion über Ökologie und
das Zusammenspiel menschlicher und nichtmenschlicher
Subjekte ausgerichtet. Was bedeutet ein Mindset, das sich
einem respektvollen Umgang mit Natur und Ressourcen
verpflichtet, für die choreografische Praxis?
Während sich viele Künstler:innen und Kurator:innen den
neuen Parallelkörpern wie Avataren, Androiden und digitalen
Doppelgängern zuwenden, setzt Mette Ingvartsen
zu einer unerwarteten Gegenbewegung an. Ihre künstlerische
Antwort auf die posthumanen Dimensionen ist
zunächst offensiv körperlich. 2014 kündigt sie mit den
Red Pieces eine neue Werkgruppe an, in der es um die
Auseinandersetzung mit Sexualität, Pornografie und
Macht gehen soll. Der Fokus dieser Performances liegt
auf dem Körper und seinen medialen Inszenierungen. Als
ab Mitte der 1960er-Jahre Pornografie legalisiert wird, in
Dänemark war es 1967, in Deutschland erst 1975, wirkte
das wie ein großes Versprechen auf erotische Freiheit und
Geschlechtergleichheit weit in die Gesellschaft hinein.
Fünfzig Jahre später hat Pornografie unseren Alltag weiträumig
unterwandert. Ob in der Kunst, der Werbung oder
bei Folter und kriegerischen Kampfhandlungen – überall
wird die affektive Macht der Pornografie eingesetzt. Die
Medien konfrontieren uns mit Bildern von Körpern in intimen
Situationen, sie laufen über die Bildschirme der
Smartphones und es ist fast unmöglich, sich dem zu entziehen.
Genau hier setzt Mette Ingvartsen an.
»Ich versuche zu verstehen, welches Verhältnis wir heute
zur Sexualität haben – in einer Zeit, in der Lust und Begehren
durch kommerzielle Ökonomien kooptiert werden und
die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum
verschwommener sind als je zuvor.« In den ersten beiden
Stücken der Serie 69 positions (2014) und den 7 Pleasures
(2015) geht es um die Geschichte der Sexualität und wie
Nacktheit langsam die Körperbilder im Tanztheater und in
der Performancekunst verändert. In ihrer Soloperformance
21 pornographies (2017) beschäftigt sie sich dann explizit
mit der Allgegenwart pornografischer Bilder. Wie eine
Filmregisseurin entwickelt sie ein Drehbuch, in dem jedes
Bild eine andere Spielart pornografischer Gewalt inszeniert.
Der Film wird nie realisiert, er existiert nur in den
Köpfen der Zuschauer, wo er Gestalt annimmt, sobald
Mette Ingvartsen die Bühne betritt. Sie legt ihre Kleider
ab, erst die Bluse, dann die Hose, und beschreibt nackt,
Wort für Wort Exzesse der Erniedrigung, Perversion und
Manipulation. Die Genauigkeit und die Langsamkeit, mit
der sie das tut, sind quälend. »Ich glaube, die dunkle Stimmung
der Aufführung entspricht der Zeit, in der wir uns
176
gerade befinden und die im soziopolitischen Klima zum
Ausdruck kommt. Das Stück untersucht, was geschieht,
wenn wir uns in aller Offenheit Dinge ansehen, die uns
zusetzen und die brutal und grausam sind.« Heute liest
sich 21 pornographies, uraufgeführt auf PACT Zollverein,
Essen, und koproduziert mit der Berliner Volksbühne, wie
der Prolog auf ein lang weggesperrtes Thema, das irgendwann
einfach an die Oberfläche drängen musste. Mette
Ingvartsens Geschichten über den Porno der Macht und
die sexuelle Gewalt gegen Frauen haben aufgehört bloße
Konversation zu sein. Ihre verborgene Realität ist greifbar
geworden, seit eine Serie von Missbrauchsskandalen
die deutschen Bühnenhäuser in die schwerste Sinn- und
Systemkrise hat stürzen lassen seit ihrer Erfindung.
WORAUF WIR UNSERE
AUFMERKSAMKEIT
RICHTEN, IST NICHT
NUR EINE ÄSTHETISCHE,
SONDERN AUCH EINE
ETHISCHE UND
POLITISCHE FRAGE.
Für ihre neue Arbeit The Life Work entwickelt Mette
Ingvartsen einen kontemplativen Garten, der an die Kultur
japanischer Zen-Gärten erinnert, wo sich im Zusammenspiel
von sterbender und werdender Natur ein nuancenreiches
Schauspiel entfaltet. Einer der schönsten Zen-Gärten
ist der Steingarten des 1499 gegründeten Ryoanji-Tempels
in Kyoto, der den Komponisten John Cage zu seinem Zeichenzyklus
Where R = Ryoanji (1990/91) und einer Reihe von
Musikstücken inspiriert hat. Der Garten besteht aus fünfzehn
Steinen, die in fünf Gruppen angeordnet sind, und zwar
so, dass mindestens ein Stein dem Betrachter verborgen
bleibt, ganz unabhängig davon, wo er gerade steht. Das eingeschränkte
Sichtfeld des menschlichen Auges macht es
praktisch unmöglich, alle Steine auf einmal zu sehen. Gesäumt
wird der Garten von einer mit Öl getränkten Mauer,
deren orange-rötliche Oberfläche einen deutlichen, je nach
Jahreszeit im Ton wechselnden Kontrast setzt. Staunend
tritt man dieser magischen Komposition aus Steinen und
Moos gegenüber. Ein Garten, der mit seinen entsättigten
Farben von allen Klischees und traditionellen Definitionen
befreit wirkt und in dessen herber Schönheit sich ein neues
Modell für das Sehen und Denken entdecken lässt.
Auf ähnlich fein abgestimmten Wahrnehmungsstrukturen
basiert auch The Life Work. das sich an den Grenzen des
Tanzes bewegt. In einem Zeitalter, in dem Fortschritt und
Mobilität mit dem Versprechen angetreten sind, unseren
Blick zu weiten, unser Leben reicher zu machen, erzeugt
Mette Ingvartsen über das Prinzip des Bleibens, Wiederholens
und Verringerns eine künstliche Umgebung. Das
Durchmengen von technischen und natürlichen Elementen
knüpft an ihre jahrelange Auseinandersetzung mit
flüchtigen Phänomenen und Aggregatzuständen an. Im
verdunkelten Museumsraum trifft der Besucher auf ein
dicht komponiertes Spektrum sensorischer, optischer
und akustischer Reize und Schwingungen: die wechselnde
Farbe des Lichts, die Kühle des Bodens, der Geruch eines
menschlichen Körpers, der Schatten eines sich robotisch
drehenden Baumes, die Lichtbahnen eines Scheinwerfers.
Werden die Lichtfelder von einer Person durchkreuzt,
werden die Schatten aufgenommen in das kinetische
Schauspiel. Frauenstimmen erinnern an eine Katastrophe,
ihre Ankunft in Europa, die Bilder von Fukushima und
die einsame Stille nach dem tödlichen Sturm. Wo sind die
Körper, die zu den Stimmen gehören? The Life Work (2021)
ist Mette Ingvartsens erste Museumsarbeit, ein Auftrag
der Ruhrtriennale. Anlass ist die Ausstellung Global Groove
im Museum Folkwang, Essen, die die Geschichte des
modernen Tanzes als eine Kulturgeschichte des Kontakts
erzählt. Häufig sind es Begegnungen, spontane Gemeinschaften
oder Migrationsbewegungen zwischen den
Kulturen, die neue Expressionismen in der Kunst auf
den Weg gebracht haben – jenseits politischer Grenzen,
Sprachen und Color Lines.
Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, ist nicht nur
eine ästhetische, sondern auch eine ethische und politische
Frage. Erst wenn wir etwas wahrnehmen, wird es
Wirklichkeit. Es bleibt nicht länger abstrakt. Es ist ein besonderer
Glücksfall, dass die Ruhrtriennale und PACT Zollverein
im Sommer mit The Life Work und dem neuen Solo
The Dancing Public in einer Art Doppelbelichtung eine
Choreografin porträtieren, die wie eine Ingenieurin, wie
eine Umweltaktivistin, wie eine Wahrnehmungspsychologin
und wie eine Anthropologin arbeitet. Ästhetik betreibt
sie aus einer holistischen Perspektive. Im Unterschied zu
vielen Spezialist:innen blickt sie auf die Welt nicht nur
durch ein kleines Loch. Sie sucht nicht den Ausschnitt,
sondern das Panorama. Mit prophetischer Klugheit gleitet
sie von einer Werkphase in die nächste, um die Unterschiede
zwischen körperlichen, tierischen, pflanzlichen
und mineralischen Seinsweisen, die westliche Denktraditionen
nahelegen, zu überdenken. Ihr Tanz ist ein Plädoyer
für einen ›vitalen Materialismus‹, ein Begriff, den die Philosophin
Jane Bennett geprägt hat für die Vitalität unserer
Umgebung. Materie, sagt Bennett, ist nichts Passives
oder Stumpfes. Alles, was uns umgibt – das Laub im Wald,
die Steine im Garten, die Körper einer Gemeinschaft, die
Schwermetalle im Boden, die Viren, Pilze und Winde –,
alles gehört zu einer großen Kette des Seins. Wir leben in
einem komplexen und vernetzten Gefüge. Das Bewusstsein
davon sickert immer tiefer ins kollektive Bewusstsein.
Für den Tanz bedeutet das, sich seiner Freiheitsgrade
zu vergewissern und sie mit den existenziellen Motiven
dieser neuen Ökologie zusammenzuführen.
MARIETTA PIEKENBROCK, Dramaturgin und Co-Kuratorin der
Ausstellung Global Groove. Kunst, Tanz, Performance
und Protest, in deren Kontext die neue Arbeit von Mette
Ingvartsen im Auftrag der Ruhrtriennale entstand.
Foto Mette Ingvartsen: Danny Willems
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DREI RABEN
VON LUKAS BÄRFUSS
LUKAS BÄRFUSS UND GÄSTE ______________ DIE NATUR DES MENSCHEN
Literatur / Dialog ab 22. August 2021
Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/natur
178
Gestern Abend begegnete ich in unserer Straße einem
Marder. Er und seine Geschwister sind unbeliebt, weil
sie sich in die Motoren schleichen und die Kabel fressen.
Gegen Marderschäden kann man sich versichern, und
oben an der Tankstelle verkaufen sie den Mardertod. Ich
weiß nicht, wie er wirkt, aber das Plakat verspricht, er
funktioniere ohne Gift. Marder stinken, soweit ich weiß.
Und ich habe von der Menge Dreck gehört, die sie hinterlassen
sollen. Aber das sind nur Gerüchte. Persönlich bin
ich keinem von ihnen näher als zwanzig Meter gekommen.
Auch ich scheine bei den Geschwistern Marder nicht
weiter beliebt zu sein.
Mit einem Siebenschläfer die Bekanntschaft zu machen,
hatte ich hingegen das Vergnügen. Diesen mausigen Gesellen
fand ich eines Morgens in unserem Haus in den Bergen,
im Küchenkasten, zwischen den Nüssen. Da saß er
mit dicken Backen und glänzenden Augen. Bewegte sich
nicht. Schaute mich an. Fraß weiter. Ließ sich nicht stören.
Später las ich über seine Lebensgewohnheiten. Der
Siebenschläfer schläft so gut wie immer. Neun von zwölf
Monaten ist er nicht wach. Und wer nicht wach ist, kann
nicht fressen. Weil die Zeit knapp ist, hält er sich an Nahrung
mit hoher Energiedichte. Das macht ihn rasch dick,
und das macht ihn wohlschmeckend. Ihr Fett sei aromatisch,
so habe ich in einem alten Kochbuch gelesen, wer
das wenige Fleisch darin gare, trage von der Speise keinen
Schaden davon. Seit den Römerzeiten hält man Siebenschläfer
in einem Tontopf, einem sogenannten Glissarium,
und füttert sie bis zur Speisereife.
Ich habe den grauen Gnom nicht verzehrt, sondern hinaus
in die Wiese vor dem Haus getragen, in einer Pappschachtel,
in die ich den Kulinariker nach einigen Versuchen bugsieren
konnte.
So überließ ich ihn mit einigen Nüssen zwischen Klee und
Löwenzahn seinem Schicksal.
Am nächsten Morgen saß er im selben Küchenkasten an
derselben Stelle und nahm sich gerade die Mandeln vor.
So trug ich ihn ein zweites Mal aus dem Haus, diesmal
bis weit über den Bach, und seither verblieb von diesem
Fresskumpan keine Spur mehr aufzufinden.
Dieser Fellball verstand mich ausgezeichnet. Er kannte
meine Gewohnheiten. Er wusste, wo bei mir die Nüsse
lagen. Was unterschied uns? Die Sprache? Sprache als
Grund, einen hungrigen Narkoleptiker vor die Tür zu setzen?
Sprache als Unterschied?
Aber ich wollte von meinen drei Raben berichten.
Der erste Rabe setzte sich neulich auf das Dach des Nachbarhauses
und machte sich mit dem Schnabel am Moos
zu schaffen. Dabei lockerte er einen Ziegel, bis dieser sich
löste und ins Rutschen kam, die Regenrinne übersprang
und vier Stockwerke tief in den Hinterhof fiel. Er zerbarst
im Durchgang, den nur einige Momente vorher ein Malermeister
passiert hatte, um zu seinen Fensterläden zurückzukehren,
die er am Morgen ausgehängt und auf Böcke
gelegt hatte, um sie frisch zu streichen. Und wäre er nur
ein paar Sekunden früher aus der Pause gekommen, der
vermaledeite Ziegel hätte ihn erschlagen.
Er war in seine Arbeit versunken und begriff nicht, welcher
Gefahr er gerade entronnen war. Der Rabe jedoch
erschrak vom Lärm und flog davon.
Ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Einen Richter, der
dieses Tier verurteilt hätte, hätte niemand finden können,
nicht die Witwe und nicht die Kinder dieses armen Malermeisters.
Raben sind nicht schuldfähig. Sie verstehen den
Dreisatz aus Konvention, Konformismus und Sanktion
nicht, der die menschliche Gesellschaft bestimmt und
formt. Ein Vogel versteht die Regel nicht, er wüsste nicht,
wie er sich daran halten sollte, und eine Sanktion wäre für
ihn nicht mit der Tat in Verbindung zu bringen. Der Rabe
bleibt straffrei, weil er ohne Absicht handelt. Er will keinen
Malermeister töten, aus keinen uns bekannten Gründen,
nicht aus Eifersucht, nicht aus Rache, selbst wenn unser
Malermeister auf seinem Grundstück eine Platane hätte
fällen lassen, auf dem seit Generationen die Familie dieses
Raben ihre Nester gebaut und den Nachwuchs aufgezogen
hatte.
Nachtragend seien Tiere, so erzählen wir uns, nicht, ihre
Aggression betreffe keinen anderen Wert als die Sicherung
des Überlebens. Einem nichtmenschlichen Organismus
eine Empfindung wie Genugtuung zuzuschreiben,
erscheint der Vernunft absurd, jedenfalls der erwachsenen
Vernunft. Ein Kind besitzt zu Tieren und zu Pflanzen und
zum Regen und zum Wind ein anderes Verhältnis.
Unter adulten Menschen haben Raben einen schlechten
Ruf, sie gelten als schmutzig, sie machen Lärm, und
tatsächlich finden sich selten Fürsprecher, wenn Raben
179
vergrämt oder getötet werden sollen. Man muss nicht einmal
die alten volkstümlichen Vorstellungen bemühen, das
heißt, ich muss nicht einmal aufstehen, um im Bücherregal
das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens
zu bemühen, um das Miasma des Unglücks zu beschwören,
das Rabenvögel seit jeher umgibt. Bei den Germanen
wohl, wenn ich mich richtig erinnere, war es Gottesgeflügel.
Gleichgültig, das darf man sagen, sind uns Raben
nie gewesen. Immer wieder erwacht auch die Mordlust.
Ein Rabe hat sich vorzusehen, wenn ein Mensch in seine
Nähe kommt.
Das gilt auch für den zweiten Raben, von dem hier die
Rede sein soll.
DAS LEBEN
UND DAS ZUSAMMEN-
LEBEN: DAS SIND
ZWEI VERSCHIEDENE
DISZIPLINEN.
Bevor ich ihm begegnete, hatte ich einiges von ihm gehört.
Er war bekannt im Viertel. Wer mir von ihm erzählte, weiß
ich nicht mehr, aber ich erfuhr eines Tages, dass beim
neuen Gymnasium ein verrückter Vogel lebe, der jeden
angreife, der sein Territorium betrete. Das weckte meine
Neugier. Das wollte ich sehen.
Kurz nach Mittag an einem Mittwoch, es muss gegen halb
zwei Uhr gegangen sein, fand ich mich also vor dem Gymnasium
ein. Zu sehen war niemand. Der Kiesgarten lag im
kühlen Frühlingssonnenschein. Es gab einen Teich, etwas
Schilf, junge Bäume, deren Stämme noch in Sackleinen
gepackt waren und von Schwirren gehalten wurden. Das
rote Gebäude dahinter, modern, hässlich, wichtig. Hier
also sollte der Dämon leben.
War mir mulmig? Allerdings.
Hatte ich Angst?
Nein, ich war in Panik.
Aber umkehren war für einen Jungen von vierzehn Jahren
keine Möglichkeit. Da hätte es etwa einen Dobermann
gebraucht. Oder einen Hauswart mit einer Flinte. Ein
Monster. Keinen Raben.
Ich schaute mich um. Nichts zu sehen. Es war still. War
das nur dummes Gerede und ich wie ein Idiot darauf
hereingefallen? Hier gab es keine Vögel. Es gab hier keinen
bösen Raben.
Da querte auf einmal ein schwarzer Wicht den Kies,
flink, geduckt und unfreundlich. Nach drei Scheinattacken
und einer gekonnten Finte stieß er seinen
Schnabel auf meinen rechten Fuß, gezielt, beherrscht,
böse. Nur mein Schuh bewahrte mich vor einer schmerzhaften
und tiefen Wunde.
Ich wich zurück, der gefiederte Dämon verfolgte mich,
noch einen Schritt zurück und noch eine Attacke, ich
stolperte aus dem Garten, knapp am Weiher vorbei,
ich gab Fersengeld, bis wohl hinüber zum Kanal, zum
Stadion – da war ich gerettet und in Sicherheit.
Er ist der einzige Vogel geblieben, der mich je angegriffen
hat. Ich kann diese Erfahrung nicht verallgemeinern.
Schon damals nahm ich an, dass dieser Rabe einen
Schaden hatte und in seinem Kopf nicht richtig war. Ich
wusste aus einem Buch, wie Vögel im frühen Alter eine
Fehlprägung erleiden und etwa Hühnerküken einen fiependen
Fußball als Mutter annehmen konnten. Dieser
Vogel musste in ähnlicher Weise einen Knacks erlitten
haben. Aber warum die Füße? Warum nicht auf den Kopf
zielen, wenn man einen wie mich ernsthaft vertreiben
wollte? Doch was, wenn er mich eben nicht verletzen,
sondern nur vertreiben wollte? Dann wäre sein Verhalten
verhältnismäßig und damit vernünftig gewesen.
Auch dieser Rabe wusste nichts von meinen Konventionen,
von meinen Regeln, er fluchte nicht, er schimpfte
nicht, er argumentierte nicht, aber ich kann trotzdem nicht
behaupten, dass er mich nicht verstand. Es war nicht unvernünftig,
einen halbwüchsigen Naseweis hinter seine
Grenzen zu verweisen. Dies war des Raben Garten. Ich
hatte es gewusst und eins auf die Finger, nein, auf die
Füße bekommen.
Erwachsene brauchen keine Raben, sie können auf diese
Vögel verzichten. Auch wenn mittlerweile auch die Großen
begreifen, oder zu begreifen vorgeben, wie sehr jedes
Tier und jede Pflanze Teil eines Gleichgewichtes ist. Man
nennt es natürlich, aber das bedeutet nicht, dass Erwachsene
daraus ein Lebensrecht ableiten. Es braucht Raben
als Ganzes, aber diesen einzelnen Raben braucht es nicht.
Die ornithologischen Handbücher verzichten deshalb auf
Fotografien, weil diese natürlich Individuen abbilden, den
Einzelfall, also zum Beispiel Jakob, nicht das Allgemeine,
und das Spezielle muss natürlich ausgeblendet werden,
damit der Mensch eine Kategorie bilden kann. Das erfuhr
ich vor einigen Tagen im einzigartigen Delta der Verzasca.
Da stieß ich hinter einigen Silberweiden auf zwei Vogelkundler,
jeder ausgerüstet mit einem phänomenalen Fernrohr
auf Stativ. Durch dieses beobachteten sie die Piepmatze
vor ihnen im Schilfgürtel.
Da drüben ist ein Seidenreiher, meinte der eine. Er sitzt
auf dem Stück Totholz vor der Halbinsel.
Und gleich daneben ist ein Silberreiher, murmelte der andere.
Dann schwiegen sie wieder und kategorisierten weiter.
Sie sahen viele Arten, ein Tier hingegen sahen sie nicht.
Raben werden als Gruppe anerkannt, als Art, aber auf
diesen einen, diesen besonderen Raben, der mich gerade
stört, auf den mag ich gerne verzichten. Es gibt nur
den Plural, und wie groß dieser Plural ist, entscheidet das
Prinzip der konkreten Umstände.
180
Für mich ist es gerade umgekehrt. Mit Raben habe ich
nichts am Hut. Sie sind mir auf eine ganz besondere Art
schnurzpiepegal. Auf einen ganz bestimmten Raben hingegen
kann ich nicht verzichten. Das soll hier der dritte sein.
Er lebte auf einem anderen Dach, in einer anderen Stadt,
in einer anderen Zeit, in meiner Kindheit, hoch über dem
Fluss, zuoberst über einer Gasse in der Altstadt, wo ich
mit meiner Mutter lebte und wo der Vater noch, bevor
er endgültig verschwand, bisweilen auftauchte. Man betrat
unsere Wohnung und stand gleich in der Küche, ging
weiter durch diese Küche, und da war das Wohnzimmer,
und dahinter noch ein gefangenes Zimmer, das ich selbst
mit roten und mit blauen Indianern bewohnte. Da gab es
ein Fenster, eine Luke, und dort erschien jetzt Jakob, ein
schwarzes, geflügeltes Himmelswesen. Jakob äugte nach
links, nach rechts, präsentierte sich in der schwarzen
Schönheit und im Glanze seiner Federpracht, bevor er sich
die Käserinde schnappte, die ich eben aufs Fensterbrett
gelegt hatte. Dann stieß er sich wieder ab und tauchte in
die Luft, zog Kreise zwischen den Schornsteinen und den
Zinnen einer kleinen Stadt, der vorläufigen Heimat eines
kleinen Jungen.
Ich kann mich nicht erinnern, Jakob jemals einen Raben
genannt zu haben, Rabe, so bezeichne ich ihn, um einem
Erwachsenen das Wesen zu erklären, der nicht verstehen
kann, wer dieser Jakob war. So geht es mir bis heute.
Das Kind gibt es nicht mehr, und auch Jakob ist verschwunden,
aber es gibt noch den Gedanken an Jakob,
und wann immer dieser Mann, der ich nun geworden bin,
einen Raben sieht, so denkt er an diesen Jakob, und wann
immer dieser Mann einen schwarz gefiederten Kerl sieht,
diese verschmitzten, aufmerksamen und tüchtigen Kerle,
dann erinnert er sich an seinen Freund aus Kindheitstagen.
Man wird mir dies als Überzogenheit ankreiden, trotzdem
muss ich darauf bestehen: Ohne Jakob hätte ich meine
Kindheit nicht überlebt. Jedenfalls nicht diesen bestimmten
Teil, was ja für alle folgenden Teile dasselbe bedeutet.
Nein, die Existenz unter diesen fürchterlichen Dächern
wäre für mich tödlich gewesen.
Jakob hat mir eine Richtung gezeigt, jene in den Himmel
nämlich, eine Orientierung, die mir bis heute geblieben ist
und die mir jeden Tag die Augen und die Seele heilt, wenn
vom Lärm und Schmutz die Niederungen undurchdringlich
werden, wenn Staub aufwirbelt und die Luft trübt,
durch die Emsigkeit, durch die Geschäftigkeit, durch
den Biedersinn, der oft genug einem Raben den Garaus
machen will, weil er den lieben Frieden und den gesunden
Schlaf und die süße Sonntagsruhe stört. Ein gewisses
Leben, oder, besser gesagt, eine gewisse Lebensweise,
lässt sich nicht mit der Gegenwart von Raben in Übereinstimmung
bringen.
Von Jakob habe ich gelernt, dass die Rinde reicht und man
auf den Käse verzichten kann, wenn man den Himmel
besitzt.
Wenn der Ziegel den Malermeister erschlagen hätte, dann
wären nicht die Raben, die drüben im Wald der Irrenanstalt
ihre Horste bewohnen, schuldig an seinem Tod. Es
wäre ein bestimmter, unmittelbarer, ein gewisser Rabe.
Dieser Gedanke wirkt wie Frevel. Es wären dann als Konsequenz
nicht mehr Rehe, die in den Wäldern totgefahren
werden, jedes einzelne wäre ein Unfallopfer. Das dürfen
wir nicht denken, weil damit die Linie verschwände, hinter
der wir unseren Platz behaupten.
Wenn mich eine Zecke beißt und ich sie aus meinem
Fleisch drehe, dann hege ich keine Ranküne gegen sie.
Ich nehme Frühsommerenzephalitis oder Borreliose nicht
persönlich, weil auch hier die nämliche Linie verschwände,
mit der wir menschlich von tierisch trennen.
Einen großen Unfug treiben manche mit diesen Adjektiven.
Sie bedeuten einmal dies, einmal das andere und beschreiben
also nichts. Sie behaupten eine Kategorie, wo
nur Chaos ist. Wer findet das Merkmal des Menschen?
Wer kennt die Eigenheit der Tiere? Wie könnte ich Jakob
ausschließen, von dem ich so viel über meine Menschlichkeit
gelernt habe?
NUR WESEN,
DIE UNSERE SPRACHE
SPRECHEN, KÖNNEN
TEIL UNSERER
GESCHICHTE WERDEN –
EINERLEI, OB
WIR SIE UMBRINGEN
ODER NICHT.
Sinngemäß oder gleich im Gegenteil, das eine Mal zum
Lob, zur Eitelkeit, das andere Mal zur Scham, zur Schande
und so sehr die Wissenschaft dienlich und eine Gaudi ist
und wohl fantastische Wirkungen zeigt, so sehr soll man
sich hüten, ihr das Urteil über die Wirklichkeit zu überlassen.
Die Biologie enthält wenige Hinweise darauf, wie
man Ehestreit vermeidet, und man darf doch, falls dieser
Einwand kommen sollte, behaupten, dass jede Paarbeziehung
so weit biologisch ist, als dass sie nicht ausschließlich
bei Menschen vorkommt.
Das Leben und das Zusammenleben: das sind zwei verschiedene
Disziplinen.
Was können wir von einem Raben lernen? Gewiss einiges
mehr als von den Raben als Gattung oder Art. Ich müsste
dann nämlich jeden Menschen mit jedem Raben vergleichen
– wer sollte dazu im Stande sein?
181
Menschen töten andere Menschen, die mit derselben
Sprache begabt sind. Nur Wesen, die unsere Sprache
sprechen, können Teil unserer Geschichte werden – einerlei,
ob wir sie umbringen oder nicht. Einen Raben habe ich
noch nie verspiesen – nicht als Satay und nicht à l’orange.
Was unterscheidet eine neukaledonische Krähe von einer
Saatkrähe? Es ist der Gebrauch von Werkzeug. Sind die
Neukaledonier deswegen beliebter?
Serienmörder, so hörte ich einst, beginnen ihr Werk mit
Tieren. Die Befriedung des Menschen bleibt die Aufgabe,
auch meine, übrigens. Ich habe zu viel Leben vernichtet,
und ich vernichte immer noch zu viel Leben. Meine Nachbarn
sind nicht besser. In diesem Massaker stehen wir uns in
nichts nach. Einen Raben habe ich nicht auf dem Gewissen.
Fabeln sind seltene Lehrstücke. Der durstige Rabe wirft
Kiesel in den halbleeren Krug, bis das Wasser bis zum
Rand steht, und lehrt so Ausdauer und Verstand.
Es könnten Menschen kommen, die Kinder unserer Kindeskinder,
die tausend Raben begegnet sind und tausend
Fabeln kennen und sich für die tausend Neuigkeiten begeistern,
die aus dem Vogelreich bekannt werden.
Unter Wanderfalken gibt es schon heute einige Prominente.
So weiß man von einem Weibchen an einem Kirchturm
in Feucht bei Nürnberg. Es hat eine eigene Show auf
YouTube. Im April dieses Jahres brachte es seiner Brut
einen Eichelhäher und rupfte ihn vor laufender Kamera.
Die Liebsten unseres Malermeisters müssten dem Raben
einen Namen geben. Er wäre vor allen Raben ausgezeichnet
und würde Teil der Geschichte, so wie auch
alle Pferde, die einen Feldherrn oder einen Boten in den
Graben zu Tode warfen, Teil der Geschichte wurden.
Warum soll ich den Raben ausschließen? Warum gilt
für ihn der Begriff der Verantwortung nicht? Warum gilt
für ihn nicht Rücksicht, warum gilt für ihn nicht Güte?
Warum dürfen wir ihn vergrämen? Weil er selbst in anderen
Bereichen denkt? Möchten wir vertrieben werden, nur
weil wir nicht fliegen können?
Über Raben im Allgemeinen weiß ich nichts zu sagen. So
weiß ich nicht, welchen Platz Käserinde auf der Speisekarte
der Raben einnimmt.
Von Jakob kann ich bezeugen: Er verschmähte diese Rinde
nicht. Meine Mutter bevorzugte milden Käse, übrigens,
St. Paulin hieß die Sorte, die sie mir und dessen weiche
Rinde ich Jakob vorsetzte.
Eine mitteleuropäische Schwarzfeder, dazu ein ordentlicher
Schnabel, mit dem er an jede Nahrung kam.
Schwarz. Nur Schwarz. In den schwarzen Augen leuchtete
die Sonne silbern als Punkt. Von diesem Tier, von diesem
Wesen spreche ich. Falls jemand etwas von Jakob gehört
hat, soll er sich bei mir melden.
LUKAS BÄRFUSS, geboren 1971 in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet
mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und
Gastgeber der diesjährigen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen. Sie stellt
sich die Frage mit welchem Begriff der Natur wir in unseren gegenwärtigen Diskussionen
eigentlich operieren.
Foto: Lea Meienberg
182
DIE WELT
DER LEBEWESEN
IST NICHT
ANTHROPOZENTRISCH
MAPA TEATRO:
ARBEITSNOTIZEN
LA LUNA EN EL AMAZONAS / DER MOND IM AMAZONAS
Mapa Teatro
Schauspiel ab 18. September 2021
Siehe S. 68 _______________ www.ruhr3.com/luna
183
Mapa Teatro
Die ersten Tage im Mai 2021. Während unsere Worte ihre
Form suchen, ist Kolumbien, das Land, in dem wir leben
und arbeiten, in Aufruhr. Zu der (selbst) auferlegten Isolation,
die wir aufgrund der Pandemie erlebt haben, kommt
nun das Unbehagen (sozial, wirtschaftlich, politisch) hinzu,
welches in der großen Mehrheit der Bevölkerung das
Bedürfnis hervorgerufen hat, auf die Straße zu gehen, um
zu protestieren, trotz der Angst vor Ansteckung und der
Angst vor brutaler offizieller und inoffizieller Repression.
In den letzten zweieinhalb Jahren hat Mapa Teatro nachgedacht
über die Entschlossenheit einiger indigener Völker,
indigener Völker des Amazonas, den Kontakt mit anderen
Menschen zu vermeiden als einen Akt des Widerstands
gegen die Plünderung und systematische Reduzierung
ihres Lebensraumes, der Auslöschung ihrer Kultur und
Weltanschauung. Diese Überlegung entstand aus einer
zufälligen Begegnung mit einer Nachricht in der lokalen
Presse: die Entdeckung einer in selbstgewählter Isolation
lebenden Gemeinschaft im kolumbianischen Amazonasgebiet,
die uns zu einer weiteren Untersuchung anderer,
früherer Begegnungen führte. Erst durch die aktuelle
Situation haben wir eine Ahnung davon erhalten, welche
Folgen ein entsprechender Akt des Widerstands für
unseren westlichen Lebensalltag haben würde.
Wir können die Umstände erahnen, welche die »Isolierten«
dazu gebracht haben, die Verbindungen zu anderen Gemeinschaften
abzubrechen, und es ist gut möglich, dass
wir an ihrer Stelle genauso reagiert hätten. Aber wir
wissen nicht, was sie von uns und der Welt, in der wir leben,
denken; von dem, was wir »Fortschritt« und »Technologie«
nennen, und von unserem Bedürfnis, Teil eines
globalen Kommunikationsnetzes zu sein, von unserem
ständigen und flüchtigen Konsum von Informationen.
Wie lange können sie distanziert und zurückgezogen
bleiben, wie eine Insel im immer tiefer werdenden Meer
der Menschheit?
Andere indigene Gruppen kontaktieren die »Isolierten«
mithilfe von Pflanzen, Tieren, Tänzen, Gesängen. Wir
greifen auf die Vorstellungskraft zurück, aber wir haben
das Gefühl, dass ihre Gedanken ständig zu uns zurückkehren,
uns den Weg versperren und uns auf die gleiche
Weise lähmen, wie es ein paar gekreuzte Speere mitten
auf dem Weg tun würden oder ein Pfeil, der durch die Luft
auf uns zufliegt.
Wenn wir ihre Anonymität wiederherstellen und ihre
Entschlossenheit, in der Unsichtbarkeit zu existieren,
schützen könnten, müssten wir notwendigerweise auf die
Erinnerung an sie verzichten, alle Nachrichten über ihre
Existenz aus unserem Gedächtnis löschen. Angesichts
des Unbekannten geht es uns wie denjenigen, die versuchen
das Bild eines Schwarzen Loches im Weltall zu
erfassen und sich in Ermangelung von Werkzeugen zur
Feststellung seiner Anwesenheit auf die Beeinträchtigungen
konzentrieren, die seine Gravitationskraft in seiner Umgebung
erzeugt.
Wir bewegen uns zwischen diesen zwei parallelen und
gleichzeitigen Welten, die einander fremd sind. Von unserer
westlichen anthropozentrischen Lebensweise aus wollen
wir uns einer Existenzweise nähern, die sich unserer Erfahrung
entzieht; wie sehr wir auch versuchen, die Distanz
zu verkürzen, wir können sie immer noch nicht sehen,
hören, berühren. Welche Art von Invokationen werden wir
uns vorstellen müssen, um die physischen und mentalen
Grenzen zu überschreiten, die uns noch trennen?
Nie war der nichtlineare Fortschritt der Menschheitsgeschichte
für uns so greifbar wie 1969, dem Jahr, in dem
drei (weiße, westliche) Männer den Fuß auf die Oberfläche
des Mondes setzten. Zur gleichen Zeit, als wären
es Paralleluniversen, die unterschiedlich schnell voranschreiten,
wird eine Gemeinschaft im kolumbianischen
Amazonasgebiet, die seit Generationen aktiv und bewusst
184
jede Art von Kontakt vermieden hat, durch die Ankunft
einer kleinen Gruppe von Entdeckern (ebenfalls weiß,
ebenfalls westlich) gestört.
Fünfzig Jahre später erlaubte uns eine Begegnung in
Bogotá mit einem von ihnen, der aus dem Ort geflohen
war, als die drei Männer vor der Maloca einer isolierten
indigenen Gemeinde standen, mit einem ethnofiktionalen
Werk über die Zeichen ihrer Existenz zu beginnen. Dieser
Mann, ein Goldgräber, der zum Goldschmied geworden war,
wurde für uns durch die kleinen Goldfiguren, die er herstellte,
wenn er aus seinen Träumen erwachte, zum
Medium einer möglichen poetischen Verbindung mit der
Welt der Isolierten.
DER MOND UND DER
AMAZONAS, ZWEI
FENSTER, DURCH DIE
DER WEISSE MANN
ANDERE WELTEN ER-
BLICKEN KANN, WELTEN,
IN DENEN ER NICHT
EXISTIERT. DIE WELTEN,
IN DENEN DAS
MINERALISCHE,
DAS TIERISCHE, DAS
INDIGENE UND
DAS PFLANZLICHE
HERRSCHEN.
wichtig, um die Astronauten an die unvorhersehbaren Bedingungen
im Weltraum zu gewöhnen, sondern auch, um
sie, zurück auf der Erde, auf die Möglichkeit einer unvorhergesehenen
Landung und das Abgeschnittensein von
jeglicher Zivilisation mitten im Dschungel vorzubereiten.
In dieser Region der Welt sagt man, dass die Seele der
Embera nach dem Tod zum Mond reist.
Antonio Zarco wurde von seinem Stamm zu einem Medizinmann
und spirituellen Lehrer ausgebildet. Er war mit Pfeil
und Bogen so geschickt wie kaum ein anderer, er erlernte
die Geheimnisse der Jagd, des Fischfangs und der tausend
Möglichkeiten, mit der Natur zu kommunizieren. Er hatte
ein tiefes Wissen über die Kraft der Pflanzen und Bäume.
Seine Ausbildung wurde, wie in diesen Kulturen üblich,
von den Ältesten vorgesehen und bestimmt, indem er eine
spezielle Diät einhielt, weit weg vom Kontakt mit anderen
Menschen, auf alle Zeichen der Natur achtete und lauschte,
auf die Geräusche, die Gerüche, die Reflexionen des
Lichtes durch die Blätter und auf der Wasseroberfläche,
indem er das Wissen der Wesen, die dieses Gebiet bewohnen,
speicherte, um an einen ihm unbekannten Ort zu
gehen, um aus dem Bereich des Ungreifbaren zu arbeiten.
Da der Weltraum keine Atmosphäre hat, kann er keinen
Ton übertragen: Er ist das Gebiet der Stille. Das Gehör der
Astronauten jedoch kennt die Erfahrung der Stille nicht,
es ist immer in Kontakt mit den Vorgängen im Körper, mit
dem fließenden Blut, den knackenden Gelenken, mit der
Nahrung, die verarbeitet wird. Es ist, als würden sie den
Dschungel in sich tragen.
Ich könnte nicht sagen, ob die Astronauten Antonio Zarco
auf der Reise zum Mond vorausgingen oder ob gerade er
es war, der ihnen ein Verständnis für den Dschungel vermittelte,
das notwendig ist, um lebend von dem Ort zurückzukehren,
der von den Seelen der Toten bewohnt wird.
Der Mond und der Amazonas, zwei Zeiten, die unterschiedliche
Geschwindigkeiten haben; und 1969 das Datum
einer seltsamen und fast unbemerkten Verbindung:
das Fenster, durch das der weiße Mann andere Welten
erblicken kann, Welten, in denen er nicht existiert. Die
Welten, in denen das Mineralische, das Tierische, das
Indigene und das Pflanzliche herrschen.
Als Teil des Trainings der drei Apollo-11-Astronauten für
das Unbekannte schickte das NASA-Team die Gruppe
in den »Darién Gap«, den Dschungel, den sich Kolumbien
mit Panama teilt. Ein Ort mit extremen Hitze- und
Feuchtigkeitsbedingungen, an dem die Astronauten unter
der Anleitung von Antonio Zarco, einem indigenen Schamanen
der Embera-Gemeinschaft, lernen mussten, ohne
jegliche Hilfe zu überleben. Dieses Training war nicht nur
XIMENA VARGAS, AGNES BREKE, HEIDI ABDERHALDEN, ANDRÉS CASTAÑEDA,
JULIÁN DÍAZ, ROLF ABDERHALDEN, JOSÉ IGNACIO RINCÓN
Bogotá, Kolumbien, Mai 2021
185
Im Januar 2020 machte ich einen Kurztrip nach Leticia,
der Hauptstadt des kolumbianischen Amazonas. Dort besuchte
ich Gori Nuekeda, einen indigenen Mann, der vor
einigen Jahren mit seiner Familie in diese Region ziehen
musste. Wir unterhielten uns die ganze Nacht in der Maloca
am Feuer. Ich wollte wissen, was die Indigenen denken
über die Haltung anderer Gruppen aus dem gleichen Gebiet,
die sich komplett isolieren und Kontakt vermeiden.
Es liegt ein wichtiges Paradoxon in dieser Entscheidung,
da die indigenen Organisationen politisch für ihre Sichtbarkeit,
ihre Forderungen und die Verteidigung ihrer Territorien
gekämpft haben.
SIE SIND NICHT
UNKONTAKTIERT,
FÜR UNS SIND
SIE KONTAKTIERT.
SIE STEHEN
IN VERBINDUNG
MIT UNS.
Darauf antwortet Gori: »Alles dreht sich darum, wer wir
sind. Der Begriff ’unkontaktiert’ kann beleidigend sein,
weil er eine implizite Macht der Beherrschung enthält.
Wir wurden der Religion ausgeliefert durch das Gesetz 89
von 1890, das festlegte, wie Wilde, die auf ein zivilisiertes
Leben reduziert wurden, regiert werden sollten.«
In seinem ersten Kapitel, das 1996 für verfassungswidrig
erklärt wurde, bestimmte dieses Gesetz:
Die allgemeine Gesetzgebung der Republik gilt nicht
für die Wilden, die durch die Missionen zum zivilisierten
Leben gebracht werden. Folglich wird die Regierung im
Einvernehmen mit der kirchlichen Autorität die Art und
Weise bestimmen, in welcher diese entstehenden Gesellschaften
regiert werden sollen.
»Wir wurden wie Wilde und sinnlose Menschen behandelt.
Und vielleicht wird mit der Bezeichnung ’unkontaktiert’
diese Idee weiterhin aufrechterhalten. Wir sind Menschen
mit eigenen Anliegen und wir können über das Schicksal
unserer Völker entscheiden. Wir haben das Recht auf
Selbstbestimmung, aber es gibt keine wirkliche Anerkennung
dieses Rechts. Was die sogenannten Unkontaktierten
betrifft, so bin ich besorgt, dass wir nicht wissen,
ob sie leiden oder nicht, ob es ihnen gut geht oder nicht.
Auch wenn es heißt, dass sie unkontaktiert sind, bedeutet
das nicht, dass sie sich nicht auch in einer verschmutzten
Welt befinden, hier im Amazonasgebiet.
Die indigenen Völker in selbstgewählter Isolation bauen
Zäune zu ihrem Schutz, aber innerhalb des Zaunes gibt
es bereits Verschmutzung, es gibt Krankheiten wie Malaria,
die einen Teil unserer Völker ausgelöscht haben. Wir
wissen nicht, welches Leid sie ertragen müssen. Das Übel
ist schon geschehen. Können sie auch vor der Krankheit
fliehen? Ich sage: Flieht! Die Krankheit wird sie nicht mehr
loslassen. Sie sind Nomaden innerhalb einer Zone, die das
Territorium darstellt, und wir nehmen geistig Kontakt mit
ihnen auf, weil wir ihre Sorge spüren. Durch unsere Konzentration
treten wir geistig mit ihnen in Kontakt. Durch
Konzentration können wir ihnen Ja sagen, aber auch Nein.
Wir sagen ihnen, dass sie kommen sollen, aber wir sagen
ihnen auch, dass sie nicht kommen sollen. Wir sagen
ihnen, dass sie dort bleiben sollen, denn wenn sie hierher
kommen, werden sie genauso leiden wie wir. Auch durch
die Tänze gibt es eine sehr starke Energie und durch die
Pflanzen, durch die Vögel und durch die Tiere wird diese
Verbindung übertragen. Wir würden die Verbindung verlieren,
wenn wir einige dieser Pflanzen, dieser Vögel,
dieser Tänze verlieren. Die direkten Kontakte zu ihnen
sind da. Also alles, diese Konzentrationen verbinden uns
mit dieser Welt. Die Schlussfolgerung ist, dass es für uns
einen direkten Kontakt mit ihnen gibt. Sie sind nicht unkontaktiert,
für uns sind sie kontaktiert. Sie stehen in
Verbindung mit uns. Das ist die Kraft. Durch die Tänze
erfahren wir über sie und sie erkennen auch, wie es uns
geht, wir bieten uns gegenseitig Schutz.«
Ich war noch nie im Amazonas, ich dachte, dass ich bei
meiner Ankunft vom Dschungel umarmt werden würde.
Stattdessen wurde ich von Goris Worten in Leticia umarmt
und ich kehrte zurück.
HEIDI ABDERHALDEN
Mai 2021
Foto: Ximena Vargas
186
ERINNERUNG,
DIE DURCH DEN
KÖRPER GEHT
VON AMANDA PIÑA
DANZA Y FRONTERA / TANZ UND GRENZE
ENDANGERED HUMAN MOVEMENTS VOL. IV
Amanda Piña
Tanz ab 27. August 2021
Siehe S. 44 _______________ www.ruhr3.com/danza
187
Mein Name ist Amanda Piña.
Ich bin Choreografin und Tänzerin. Vielleicht ist es wichtig
zu erwähnen, dass mein Hintergrund vielfältig ist und ich
mich nicht mit nur einem Land identifiziere, was in Südamerika
nicht ungewöhnlich ist. Mein Vater ist Mexikaner,
meine Mutter Chilenin mit syrisch-palästinensischen Vorfahren,
Libanesen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts
nach Südamerika geflohen sind, erst nach Argentinien,
dann nach Chile. Zu jener Zeit wurden viele junge Menschen
in die osmanische Armee eingezogen, weshalb
die Eltern des Großvaters meiner Mutter entschieden,
ihren Sohn wegzuschicken. Sie wussten, dass sie ihn nie
wiedersehen würden, aber die Alternative wäre gewesen,
ihn als Kanonenfutter an die Front zu schicken. Das war
damals sehr schwer und lässt sich nicht mit heute vergleichen.
Für mich ist es anders, so weit entfernt von
meinen Eltern zu leben, denn heute gibt es WhatsApp
und ich habe täglich Kontakt zu ihnen.
Ich bin in Chile unter der Diktatur aufgewachsen und jedes
Jahr nach Mexiko gefahren, um meinen Vater zu besuchen.
Als die Diktatur in Chile endete, was sie nur offiziell
tat, denn die Strukturen sind bis heute sehr autoritär, war
ich 19 Jahre alt.
DEM WESTLICHEN
KONZEPT VON TANZ
LIEGT EINE GEWISSE
VORSTELLUNG VOM
KÖRPER ZUGRUNDE,
VIELE THEMEN
WESTLICHEN DENKENS,
AUCH NEOKOLONIALE
THEMEN, KOMMEN
DARIN ZUM AUSDRUCK.
Nachdem ich die Theaterschule beendet hatte, folgte ich
der Einladung meines Vaters nach Mexiko und entschied
mich, Anthropologie zu studieren. Aber mit dieser Art des
Lernens konnte ich nichts anfangen: Stundenlang auf
einem kleinen Stuhl zu sitzen mit einer Pause von fünfzehn
Minuten, war mir zu unbequem. Das wollte ich nicht.
Über meine Freunde lernte ich Menschen aus indigenen
Gemeinschaften kennen, die ebenfalls in Mexiko Anthropologie
studierten. Wir reisten gemeinsam zu diesen
Gemeinschaften; Es war eine Art Initiationsreise in die
Wüste, die mich stark prägte. Ich hatte zwar entschieden,
dass still dazusitzen und zu verdauen, was andere aus
Büchern vermittelten, nicht meine Art des Lernens war,
aber meinem Interesse an Anthropologie, an anderen
Formen des Wissens und des Existierens, tat das keinen
Abbruch.
Eines Tages sagte eine befreundete Anthropologin zu mir:
Lass uns einen Tanzkurs besuchen, lass uns Tänzerinnen
und Choreografinnen werden!
Sie führte mich also auf diesen unerwarteten Weg. Eigentlich
hatte mich Tanz nie besonders interessiert, als Kind
war ich eher burschikos. Ich begann also meine tänzerische
Laufbahn aus einem anthropologischen Interesse
heraus. Das war mein Einstieg.
Die Vielfalt und der Reichtum der Danzas in Mexiko ist
enorm.
Tanz im Sinne von weißem, westlichem Tanz ist weniger
stark vertreten, dagegen aber voll von verschiedenen Manifestationen
indigener Danzas. Ich unterscheide zwischen
Tanz und Danza, um eine Unterscheidung zu machen
zum westlichen Schönheitskanon und seinem Ausdruck
im klassischen, modernen und zeitgenössischen Tanz.
Diesem Konzept liegt eine gewisse Vorstellung vom Körper
zugrunde, viele Themen westlichen Denkens, auch neokoloniale
Themen, kommen darin zum Ausdruck.
Westlicher Tanz war gar nicht mein Hauptinteresse, vielmehr
musste ich diesen Tanz erlernen, um die Autorität
zu erlangen, das zu tun, was ich eigentlich tun wollte, und
das war eben nicht auf weißen Tanz begrenzt. Ich verstand
die Abstraktion des Tanzes nicht, die auch nur eine
scheinbare ist, da sie nicht real ist. Abstraktion im Theater
oder im Museum ist nie wirklich abstrakt, sie erscheint nur
188
abstrakt und unverbunden. Diese Art der Abstraktion ist
dem westlichen Wissensbegriff sehr ähnlich und mit der
Vorstellung verbunden, dass die Dinge nur aus der Distanz
zu begreifen sind, nur wenn man sie losgelöst von all ihren
Kontexten betrachtet – was eine sehr brutale Geste ist.
Danza ist ein viel ganzheitlicheres Konzept als Tanz: Es
lässt sich weder vom Alltag trennen, noch von Naturkreisläufen
oder kalendarischen Ereignissen, auch nicht von
den Sternen oder davon, ob die Sonne scheint oder eben
nicht. Danza ist nicht abstrakt, sondern in der Erde und
der Gemeinschaft verwurzelt.
Die Reihe Endangered Human Movements hat mit Erinnerung
zu tun: Erinnern anderer Formen des Existierens, des
Denkens, des Wissens, des In-der-Welt-Seins.
Für THE JAGUAR AND THE SNAKE arbeitete ich mit einem
Schamanen, einem Mara’akame (Anm. d. Red.: Heiler, der
durch Tanz und Gesänge wirkt), aus Nordostmexiko zusammen
und lud in diesem Zusammenhang den Wissenschaftler
und postkolonialen Denker Rolando Vázquez ein.
Ich bat ihn: »Rolando, kannst du Maestro Katira – der ein
weiser Mann mit einem großen Wissensschatz ist, aber
nicht im westlichen Sinne – beschreiben, was dekoloniales
Denken ist?«
Erst dachte er: Oh! Wie soll ich das tun? Aber dann sagte er:
»Maestro Katira, Kolonialität ist der auferlegte Zwang zu
vergessen, andere Formen des Zusammenseins zu vergessen,
andere Formen des Wissens, der Welterkenntnis,
des Existierens, andere Vorstellungen, eine Gemeinschaft
zu bilden. Dekolonialität ist der Akt des Erinnerns all jener
Zusammenhänge, die Kolonialität bewusst aufgelöst hat.
Dekoloniales Denken ist die Perle der Erinnerung.«
Endangered Human Movements hat genau damit zu
tun: mit Erinnerung, die durch den Körper geht, die
sich über die Zeiten hinweg körperlich manifestiert, indem
sie gewesenen Daseinsformen die Möglichkeit
gibt, durch unsere Körper wieder in der Welt zu sein.
Es ist also nicht einfach das Erinnern von etwas, das
nicht mehr ist. Es ist viel aktiver, es ist die Wiederbelebung
der Vergangenheit in einem anderen Zusammenhang,
dem Kontext von Kunst beispielsweise. Ich fühle,
dass wir mit unseren Ahnen verbunden sind, mit ihrer
Art, sich zu bewegen, ihrer Art des Verstehens, des
Seins, des Sich-untereinander-Verbindens. Da ist etwas,
das in uns wieder zum Vorschein kommt, aber nicht
durch Sprache oder Worte, sondern durch Manifestation
in unserem Fleisch.
DIE REIHE
ENDANGERED HUMAN
MOVEMENTS HAT
MIT ERINNERUNG ZU
TUN: ERINNERN
ANDERER FORMEN
DES EXISTIERENS,
DES DENKENS, DES
WISSENS, DES
IN-DER-WELT-SEINS.
Die Choreografin und Performerin AMANDA PIÑA sammelt in ihrem Archiv
Endangered Human Movements seit vielen Jahren Bewegungen und Tänze,
die vom Aussterben bedroht sind. In ihrem Textbeitrag stellt sie sich und
ihre Arbeit daran vor.
Foto: Theresa Rauter
189
DEN BLICK ÖFFNEN AUF
DAS, WAS IN
DER GEGENWART LIEGT.
GILLES AMALVI IM GESPRÄCH
MIT MEG STUART
CASCADE
Meg Stuart / Damaged Goods / Philippe Quesne / Brendan Dougherty
Tanz ab 10. September 2021
Siehe S. 60 _______________ www.ruhr3.com/cascade
190
Der Titel Ihrer Performance CASCADE bezieht sich auf
eine Kettenreaktion, eine Art Dominoeffekt. Haben Sie
die Bewegungen nach diesem Konzept strukturiert?
CASCADE dreht sich um Entropie, um fallende Gegenstände,
Körper, die stürzen, wieder aufstehen und neu
anfangen … Wir haben uns mit einer Reihe von Konzepten
im Zusammenhang mit Fallen und Wiederherstellen
beschäftigt: Hinfallen, Aufstehen, Schwerkraft
erleben, das Gegenteil von Schwerkraft spüren … Ein
weiteres Prinzip, mit dem wir versucht haben, den Ablauf
des Dominoeffekts zu verändern oder zu unterbrechen,
ist das Zurücksetzen: Wie können wir die
Maschine anhalten und neu starten?
Die Gruppe ist sehr vielfältig, die Leute kommen vom
Tanz und vom Theater, haben sehr unterschiedliche,
verschieden alte Körper mit allen möglichen Energieleveln.
Es gibt sieben Tänzer:innen und zwei Trommler:innen,
die in einer merkwürdigen Gemeinschaft vereint
sind, die sich über die Bewegung bildet. Deswegen
bestand die Arbeit zum Teil darin, sich aufeinander
einzustellen und Synchronisierung zu durchbrechen.
Diese Arbeit am Rhythmus verlangt enorme Intensität,
die Körper müssen einem hohen Tempo folgen. Unter
anderem haben wir mit Spielen ohne feste Regeln gearbeitet.
Wir wollten eine Dynamik schaffen, die uns
zu einer neuen Art von Interaktion in Echtzeit bringen
würde und mit der wir das System zerstören könnten,
um ein neues aufzubauen. Da geht es auch darum, wie
sich Körper in Gruppen verhalten und sich in einem
Raum nach Regeln bewegen, die nie festgeschrieben
werden. Das Ziel dabei ist letztendlich, ein Ökosystem,
eine Gruppe zu bilden, die versucht, neue Regeln für
das Zusammenleben aufzustellen. Was würde das bedeuten,
die Welt neu zu erschaffen? Was fangen wir
an, wenn nichts mehr übrig ist, wie bewegen wir uns,
wie verhalten wir uns in der Leere?
In einem bestimmten Moment gibt es in der Performance
eine Erkenntnis, die die Tänzer:innen in einem
sicheren Stadium zusammenbringt, die diese Intensität
verwandelt und sie zu etwas anderem macht als
einer bloß mechanischen Tatsache. Ich könnte das
einen Paradigmenwechsel nennen, eine Überhöhung
rationaler Leitwerte. Ich hätte gern, dass die Zuschauer:innen
diese Umkehr bemerken, dass sie den Maßstab
von allem in Frage stellen – drüber und drunter,
groß und klein, langsam und schnell …
Bei CELESTIAL SORROW, Ihrer letzten Performance, haben
Sie mit dem indonesischen Künstler Jompet Kuswidananto
zusammengearbeitet. CASCADE entsteht mit dem Bühnenbildner
und Regisseur Philippe Quesne. Wie hat der Raum
die Dynamik der Körper beeinflusst?
Philippe Quesne hat einen Raum mit einem ziemlich
starken Rahmen entworfen. Er ist von der Zeit unabhängig
und kennt keine Grenzen … In diesem Raum
sind die Körper aufgehoben, er fungiert zugleich als Illusion
und als grenzenloser Horizont, er verfügt über eine
Art Bewusstsein, eine Seele, welche die Körper, die sich
darin bewegen, beeinflusst. Das ganze Stück stellt das
Bemühen dar, ein Gleichgewicht zu finden zwischen
einem Impuls, einer Sehnsucht, Grenzen zu überschreiten,
und dem Versuch, loszulassen. Die Gruppe versucht,
eine Handlung darzustellen, die Bedeutung hat,
und gleichzeitig schleicht sich die Entropie, das innere
Zusammenfallen in die Bewegungen. Mich interessiert
dieses Aufeinanderprallen von zwei Dynamiken. Dank
des Bühnenbilds können wir unsere Voreingenommenheit
gegenüber innerem und äußerem Raum, Entropie
und Loslassen, Unbeweglichkeit und grenzenloser Bewegung
überdenken und über sie hinauswachsen.
ICH HÄTTE GERN, DASS
DIE ZUSCHAUER:INNEN
DEN MASSSTAB
VON ALLEM IN FRAGE
STELLEN.
Philippe hat einen Humor, eine subtile Ironie in die
Performance gebracht. Die Beweglichkeit der Körper
wird von ihrer Umgebung eingeschränkt, ihre Energie
zum Teil absorbiert. Damit stellt sich die Frage nach
Grenzen: Wo liegen die physischen und energetischen
Grenzen, wie werden diese Regeln festgelegt, wie
finden wir zu einer gewissen Autonomie und Freiheit?
Diese Freiheit kann nicht von einem einzelnen Körper
kommen, das hat mit der Gruppe zu tun, der Verbindung
zwischen ihren Mitgliedern, ihrer Fähigkeit, sich
gemeinsam zu entwickeln.
191
WO LIEGEN DIE
PHYSISCHEN UND
ENERGETISCHEN
GRENZEN, WIE
WERDEN DIESE REGELN
FESTGELEGT,
WIE FINDEN WIR
ZU EINER GEWISSEN
AUTONOMIE
UND FREIHEIT?
Ihr Tanz geht mit dem Faktor Zeit radikal um, sei es in
Form von Beschleunigung, von Unterbrechung oder der
Länge der Stücke … Wie funktioniert Zeit in CASCADE?
In den Spielen, dem Ausgangspunkt unserer Proben,
spielte Zeit eine wichtige Rolle: Können wir uns eine
grenzenlose Zeit vorstellen? Was fängt man mit seiner
Zeit an? Das alles ist in der Performance über eine
sehr direkte Spannung ersichtlich, die zwischen Verzückung
und Grauen, zwischen Loslassen und Kontrolle
oszilliert. Wir haben mit extremen Zeitaspekten wie Verzögerung,
Verteilung, Verlangsamung, Wiederholung,
Synchronisierung unterschiedlicher Geschwindigkeiten
gearbeitet … Ich hätte gern, dass man Zeit durch das,
was auf der Bühne passiert, als flüchtige Substanz
begreift, ein Gewebe, innerhalb dessen die Tänzer
Quantensprünge machen können. Ein starker Fokus
liegt auf der Gegenwart, im Sinne von »wir sind hier, in
diesem Moment«. Aber jenseits davon zielen die körperlichen
Dynamiken darauf ab, den Blick auf das zu
öffnen, was jenseits der Gegenwart liegt, vielleicht eine
alte Zukunft …
Wir leben in einer Phase der Ungewissheit, die vordringlich
den Körper betrifft. Ist Tanz nicht eine Kunstform, die genau
diese Ungewissheit aufzeigen kann, die den Körper berührt?
Sogar in der Ungewissheit gibt es Bewegung – Dinge,
Prinzipien, Gegenstände, Räume, die uns bewegen.
Man muss sich ihrer bewusst sein. Im Allgemeinen
versuche ich, dem zu folgen, was die Körper mir anbieten.
Das ist ein bisschen, wie wenn man das Tempo
respektieren oder vom Rhythmus abweichen muss.
Um mit diesen Abweichungen und dieser Synchronisierung
umzugehen, muss man sie spüren, sie ausprobieren,
noch einmal anfangen. Ich stelle die Frage
nach dem Wert dieser gemeinsamen Erfahrung – was
die Tänzer:innen erleben und was die Zuschauer:innen
bemerken, wenn sie ins Theater kommen. Was können
wir dadurch verstehen – und was kann diese gemeinsame
Erfahrung im Augenblick bedeuten? Tanz ist eine
Art Nähe, Kontakt zwischen Körpern. Angesichts des
Virus, das Einfluss hat darauf, wie wir uns bewegen,
wie wir von einem Ort zum anderen kommen, anderen
begegnen, müssen wir unsere individuelle und soziale
Choreografie neu erfinden.
GILLES AMALVI (*1979), französischer Autor und Tanzkritiker, führte das Gespräch mit Meg
Stuart am 16. Oktober 2020 für das Festival d’Automne, Paris, wo CASCADE nach seiner
Uraufführung an der Ruhrtriennale 2020 hätte gezeigt werden sollen. Doch diese
Aufführungen, wie auch die an vielen weiteren Stationen, mussten pandemiebedingt
abgesagt werden. Erst fast ein Jahr später, im Juli 2021, konnte die Uraufführung beim
ImPulsTanz-Festival in Wien stattfinden.
Foto: Eva Würdinger
Übersetzt von Henning Bochert
192
ÜBERBIETUNG, EIGENSINN,
UNGESAMTKUNSTWERK
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
D•I•E
Wertmüller / Oehlen / Goetz
Musiktheater ab 2. September 2021
Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/die
Linearer Fortschritt hat keine so gute Presse dieser Tage.
Wer an linearen Fortschritt glaubt, sieht immer nur einen
Parameter und nicht das komplexe Netzwerk, in dem sich
entlang dieses bestimmbaren Parameters Fortschritte,
meistens numerische, quantifizierbare Erhöhungen (von
Output, Geschwindigkeit, Kapazität), beschreiben lassen.
Selbst das sekundäre, um reflexive Dimensionen erweiterte
Mehr – erhöhte Komplexität, Genauigkeit etc. – gilt
als eindimensionaler Erfolg, dem angeblich ein Vergessen
oder schlimmer noch Ignorieren der jeweiligen Umwelt
des jeweiligen Systems zugrunde liege. Dabei war ein oft
naiver Glaube an die lineare Erweiterung ein Ausgangspunkt
avantgardistischen Denkens, dessen Fokus schon
bald von messbaren Kriterien der Erweiterung (schneller,
lauter) zu notwendig umstrittenen, sozial-kulturellen
(radikaler, politischer, verbotener) wechselte (oder sich
steigerte). Überbietung ist ein Modus künstlerischen Denkens,
der heute ganz im Schatten von anderen Vorstellungen
von Entwicklung, Erkenntnis und Wissensproduktion
steht, aber in seiner Verdrängtheit auch ein Moment des
Unabgegoltenen hat. Was passiert denn eigentlich Interessantes,
wenn etwas (oder jemand) etwas anderes (oder
jemand anderen) überbietet und überholt? Jenseits von
messbarer Konkurrenz, patriarchalen Wettkämpfen und
akuter Aggression? Ist nicht der Moment, in dem ich in
derselben Disziplin schneller und lauter sein kann als ein:e
andere:r, die:der dieselbe Disziplin betreibt, auch ein Moment
der Offenbarung? Erst wenn jemand schneller läuft
als jemand anderes, wird etwas am Laufen überhaupt klar.
Das ist das eine. Zum anderen später. Michael Wertmüller
ist in der Tat ein Überbieter, wie man es schon lange nicht
mehr erlebt hat. Ob als Komponist, Musiker (Schlagzeuger)
oder Theatermacher: Er denkt sich Akzelerationen,
Akkumulationen und Extensionen aus, auf die andere
nicht kommen. Oder doch? In den letzten Jahrzehnten gab
es zwar einen Boom von Überbietungen in Bezug auf die
Dauer von Darbietungen in eigentlich allen zeitbasierten
Künsten (Inszenierungen von Frank Castorf oder Vegard
Vinge in der Länge, extreme Kürze bei René Pollesch// die
kürzesten Musikstücke in der Welt von Death Metal, seitdem
Napalm Death mit You Suffer, 0:02, den Wettbewerb
schon in den späten 80ern eröffnet haben// das längste
Musikstück in der Ausnutzung der Speicherkapazität
eines 30 MB fassenden USB-Sticks bei Terre Thaemlitz,
dazu kommen diverse längste Filme aller Zeiten aus Argentinien,
Thailand, Malaysia und Ungarn). Aber meist
hatte das eher mit der Erforschung oder Kritik der unter
digitalen Bedingungen und Aufmerksamkeitsökonomien
entstandenen neuen Formate zu tun, weniger mit der
Entfesselungsüberbietung der historischen Avantgarden
noch mit den Zielen der politisierten Befreiungskünste
der 1960er-Jahre, noch mit den Überdeterminierungsexzessen
kybernetischer Experimentalkünste der 50er und
60er. Bei Letzteren gibt es dann am ehesten einen Ansatz
der Verbindung mit Wertmüllers Projekt.
Wertmüller plant die sieben »Dimensionen« dieser auf Texten
von Rainald Goetz und Bildern von Albert Oehlen basierenden
Musiktheaterarbeit (Raum, Zeit, Struktur, Bewegung,
Geschwindigkeit des Morphings, Koordination Holografie /
Live-Musik und Inszenierung), indem er sie als Multiplikation
von je unterschiedlich vielen Parametern mal unterschiedlich
vielen Elementen mal 13 Skulpturen anschreibt. Diese
Multiplikationen nennt er »Coding«. Deren Herleitung verrät
ihre konzeptuelle Herkunft aus einer Komplexität berechnenden
Tradition von Konzeptualismus, die eher aus der
Neuen Musik als aus der Bildenden Kunst oder dem Theater
kommt, in der seriellen und postseriellen Musik einen Ausgangspunkt
hat und über Stationen wie das »kybernetische«
Musiktheater von Nicolas Schöffer und Pierre Henry (Kyldex
I, 1974) oder multidimensionale, von mehreren Orchestern
und Live-Elektronik bestimmten Metaopern (etwa Luigi
Nonos Prometeo (1981 / 1985) oder auch verschiedene Versionen
/ Stationen von Stockhausens Aus den sieben Tagen)
schließlich bei Wertmüllers Projekt D•I•E landet, der die
Auffächerung der Parameter nicht mehr auf Praktiken, Medien,
Klangquellen und Aufhebung der symbolischen Dimensionen
der Theatersituationen (Frontalität, vierte Wand etc.)
beschränkt, sondern nun auch um die soziale und kulturelle
Bestimmtheit der musikalischen Sprachen erweitert.
193
Was dabei auffällt, ist zunächst ein Paradoxon: Die Überbietung
durch Erhöhung der zur Bestimmung freigegebenen
Parameter der Arbeit führt gerade aus der Linearität,
der sie vorderhand zu gehorchen scheint, hinaus, hinein
in aufeinander verwiesene Dimensionen. Auch der Begriff
der erhöhten Komplexität oder andere metalineare
Beschreibungen von Steigerung greifen nicht, weil, und
das ist das andere, Erhöhung von Komplexität und Überbietung
im oben beschriebenen Sinne gerade nicht kompatibel
sind – hier sich aber begegnen. Wie das?
Es ist zunächst nicht das Geflecht von initiierten Bewegungen
und Abläufen, das den Eindruck von Überbietung
auslöst, sondern das, was jeweils in den einzelnen Abläufen
geschieht. Rapper:in, Sänger:innen, Band, Partitur
arbeiten je für sich – und das kann ich für das Projekt
D•I•E nur aus den gegebenen Infos zu Zeiten seiner noch
nicht abgeschlossenen Entwicklung extrapolieren, aber
ich weiß es von früheren Arbeiten desselben Künstlers –
und werden bzw. sind in sich bzw. für sich je lauter, drastischer,
schneller, vertrackter, intensiver. Wenn sie dagegen
aufeinandertreffen und von Codings eingehegt werden,
tendieren sie dazu, diese offensichtlichen Eigenschaften
und Reize zu verlieren: zumindest für die Wahrnehmung
des Publikums; denn dessen Aufmerksamkeit richtet sich
nun auf den größeren Zusammenhang. Nur, auch dieses
Ergebnis, das zuverlässig bei klassischen sogenannten
Gesamtkunstwerken einzutreten pflegt, entsteht bei
Wertmüller, so wie ich seine Arbeit bisher erlebt habe,
nicht dauerhaft: Die Wahl der beteiligten Genres, Traditionen,
Sozialformen und Medien vertretenden Mitwirkenden
ist so angelegt, dass die innere Logik ihrer jeweiligen
Praktiken nicht nur Überbietungs- und Radikalitätsformen
kennt, die sich leicht verselbstständigen (Lautstärke, Geschwindigkeit,
physische Anstrengung), sondern auch
dass der Steigerungsgedanke in den von ihnen vertretenen
Formen sich zuallererst asozialisieren muss, bevor
er sich eventuell wieder sozialisieren kann. Asozialität ist
hier anders zu bewerten als Dissonanz oder Dissens, sie
weicht nicht innerhalb eines gegebenen Systems möglicher
Einigung unter Bedingungen der Nichteinigung ab,
sondern hält eine solche Einigung gar nicht für möglich.
Wie verhalten sich die Ausgangspunkte zu diesen Wegen:
Rainald Goetz und Albert Oehlen haben gemeinsam ein
Buch, D•I•E1, mit Texten bzw. Gedichten und Bildern, also
Illustrationen, Zeichnungen gestaltet, das 2010 erschienen
ist. Die Gedichte von Goetz lassen sich nicht auf Themen,
Positionen, Inhalte irgendeiner Art festlegen, dennoch
(oder gerade deswegen) enthalten sie eine Vielzahl von
Konkreta in der Nähe von Eigennamen (»Ölbaron«, »Sittenstrolch«,
»Turbo«, »Madonna«), also auch die Art von
Konkretheit, die Massenmedien durch häufigen Gebrauch
einer Bezeichnung für eine bestimmte Person oder Sache
herstellen. Allerdings enthalten die Texte eine noch höhere
Anzahl an allgemeinen (»Haufen«, »Nacht«, »hoch«) oder
Shifter-Vokabeln (»dem da«, »die da«), sodass sie stets
auf einem gespannten Seil zwischen Festlegung und
Kappung der Festlegung zu schwingen scheinen.
Die Zeichnungen Oehlens können als alle drei Zeichentypen
im Sinne von Charles Sanders Peirce gesehen
werden: als Ikone (sie sehen einer Gestalt meistens abstrakt,
aber nicht immer ähnlich), als Index (sie verwiesen
spurenartig auf eine besondere körperliche Präsenz des
Künstlers) und als Symbole (sie können als Zeichen einer
Tanzpartitur verstanden werden). Der Zusammenhang
zwischen Texten und Bildern hat eine ähnliche Spannung:
Ist sie eine unbegründete Setzung ins Nichts, die von
nichts anderem als dem Entschluss der beiden Urheber
zeugt und deswegen die besondere Autorität der creatio
ex nihilo trägt? Oder handelt es sich um eine gemeinsame
Bemühung um Annäherung an ein sich vorher gegebenes
Thema, das in der vorläufigen Gestalt des Themas, des
Vorhabens, des Ziels nur den beiden bekannt ist?
Dieser extrem offenen und doch an Worte wie »Irrenanstalt«
oder »Werkstatt« gebundenen, als Partitur zu vernachlässigenden
und dann als Zeichnungen doch wieder
überpräzisen, sich als Notation anbietenden Vorgabe nähert
sich das Musiktheater, indem es nicht interpretiert, also
sich in möglicher Semantik verliert und diese dann wieder
rückübersetzt, sondern alle Teile – die Vorarbeiten Wertmüllers,
sein musikalisch-künstlerisches Gedächtnis, echte
und vermeintliche Semantik, Lesen der Vorgabe als
Sprechakte, Aufforderung, Urteil, Partitur – durch ihrerseits
extrem vorgeprägte, durch soziale Verhältnisse, Rezep tionsund
Produktionsroutinen und -traditionen zugespitzte
musikalische und darstellerische Dynamik in alle denk baren
Richtungen explodieren lässt, es dem maximal hin- und
hergerissenen Publikum überlassend, ob es die systemische
oder antisystemische Zusammenhangsbildung hinkriegt
– oder auch von ihr in einem unerwarteten Moment
hinterrücks überrascht wird. Dabei bleibt Rap Rap, Jazz
bleibt Jazz und »Irrenanstalt« und »Werkstatt« bleiben
»Irrenanstalt« und »Werkstatt«. Wie es singt und lacht.
Am 21 .4. 2008 veröffentlichte DIEDRICH DIEDERICHSEN einen
Artikel über Michael Wertmüller in der Berliner Zeitung.
Der Leser Rainald Goetz schreibt darüber auf seinem
Blog: »Komm nicht ins Offene!, rief die Überschrift der
Kulturaufmacherseite, ebenfalls hölderlinisch inspiriert,
aber heftig umgekippt ins Gegenwärtige, aus, stürze dich
in den unentwirrbaren Prozess! In jeder Zeile des Artikels
stand eine Information, von der ich noch nie etwas gehört
habe, und alles klang so, dass ich sofort gerne auch etwas
darüber wissen würde.« Diedrich Diederichsen ist Wegbegleiter,
Kritiker und Freund von Albert Oehlen, Rainald
Goetz und Michael Wertmüller. In seinem Schreiben und
Denken über ihre Arbeit sind der Maler, der Autor und der
Komponist verbunden. Seit den 80er-Jahren hat er sich
einen Namen als Theoretiker von Pop, Politik und neuester
Kunst gemacht. Er lehrt seit 2006 an der Akademie der
bildenden Künste Wien und lebt in Berlin und Wien.
1 Albert Oehlen und Rainald Goetz, D•I•E, Künstlerbuch, Berlin 2010.
194
KLANG, DER
RÄUME
AUFSCHLIESST
ZUM KONZERTPROGRAMM
DER RUHRTRIENNALE 2021
VON BARBARA ECKLE
KONZERT IM MORGENGRAUEN
Chris Watson / Maurice Ravel / Salvatore Sciarrino
Konzert am 14. August 2021
Siehe S. 12 _______________ www.ruhr3.com/morgen
STIL IST GEWALTTAT
Patricia Alessandrini / Luciano Berio / Claude Debussy / Arnold Schönberg
Konzert am 21. August 2021
Siehe S. 40 _______________ www.ruhr3.com/stil
VISIONARY ARCHITECTS
Edgar Varèse / Iannis Xenakis / Anton Bruckner
Konzert am 28. August 2021
Siehe S. 46 _______________ www.ruhr3.com/visionary
THE HISTORY OF PHOTOGRAPHY IN SOUND
Michael Finnissy
Konzerte am 4. und 5. September 2021
Siehe S. 54 _______________ www.ruhr3.com/history
195
5 Uhr. Der Wecker klingelt – vielleicht in zwei Stunden. Wo
sind wir gerade? Keiner weiß es, nicht einmal wir selbst.
Jede Nacht übertreten wir eine mythische Grenze, vertrauen
uns dem Ungewissen, Unvorhersehbaren, Unkontrollierbaren
an. Jeden Morgen übertreten wir die Grenze
wieder, zurück in die geordneten Strukturen des Lebens.
Von den zwei Räumen, die wir bewohnen, genießt einer
das Prädikat Wirklichkeit, den anderen Raum, wo wir wie
Vögel fliegen, den Meeresgrund bewohnen, Toten begegnen,
morden oder selbst sterben, vergessen wir meist, tragen
ihn manchmal kurz noch als merkwürdiges Gefühl in
den Tag hinein, dann ist auch dieses verflogen.
Dem Schatzmeister der Nacht – Gaspard de la nuit –, der
die Schwelle zwischen diesen Räumen hütet, widmete
Maurice Ravel das Klavierwerk, das er schrieb, als der Tod
seines Vaters bereits im Raum stand. Flüchtigen Fabelwesen
und ominösen Schatten begegnet er mit fieberhafter
Virtuosität, als gelte es, dadurch dem Unvermeidlichen
zu entkommen. Offenbar stand die Tür dieser Tage
sperrangelweit offen: Wassernixen, Hinrichtungsstätten
und Kobolde spazierten seelenruhig durch Ravels
Sommer tage des Jahres 1908. Wenn sie um 5 Uhr früh in
die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck Einzug halten,
stehen auch die Wände offen. Chris Watson, der britische
Klangkünstler aus Sheffield, lässt unmittelbare und ferne
Innen- und Außenräume die Halle einnehmen, wenn über
dem Ruhrgebiet und dessen Schwesterregion im Norden
Englands die Sonne aufgeht. Hier endet der Spuk nicht,
hier beginnt er.
So notwendig und produktiv Begrenzungen für kreatives
Schaffen an mancher Stelle sind, so destruktiv wirken sie
an anderer und lösen mitunter existenzielle Prozesse aus.
Oft sind es starre Definitionsgrenzen und automatisierte
Zuschreibungen von Genres, Stilen und Profilen, die den
Blick auf das verstellen, was für viele Gegenstand und
Nährstoff ihrer Kunst ist: das Widerständige, das Paradoxe,
das Unbestimmbare, Unberechenbare, Unerreichbare.
Mit Komponist:innen des Festivals 2021 wollen wir
beim Übertreten jener mythischen Grenze zwischen den
Räumen immer wieder innehalten und mit ihnen, die sich
bei ihrer Arbeit in diesen Zwischenreichen zu schaffen
machen, ihre Wege nachvollziehen, ihre Perspektiven
einnehmen, ihr Erleben teilen.
Patricia Alessandrini
Als Patricia Alessandrini in einem Interview mit Gerhard
Richter las: »Stil ist Gewalttat, und ich bin nicht gewalttätig«,
löste sich in ihr eine kreative Beklemmung auf, die
sie ihre gesamte Studienzeit begleitet hatte. Was immer
sie hervorbrachte, es wurde umgehend schubladisiert und
etikettiert – ein Phänomen, das keinem bösen Willen, eher
einem Automatismus entsprang, der auf sie aber lähmend
wirkte. Innerlich rang sie ständig darum, eine Sprache zu
finden, ohne dem ständigen Abgleich mit bestehenden
Stilrichtungen, Schulen und Strömungen ausgesetzt zu
sein. Gelegentlich erntete sie sogar Missbilligung, weil ihre
Musik den Erwartungen an ihren »Typ« – sprich: junge,
schöne, zierliche Frau – scheinbar nicht entsprach. »Wie
kommt ein so nettes Mädchen dazu, eine solche Musik zu
schreiben?« – eine Frage, die neben der Musik auch ihre
Urheberin in einem nach Stereotypen sortierten Schubladensystem
versorgen will.
Richter – auch wenn er im Kontext bildender Kunst sprach –
gab diesem verbreiteten Phänomen, das Alessandrini in die
kreative Sackgasse trieb, den drastischen Namen Gewalt.
Was genau er damit meinte und wie dem zu entkommen
war, zeigte seine Technik: Richter unterzog jedes Sujet
demselben fotorealistischen Arbeitsprozess, egal was es
darstellte. Es ging nicht um den Inhalt, es ging um den
Prozess, die Unschärfe der Fotografie, die Wahrnehmung.
Die Idee hinter dieser Technik, so folgerte Alessandrini,
ließ sich aus der bildenden Kunst auch auf die Musik
übertragen. Wenn sie etwa aus Aufnahmen bestehender
Kompositionen das sogenannte »musikalische Material«
entfernte – alle Töne, Melodien, Rhythmen, Harmonien –,
blieb eine flüchtige, tiefgründige und rätselhafte Sphäre
übrig: die Resonanz der Töne, die Expressivität der Interpretation,
die Farben der Instrumentalklänge, der Raumklang
mitsamt aller Nebengeräusche – kurz: alles, was
196
sich nicht auf Notenpapier festhalten lässt. »Musikalisches
Material an sich ist mir ohnehin nicht so wichtig«,
bekennt die 1970 in Italien geborene italienisch-amerikanische
Komponistin. »Wichtig ist mir, was ich mit dem
Material mache, wie ich es durch mich hindurch filtere
und daraus einen Kompositionsprozess mache. So kann
ich meine Musik auch von den Codes befreien, die sie
stilistisch schubladisierbar machen.« Anstatt selbst musikalisches
Material zu generieren, wie das für Komponist:innen
üblich ist, begann sie daher, aufgezeichnete
Interpretationen der Werke anderer zu entkernen und zu
ihrem Material zu machen. Am Computer analysiert sie
die Obertonspektren und verarbeitet diese wiederum mit
elektronischen Mitteln, die sie oft selbst entwickelt.
Typgerechte Musik zu schreiben war ihre Sache offensichtlich
nicht. Umso mehr wurde keine typgerechte Musik
schreiben zu müssen zu ihrer Sache; damit verbunden die
Frage, wer – apropos Typ – eigentlich festlegt, wer diese
Person »ich« ist. Muss man die Bilder, die andere von
einem malen, annehmen? Sollten sie das Selbstbild beeinflussen?
Oder ist man selbst die alleinige Instanz, auch
dann, wenn keiner sie ernst nimmt? In ihrer Komposition
menus morceaux par un autre moi réunis für Gitarre und
Live-Elektronik landet der Finger direkt in der Wunde. Das
Referenzwerk sind Claude Debussys Chansons des Bilitis
in der Version für Flöten, Harfen und Celesta – eine szenische
Musik zu homoerotischen Gedichten, die Debussys
Freund Pierre Louÿs einer pamphylischen Kurtisane
namens Bilitis in den Mund gelegt und fiktiverweise als
archäologischen Fund der griechischen Archaik ausgegeben
hatte – erstaunlicherweise mit Erfolg. Die Quelle des
Befremdens: Ein Mann legt einer Frau Worte über ihren
Körper, ihre Lust, ihre Gefühle in den Mund und gibt diese
als ihr intimes literarisches Zeugnis aus, um es schließlich
von einem weiteren Mann vertonen zu lassen. Patricia
Alessandrini liebt Debussys Musik, die aus heutiger Sicht
gesehen groteske Ausgangslage dieser Komposition beantwortet
sie mit menus morceaux par un autre moi réunis
(übesetzt: »Zusammengesetzte Fragmente eines anderen
Ichs«) jedoch subtil kritisch. Sie überträgt Debussys
Les Chansons auf komplett andersartige Instrumente,
erhält aber wesentliche Klangqualitäten und -farben der
originalen Besetzung. Bei vollkommen unterschiedlichem
Material bleiben das metallische Zupfgeräusch der Harfe,
die luftdurchsetzte Klangstruktur der Flöte und das gläsern
helle Klirren der Celesta als klangliche Aura der Les Chansons
de Bilitis in Gitarre und Elektronik geisterhaft präsent.
Trotz der klaren Distanzierung vom Inhalt, den codierten
Bedeutungsträgern der Originallieder, lebt das Zerbrechlichste,
Intimste dieser Komposition in menus morceaux
weiter, als hätte sich Bilitis den Vorstellungen, die Debussy
und Louÿs in sie hineinprojiziert haben, entzogen und
bewege sich nun frei in einem anderen Raum.
Michael Wertmüller
Eine spielerisch virtuose Distanz zu codierten Bedeutungsträgern
verbindet auch drei Künstler gänzlich unterschiedlicher
Kunstformen: den Komponisten Michael
Wertmüller, den Maler Albert Oehlen und den Schriftsteller
Rainald Goetz. Mit der verbreiteten Tendenz, Kunst in
Sparten, Stile, Genres und Schulen zu unterteilen, fangen
sie wenig an. Unter dieser Prämisse entsteht auch Wertmüllers
experimenteller Opernraum D•I•E nach Texten von
Rainald Goetz und Kohlezeichnungen von Albert Oehlen,
die 2010 im Buch D•I•E Abstract Reality erschienen sind.
So wie die Texte und Zeichnungen ständig zwischen Abstraktion
und Definierbarkeit schwanken, lässt sich auch
Wertmüllers »Orchester«, bestehend aus einem Streichquartett,
einem Avantcore Hammond Trio, einer Garage-
Punk-Band, einer Elektronikerin und einer Schlagzeugerin,
auf keine musikalische Stilistik festlegen. Zwar wimmelt
es von anklingenden Stil- und Genreklischees, sie lösen
sich jedoch nie ganz ein und erweisen sich spätestens
dann als Chimären, wenn alle Ensembles zu einem gigantischen
Tuttikörper verwachsen.
Biografisch ist Michael Wertmüller als Schlagzeuger und
Komponist in Klassik, Jazz und Neuer Musik gleicher maßen
verwurzelt. Stile sprengen oder fusionieren ist nicht sein
Ziel, vielmehr sucht er den verbreiteten Kategorisierungsund
Einordnungszwang zu überlisten, damit sein Publikum
Musik so erlebt wie er: als utopischen Prozess, der aus
vielen kleinen Räumen einen riesigen Raum macht, der
sich – jedem Überlebensinstinkt entgegen – geistiger wie
physischer Begrenzungen entzieht: in transzendentaler
Virtuosität und unter Missachtung jeglicher stilistischer
Rein heitsgebote. Wer erlaubt ihm das? Seine genuine Liebe
zu diesen komplett unterschiedlichen Musikwelten, die für
ihn einerseits mehr sind als bloße Stil- und Genreschablonen,
andererseits doch nur Einzelteile eines viel umfassenderen
Musikerlebens, wo Musik zum Mittel wird, für einen Moment
den Begrenzungen des Menschseins zu entkommen.
Diese Entgrenzung geschieht in D•I•E im riesigen Raum,
der Kraftzentrale Duisburg, auf allen Ebenen: Worte treten
über die Ufer ihrer Bedeutung, durchmessen den Raum
durch multiple Körper hindurch, die die menschliche Gestalt
immer wieder verlassen. Zeichnungen schwimmen
wie Körper im offenen Raum, bewegen sich, verwandeln
sich, fließen ineinander. Den geistigen Impuls für die
Raumgestaltung griff der Szenograf Thomas Stammer von
dem legendären Architekten Le Corbusier auf, der seinen
Philips-Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel 1958
nach einer nicht unähnlichen Vision entwickelt hatte.
197
physikalischen Möglichkeiten abspielte. Varèse wollte jeden
nur erdenklichen Klang synthetisch erzeugen können,
ihn stufenlos in Tonhöhe, Farbe, Dichte, Textur, Volumen
verändern können und damit in vollkommen ungekannte
Klangsphären vordringen. Le Corbusier war überzeugt, dass
Varèse der einzige Komponist war, der mit seiner Utopie
kompatibel war. Er beauftragte ihn, ein rein elektronisches
Gedicht – das Poème électronique – für seinen Pavillon zu
schaffen, das auch die Grenze zu anderen Medien nahtlos
passiert und Raum, Bild, Farbe und Poesie in noch nie gehörten
Klängen erfasst – und koste es die über 300 Lautsprecher,
die dafür im Pavillon installiert werden mussten.
Edgar Varèse
Le Corbusiers Vorstellung dieses Gebäudes ging über den
physischen Korpus hinaus: Ebenso integrale Komponenten
waren Klang, Bild, Poesie und Farbe. Sie alle sollten ineinander
aufgehen und der Philips-Pavillon ein Ort sein, an
dem sich die Grenzen zwischen allen Sinnen in der Wahrnehmung
auflösen. Iannis Xenakis war dazu der ideale
Partner, denn als Komponist und Architekt war es sein natürlicher
Modus, Raum als Musik und Musik als Raum zu
denken. Die äußere Bauform des Pavillons, die eher einer
riesigen abstrakten Skulptur als einem Gebäude glich,
leitete er direkt aus dem grafischen Prinzip seiner Partitur
des Orchesterwerks Metastaseis von 1955 ab. Hier hatte
er versucht, mit großen Orchesterglissandi mathematisch
genau berechnete Linien zu ziehen. An der Form, die diese
beschrieben, richtete er die Form des Pavillons aus.
Einen weiteren Partner brauchte Le Corbusier für die
Klanggestaltung im Inneren des Pavillons. Edgar Varèse
war nicht der berühmteste Komponist, den er für dieses
Prestigeprojekt hätte gewinnen können. Präsent war sein
Name zuletzt wegen Déserts, einer Komposition für Orchester
und Tonband, deren Uraufführung 1954 in Paris
als Skandalkonzert in die Geschichte einging. Für das
Skandalpotenzial interessierte sich Le Corbusier überhaupt
nicht. Ihn interessierte Varèses Forschung nach
neuen, synthetischen Klangerzeugungsmitteln, die bis ins
Jahr 1916 zurückdatiert. Seine Vision war dem technischen
Entwicklungsstand um Jahrzehnte voraus. Als er 1953
den damals revolutionären Ampex Recorder in die Finger
bekam, konnte er Déserts realisieren, sein erstes Werk mit
synthetischen und akustischen Klangerzeugungsmitteln –
ursprünglich sogar als Bild-Ton-Kunstwerk angelegt. Er
träumte von einer Musik, die vollständig unabhängig von
klassischen Instrumenten entsteht. Zwar boten diese
eine enorme Klangvielfalt, doch ließen sie keine Musik
imaginieren, die sich nicht innerhalb der Grenzen ihrer
Michael Finnissy
Dem britischen Komponisten Michael Finnissy genügt für
seine Idee des Ineinandergreifens von Bild- und Klangmedium
ein Klavier. Allerdings ist der Pianist fast sechs
Stunden lang beschäftigt, wenn er Finnissys gesamten
Zyklus The History of Photography in Sound spielt, woran
sich bislang nur Ian Pace gewagt hat.
Das Rätsel, das der Titel aufgibt, ist auch nach der sechsten
Stunde nicht endgültig gelöst. Die Verbindung von Bild
und Klang geht über die filmschnittartige Kompositionstechnik
hinaus, liegt an verschiedenen Stellen verankert,
sei es, dass Finnissy musikalisch Perspektiven herstellt,
die einen bestimmten Betrachterpunkt festlegen, sei es,
dass er bildhistorische Aspekte musikalisch aufgreift und
verarbeitet. Im Kapitel Eadweard Muybridge – Edvard
Munch etwa beschäftigt ihn, wie die zwei Künstler unterschiedlicher
visueller Medien mit der Begrenzung des
Bildes umgingen, wenn sie Bewegung zeigen wollten. Bei
Munch ist es die Bewegung, die die statische Haupt figur
im Bild umgibt und die sich in deren Ausdruck spiegelt.
Der um eine Generation ältere Eadweard Muybridge
198
wiederum schuf 1877, als das Medium Fotografie noch neu
war, bereits eine Art Prototyp der Filmkamera: Um den
Bewegungsapparat von Pferden zu untersuchen, ließ er ein
galoppierendes Pferd von mehreren hintereinander auslösenden
Fotokameras ablichten – und begründete damit
die Serienfotografie. Obwohl sie eine Bewegung darstellt,
ist Muybridges Bilderserie statisch. Dieser Wider spruch
prägt auch Finnissys Musik, die sich hier durch Momente
eigenartig lebloser Bewegung auszeichnet. Inhaltlich ist
das musikalische Material, das Finnissy in diesem Kapitel
verwendet, jedoch vollkommen unverwandt: Neben afroamerikanischen
Spirituals sind das Bruckners 3. Sinfonie
und Emmanuel Chabriers Oper L’Étoile. Der Bezug ist ein
rein geschichtlicher: Die zwei letzteren Werke entstanden
im besagten Jahr 1877.
Als Komponist wird Michael Finnissy, 1946 geboren, der
Schule der New Complexity zugerechnet, in seiner dichten,
vielschichtigen Musik verarbeitet er jedoch einen aberwitzig
reichen und eklektischen Fundus an Musik anderer
Komponisten, auch aus dem Unterhaltungs- und Weltmusikbereich.
Häufig beschäftigt er sich in The History of
Photography in Sound mit der Spannung zwischen Musikkulturen
westlicher und ehemals kolonisierter Staaten. Im
Kapitel North American Spirituals konfrontiert er westliche
Kunstmusik mit unterschiedlichen Formen afroamerikanischer
Musik. Vor dem Hintergrund der Geschichte der
Sklaverei in Amerika kommt hier ein beabsichtigtes Unbehagen
auf, wenn Finnissy – ohne Pathos und ohne Auflösung
– in nordamerikanische Kirchenchoräle bekannte
Spirituals wie Steal Away, Nobody knows the trouble I’ve
seen oder Go down, Moses hineinplatzen lässt und deren
hoffnungsvolle Schwermut wiederum mit penetrant fröhlichen
Ragtime-Fetzen zerschneidet.
Die surreal wirkende Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Musikwelten,
die irre Polymetrik und die donnernden Cluster,
die immer wieder auf die Tastatur poltern, erinnern an
Conlon Nancarrow, Henry Cowell und natürlich an Finnissys
Idol Charles Ives.
Finnissys Ästhetik der Überfrachtung und Kleinteiligkeit
wirkt dabei paradox: Die Fülle von Einzeldetails ist so
ausufernd, dass man sie aus den Augen verliert, so sehr
man sich auch bemüht. Dabei erschließen sich einem die
größeren Kräfte und Bewegungen, als nähme man eine
Perspektive in größerer Distanz ein. Hat man sich einmal
dazu überwunden, Details loszulassen, eröffnet sich ein
fast übernatürliches Hörspektrum, als blicke man aus
dem All auf alle Geschehnisse, die gleichzeitig auf der
Erde passieren – fotografische Luftaufnahmen in Klang
sozusagen. Spätestens hier werden Erinnerungen an die
Utopien von Charles Ives wach – oder auch an jene von
Michael Wertmüller, ein mindestens ebenso großer Ives-
Fan wie Michael Finnissy.
BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater
und Konzert der Ruhrtriennale 2021–23. Als Autorin und
Moderatorin im Bereich Neuer Musik war sie zehn Jahre für
den Deutschlandfunk und die verschiedenen Programme
des ARD-Hörfunks tätig.
Fotos: Privat (Patricia Alessandrini), Francesca Pfeffer (Michael Wertmüller), Publicity
Photo (Edgar Varèse), Privat (Michael Finnissy), Harald Hoffmann (Olga Neuwirth)
Olga Neuwirth
Der Wunsch, den begrenzenden Raum in andere Medien
hinein zu erweitern, bestimmt auch Olga Neuwirths Vorstellung
von Musiktheater. Seit Bählamms Fest aus den
1990er-Jahren spielt der nahtlose Übergang vom Bühnengeschehen
in eine filmische Dimension für sie eine integrale
Rolle. Der regelmäßige Ausbruch aus dem realen
Raum ist in ihrer Umsetzung von Leonora Carringtons
Drama Das Fest des Lamms geradezu essenziell. Auf dem
Screen öffnet sie der jungen Ehefrau Theodora, die aus
ihrer verzweifelten Lage nicht fliehen kann, einen imaginären
Fluchtraum, den sie in ihrer Wirklichkeit erst noch
finden muss. Der Screen bietet auch den Übersprung in
eine virtuelle Realität, wenn blutrünstiges Schlachten auf
offener Bühne geboten wäre. Und er ist ein Fenster in die
Vergangenheit, die in Bählamms Fest so diskret mit der
Gegenwart verschwimmt wie die Geister der Toten mit
den Lebenden und die Tiere mit den Menschen. Wie
Edgar Varèse damals mit noch nicht existierenden elektronischen
Mitteln der Begrenzung akustischer Klangmöglichkeiten
entkommen und in diese scheinbar unzugänglichen
Räume hineinwollte, suchte auch Olga Neuwirth in
der Erweiterung der akustischen Instrumente um Elektronik
einen fließenden Übergang in die Welt der nicht sichtbaren,
nicht berechenbaren, nicht rational ergründbaren
Dinge. Mit den für die 90er-Jahre progressiven elektronischen
Mitteln des Klangmorphings rührt sie an den vielleicht
unergründlichsten Zwischenraum, jenen zwischen
Mensch und Tier, wenn sie die Stimme des Countertenors,
der den Wolfsmenschen Jeremy verkörpert, nahtlos in die
eines kanadischen Wolfes übergehen lässt. Neuwirths
Versuch, die Begrenzungen des Menschseins klanglich zu
durchbrechen, mag hochartifiziell sein und dem Mysterium,
das zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und
Tier, zwischen dem Fühlbaren und dem Sagbaren liegt,
kein bisschen näher kommen. Aber sie lenkt den Blick
und das Ohr dahin, auf diesen ebenso unergründlichen
wie machtvollen Zwischenraum, und bekräftigt uns in der
Ahnung, dass die sichtbaren und verstehbaren Grenzen
unseres Daseins mehr Anfang als Ende sind.
199
JEDE:R HAT
EINEN EIGENEN
SOUND
POINT LINE AREA. EIN PERKUSSIONSRITUAL
Fritz Hauser
Konzert ab 16. September 2021
Siehe S. 62 _______________ www.ruhr3.com/point
SPETTRO
Fritz Hauser
Konzert am 22. September 2021
Siehe S. 38 _______________ www.ruhr3.com/spettro
D•I•E
Wertmüller / Oehlen / Goetz
Musiktheater ab 2. September 2021
Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/die
200
Zwei Schweizer Schlagzeuggrößen treffen sich bei der Ruhrtriennale wieder: Lucas Niggli
als Drummer von Steamboat Switzerland im Musiktheaterprojekt D•I•E und Fritz Hauser,
musikalischer Kopf der Konzertperformance POINT LINE AREA und Solist in Spettro.
Ein Plausch mit Johanna Danhauser über Risikospiel, Schießbuden und Flaschengeister.
Johanna Danhauser (JD): Wie habt ihr euch kennengelernt?
Lucas Niggli (LN): Der Fritz hat mich 1991 bei einem
Doppelkonzert im Migros-Hochhaus in Zürich kennengelernt.
Ich kannte das Wesen seiner Musik aber schon
lange aus der Publikumsperspektive, weil ich bereits als
junger Schlagzeuger auf seinen Konzerten war.
Fritz Hauser (FH): Dieses Doppelkonzert war ziemlich
gut. Lucas war mit seinem Trio Kieloor Entartet da, ich
mit Adelhard Roidinger und Urs Leimgruber zur freien
Improvisation. Als wir am Nachmittag ankamen, hattet
ihr schon tonnenweise Material in dieses Hochhaus
geschleppt und Soundchecks ohne Ende gemacht.
Wir haben nur unsere drei Sachen abgestellt und sind
essen gegangen. In dieser Free-Jazz-Phase sind wir
von giftigen Soundchecks weggekommen. Weil wir die
Tourneen mit dem Zug gemacht haben, musste ich
mir ein Schlagzeug zusammenstellen, das ich alleine
transportieren konnte. Du hast immer noch eine große
Schießbude, oder?
LN: Ich brauche immer weniger. Aber es stimmt, wir
haben dazu geneigt, sehr aufwendige Projekte zu realisieren.
Dazu gehörten Experimente mit Live-Elektronik,
als Computer noch wirklich alte Schwarten waren.
Wir haben keinen Aufwand gescheut. Dieser Perfektionismus
verbindet uns eigentlich, Fritz.
FH: Du bist mir jedenfalls als energiegeladener junger
Musiker in Erinnerung geblieben. Später hatten wir
ja dann das Trio Klick mit Peter Conradin Zumthor.
Das war eigentlich meine erste Erfahrung in einem
Schlagzeugensemble auf Augenhöhe: Es ging nicht
um schneller, lauter, komplizierter, sondern darum, uns
gegenseitig hochzuschaukeln. Man konnte auch offen
über kompositorische Ideen diskutieren, ohne dass
dann einer sofort beleidigt war.
JD: Schlagzeuger:innen sind in Bands oft alleine. Ihr beide
sucht aber in auffällig vielen Projekten den Kontakt zu
Kolleg:innen. Was gibt euch das?
LN: Man lernt so viel von den anderen: welche Instrumente
sie auswählen, wie sie aufbauen, hören, üben …
Im Schlagzeugensemble finde ich vor allem das Unisono
spektakulär. Dieses Synchronspiel hat auch etwas
Tänzerisches. Und dabei ist das Schlagzeug eigentlich
ein individualistisches Instrument.
FH: Man braucht eigentlich überhaupt keine anderen
Instrumente, wenn man mal begriffen hat, wie vielfältig
das Schlagzeug ist.
JD: Fritz, mit 64 Schlagzeuger:innen in POINT LINE AREA.
Ein Perkussionsritual treibst du es auf die Spitze.
FH: Ja, vor allem kann ich mit 64 Schlagzeuger:innen
auch unglaublich leise Klangflächen generieren. Mit
dem Piano ist es wie mit dem Licht: Um es gleichmäßig
dunkel zu machen, braucht es viele Lampen. In
der Masse entsteht eine Klanggewalt, die auch dynamisch
Ungeheures auslösen kann. Alle haben dasselbe
Instrumentarium, aber die Spielmöglichkeiten sind
endlos. Die Komposition ist als Zeitpartitur konzipiert,
das heißt, wir starten zusammen die Stoppuhr und
niemand muss auf einen Dirigenten schauen. Es kann
ein wildes Durcheinander geben, das letztlich durch
die Musik wie von Geisterhand synchronisiert wird.
Aber es sind eben auch 64 verschiedene Trommeln,
64 verschiedene Becken und 64 verschiedene Menschen.
Die Individualität beim Schlagzeugspielen ist
entlarvend, aber wir werden mit dieser Heterogenität
präzise arbeiten.
JD: Konträr zu diesem Großprojekt gibst du auch ein Solokonzert
in der Gebläsehalle.
FH: Spettro! Das ist in meinem Haus in Italien entstanden.
»La Casa delle Masche« (»Das Geisterhaus«).
Man sagt, dass es dort spukt. Barbara Frey und ich
haben viel über die seltsame Energie dort gesprochen
und dann beschlossen: Wir machen Musik, wie die
Geister sie machen, wenn wir nicht da sind. Normalerweise
beginne ich meine Solokonzerte eher poetisch-verästelt,
aber Spettro ist grundsätzlich anders.
Da steckt viel von Barbara drinnen, von ihren Ideen
und ihrer Kritik. Uns geht es nicht um beeindruckende
Techniken, sondern um Alchemie. Es geht um die Frage,
ob man den Geist der Musik aus der Flasche lassen
kann, es geht um Fokus und Hingabe: rein ins Ritual.
Nach Spettro wird es noch ein Nachglühen geben. Ich
liebe es, nach dem Konzert noch ohne Druck eine Improvisation
zu machen. Mit dem Publikum, das dann
noch nicht nach Hause gegangen ist, kann man noch
einen Schritt weitergehen.
JD: Wie kann man solche Erfahrungen an Studierende
oder Schüler:innen vermitteln?
FH: Ich sage den Studierenden, dass es vergebene
Liebesmühe ist, mit 30 % zu üben. Man muss immer
voll da sein. Selbst wenn man in einem Konzert kaum
201
etwas zu tun hat, muss dieser eine Schlag mit der
richtigen Energie kommen, sonst zerfällt das ganze Ding.
LN: Ich unterrichte Improvisation im Klassikdepartement
der Hochschule Zürich (ZHdK). Das ist etwas
vom Allerschönsten, diesen hervorragenden Instrumentalist:innen
die Sprache der Unmittelbarkeit und
das Risikospiel näherzubringen, damit sie ihr eigenes
Vokabular entwickeln können. Musiker:innen mit Improvisationserfahrung
sind einfach besser, sie nehmen
den ganzen Raum wahr und haben eine sehr hohe Präsenz.
Sie lehnen sich nicht zurück, um irgendwelche
Noten routiniert abzuspielen, sondern haben einen
ganz anderen Impact. Die Improvisation ist etwas Ungewöhnliches
im Hochschulkontext, wo oft »richtig«
und »falsch« vorherrscht. Es ist viel schöner, mit den
Studierenden an den Fragestellungen zu arbeiten, als
fertige Lösungen zu präsentieren. Das Unvorhergesehene
zu spielen und dabei auch gar nicht »gut« sein zu
wollen, ist befreiend. Jeder hat seinen eigenen Sound.
FH: Vor hundert Jahren habe ich eine Improvisation mit
Pauline Oliveros live fürs Schweizer Radio gemacht.
Ich hatte sie vorher gefragt, was sie macht, wenn ihr
nichts einfällt. Sie sagte: »Well, I don’t play.« Und dann
saß Pauline da mit ihrem riesigen Akkordeon und ich
auf glühenden Kohlen. Es kam nichts. Nach ein paar
Minuten hat sie nur so – ffffffffff – das Akkordeon
aufgezogen. Das Instrument hat eingeatmet und es
ging los. Es braucht Gelassenheit und Selbstvertrauen
für die Freiheit im Geiste. Improvisation ist wie selber
Brot backen. Das ist einfach etwas anderes, als in der
Bäckerei eines zu holen.
JD: Und wie ist es, wenn Michael Wertmüller für Steamboat
Switzerland bäckt?
LN: Michael und ich sind schon seit unserer Zeit im
Schlagzeugregister des Schweizer Jugendsinfonieorchesters
Ende der 80er-Jahre befreundet. Er hat für
Steamboat Switzerland von Oper bis zur Trio-Literatur
schon so viele verschiedene Werke geschrieben – mit
ihm haben wir einen geistesverwandten Komponisten,
der uns herausfordert und immer wieder überrascht.
Steamboat Switzerland kombiniert die Power einer
Rockband mit der Komplexität und der Virtuosität
der Neuen Musik. Michael weiß, dass wir keine faulen
Hunde sind und uns auch unspielbares Zeugs zur Brust
nehmen. Manchmal fluchen wir auch, aber er ist kein
Komponist, der sakrosankt darauf besteht, dass alles
genau so gespielt wird, wie es dasteht. Wir wachsen
aneinander.
JD: Wie hast du das Mitwirken in szenischen Projekten als
Musiker bisher erlebt?
LN: Ich finde diese Hybridformen im Musiktheater unglaublich
spannend. Wir haben zum Beispiel am Deutschen
Schauspielhaus Valentin mit Herbert Fritsch und
Michael gemacht, das stark von Text und Schauspiel
ausging. Bei einer Opernkomposition hat der Komponist
eine andere Rolle. Das Verständnis für andere Disziplinen
und Tätigkeiten in den Künsten entwickelt sich
langsam, Kategorisierungen lösen sich auf. So wie das
Klischee, dass klassische Musiker:innen nicht grooven
und Jazzmusiker:innen keine Noten lesen können. Das
ist obsolet. Das Genre Musiktheater erfährt eine neue
Durchlässigkeit. Ich bereite meine Studierenden darauf
vor, flexibel zu bleiben und sich auf andere Territorien
einzulassen. In D•I•E geht es genau darum: um die
Auflösung von Genregrenzen. Ich freue mich total auf
diesen Clash.
JD: Michael komponiert in D•I•E für klassische Gesangsstimmen,
aber auch für eine Rapperin, eine Garage-Punk-
Band, ein Streichquartett und Elektronik. Da stellt sich
die Frage der Ausbildung nochmal in einer anderen Weise,
denn nicht alle Musiker:innen können Noten lesen oder
sind an eine:n Dirigent:in gewöhnt. Michael muss teilweise
sehr individuelle Lösungen finden, um seine kompositorischen
Ideen an die Musiker:innen zu kommunizieren.
FH: Mich haben eigentlich schon immer die anderen
Künste mehr inspiriert als die Musik selbst. Ich habe
mit Tänzer:innen, mit Schriftsteller:innen, mit Schauspieler:innen
und mit bildenden Künstler:innen gearbeitet.
Ich habe selber getanzt. Das Hybride ist eine
Grundlage meiner Arbeit. Aber es gibt auch im Prozess
oft Schwierigkeiten, weil die Erwartungen und
Bedürfnisse der Künstler:innen und ihrer Handwerke
sehr verschieden sind. Eine Tanzcompagnie muss zum
Beispiel ganz anders trainieren als ein Schauspielensemble.
Das muss man irgendwie energetisch zusammenbringen.
Zum Beispiel habe ich auf Barbaras
Proben oft tagelang nur bei der Textarbeit zugehört.
Es ging darum, diese Sprache zu verstehen, die Atmosphären
zu ergründen und dann im entscheidenden
Moment aktiv zu werden. Wir können alle enorm viel
voneinander lernen, was Intensität anbelangt.
JD: Hattet ihr schon einmal Kontakt mit dem Ruhrgebiet
oder ist das eine Erstbegegnung?
FH: Ich kenne das Ruhrgebiet von einer Bandtour aus
den 70er-Jahren. Da konnte man kaum atmen, es war
schmutzig und es gab nichts Gescheites zu essen. Es
war irgendwie eine Maloche, aber mit einer tollen Energie,
die für uns Schweizer aus dem sauberen Ländli
verwegen war. Ich erinnere mich auch an ein Konzert
im Gasometer in Oberhausen vor 20 Jahren – überwältigend!
Von der Höhe wurde mir so schwindelig, dass
ich mich am Geländer festhalten musste. Diese gigantischen
Räume sind auch akustisch toll: Du klatschst
und nach einer halben Sekunde kommt das Echo zurück.
Solche Dimensionen haben wir in der Schweiz
nicht, deshalb suche ich diese Weite im Klang, im Echo
der Kirchen, im Hall.
LN: Die Ruhrtriennale kenne ich schon von einem
Konzert in der Zeche Carl. Als Kulturschaffende machen
wir diese Orte auf eine ganz andere Weise zur Energiequelle
als die Kohleförderung, aber ihre alte Funktion
ist noch immer spürbar. Wenn man sich Weltraumbilder
ansieht, glüht das Ruhrgebiet wortwörtlich. Mich
fasziniert die dichte Besiedelung der Region – ein
kultureller Schmelztiegel. Diese Offenheit und Durchlässigkeit
so vieler verschiedener Kulturen auf engem
Raum schafft ein kreatives Umfeld.
202
JD: Schlagzeuger:innen sind die Musiker:innen der tausend
Instrumente. Welches findet ihr persönlich unschlagbar?
FH: Bei mir hat es im Zirkus angefangen: Alle haben
auf die Seiltänzerin geschaut, ich zum Mann, der den
Trommelwirbel machte. Nach der kleinen Trommel war
die zweite große Begegnung meiner Schlagzeuglaufbahn
das Becken. Ich konnte mir weder Gong noch
Tamtam leisten, deshalb habe ich mich erstmal in
Beckenklänge vertieft. Ich liebe auch die klingenden
Steine von Arthur Schneiter wegen ihrer eigenartigen
Obertonstruktur, die den Körper schwingen lässt. Zurzeit
schwärme ich hauptsächlich für mein neues Tamtam.
Du schlägst es an und es öffnet sich eine Tür in
eine andere Welt. Ich bin ein Freund der Reduktion
und der Hingabe. Ich gehe mit dem kleinen Gong auf
Tournee und schabe einfach eine Stunde daran herum.
LN: Das Herz ist und bleibt das Basic Jazz-Drumkit.
Darauf halte ich meine vier Extremitäten fit. Aber dann
geht es natürlich rasant los mit Präparationen, Erweiterungen,
Bürsten, Sticks und Schlägeln. Ich will aus
dem Set möglichst viele verschiedene Farben herausholen
und achte drauf, dass die drei Hauptmaterialien
– Fell, Metall, Holz – immer zur Verfügung stehen.
Einer meiner Lieblingssounds sind die Water Drums.
Man spielt auf halb leeren Kürbissen in verschiedenen
Größen, die auf einer Wasseroberfläche schwimmen.
Ein magischer Klang, den man auch sehr schön tunen
kann.
JD: Lucas, du hast deine Kindheit in Kamerun verbracht.
Gibt es bei dir musikalisch Einflüsse aus der westafrikanischen
Musikkultur?
LN: Ich habe in meinem Atelier viele Instrumente aus
Kamerun. Die Rhythmen interessieren mich gar nicht
so vordergründig, vielmehr hat mich der Einsatz der
Trommel in Ritual und Alltag geprägt. Zum Beispiel erfüllen
die großen Holzschlitztrommeln eine ähnliche
Funktion wie bei uns Kirchenglocken. Als ich um 1990
für längere Zeit in Kamerun war, habe ich Trommelbau
gelernt und auch einem Cheftrommler auf einem
Maskenritual über die Schulter geschaut. Er konnte
unmöglich langsamer spielen oder erklären, was er
macht. Er konnte nur spielen. Also habe ich gelernt,
anders zuzuhören: nicht analytisch, sondern in großen
Bögen. Andersherum war es mit meinem Freund Rolando
Lamussene aus Mosambik. Er hat wirklich lange,
komplexe Kompositionen einstudiert, konnte aber
bei den Proben nicht einfach irgendwo in Takt 29 einsteigen.
Wir mussten immer von vorne anfangen, weil
er das Stück nur so lernen konnte. Als wir nach drei
Jahren das erste Mal wieder im Schlagzeug quartett
zusammenkamen, hat Rolando als einziger keinen
Fehler gemacht. Er hat das drin gehabt, aber das Lernen
war aufwendig.
JD: Bringt die neue Generation der Schlagzeuger:innen
mehr Frauen?
FH: Es gibt Bewegung. Bei meiner letzten Juryteilnahme
beim Concours International de Genève gingen die
beiden ersten Plätze an Frauen, die eine ganz andere
Form von Musikalität, natürlich auch eine wahnsinnige
Kompetenz und Spielfreude mitgebracht haben. In
meiner Schlagzeugklasse am Konservatorium waren
wir noch sieben Jungs. Als ich dann zum ersten Mal
eine junge Frau am Schlagzeug erlebt habe, war das
extrem eindrücklich. Ich wollte schon in meinen ersten
Orchesterprojekten möglichst viele Frauen dabeihaben,
weil sie das Niveau insgesamt heben. Plakativ
gesagt kommt man weg von einer Sportart hin zu
einer Musikform. Wie bei vielen Berufen sind es auch
ge sellschaftliche Missstände, die verhindern, dass
Frauen als freischaffende Musikerinnen international
tätig sein können. Oft müssen sie sich zwischen Karriere
und Familie entscheiden. Ich unterstütze junge
Musikerinnen und Schlagzeugerinnen mit allen Kräften,
damit sie dranbleiben.
LN: Die Marginalisierung hat gar nicht so viel mit unserem
Instrument zu tun, sondern mit den Vorbildern und
Anreizen. Warum gibt es so wenige Jazzmusikerinnen?
Wir müssen uns nur mal die Dozent:innen ansehen.
Der Anteil von Männern ist immer noch viel höher.
Leider wird dieses Ungleichgewicht auch in der Kulturbranche
noch nicht genügend reflektiert. Diese vielen
ausgewiesenen Frauenschwerpunkte in der Saison
nach #metoo fand ich eher heuchlerisch. Das müsste
einfach selbstverständlich sein! Die Kurator:innen
müssen ohne große Töne darauf achten, dass Frauen
im Programm vorkommen. Dafür braucht es manchmal
eine Extrarunde der Recherche und mehr mutige
Förderung. Barbara Frey hat da in Zürich gut vorgelegt:
Walk your talk!
JD: Wie seht ihr denn gegenseitig eure Entwicklung?
FH: Ich habe den Lucas als ehrgeizigen jungen Musiker
und Perfektionisten kennengelernt. Es konnte nicht
schnell und kompliziert genug sein. Mit der Zeit hast
du dich zu einem Komplettmusiker entwickelt, dem ich
nicht nur auf der Bühne gerne zuhöre.
LN: Fritz ist eigentlich ein Antipode zu meiner Art,
Schlagzeug zu spielen: ruhig und kontrolliert, fast
schon steif. Ich bin mit zunehmendem Alter fasziniert
von seiner Klarheit, die trotzdem mystisch und geheimnisvoll
bleibt. Er kann mit ganz wenigem sehr viel Tiefgründiges
sagen. Vor allem schätze ich deinen Humor,
Fritz, das ist eigentlich sehr unschweizerisch.
Foto: Caroline Minjolle
203
MARIANO PENSOTTI
EIN PORTRÄT
VON STEFANIE CARP
LOS AÑOS / DIE JAHRE
Mariano Pensotti / Grupo Marea
Schauspiel ab 17. September 2021
Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/diejahre
204
Die neue Arbeit Los Años von Mariano Pensotti hätte ihre
Premiere bei der Ruhrtriennale 2020 haben sollen.
Nach der Absage des Festivals hat der Künstler die Proben
um ein Jahr verschoben. Mariano Pensotti hat 2018 in
der Kraftzentrale das umfangreiche und inversive Projekt
Diamante mit argentinischen und deutschen Schauspieler:innen
entwickelt. Es erzählte von einer Privatstadt,
die einer Firma gehört und immer mehr zu einem dystopischen
Ort wird.
Mariano Pensotti gehört zu einer Generation, die in den
krisengeschüttelten Jahren das argentinische Theater erneuert
hat.
In sehr fragilen ökonomischen Situationen erfanden sie
Theater in privaten Wohnungen, Büroräumen und Bars.
Mariano Pensotti entwickelte eine spezielle episch-theatralische
und filmische Erzählweise. Er hat viele Jahre als
Drehbuchautor gearbeitet und ist ein erstaunlicher Erzähler.
In seinen Stücken verwebt er auf mehreren Ebenen meist
mehrere fragmentierte Geschichten miteinander, in denen
er sehr persönliche Situationen in einen zeitgeschichtlichen
Rahmen spannt. Er verwendet sehr unterschiedliche Mittel
und immer verschiebt er die aktuelle Handlung durch eine
rekonstruierende oder reflektierende Perspektive.
»Zurzeit drehen wir den gefakten Dokumentarfilm über
den kleinen Jungen in einem interessanten Stadtteil von
Buenos Aires. Wir haben einen tollen Jungen gefunden.
Der Film wird das Herzstück der Inszenierung sein. Denn
alle Gespräche und szenischen Situationen auf der Bühne
beziehen sich immer wieder auf diesen Film.«
In der neuen Arbeit von Mariano Pensotti wird man zwei
nebeneinanderliegende und parallel bespielte Räume
sehen. In dem einen Raum ist Gegenwart, in dem anderen
ist Zukunft, 30 Jahre später, 2051. Ein junger Architekt in
der Gegenwart, der in Buenos Aires Gebäude dokumentiert,
die Kopien berühmter europäischer Bauten sind,
lernt in einem Armutsviertel einen kleinen Jungen kennen,
der dort ohne Eltern lebt. Der Junge bittet ihn, sich bei
einer Schule als sein Vater auszugeben, damit er aufgenommen
wird und eine warme Mahlzeit am Tag bekommen
kann. Der junge Mann und das Kind freunden sich
an. Der Architekt beschließt, einen Film über das Viertel
und das Leben des Jungen zu machen. Eines Tages verliert
er ihn aus den Augen. Sein Film ist ein so großer Erfolg,
dass er seinen Beruf als Architekt aufgibt und Dokumentarfilmer
wird. Im Raum der Zukunft sehen wir gleichzeitig
den Mann 30 Jahre später. Er ist nach langem Auslandsaufenthalt
nach Buenos Aires zurückgekehrt. Er hatte in
seiner Karriere nie wieder so großen Erfolg wie mit seinem
ersten Film. Nun möchte er den inzwischen erwachsenen
Jungen wiederfinden, angeblich, weil er wissen will, was
aus ihm geworden ist, in Wahrheit, weil er hofft, mit einem
zweiten Film an seinen früheren Erfolg anzuknüpfen.
Der damalige Dokumentarfilm seiner Jugend war auch ein
trauriger Lebenseinschnitt, denn während er ihn drehte,
verließ ihn seine Frau mit der gemeinsamen kleinen Tochter.
Er hat den Verlust im Rausch des Erfindens und des Erfolgs
nicht realisiert. 30 Jahre später versucht er eine neue
Beziehung zu seiner Tochter herzustellen. Die Tochter wird
immer stärker die Haupterzählerin von Los Años sein.
Den beiden Lebenszeiten entsprechen die Zeiten einer
Gesellschaft.
Der Enthusiasmus einer gesellschaftlichen Utopie wandelt
sich unerfüllt in Zynismus. In Mariano Pensottis Argentinien
der Zukunft will eine mehrheitlich gewählte rechte
Partei Argentinien wieder zu einer spanischen Kolonie
machen. Es ist in dieser fiktiven konservativen Zukunft
modern, historisch 200 Jahre zurückzugehen.
Laut Mariano Pensotti keine ganz unwahrscheinliche
Prognose: »Das Konzept der Zukunft hat sich in meinem
Kopf während der Pandemie am stärksten verändert«,
sagt er. »Aber ich bin immer noch optimistisch«.
Das Phänomen Zeit war und ist ein zentraler Gegenstand,
eine Form und ein Inhalt, in allen Arbeiten von Mariano
Pensotti.
Vor mehr als 15 Jahren, 2006, zeigte das Kunstenfestivaldesarts
in Brüssel in den Vitrinen und auf den Balkonen
einer belebten Geschäftsstraße in der Brüsseler Innenstadt
Episoden aus dem Leben sehr unterschiedlicher
Menschen. Die Dialoge und die Gedanken der jeweiligen
Personen waren auf die Hauswände oder das Trottoir projiziert.
An einer Kreuzung lag ein Motorradfahrer, der unmittelbar
vorher bei einem Unfall ums Leben gekommen
war. Man las seine letzten Gedanken. Diese Arbeit, die
2005 in Buenos Aires entstand, war eine Art künstlerisches
Manifest. Man sah Episoden aus verschiedenen
Leben zu, die immer auch schon Vergangenheit waren.
»Das war etwas, das ich unbedingt machen wollte:
Kammerspiele für die Straße. In den Jahren 2001/02 war
alles, was auf der Straße passierte, viel interessanter als
das, was in den Theatern stattfand. Wir sagten uns:
205
Wenn wir unsere Fiktionen in der Wirklichkeit spielen,
dann wird die Realität uns beeinflussen. Wir gehen also
raus aus der Black Box. Das Mittel, den Text zu projizieren,
das Thea tralische also episch zu machen, als ob wir alle
zusammen einen Roman lesen, habe ich dann auch in viel
theatralischeren Arbeiten weiterentwickelt.
El pasado es un animal grotesco / Die Vergangenheit ist
ein groteskes Tier heißt eine spätere Arbeit, in der vier
junge Menschen in einer sich beständig drehenden Bühne
mit digitalen Jahreszahlen in 65 Lebensfragmenten durch
zehn Jahre Zeitgeschichte der Nullerjahre sausen. Alle
dieser Generationen zwischen 25 und 35 müssen mit
jähen Veränderungen ihrer Lebensentwürfe klarkommen.
Es sind kleine persönliche Episoden im Rahmen des
größeren Narrativs der argentinischen Wirtschaftskrisen.
»Ich interessiere mich für das Vergehen von Zeit und wie
ich das Theater als Medium benutzen kann, sodass das
Publikum die Erfahrung des Zeitvergehens macht. Die
Differenz zwischen Erwartung an uns im Leben und unserer
wahren Existenz ist für mich eine Quelle der Fiktion.
Und ich habe eine Obsession, mich mit der Identität meiner
Generation zu beschäftigen, mit der komplexen Beziehung
zu unseren Eltern. Unsere Eltern waren Linke, die gegen
die Militärdiktatur gekämpft haben. Wir sind im Schatten
ihres Heldentums aufgewachsen. Wir kämpfen nicht.
Während der 90er und schon früher waren wir konstant
mit unserem ökonomischen Überleben beschäftigt. Nach
der Krise haben wir angefangen, über Politik nachzudenken.
Näher sind wir dem Revolutionären nicht gekommen.«
Biografisches und Autobiografisches seiner Generation
steuern viele Geschichten, die Mariano Pensotti auf der
Bühne nie linear erzählt, sondern montiert. Leben und
Kunst finden unter prekären Bedingungen statt. Das ist
die Ausgangslage und sie führt zu vielen sarkastischkomischen
Selbstverleugnungen, weil man sich einen
besseren Selbstentwurf nicht leisten kann.
Die Off-Szene von Buenos Aires ist wahrscheinlich eine
der kreativsten und vielgestaltigsten Theaterszenen der
Welt. Alle diese Künstler:innen arbeiten in gefährdeten
und zerbrechlichen Umständen. Sie probieren ihre Kreationen
über lange Zeiträume, weil sie sich und ihre Kunst
mit anderen Berufen oder Tätigkeiten finanzieren.
In Cuando vuelva a casa voy a ser otro / Wenn ich zurückkomme,
bin ich ein anderer (2015) ist die Bühne ein Laufband,
auf dem zunächst ein einsames Stativ mit einer
Kamera vorbeifährt vor dem Panorama aus Akropolis,
Schneebergen und Pyramiden. Es folgen in rasantem
Tempo angeschnittene Szenen mehrerer verflochtener
Erzählungen, die um zeitgenössische Identität kreisen und
um das Selbstbild seiner Generation, der Kinder der Widerstandskämpfer.
Der Vater des Protagonisten Emanuel
hat während der Diktatur Briefe und Fotos, die ihn hätten
kompromittieren können, in seinem Garten vergraben und
findet sie nach der Diktatur nicht wieder. Viele Jahre später
bringt ihm der neue Besitzer seines Hauses, der einen
Swimmingpool ausgehoben hat, seine Plastiksäcke. Bei
den Gegenständen befindet sich eine alte Musikkassette,
an die er sich nicht erinnert, mit der Aufnahme eines
Liedes, gesungen von jemandem der nicht er ist. Sein
Sohn, der Autor und Regisseur ist, probt das Remake seines
Stückes Der Fluss, das die Zeit der Diktatur und die revolutionäre
Rebellion thematisiert und vor Jahren sehr erfolgreich
war. Er erfährt, dass ein anderer unter seinem
Namen sein Stück inszeniert hat, und es auf Festivals in
Südamerika zeigt. Er beschließt, den Doppelgänger zu
finden. Um Geld zu verdienen, arbeitet er nebenbei für
Wahlkampagnen. Der Mann, der sein Stück gestohlen
hat, heißt Damian und ist ein Wahlkandidat, der verliert.
Damian glaubt, dass man nur eine überzeugende Identität
hat, wenn man eine andere nachspielt. Als der Doppelgänger
bei einem Theaterfestival in Paraguay feststellt,
dass der wirkliche Emanuel genauso ein Loser ist wie er
selber, verfällt er in eine Depression und taucht im Karneval
unter. Inzwischen hat eine junge Sängerin das Lied
von der Kassette im Radio gehört, weil Emanuel es für
Wahlwerbung verhökert hat. Sie erkennt die Stimme ihres
Vaters, der während der Diktatur ermordet wurde. Sie
macht mit dem Lied ein neues Programm für ihre Band
und hat zum ersten Mal Erfolg. Emanuel inszeniert sein
Stück und Damian schließt sich einer Transvestitenband
an, die die Beatles imitieren. All das wird, wie in El pasado
es un animal grotesco von nur vier Performer:innen und in
rasenden Szenen- und Rollenwechseln gespielt.
»Ein Teil dieser Geschichte ist tatsächlich meinem Vater
passiert. Er hat im Garten meines Großvaters die Dinge
vergraben, die ihn hätten belasten können. Er dachte, die
Diktatur würde nicht lange dauern. In meiner Kindheit
hörte ich ihn viel über die Objekte sprechen, die sich in
seiner Vorstellung veränderten, immer mehr wurden.«
Mariano Pensotti hat in Buenos Aires, in Spanien und
Italien Bildende Kunst und Film studiert. Dann begann er
Anfang 2000, seine speziellen Theaterstücke zu realisieren,
in kleinen Räumen, in Mietshäusern, auf Balkonen. In Argentinien
war in den Neunzigern und danach jene eigene
Form kleinformatiger Kammerspiele entstanden. Mariano
Pensotti brachte das Erzählen von mit Zeitgeschichte aufgeladenen
persönlichen Episoden mit unterschiedlichen
filmischen und visuellen Mitteln zusammen.
Nach der großen politischen und wirtschaftlichen Krise
2005 gründete er die Grupo Marea gemeinsam mit der
Ausstattungskünstlerin Mariana Tirantte, dem Musiker
Diego Vainer, dem Lichtdesigner Alejandro Le Roux und
der Produzentin Florencia Wasser. Die filmischen Mittel
im Umgang mit Zeit und das epische Erzählen mittels
Overvoice-Stimme durch eine:n Performer:in oder Schrift
wurde zu einem Markenzeichen seiner Dramaturgie.
Für Cineastas (2013) interviewte er 20 Filmemacher:innen
in Buenos Aires. Ihn interessierte, wie und ob das Leben
die Filme beeinflusst und ob Film oder Theater umgekehrt
die Realität beeinflussen können. In zwei übereinanderstehenden
Räumen werden acht Geschichten gleichzeitig
erzählt, die persönlichen Leben von vier Filmemacher:innen
und Teile aus den Filmen, an denen sie grade arbeiten,
miteinander verschnitten. Die unausgesprochene Frage
ist: Beeinflusst die Fiktion das Leben oder das Leben die
Fiktion und kann die Kunst eine Form des Widerstands sein?
206
Arde brillante en los bosques de la noche (2017) erzählt
von drei Frauen mit diffusen Verbindungen zur Revolution
1917: eine Professorin, die über die Geschichte der russischen
Revolution forscht und bei einem Vortrag feststellt,
dass ihr heutiges Leben wenig mit revolutionären Gedanken
zu tun hat, eine europäische Aktivistin, die mit den
Guerillas in Kolumbien gearbeitet hat und jetzt von ihrer
Familie genötigt wird, ihre Erfahrungen in einem Workshop
für Apple CEOs einzubringen, eine TV-Journalistin, die in
der Provinz Msiones recherchiert und auf junge russische
Migranten trifft, die sich als Stripper verkaufen. Mariano
Pensotti erzählt hier in unterschiedlichen Darstellungsmitteln:
Die Lehrerin, ihre Kollegen, ihr Mann werden von
Puppen gespielt, die in einem Theater die zweite Episode
der europäischen Aktivistin und ihrer Familie sehen, an
deren Ende die Familie ins Kino geht und den Film über
die in Missiones recherchierenden TV-Journalistin sehen.
ICH HABE EINE
OBSESSION, MICH MIT
DER IDENTITÄT MEINER
GENERATION ZU
BESCHÄFTIGEN, MIT DER
KOMPLEXEN BEZIEHUNG
ZU UNSEREN ELTERN.
Das Rekonstruieren und Wiedererzählen einer Geschichte
aus der Distanz und die Perspektiven anderer ist ein
Movens in der Erzählhaltung dieses Künstlers, der immer
unterschiedliche Blickpunkte und immer die zweite Erzählstimme
schafft.
In dem großen Projekt Diamante, das er für die Ruhrtriennale
2018 in der Kraftzentrale kreierte, gingen die
Zuschauer:innen in der Geschichte vom Rise and Fall
einer Privatstadt herum und konnten die Gedanken der
Menschen, das, was gerade nicht gesagt wurde, über den
Häusern oder Fenstern lesen.
Ganz dem Blick der Zuschauer hat er ein nächstes Projekt
(2020) gewidmet. Es ist ein Film, der El Público heißt.
Man sieht einen vollen Theatersaal im Moment des Applauses,
dann sieht man ein Publikum den Saal verlassen,
auf die Straße treten. Nun folgt der Film verschiedenen
Menschen, die am selben Abend oder am nächsten Tag in
unterschiedlichen Situationen, bei der Arbeit oder privat,
von dem Theaterabend erzählen, sodass am Schluss des
Films sich die Geschichte, die auf der Bühne gespielt
wurde, zusammengesetzt hat.
Gleichzeitig entsteht über das Kaleidoskop der Menschen
und Situationen ein Porträt der Stadt Buenos Aires.
Mariano Pensotti hat einen entsprechenden Film in Athen
gedreht und vor kurzem auch in Brüssel. Die Filme aus
Buenos Aires und Athen hätten neben Los Años bei der
letzten Ruhrtriennale gezeigt werden sollen, was durch
die alternativlose Absage leider nicht stattfinden durfte.
Die Filme entstanden, als es Corona noch nicht gab. Jetzt
erscheinen die Aufhebung des unmittelbaren gemeinsamen
Erlebens und die Rezeption durch die nachträgliche
Erzählung Einzelner wie eine Antwort auf ein Jahr Pandemie.
Vor zwei Jahren hat Mariano Pensotti einen Ausflug ins
Musiktheater gemacht und an der Opéra national du Rhin
in Straßburg die in Europa recht unbekannte Oper Beatrix
Cenci des zeitgenössischen argentinischen Komponisten
Alberto Ginastera inszeniert.
Wie hat der Geschichtenerzähler das Musiktheater empfunden?
»Ich bin, wenn ich Theater mache, gewohnt, dass ich die
Geschichten schreibe. Es ist immer eine Mischung aus
Schreiben und Inszenieren.
Ich befürchtete, dass mir das fehlen wird. Dann hat es mir
aber gefallen, dass ich mich mehr auf Visuelles konzentrieren
konnte, statt mir Sorgen um die Geschichte jeder
Figur zu machen. Ich konnte ganz andere Aspekte entdecken.«
Wenn die Pandemie es erlaubt, wie er sehr hofft, wird er
im Frühsommer im gleichen Opernhaus wieder eine Tragödie
von Macht und weiblicher Biografie inszenieren;
dieses Mal eine klassische: Puccinis Madame Butterfly.
In Los Años werden die beiden Lebenszeiten eines Mannes
mit der distanzierenden Perspektive und der Stimme seiner
Tochter erzählt.
Es scheint, dass weibliche Perspektiven in den letzten
Jahren stärker in den Fokus von Pensottis Arbeiten rücken.
»Tatsächlich ist der Feminismus zurzeit die interessanteste
und stärkste Protestbewegung in Argentinien. Los
Años basiert auf dem Verhältnis zwischen Vergangenheit
und Zukunft. Das hat mich immer interessiert. Früher hat
mich beschäftigt, welche Rolle im Leben ich im Verhältnis
zu den Eltern spielen könnte. Inzwischen bin ich Vater von
zwei Töchtern und es beschäftigt mich: Was ist meine
Mission als ein Vater?«
STEFANIE CARP, Dramaturgin und Kuratorin, verantwortete von
2018–2020 das Programm der Ruhrtriennale. Die Ausgabe
2020 konnte nicht stattfinden: Die Coronapandemie war
ausgebrochen. Vier der von ihr und ihrem künstlerischen
Team programmierten Produktionen werden nun in diesem
Jahr zu sehen sein, so auch die Uraufführung von Mariano
Pensottis Los Años / Die Jahre – eine Koproduktion mit
den Münchner Kammerspielen.
Foto: Carlos Furman
207
DAS HÖRENDE
GESICHT
JUDITH GERSTENBERG IM GESPRÄCH
MIT MATS STAUB
21 — ERINNERUNGEN ANS ERWACHSENWERDEN (VOLLSTÄNDIGE EDITION)
Installation 15. August – 25. September 2021
Siehe S. 26 _______________ www.ruhr3.com/21
JETZT & JETZT
Partizipative Installation 17. August – 25. September 2021
Siehe S. 28 _______________ www.ruhr3.com/jetzt
208
Lieber Mats, seit vielen Jahren verfolgst du eine künstlerische
Arbeit am Gedächtnis.
Du versammelst Lebenszeugnisse ganz unterschiedlicher
Personen, hältst sie auf verschiedenen Speichermedien
fest, überführst sie in ein Archiv, das über die Jahre
wächst, inszenierst sie im Raum. Was genau treibt dich
an? Geht es dir um das, was du dem Vergessen entreißt,
oder um den Prozess des Erinnerns?
Es geht mir nicht so sehr um das Bewahren. Ich mag
den Vorgang, der sich in dem Wort Er-innern verbirgt,
einen ins Innere führenden Weg, die Beschäftigung
mit sich, seiner inneren Welt. Ich hatte mich zu Beginn
meiner künstlerischen Arbeit gegen den Begriff
der »oral history« abgegrenzt, da ich kein Historiker bin
und mein Interesse weniger der Vergangenheit als der
Gegenwart gilt. Oder besser: Mich interessiert die Präsenz
der Vergangenheit: »Was macht etwas aus früherer
Zeit heute mit mir?«
Mich leitet etwas, das wir in der Schweiz »gwundrig«
nennen, eine Neugierde, die sich mit einem Wundern
verbindet und nicht – wie dieses Wort allzu schnell im
Hochdeutschen konnotiert ist – mit einem übergriffigen
Interesse. Die Fragestellungen meiner Arbeiten beziehen
sich auf universelle Themen – Liebe, Familie,
Geschlecht, Geburt, Tod, Zeit –, die jedoch alle ihren
Auslöser in meiner eigenen Lebensgeschichte haben.
Mich nimmt wunder, wie gehen andere mit diesen
Erfahrungen um?
Vielleicht darf ich da gleich einhaken: Wie hat alles angefangen?
Du hast zuvor als Journalist und Dramaturg gearbeitet.
Wann hast du dein Selbstverständnis als Künstler gefunden?
Eigentlich war mein großer Wunsch, Autor zu werden,
ich hatte aber das Gefühl, dafür erst meinen Weg finden
zu müssen. Ich begann zu studieren und habe bald
gemerkt, dass eine wissenschaftliche Karriere nichts
für mich ist. Das Schöne an der Universität ist, dass
sie einem den Raum und die Möglichkeit gibt, sich in
etwas zu vertiefen, aber die Zwänge des Apparats sind
schrecklich. Mit Journalismus hatte ich mein Studium
finanziert, schrieb Kritiken und wurde auch nicht froh.
Ich spürte, ich möchte nicht objektiv etwas beurteilen,
sondern mich ganz persönlich berühren lassen,
und ich möchte eigentlich auf die andere Seite. Ich
habe in jener Zeit für eher unwichtige Publikationen
auch Porträts über Menschen geschrieben, die
nicht berühmt waren, Nachtwächter, Hoteldirektoren,
Versicherungsmathematikerinnen. Da hatte ich mein
Aha-Erlebnis. Sie waren dankbar, dass man sich für sie
interessiert, dass man ihren Erzählungen, ihren Erfahrungsschätzen
Wert beimisst. Plötzlich sah ich: Da ist
das Leben, hier wird es spannend. Doch im Journalismus
hat man keine Zeit, und es gibt keinen Raum für
das scheinbar Unscheinbare. Also sah ich da auch keinen
Weg für mich. Ich ergriff die Chance, am Theater
Neumarkt in Zürich als Regie- und Dramaturgieassistent
anzufangen und durfte dort, zusammen mit
der Ausstattungsassistentin, im dritten Jahr etwas
Eigenes auf die Beine stellen. Natürlich waren die
Möglichkeiten für Anfänger limitiert: Der zur Verfügung
gestellte Raum war klein, und höchstens zwei Schauspieler,
hieß es, stünden zur Verfügung. Ich hatte vom
Archiv einer Sprachforscherin erfahren, das 5000
Liebesbriefe beherbergte. Nicht von berühmten
Schriftsteller:innen, sondern von Laien, die wegen der
Liebe zu faszinierenden Autor:innen geworden waren.
Mir war klar: Diese Texte brauchen eine Vielstimmigkeit,
und so haben wir nicht nur die beiden Schauspieler
besetzt, sondern die gesamte Belegschaft des Hauses
von den Schneider:innen über das Kassenpersonal bis
zu den Techniker:innen. Alle haben Briefe eingelesen,
wir speicherten sie auf Kassetten und errichteten in
dem kleinen Raum eine »Audio-Bar«, an der sich die
Zuschauer zum Glas Wein anhand eines kleinen Katalogs
und unserer Beratung mehrere Kassetten aus
der entstandenen Hörbibliothek ausleihen konnten,
um sie vor Ort zu hören. Die Leitung des Neumarkts
fand die Idee zwar sympathisch, war aber überzeugt,
dass diese in einem Theater nicht funktionieren könne.
Ich sah das anders, mich interessiert Theater vor allem
als Ort, an dem Menschen zusammen kommen und
sich für eine bestimmte Zeit auf eine gemeinsame
Erfahrung einlassen. Wir waren dann dauernd ausverkauft
und es war vollkommen beglückend, wie die
Besucher:innen reagiert haben.
Das Projekt 5000 Liebesbriefe hat dir dann auch gleich eine
Einladung zu den Wiener Festwochen gebracht, an denen
du das Projekt weitergeführt hast. Alle deine Arbeiten
sind Langzeitprojekte, die dich über viele Jahre begleiten.
War dies von vornherein geplant?
Inzwischen ist es geplant, da es mir entspricht, längere
Zeit an einem Thema zu arbeiten, und weil es
eine wunderbare Art des Reisens ist, an neuen Orten
209
Geschichten zu sammeln – aber damals ist es aus
meinen Lebensumständen entstanden: Nach der Zeit
am Neumarkt habe ich fast zwei Jahre in St. Petersburg
gelebt und dort eine russische Version des Projekts erarbeitet,
und dann klappte es mit den Festwochen und
wir haben in ganz Österreich Liebesbriefe per Inserat
gesucht und über 3000 erhalten. Den Begriff Langzeitprojekt
habe ich zuerst von Marie Zimmermann
gehört, die damals Schauspieldirektorin der Wiener
Festwochen war und ab 2008 die Ruhrtriennale leiten
sollte. Sie hat angeregt, dass ich mein Langzeitprojekt
um Liebesbriefe aus dem Ruhrgebiet erweitern könne.
Dazu ist es aufgrund ihres Todes nicht gekommen,
aber ich habe das Prinzip des lokalen Weiterwachsens
dann auf nächste Arbeiten übertragen und nun führt
mein Weg mit einem anderen Langzeitprojekt dreizehn
Jahre später doch noch an die Ruhrtriennale.
Für das Liebesbriefprojekt hast du bereits bestehendes
Material eingesammelt. In deinen folgenden Arbeiten dagegen
greifst du in das Leben der Beteiligten ein, indem
du sie um Erinnerungen bittest, die nicht pfannenfertig in
ihrem Gedächtnis abrufbar sind. Du beobachtest die Befragten
dabei, wie sie sich selbst befragen und was dabei
in ihren Gesichtern passiert. Da gibt es zum Beispiel dein
schönes Projekt Feiertage – eine Spielanordnung, in der
die Teilnehmenden jeweils nur mit einer Zahl antworten
dürfen auf Fragen wie z. B. »In wie viele Menschen hast du
dich verliebt?« oder »Wie viele Freunde hast du, auf die du
dich verlassen kannst?« Es ist unglaublich, den Menschen
dabei zuzuschauen, wie sie innerlich beginnen zu zählen,
manche brauchen viele Minuten, andere keine Sekunde.
Da ist beispielsweise diese ergraute Dame, die auf die
Frage nach ihren Lieben ohne zu zögern »Zwei« antwortet.
Du siehst das Blitzen in ihren Augen und ahnst das Drama
ihres Lebens. Oder der Mann mittleren Alters, der offenbar
immer wieder neu ansetzt zu zählen, da er nicht weiß,
wen er alles in die Antwort hineinrechnen darf. Diese einfache
Anordnung erzählt so viel über diese Menschen.
Sie erzählt aber auch viel über dich, denn du denkst
dich ja in die Geschichte hinein, vervollständigst sie mit
deiner Imagination. Du erhältst keine weiteren Informationen
und beginnst dir diese Fragen selbst zu stellen.
Die Aufforderung, sich selbst diesen Fragen zu stellen, hat
ja fast etwas Therapeutisches.
Ich bevorzuge den Ausdruck »heilsam«. Es ist nicht
die Hauptintention meiner Arbeiten, aber sie können
einen heilsamen Aspekt haben. Was ich suche und
stiften möchte, sind bedeutsame Begegnungen und
gute Gespräche. Wir halten uns mit so viel Belanglosem
auf, dabei gäbe es so viel Wesentliches, das wir
teilen könnten. Um in der Chronologie zu bleiben: Auch
wenn in 5000 Liebesbriefe bereits vieles meiner späteren
Projekte angelegt ist, würde ich als den eigentlichen
Startpunkt meiner Arbeit, wie sie sich heute
fortsetzt, das Langzeitprojekt Meine Großeltern. Erinnerungsbüro
nennen. Mir ist erst fern der Heimat in St.
Petersburg bewusst geworden, dass ich von meinen
Großeltern väterlicherseits, die ich recht gut zu kennen
meinte, nur weniges, zu Anekdoten Geronnenes wusste,
und war darüber erschüttert. Ich begann in meinem
Bekanntenkreis zu fragen und stellte fest, dass nahezu
alle überrascht waren, wie wenig sie tatsächlich über
das Leben ihrer Großeltern wussten. Dabei entstanden
aber immer intensive Gespräche und diese waren dann
die Basis für das Projekt: Man konnte für eine Stunde
in mein »Erinnerungsbüro« kommen, im Sessel meiner
Großmutter Platz nehmen und mit mir im Dialog die
Erinnerungsfragmente an die eigenen Großeltern
zusammentragen. Die Teilnahme hat tatsächlich bei
vielen etwas in der Familienerzählung verändert, denn
sie führte zu Nachforschungen und weiteren Gesprächen
bei Familienzusammenkünften, ich erhielt Nachrichten
mit vielen Berichtigungen, die Dinge hätten
doch ganz anders gelegen als geglaubt.
Du thematisierst ja den Erinnerungsprozess als solchen,
seine Unzuverlässigkeit, sein Wesen als Konstrukt, um sich
eine kohärente Lebenserzählung zu schaffen, wie man sein
Ich formuliert, auch den Fortlauf der Zeit. Da du erwähntest,
deine Projekte hätten alle ihren Auslöser in deiner Biografie,
und du wissbegierig bist, wie andere mit ähnlichen
Erfahrungen umgehen: Bist du ein Leser von Biografien?
Selten. Ich misstraue den Lebenserzählungen berühmter
Menschen, denn die mussten sich ein offizielles Narrativ
bauen, um ihr Privatleben zu schützen, und das
klingt zwar virtuos, aber auch sehr abgeschliffen. Mich
interessiert gerade das Ungeschliffene, das erstmals
so Erzählte. Bei meinen Arbeiten gründet viel darauf,
dass ich die Teilnehmenden nicht kenne und sie beim
Erzählen ihrer Geschichte bei mir keine gewussten
Zusammenhänge voraussetzen können. Sie müssen
und dürfen sie mir vielmehr ganz detailliert erläutern,
z. B. im Projekt 21, in dem ich die Beteiligten nach dem
Jahr befrage, in dem sie 21-jährig waren, der einstigen
Schwelle zum Erwachsenwerden. Es ist wunderschön,
an ihren Gesichtern zu erkennen, wenn eine Erinnerung
auftaucht, die über Jahrzehnte unerzählt geblieben
war. Solche Beobachtungen wollte ich mit dem Publikum
teilen und deshalb habe ich eine Audiospur mit
einer filmischen Aufnahme verbunden. Während aber
die Prominenten Medienprofis sind und sich schützen
können, muss ich dies für die bei mir Beteiligten übernehmen.
Eine meiner zentralen Aufgaben besteht
darin, einen Raum zu schaffen, in dem sie geschützt
sind, damit sie sich öffnen können. Und eine Form der
Präsentation, die es möglich macht, Persönliches zu
zeigen, ohne entblößt zu sein.
Der Clou bei 21 besteht darin, dass die Aufnahmen der
Erinnerungen ans Erwachsenwerden, die ich als Zuschauer:in
sehe, diejenigen sind, in denen die Teilnehmer:innen
sich selber zuhören. Drei Monate nach dem Gespräch
hast du sie erneut eingeladen, um sich die von dir bearbeitete
Aufnahme anzuhören. Und es ist faszinierend zu
sehen, was sich in den Gesichtern abspielt, wie überprüft
und gewertet wird, wie überrascht oder auch gerührt sie
sind von sich selbst. Eigentlich ist es die Zeit selbst, die
die Protagonistin dieser Arbeit ist.
Ja, ich möchte in meinen Arbeiten Zeit sichtbar und
erlebbar machen.
210
Damit korrespondiert dein während der Ruhrtriennale
gezeigtes Projekt 21 auf schöne Weise mit dem Theaterstück
Los Años von Mariano Pensotti oder auch mit Mette
Ingvartsens Performance The Life Work. Ich empfinde
dich zudem als sehr sensiblen Porträtisten. Denn die geführten
Gespräche verdichtest du in einem aufwendigen
Verfahren. Aus einem gut einstündigen Gespräch bleiben
zehn Minuten übrig.
Im Sinne eines Porträtisten versuche ich das Wesen
eines Menschen herauszuschälen, so wie ich es
während des Gesprächs wahrgenommen habe. Der
Prozess dahin erfolgt tatsächlich in vielen einzelnen
Schritten. Die verbleibenden Minuten sind ein Konzentrat,
da gab es an die 150 Schnitte, die am Ende aber
nicht erkennbar sind.
Deine Arbeiten bilden ein wachsendes Archiv kollektiver
Erinnerungen und fügen sich in ein Lebenswerk, das im
Gegenschuss ein Porträt von dir zeichnet, deine Weise,
das Leben und die Welt zu betrachten. Wo führt es uns
noch hin?
Es gibt keinen Masterplan. Ein Projekt wächst aus dem
vorigen, was an der Ruhrtriennale 2021 sehr direkt zu
erleben ist, während der im vorderen Teil der Turbinenhalle
21 erstmals als vollständige Edition präsentiert
wird und ich zugleich im hinteren Teil meine neueste
Arbeit Jetzt & Jetzt beginne, die auf dem Moment der
Begegnung mit sich selbst aufbaut. Die meisten meiner
Projekte sind offen angelegt, auch für Richtungen,
die ich nicht vorhersehen kann. Bei 21 hatte ich die
klare Vision, für jedes Jahr von 1939 bis in die Gegenwart
ein bewegtes Gesicht einzufangen. Aber kaum
hatte ich zu einem Jahr ein zweites Gespräch geführt,
war mir klar, dass es noch viel stärker ist, wenn ein
Jahr aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Ursprünglich
hatte ich nur das Porträt eines »Deutschen
Jahrhunderts« im Sinn. Ich hatte es 2012 in Frankfurt
begonnen und Menschen vor der Kamera sitzen, die
während der Bombardierung oder in der Zeit der RAF
21-jährig waren. Es folgte dann aber eine Residenz in
Belgrad, und dort habe ich es probehalber fortgeführt
mit Menschen, die alle dankbar waren, dass endlich
jemand sie nicht nur auf den Krieg reduziert, sondern
nach ihrem Leben fragt. Diese Erfahrung ermutigte
mich, das Verfahren von 21 auch in Südafrika zu erproben.
Erst darüber hat sich dann eine Tür zu vielen
weiteren Orten der Welt geöffnet und damit hat sich
das Langzeitprojekt auf ungeplante Art erweitert.
Allerdings waren dabei elf Jahrgänge ohne Erzählung
geblieben und nach diesen haben wir nun im Ruhrgebiet
gezielt gesucht und mitunter noch eine hundertjährige
Teilnehmerin gefunden, die von 1942 erzählen
konnte, sodass sich die ursprüngliche Vision nun nach
zehn Jahren tatsächlich erfüllt – und es ist auch das
allererste Mal, dass das Projekt in seiner wahren Größe
gezeigt werden kann …
…als lebendiger Fries in der Turbinenhalle in Bochum.
Ja, wo ich die Zeit in den Raum übersetzen kann. Die
Erfahrung dieses Projektes als Rauminstallation ist
mir ganz wichtig. Sie fordert Hinwendung und Zeit. Du
kannst dich durch Fortbewegung frei entscheiden, ob
du in die 40er-Jahre steigst oder in die Jahrtausendwende.
Du kannst aussuchen, welches Porträt du sehen
möchtest, aber es gibt keinen Vorspulknopf.
EINE MEINER
ZENTRALEN AUFGABEN
BESTEHT DARIN,
EINE FORM DER
PRÄSENTATION
ZU SCHAFFEN, DIE ES
MÖGLICH MACHT,
PERSÖNLICHES ZU
ZEIGEN, OHNE
ENTBLÖSST ZU SEIN.
Deine Arbeit wurde einmal als »künstlerische Anthropologie«
bezeichnet, »wie sie die Wissenschaft nicht leisten
kann«. Du bist ja nicht nur Sammler, Zuhörer, Porträtist,
sondern schälst heraus und inszenierst versteckte Zusammenhänge,
Verweise auf Kollektives, Gesellschaftliches.
Ist das Aufspüren dieser Verbindungen der Grund,
warum du nahezu alle Schritte alleine machen musst?
Ich habe viele großartige Mitstreiter:innen, aber das
Material muss alles durch meinen Kopf, ja. Ich kann den
Schnitt nicht an andere abgeben, da ich genau nach
diesen von dir benannten Gemeinsamkeiten suche
und dafür die Gespräche in- und auswendig kennen
muss, um sie herausdestillieren zu können. Nur in
Südafrika, in Spanien und im Kongo musste ich etwas
anders vorgehen. Ich lernte Mitarbeiter:innen vor Ort
an, die Interviews zu führen, und war als betreuender
Techniker dabei, habe allenfalls am Ende noch ein paar
Nachfragen gestellt und war dann eben beim Schnitt
involviert. Dies ermöglichte, dass die Teilnehmenden
nicht einem privilegierten Ausländer ihre Lebensumstände
zu erklären brauchten.
Du sagtest mal, du hättest zwei Sorten von Projekten. Die
langjährigen, tiefschürfenden wie Meine Großeltern, 21
oder Death and Birth in My Life (in letzterem stiftest du
Gespräche zwischen zwei Fremden über ihre Erfahrungen
mit Tod und Geburt) und kürzere, spielerische wie Feiertage,
Mein anderes Leben. Wo situierst du Jetzt & Jetzt,
das du nun beginnst und für die Ruhrtriennale 2023 entwickelst?
Dazwischen. Der erste Impuls für Jetzt & Jetzt kam mir
auf einem Spaziergang nach der Vernissage meiner
Werkschau am Centre culturel suisse in Paris 2019.
211
Nach so viel Rückschau hatte ich das geradezu körperliche
Bedürfnis, den Blick von der Vergangenheit
abzuwenden und in die unmittelbare Gegenwart und
in die nahe Zukunft zu richten. Daraus ist einerseits
ein filmisches Spiel mit dem eigenen Spiegelbild entstanden,
zu dem nun hundert Menschen aus dem
Ruhrgebiet eingeladen sind; andererseits kehre ich mit
dieser Arbeit zur Briefform zurück und knüpfe an das
Liebesbriefprojekt an. Alle Teilnehmer:innen werden
in diesem Sommer einen Brief an ihr zukünftiges Ich
schreiben – ich werde diese Briefe aufbewahren und
2023 den Beteiligten zurückgeben und dann werden
sie nochmals einen Brief schreiben und ihrem vergangenen
Ich erklären, was seither vorgefallen ist.
Aus diesen Briefen soll ein Buch entstehen und da wir
nun für jedes Lebensjahr von 8- bis 80-jährig eine:n
Teilnehmer:in suchen, wird sich auch eine Spirale von
21 weiterdrehen. Die Verwandlung, die der Mensch in
seinem Leben durchläuft – das bleibt eigentlich mein
Herzensthema.
Zum Schluss soll nicht unerwähnt bleiben, dass du derzeit
genau das tust, was dich einst in die Kunst getrieben hat:
Du schreibst an einem Buch. Wie kam es dazu?
Ich habe auf meine Rolle zurückgeblickt als Gesprächsstifter
und Zuhörender, der sich selbst am
Ende immer zum Verschwinden bringt: In allen Interviews
schneide ich meine Stimme heraus. Ich habe gedacht,
dass es an der Zeit sein könnte, selbst einmal
hervorzutreten mit einem Teil meiner Geschichte –
und der meiner Großeltern väterlicherseits. Die Liebesgeschichte
dieser Großeltern war für mich immer ein
Faszinosum. Sie, Professorentochter, er, Bauerssohn,
ein unmögliches Paar in der Schweiz der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Sie lernten sich 1928 in Tansania
auf einer deutschen Missionsstation kennen. Im März
2020 hatte ich mein jahrelang aufgeschobenes Vorhaben
endlich umgesetzt und besuchte den Ort ihres
Kennenlernens. Dort stieß ich zu meiner Überraschung
auf ein Archiv und auf viel mehr Spuren, als ich das je
für möglich gehalten hätte. Kurz danach wurde meine
Reise durch die Pandemie jäh unterbrochen, ich musste
das Land verlassen und konnte dann meinen Beruf,
der ja auf das Reisen angewiesen ist, nicht mehr richtig
ausüben. Anstatt all den schönen Einladungen auf
Festivals in Avignon, Adelaide, Makhanda, Milano und
Moskau folgen zu können, saß ich in meiner Berliner
Wohnung fest. Dafür sah ich die Zeit gekommen, im
Netz und in Büchern nach weiteren Spuren zu suchen
und darüber zu schreiben und so meine ›Verabredung
in der Vergangenheit‹, wie es W. G. Sebald einmal formulierte,
wahrzunehmen. Das ist aber noch nicht abgeschlossen,
ich brauche für alles, was ich von Herzen
tue, viel Zeit.
MICH INTERESSIERT
DIE PRÄSENZ DER
VERGANGENHEIT IN DER
GEGENWART.
MATS STAUB, 1972 in Muri bei Bern, Schweiz, geboren, Künstler und Reisender für Erinnerungen.
Er gehört zum Programmteam der Ruhrtriennale 2021–2023, zu deren künstlerischer
Leitung auch die Dramaturgin JUDITH GERSTENBERG gehört. Als immer wiederkehrende
Besucherin ist sie seit den Anfängen mit Mats Staubs Arbeit vertraut.
Foto: Tanja Dorendorf T+T Fotografie
212
213SERVICE
SPIELSTÄTTEN / VENUES
Jahrhunderthalle
Bochum
Die Geschichte der Jahrhunderthalle Bochum beginnt im Jahr 1902, als
die Halle dem Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation
auf einer Industrie- und Gewerbeschau in Düsseldorf, der sogenannten
»kleinen Weltausstellung«, als Ausstellungshalle diente. Über den Winter
1902/1903 wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die
Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als
Gaskraftzentrale auf. Die Gaskraftzentrale verarbeitete das in den Hochöfen
anfallende Gichtgas und versorgte über 60 Jahre lang das Werk und
umliegende Siedlungen mit Energie. 100 Jahre nach ihrer Errichtung in
Bochum – am 30. April 2003 – wurde die durch einen funktionalen Vorbau
erweiterte und nunmehr denkmalgeschützte Jahrhunderthalle im
Rahmen der Eröffnung der zweiten Saison der Ruhrtriennale ihrer neuen
Bestimmung als »Montagehalle für die Kunst« (Gerard Mortier) übergeben.
A monumental steel construction was erected at the heart of the cast
steel company Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation in
1903. For more than 60 years, the impressive hall, the so-called Gas Power
Centre, supplied the plant and the urban settlements with energy. In 2003
– 100 years after its completion – the Jahrhunderthalle was embarked
upon its new destiny as a central festival theatre of the Ruhrtriennale and
as an »assembly hall for art« (Gerard Mortier).
An der Jahrhunderthalle 1
44793 Bochum
ruhr3.com/jahrhunderthalle
Nahverkehr / Public Transport
Straßenbahn 302, 305 oder 310 bis
Bochumer Verein / Jahrhunderthalle
Ca. 5-minütiger Fußweg: über die
Freitreppe neben dem Jahrhunderthaus
hinauf und dem befestigten Weg folgen
Tram 302, 305 or 310 to Bochumer
Verein / Jahrhunderthalle
Please follow the path up the stairs next to
the Jahrhunderthaus for approx. 5 minutes.
Pkw / By Car
Für den nächstgelegenen Parkplatz bitte
»An der Jahrhunderthalle 1« oder »Gahlensche
Straße 15« ins Navigationsgerät
eingeben.
Please enter »An der Jahrhunderthalle 1«
or »Gahlensche Straße 15« into the navigation
system for the car park.
Kraftzentrale und Gebläsehalle
Duisburg
Das Stahlwerk im Duisburger Norden wurde 1902 von August Thyssen
als Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb gegründet. Bis zum Jahr 1908
wurden fünf Hochöfen in Betrieb genommen. Außer dem Hüttenwerk gab
es auf dem 200 Hektar großen Gelände noch eine Schachtanlage, eine
Sinterei, eine Kokerei und eine Gießerei.
Die Kraftzentrale entstand zwischen 1906 und 1911, als das Hüttenwerk
von drei auf fünf Öfen erweitert wurde. Im Jahr 1965 hat man die Maschinen
zur Stromerzeugung stillgelegt und anschließend verschrottet; 1997
schließlich konnte die Kraftzentrale als multifunktionaler Veranstaltungsort
eröffnet werden. Die Gebläsehalle ist Teil des Dampfgebläsehauses,
einem Gebäudekomplex aus der Gründungsphase des Werkes. Noch
heute befinden sich hier vier Elektroturbogebläse, mit denen Hochofenwind
erzeugt wurde, der zur Erschmelzung des Roheisens notwendig war.
The Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb was founded by August Thyssen
in the north of Duisburg in 1902. The 200-hectare site was home to five
blast furnaces as well as a pit, a sintering plant, a coking plant and a
foundry. The restored Kraftzentrale and Gebläsehalle have been and
reused for cultural events since 1997.
Landschaftspark Duisburg-Nord
Emscherstraße 71
47137 Duisburg-Meiderich
ruhr3.com/landschaftspark
Nahverkehr / Public Transport
Straßenbahn 903 bis Landschaftspark-
Nord
Tram 903 to Landschaftspark-Nord
Pkw / By Car
Bitte wählen Sie im Navigationsgerät die
Emscherstraße in Duisburg-Meiderich
bzw. Hamborn. Der Besucher:innenparkplatz
befindet sich unmittelbar gegenüber
dem Haupteingang zum Landschaftspark.
Please select Emscherstraße in Duisburg-
Meiderich or Hamborn in the navigation
system. The car park is located directly
opposite the main entrance to the Landschaftspark.
214
Ehemaliges AllbauHaus
Essen
Nach Ende des Ersten Weltkriegs reagierte der Staat auf das rasante
Bevölkerungswachstum in den Industriezentren des Landes und vergab
mit dem preußischen Wohnungsgesetz Fördergelder für gemeinnützigen
Wohnungsbau. Als Folge entstanden in Deutschland neue Wohnungsbauunternehmen.
1919 wurde auch die Allgemeine Bauverein AG in Essen
gegründet, die mit dem ehemaligen AllbauHaus am Pferdemarkt ein
Gebäude mit einer vielseitigen Geschichte errichten sollte. 1928 erbaut,
repräsentiert das multifunktionale Geschäfts- und Bürohaus nach Plänen
des Essener Architekten Ernst Knoblauch einen für die Zeit modernen,
rationalen und sachlichen Bautyp. Nachdem es den Zweiten Weltkrieg
fast unbeschadet überstanden hat, steht es heute, nach diversen
Umnutzungen, unter Denkmalschutz. Während der Ruhrtriennale 2021
wird der US-amerikanische Künstler Asad Raza hier seine großformatige
Installation Absorption zeigen.
1919 saw the founding of Allgemeine Bauverein AG in Essen, which was to
construct the former AllbauHaus on Pferdemarkt, a building with a varied
history. Built in 1928, the multifunctional commercial and office building
designed by Essen architect Ernst Knoblauch represented a modern,
rational and businesslike building type for its time. After surviving the
Second World War almost unscathed, it is now listed under monument
protection.
Pferdemarkt 5–7
45127 Essen
ruhr3.com/allbauhaus
Nahverkehr / Public Transport
Straßenbahn 107 oder 108 bis Viehofer
Platz
Tram 107 or 108 to Viehofer Platz
Pkw / By Car
Im Umfeld gibt es verschiedene Parkhäuser
u. a. das Parkhaus am Viehofer Platz.
There are various car parks nearby,
including the Viehofer Platz car park.
Salzlager Welterbe Zollverein
Essen
Mit einer Förderleistung von mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle täglich
war die Zeche Zollverein einst die leistungsfähigste Zeche der Welt. Die
Zentralschachtanlage XII, von 1928–1932 nach Plänen von Fritz Schupp
und Martin Kremmer gebaut, gilt als technisches und ästhetisches
Meisterwerk der Moderne. Im Jahr 2001 wurde das Areal offiziell als Industriekomplex
Zeche Zollverein in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.
Die Kokerei Zollverein entstand 1957–1961 in Anbindung an
die Zeche Zollverein. Aus rund 10.000 Tonnen Kohle konnten hier täglich
circa 7.500 Tonnen Koks gewonnen werden.
Auf diesem Areal liegt das Salzlager, in dem bis in die 1980er Jahre Dünger
hergestellt wurde – gewonnen aus Ammoniak und Schwefelsäure. Heute
befindet sich hier die begehbare Rauminstallation Palast der Projekte der
Künstler Ilya und Emilia Kabakov.
The coke oven Kokerei Zollverein was built from 1957 to 1961 in cooperation
with the coal mine Zollverein.
Located on the site today is the Salzlager (salt warehouse). Up until the
1980s, this place was used for producing a fertiliser made from ammonia
and sulphuric acid. Today, it houses the walk-in installation Palast der Projekte
by artists Ilya and Emilia Kabakov. Since 2001, the Zollverein industrial
complex, including the coke oven and the coal mine, has been part of
the UNESCO World Heritage List.
UNSECO-Welterbe Zollverein, Areal C
Arendahls Wiese / Ecke Fritz-Schupp-
Allee, 45141 Essen
ruhr3.com/zollverein
Nahverkehr / Public Transport
Straßenbahn 107 bis Kapitelwiese oder
Essen Zollverein Nord Bf. Alternativ:
Regionalbahn 32 bis Essen Zollverein
Nord, ca. 15 Minuten Fußweg
Tram 107 to Kapitelwiese or Essen
Zoll verein Nord Bf. Alternatively:
train RB 32 to Essen Zollverein Nord,
approx. 15 minutes’ walk
Pkw / By Car
Kostenfreie Parkplätze befinden sich
im Areal C (Kokerei), Parkplatz C.
Free parking is available in Areal C
(Kokerei), car park C.
215
Museum Folkwang
Essen
Das Museum Folkwang wurde 1902 von Karl Ernst Osthaus in Hagen
gegründet. Nach dem Tod des Museumsgründers im Jahre 1921 wurde
die Sammlung Osthaus vom neu gegründeten Folkwang-Museumsverein
für die Stadt Essen erworben und 1922 mit dem seit 1906 bestehenden
Städtischen Kunstmuseum zum Museum Folkwang vereinigt. In kürzester
Zeit entwickelte es sich zu einem der wegweisenden Museen für Moderne
Kunst weltweit, mit herausragenden Sammlungen der Kunst des 19.
Jahrhunderts, der klassischen Moderne, Malerei nach 1945, Fotografie
und Plakat. Eine Besonderheit ist die Sammlung von Werken alter und
außereuropäischer Kunst. Sammeltätigkeit und Ausstellungsprogramm
des Museum Folkwang umfassen alle künstlerischen Medien und führen
die wichtigsten Vertreter:innen der Kunstwelt in die Metropole Ruhr. Im
Jahr 2010 eröffnete das Museum einen von David Chipperfield Architects
entworfenen Neubau.
The Museum Folkwang was founded in 1902 by Karl Ernst Osthaus in
Hagen. After his death in 1921, the Osthaus Collection was acquired by
the newly founded Folkwang-Museumsverein for the city of Essen, and
in 1922 it was merged with the Municipal Art Museum, which had existed
since 1906, to form the Museum Folkwang. The Museum Folkwang soon
developed into one of the most important museums of modern and contemporary
art in the world, with an outstanding collection of 19th-century
art and classic modernism, painting after 1945, photography and posters.
Another distinctive feature is its collection of ancient and non-European
art. The collection activity and exhibition programme of the Museum Folkwang
includes all artistic media, bringing their most important exponents
from the art world to Essen, Germany. A new building by David Chipperfield
Architects opened in 2010.
Museumsplatz 1
45128 Essen
ruhr3.com/folkwang
Nahverkehr / Public Transport
U-Bahn U11 oder Straßenbahn 107 bis
Rüttenscheider Stern
Underground U11 or Tram 107 to
Rüttenscheider Stern
Pkw / By Car
Bitte »Bismarckstraße 60« ins Navigationsgerät
eingeben. Parkplätze befinden sich
in der Tiefgarage des Museums.
Please enter »Bismarckstraße 60« into the
navigation system. Parking is available in
the underground garage of the museum.
PACT Zollverein
Essen
Mit der 1907 fertiggestellten Waschkaue der größten Zeche des Ruhrgebietes
wurde Schacht 1/2/8 zum Dreh- und Angelpunkt der Bergleute
der Zeche Zollverein. Die Kaue ist ein Umkleideraum mit Duschen, ausgelegt
für 3.000 Bergleute. In der Weißkaue legten die Bergleute ihre
Straßenkleidung und in der Schwarzkaue ihre Arbeitskleidung in Körben
ab, die sie dann unter die Decke zogen. Im Jahr 1964 modernisiert, war
die Kaue bis zur Einstellung der Kohleförderung 1986 in Betrieb. Anfang
der 1990er Jahre entdeckten Choreograph:innen der Region die Kaue als
Aufführungsort für den Tanz. In den Folgejahren wurde die Verwandlung
in ein Haus für den zeitgenössischen Tanz auf Zollverein vorangetrieben,
die Anfang 2002 im Zusammenschluss des Choreographischen Zentrums
NRW und der Tanzlandschaft Ruhr zu PACT Zollverein ihren vorläufigen
Höhepunkt und Abschluss fand.
Upon completion of the coop of the biggest coal mine in the Ruhr area,
the mining shaft or Schacht 1/2/8 became the centre and pivotal point of
events for miners of the Coal Mine Industrial Complex or Zollverein. The
coop was a dressing and washing room with a capacity for up to 3,000
miners. The so-called white coop was where the miners left their street
clothes and put them in baskets, whereas the black coop was used for
work clothes; the baskets were subsequently pulled towards the ceiling.
The coop was modernised in 1964 and remained in operation until coal
mining was altogether stopped in 1986.
Welterbe Zollverein, Areal B
Bullmannaue 20a, 45327 Essen
ruhr3.com/pact
Nahverkehr / Public Transport
Straßenbahn 107 bis Abzweig Katernberg
Alternativ: Regionalbahn RB 32 bis Essen
Zollverein Nord
Tram 107 to Abzweig Katernberg
Alternatively: train RB 32 to Essen
Zollverein Nord
Pkw / By Car
Bitte nutzen Sie den Parkplatz
B, Zufahrt über die Bullmannaue.
Please use car park B, access
via Bullmannaue.
216
Maschinenhalle Zweckel
Gladbeck
Die imposante Maschinenhalle der einstigen Zeche Zweckel in Gladbeck
wurde 1909 errichtet. Das Gebäude bildete die »elektrische Centrale« der
Zeche und beherbergte Kompressoren, Generatoren und Umformer zur
Erzeugung von Druckluft und elektrischer Energie. Die Zechengebäude
sowie die Schornsteine und Kühltürme sind verschwunden, lediglich die
stählernen Fördergerüste von 1911/1912, die über die Halle hinausragen,
verweisen unmittelbar auf die Zeit des Bergbaus. Wie groß die Wertschätzung
der Maschinenhalle war, lässt die repräsentative Innenausstattung
noch heute erahnen.
The impressive machine shop or Maschinenhalle of the former coal mine
Zweckel in Gladbeck was built in 1909. It served as the coal mine’s electrical
centre and contained compressors, generators and converters to
produce compressed air and electrical energy. The high esteem in which
the machinery was held is reflected in the representative decoration of
the interior.
Frentroper Straße 74
45966 Gladbeck
www.ruhr3.com/zweckel
Nahverkehr / Public Transport
Bus 188 von Gladbeck West Bf bis
Maschinenhalle Zweckel
Bus 188 from Gladbeck West Bf to
Maschinenhalle Zweckel
Shuttle Service
Ein kostenloser Shuttle-Service verkehrt
von Essen Hbf zur Maschinenhalle
Zweckel in Gladbeck und zurück. Weitere
Informationen und Buchungsmöglichkeiten
finden Sie online unter
www.ruhr3.com/shuttle
A free shuttle runs from Essen main
station to the Maschinenhalle Zweckel in
Gladbeck and back. For further information
and booking please visit
www.ruhr3.com/shuttle
Pkw / By Car
Die Zufahrt zum Besucher:innenparkplatz
befindet sich unmittelbar am Eingang des
Geländes.
The car park is located directly at the
entrance of the site.
CORONA INFORMATION
Die Rahmenbedingungen für die Planung der Ruhrtriennale
2021 verändern sich aufgrund der andauernden Corona-Pandemie
stetig. Um dieser Situation zu begegnen,
planen wir das Festival mit umfassenden Schutzmaßnahmen
und in verschiedenen Varianten. Die Gesundheit
des Publikums, der Künstler:innen und aller Mitwirkenden
steht dabei immer an erster Stelle. Daher wurde ein umfassendes
Hygiene- und Infektionsschutzkonzept in enger
Abstimmung mit den zuständigen Behörden und unter
Hinzuziehung von Expert:innen im Bereich Medizin, Hygiene
und Belüftungstechnik erarbeitet.
Bitte informieren Sie sich vor Ihrem Besuch der Ruhrtriennale
auf unserer Website über die aktuell geltenden
Bestimmungen. Auch über unseren Newsletter und die
Social Media-Kanäle werden Sie regelmäßig Updates zu
den geltenden Bestimmungen erhalten. Wenn Sie darüber
hinaus Fragen haben sollten, schicken Sie uns eine E-
Mail: corona@ruhrtriennale.de. Für den Fall, dass Veranstaltungen
aufgrund von Corona abgesagt werden
müssen, erstatten wir Ihnen selbstverständlich den Preis
für bereits gekaufte Karten. Über die genaue Abwicklung
werden wir Sie gegebenenfalls via E-Mail und auf unserer
Website informieren.
Tagesaktuelle Informationen unter www.ruhr3.com/corona
The framework within which we can plan the festival is
constantly changing due to the ongoing coronavirus pandemic.
In order to confront this situation, our planning for
the festival includes comprehensive safety precautions
and several different versions. The health of our audience,
our artists and all our staff is our topmost priority. Therefore,
a comprehensive hygiene and infection control concept
was developed in close coordination with the responsible
authorities and with the involvement of experts from
the fields of medicine, hygiene and ventilation technology.
Before your visit, please check the current rules on the
Ruhrtriennale website. Our newsletter and social media
accounts will also carry regular updates on the rules that
apply. If you have any further questions, please send us an
email: corona@ruhrtriennale.de. In the event of us having
to cancel any events due to coronavirus pandemic, we will
of course refund the price of any tickets you have already
purchased. Should this be necessary, precise details will
be provided by email and on our website.
Information will be updated regularly at ruhr3.com/corona
217
TICKETS
Hotline: +49 (0)221 280-210 / ruhrtriennale.de
Online
Sie haben die Wahl: Entweder drucken Sie Ihre Tickets
bequem zu Hause aus – in diesem Fall ist die Buchung
bis drei Stunden vor Beginn der Veranstaltung möglich.
Oder, wenn Sie die Tickets per Post erhalten möchten
(zzgl. 4,50 € Gebühr pro Sendung), ist eine Buchung bis
vier Tage vor der Veranstaltung möglich. Die Bezahlung
erfolgt per Kreditkarte oder Lastschrift.
Telefonisch
+49 (0)221 280-210
Mo–Fr 8–20 Uhr / Sa 9–18 Uhr / So 10–16 Uhr
Telefonische Beratung, Kartenbestellung und Versand
(zzgl. 4,50 € Gebühr pro Sendung).
Tageskasse / Allgemeine Vorverkaufsstellen
Karten erhalten Sie deutschlandweit an über 2.500 CTS
Eventim-Vorverkaufsstellen: eventim.de
Bitte erkundigen Sie sich telefonisch oder online über die
Erreichbarkeit und die Öffnungszeiten bei Ihrer Vorverkaufsstelle.
Abendkasse
Die Abendkassen öffnen eine Stunde vor Vorstellungsbeginn.
Unsere Tickethotline (s. o.) informiert Sie gerne vorab
über verfügbare Karten.
Allgemeine Geschäftsbedingungen
Die Allgemeinen Geschäftsbedinungen der Kultur Ruhr
können Sie unter folgendem Link finden ruhr3.com/agb
Hotline: +49 (0)221 280-210 / ruhrtriennale.de
Online
The choice is yours: either print out your tickets in the
comfort of your own home – in which case bookings can
be made up to three hours before the event begins. Or you
can receive your tickets by post (additional charge of 4.50
€ per delivery), – in which case booking is necessary up
to four days before the performance. Payment is by credit
card or direct debit.
By telephone
+49 (0)221 280-210
Mon.–Fri. 8 am–8 pm / Sat. 9 am–6 pm / Sun. 10 am–4 pm
Advice by telephone, ticket bookings and mailing of tickets
(additional charge of 4.50 € per delivery).
General booking offices
Tickets are available at more than 2,500 CTS Eventim
ticket agencies throughout Germany: eventim.de
Please enquire by telephone or online about availability
and opening hours at your local ticket office.
Box office at the festival
Box offices open one hour before the performance or event.
Information as to whether tickets will still be available from
the box office can be obtained from our ticket hotline.
Terms and conditions
For terms and conditions of Kultur Ruhr GmbH please see
ruhr3.com/agb
Ermäßigungen
Kinder / Schüler:innen / Studierende
(bis einschließlich 30 Jahre)
erhalten gegen Vorlage eines entsprechenden Nachweises
50 % Ermäßigung auf Karten im Vorverkauf und können
außerdem ab 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn Last-Minute
Tickets für 10 € erwerben (nach Verfügbarkeit). Diese
Ermäßigungen gelten auch für Bundesfreiwilligendienstleistende,
Auszubildende und Erwerbslose. Bei Einheitspreisen
kann es abweichende Ermäßigungen geben. Bitte
die Berechtigung beim Einlass bereithalten. Nicht mit dem
Frühbucher:innenrabatt kombinierbar.
Schulklassen
Klassen ab zehn Personen erhalten Karten für 5 € pro
Schüler:in für alle Veranstaltungen nach Verfügbarkeit.
Die Karten müssen mindestens sieben Werktage vor der
Veranstaltung gebucht werden: +49 (0)234 97483-418
jungetriennale@ruhrtriennale.de
Reduced Tickets
Children / School Students / Students
(up to the age of 30)
receive 50 % reduction and can buy last-minute tickets
for 10 € up to 30 minutes before the start of a performance
(according to availability and on presentation of
relevant I.D.). For unit prices, there may be different discounts.
Please retain proof of entitlement for entry. This
discount also applies to federal volunteers, apprentices
and unemployed people. Cannot be combined with early
booking discount.
School classes
Classes of 10 pupils or more may book tickets at a price
of 5 € per pupil. Tickets must be booked at least seven
working days in advance: +49 (0)234 97483-418
jungetriennale@ruhrtriennale.de
218
Extras
Kombiticket
Die Eintrittskarten gelten am Tag der Veranstaltung im gesamten
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) in allen Bussen
und Nahverkehrszügen (2. Klasse) für Hin- und Rückfahrt
zum bzw. vom Veranstaltungsort. Die Tickets gelten
am Besuchstag bis 3.00 Uhr des Folgetages. Die Tickets
sind nicht übertragbar.
RuhrKultur.Card
Mit der RuhrKultur.Card erhalten Sie jeweils einmal freien
Eintritt in den 21 teilnehmenden RuhrKunstMuseen und
je ein Vorstellungsticket zum halben Preis für die 11 Ruhr
Bühnen und fünf teilnehmenden Festivals. Die RuhrKultur.
Card kostet einmalig 45 € und ist u. a. online erhältlich.
Informationen und Buchung unter: ruhrkulturcard.de
RuhrKultur.Card-Inhaber:innen erhalten bei der Ruhrtriennale
einmalig 50 % Ermäßigung auf ein Vorstellungsticket
nach Wahl und Verfügbarkeit ab der 2. Preiskategorie.
Premieren sind von dieser Regelung ausgenommen. Einlösbar
über die Tickethotline, an Ihrer Vorverkaufsstelle
und an der Abendkasse.
Rollstuhlplätze
In fast allen Spielstätten stehen Rollstuhlplätze zur Verfügung.
Die Eintrittskarte für eine Begleitperson ist frei. Buchung
und weitere Informationen über die Tickethotline.
Extras
Combined ticket
The tickets are valid on the day of the event in the entire
Rhine-Ruhr transport network (VRR) on all buses and local
trains (2nd class) for the outward and return journeys to
and from the venue. The tickets are valid on the day of the
visit until 3.00 am the following day. The tickets are not
transferable.
RuhrKultur.Card
With the RuhrKultur.Card you receive onetime free entrance
to each of the 21 participating RuhrKunstMuseen
and one half-price performance ticket for each of the 11
RuhrBühnen as well as for the five participating festivals.
The RuhrKultur.Card costs 45 € and can be obtained online:
www.ruhrkulturcard.de
RuhrKultur.Card holders receive a 50 % discount on one
ticket of their choice in the 2nd price category (subject to
availability, premieres excluded). Redeemable via the ticket
hotline and at the box office.
Wheelchair accomodation
Wheelchair accommodation is available at almost all venues.
Admission is free for one accompanying person. For
booking and additional information, please call the ticket
hotline.
WIR SIND VIELE —
JEDE*R EINZELNE
VON UNS
*Die Kultur Ruhr GmbH ist Teil von Die Vielen NRW.
Nähere Informationen unter www.dievielen.de
219
REISEN ZUR RUHRTRIENNALE /
TRAVEL TO RUHRTRIENNALE
Gästen, die für ihren Aufenthalt während der Ruhrtriennale
ein Hotel buchen möchten, empfehlen wir eine Nacht in
einem der Ruhrtriennale-Partnerhotels. Die folgenden Hotels
bieten für Besucher:innen der Ruhrtriennale Zimmer zu exklusiven
Konditionen an. Halten Sie bei der Buchung bitte
Ihr Ruhrtriennale-Ticket oder Ihre Bestellbestätigung als
Nachweis bereit. Die Preise gelten ausschließlich für die
Tage, für die ein Ruhrtriennale-Ticket vorgewiesen werden
kann. Auf Wunsch kann der Aufenthalt zu den gleichen
Konditionen um eine weitere Nacht verlängert werden.
Buchen Sie bitte direkt über das gewünschte Hotel.
Alle Partnerhotels finden Sie unter
ruhrtriennale.de/de/partnerhotels
Kostenfreies Informationsmaterial rund um die Metropole
Ruhr, weitere Hotelangebote und Unterkünfte erhalten
Sie auch bei unserem Partner, der Ruhr Tourismus GmbH,
unter ruhr-tourismus.de
Info-Hotline: +49 (0)180 6181620
(0,20 € pro Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunkpreise
max. 0,60 € pro Anruf)
For non-local guests who need hotel accommodation during
their visit to the Ruhrtriennale, we offer the possibility
of spending the night in one of our selected partner hotels.
The following hotels offer rooms at an exclusive rate that
you only receive as a Ruhrtriennale visitor. The Ruhrtriennale
ticket or a proof of purchase need to be shown at the
time of booking. The special prices are valid only for days
on which a ticket can be presented. Additionally, it is possible
to book a room on the same terms for a further night
(without a ticket). Booking via the selected hotel.
You can find all partner hotels at
ruhrtriennale.de/en/partnerhotels
Free information about the Ruhr area as well as further
hotel deals and accommodation can be found
on the website of our partner, Ruhr Tourismus GmbH:
ruhr-tourismus.de/en
Hotline: +49 (0)180 6181620
(0.20 € per call from a German landline; mobile prices
max. 0.60 € per call)
220
RUHRTRIENNALE FREUNDESKREIS
& CLUB.RUHR
Der Freundeskreis ist näher dran!
Der Ruhrtriennale Freundeskreis versteht sich als Gemeinschaft
von Kunstbegeisterten, die sich aktiv in das
Festival einbringen und die Kulturlandschaft der Region
gemeinsam erleben möchten. Als Förderverein engagiert
sich der Freundeskreis für die Ruhrtriennale und ihre
Künstler:innen und fördert die Realisierung von ausgewählten
Festivalproduktionen.
Durch Kartenpatenschaften setzt sich der Verein dafür
ein, einem vielfältigen Publikum den Zugang zum Festival
zu ermöglichen. Ein weiteres zentrales Anliegen ist die
Vermittlung des Festivalprogramms an junge Menschen
und Studierende.
Freundeskreismitgliedern stehen verschiedene Fördermodelle
zur Auswahl:
Club.Ruhr: bis 35 Jahre, ab 20 € / Jahr
Freund:in, Einzelperson: ab 95 € / Jahr
Freund:in, Paare: ab 140 € / Jahr
Förder:in: ab 1.000 € / Jahr
Partner:in: ab 5.000 € / Jahr
Wir sagen Danke!
Wir bedanken uns bei allen Freund:innen der Ruhrtriennale
und insbesondere bei den Förder:innen des Jahres 2021,
Ingeborg El Dib, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula
Müller, N. N. und Andrea Steinle für ihr Engagement!
Genießen Sie Ihre Vorteile
Als Freund:in der Ruhrtriennale werden Sie Teil eines internationalen
Kunstfestivals und werfen einen Blick auch
hinter die Kulissen. Freundeskreis-Mitglieder erhalten das
exklusive Vorrecht, ihre Karten bereits eine Woche vor
Beginn des offiziellen Vorverkaufs zu erwerben. Außerdem
dürfen Sie sich auf die persönliche Vorstellung des
Festivalprogrammes durch die künstlerische Leitung bei
der jährlichen Mitgliederversammlung freuen.
The Association of Friends and Supporters gets you
closer!
The Association of Friends and Supporters of the Ruhrtriennale
considers itself a community of culture enthusiasts
who actively participate in the festival and experience the
region’s cultural landscape together. The members of the
association commit themselves to the Ruhrtriennale and
its artists and support the realisation of selected festival
productions. With the sponsorship of tickets the association
makes it possible for a diverse audience to get access
to the festival. Another central concern is to bring the festival
programme to a younger audience and students.
We say thank you!
Our thanks goes to all the friends of the Ruhrtriennale and
especially to the supporters of 2021, Ingeborg El Dib, Prof.
Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula Müller, N. N. und Andrea
Steinle for their commitment!
Enjoy your benefits
As a friend of the Ruhrtriennale you will be part of an international
festival of the arts and take a look behind the
scenes. Members have an exclusive right to buy tickets
a week before the official start of pre-sale. Additionally
you are invited, as part of the annual general meeting, to
an introduction to the festival programme by the artistic
director.
Club.Ruhr
Culture enthusiasts up to the age of 35 can choose membership
of the young society of friends: the members of
Club.Ruhr not only experience the Ruhrtriennale together
each year, but also meet out of festival season to explore
the region’s cultural institutions together.
Would you like to become a member? Further informa tion
and an application form can be found at:
www.ruhrtriennale-foerderverein.de
Club.Ruhr
Kunstbegeisterte Menschen bis 35 Jahre können sich für
eine Mitgliedschaft im jungen Freundeskreis entscheiden:
Der Club.Ruhr erlebt nicht nur die Ruhrtriennale jedes
Jahr gemeinsam, sondern trifft sich auch außerhalb des
Festivals, um gemeinsam die Kulturinstitutionen der Region
zu erkunden.
Möchten Sie Mitglied werden oder mehr erfahren? Weitere
Informationen und ein Antragsformular finden Sie unter:
www.ruhrtriennale-foerderverein.de
221
TEAM
Intendanz und Geschäftsführung /
Artistic Direction and General Management
Barbara Frey
Geschäftsführerin / General Management
Dr. Vera Battis-Reese
Assistent der Intendantin /
Assistant to the Artistic Director
Maximilian Brands
Mitarbeiterin der Geschäftsführung
und Sponsoring / Assistant to the
managing director and sponsoring
Stefanie Kusenberg
Justiziariat / Legal Adviser’s Department
Valentina Lori, Annika Trockel, Sandra Wilhelm
Controlling
Birgit Schuurman
Künstlerisches Betriebsbüro / Produktionsbüro /
Artistic Management / Production Office
Lisa Katharina Holzberg, Christiane Biallas,
Katharina Flick, Rebecca Heinzelmann,
Christine Kopietz, Carolin Lutz, Katharina Rückl,
Lea Theus, Karina Wozniak,
Technik und Ausstattung / Technical Department
Benjamin zur Heide, Mirko Bartoš, Frank Böhle,
Georg Bugiel, Marie Gäthke, Stefan Holtz, Georg Kolacki,
Stephan Kriegleder, Manfred Nücken, Veronika Obermeier,
Anne Prietzsch, Julia Reimann, Ioannis Siaminos, Hanno
Sons, Darko Šošić, Annika Stolz, Saskia Tappe, Daniel
Teusner, Erik Trupin, Holger Vollmert, Anke Wolter
Kostüm und Maske / Costumes and Make-up
Anna Dressendörfer, Christina Hillinger, Pia Norberg
Verwaltung / Administration Department
Uwe Peters, Vanessa Sán Roman Domínguez, Tanja Alstede,
Joanne Budzier, Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger,
Dominika Hourtz, Renate Ingenwerth, Alexandra Kühntoph,
Franz-Josef Lortz, Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel,
Annika Rötzel, Roland Sieberg, Julia Schmidt, Michael Turrek
Veranstaltungsorganisation / Event Organisation
Claudia Klein, Eileen Berger (in Elternzeit), Elisabeth
Hölscheidt, Tanja Martin, Sven Mesterjahn
Auszubildende / Trainees
Abdulrahman Alajati, Katharina Härtling, Lina Nole
Dramaturgie / Dramaturgy
Barbara Eckle, Judith Gerstenberg, Sara Abbasi,
Aljoscha Begrich, Johanna Danhauser, Mats Staub,
Frederieke Tambaur
Junge Triennale
Anne Britting, Timo Kemp, Olivia Marschalek
Internationaler Festivalcampus /
International Festival Campus
Philipp Schulte, Anna Raisich
Presse / Press
Angela Vucko, Jelena Jakobi (in Elternzeit),
Stefanie Matjeka, Anamaria Sumić
Marketing und Vertrieb / Marketing and Sales
Department
Franca Lohmann, Janna Dittmeyer, Daniel Eißing,
Fabio Gorchs
Grafikdesign / Graphic design
Moritz Kappen, Sophie Schäfer
Ticketing
Ulrike Graf, Anja Nole, Denise Oppenberg
222
DANK
Unser besonderer Dank gilt den Fördernden, Sponsor:innen
und Freund:innen der Ruhrtriennale. Ohne sie könnten wir
so ein ambitioniertes Programm nicht realisieren. Mit ihrer
Unterstützung ermöglichen sie uns die Freiheit, Ideen zu
verwirklichen und Ort für außergewöhnliche künstlerische
Produktionen und Erfahrungen zu sein.
Our special thanks goes to the supporters, sponsors and
partners of the Ruhrtriennale. Without them, we could
not realise such an ambitious programme. With their
support, they give us the freedom to realise ideas and
provide a place for extraordinary artistic productions and
experiences.
GESELLSCHAFTER UND ÖFFENTLICHE FÖRDER / ASSOCIATES AND PUBLIC SECTOR SUPPORTERS
PROJEKTFÖRDERUNG / PROJECT SUPPORTERS
RUHRTRIENNALE
FREUNDESKREIS
MEDIENPARTNERSCHAFTEN / MEDIA PARTNERS
KOOPERATIONSPARTNER:INNEN / CO-OPERATION PARTNERS
Bochum Marketing / Bogestra / Buchhandlung Proust / Kultur.Pott Ruhr / Museum Folkwang /
Publicity Werbung GmbH / RuhrBühnen / Ruhr Tourismus GmbH / Stiftung Zollverein / Ströer Media GmbH
223
Zehn X Freiheit
Premieren und Uraufführungen
in Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Moers, Mülheim, Oberhausen
Theaterwochenende am 30. und 31. Oktober 2021
In normalen Zeiten sind es die Theater, die mit ihren besten Aufführungen die Welt auf den
Kopf stellen. In den vergangenen Monaten war es die Pandemie und die Häuser waren
geschlossen. Jetzt öffnen die Theater wieder und das Publikum kehrt zurück. Deshalb schauen
die RuhrBühnen nun optimistisch nach vorn und feiern die Rückkehr des Publikums mit
einem gemeinsamen Theater-Projekt im Herbst. Unter dem Titel „Zehn X Freiheit“ präsentieren
sie ein Live-Event mit zehn Premieren an zwei Tagen – dabei ist geplant, dass das
Publikum je vier Premieren auswählt und besucht.
„Zehn X Freiheit“ arbeitet mit allen Mitteln der darstellenden Kunst und versammelt unterschiedliche
Aspekte und Perspektiven von „Freiheit“ in Form einer seriellen, diversen Erzählung.
Es geht um zehn künstlerische Positionen der beteiligten Theater. Der Titel signalisiert
Vielfalt in Einheit. Auch das ist es, was zum Ausdruck kommen soll: der künstlerische Reichtum
der Theaterregion Ruhr.
Die Premieren und Uraufführungen werden erstmals am Samstag, 30. 10. und Sonntag,
31. 10. 2021 in den jeweiligen Theatern zu sehen sein und sind mit einem Viererticket über
beide Tage kombinierbar. Der Ticketpreis beträgt 45,– (ermäßigt 30,–) Euro. Mehr Informationen
unter www.ruhrbuehnen.de.
Das Programm:
Schauspielhaus Bochum: Schande (Disgrace) // Theater Dortmund: Der Platz (UA) //
Theater Duisburg: Im Zeichen der Sterne (UA) // Schauspiel Essen: Arbeiterinnen /
Pracujące kobiety // PACT Zollverein: vorher / nachher (AT) // Musiktheater im Revier
Gelsenkirchen: ADAM & EVE // Schlosstheater Moers: Die Polizey // Ringlokschuppen
Ruhr: Standard (UA) // Theater an der Ruhr: Europa oder die Träume des Dritten
Reichs (UA) // Theater Oberhausen: Kohlenstaub und Bühnennebel (AT/UA)
Eine Veranstaltung des: In Kooperation Mit: Gefördert durch:
225
Özlem Alkış
James Batchelor
Seppe Baeyens
Jérôme Bel
Céline Bellut
Josep Caballero García &
Kamila Kurczewski
CENA 11
Cheers for Fears
Cie BewegGrund
Claire Cunningham
Éric Minh Cuong Castaing
Sorour Darabi
Shira Eviatar
Fronte Vacuo://Marco Donnarumma
Barbara Fuchs
Panaibra Gabriel Canda
21
Yasmeen Godder
Olivia Hyunsin Kim
Choy Ka Fai
Juan Carlos Lérida
Ligia Lewis
Faustin Linyekula
Jan Martens
Tabea Martin
Lea Martini, Enis Turan & Johanna Ackva
Sebastian Matthias
Zwoisy Mears-Clarke
Bianca Mendonça
Marlene Monteiro Freitas
22
Lea Moro
performing:group
Amanda Piña
THE ART OF ZOE / Shapes & Shades
Eko Supriyanto
caner teker
Stephanie Thiersch
Antje Velsinger
Factory Artists
Reut Shemesh
nutrospektif:
Friederike Frost, Bahar Gökten,
Daniela Mba, Yeliz Pazar,
Daniela Rodriguez Romero
Alfredo Zinola
Alexandra Waierstall
Stand 06/21
tanzhaus-nrw.de
NOW!
DAS FESTIVAL
FÜR NEUE MUSIK
28.10.-7.11.2021
MIKROKOSMOS –
MAKROKOSMOS
KARLHEINZ STOCKHAUSEN – SWR SYMPHONIEORCHESTER – REBECCA
SAUNDERS – ENSEMBLE MODERN – SIMON STEEN-ANDERSEN – ENSEMBLE
MUSIKFABRIK – FOLKWANG UDK – JÖRG WIDMANN – LUIGI NONO – GEORG
FRIEDRICH HAAS – NEUE PHILHARMONIE WESTFALEN – QUASAR SAXOPHONE
QUARTET – BRAD LUBMAN – OLIVIER MESSIAN – SWR EXPERIMENTAL STUDIO
EVA CASPARI – QUATUOR DIOTIMA – JOHANNES KALITZKE – HR-SINFONIE-
ORCHESTER – MARIO DAVIDOVSKY – TRISTAN MURAIL – MICHAEL EDWARDS
BALDUR BRÖNNIMANN – ARNOLD SCHÖNBERG – NICOLAUS A. HUBER
HELMUT LACHENMANN – MAXIMILIAN MARCOLL – FOLKWANG ELEKTRISCH
STUDIO MUSIKFABRIK – PETER VEALE – HARRISON BIRTWISTLE – LIZA LIM
TRIO CATCH – MATTHIAS KRANEBITTER – JUDIT VARGA – MELVYN POORE
FAUSTO ROMITELLI – BEAT FURRER – HÈCTOR PARRA – SALVATORE SCIARRINO
ANDREA TARRODI – URMAS SISASK – LUTZ WERNER HESSE – MIKE MARSHALL
FRANCE CHIAVERINI – MARJON SMIT – CHRISTOF SCHLÄGER – JEAN-FRANÇOIS
LAPORTE – CLAUDE VIVIER – ÉMILE GIRARD-CHAREST – IANNIS
XENAKIS – CARLO BARBAGALLO – FÉLIX-ANTOINE MORIN – MARTÓN ILLÉS
ANNESLEY BLACK – MARK ANDRE – RUNE GLERUP – OSCAR BIANCHI
FRANCK BEDROSSIAN – YING WANG
Die Philharmonie Essen richtet NOW! gemeinsam mit der Folkwang Universität der Künste,
der Stiftung Zollverein und dem Landesmusikrat NRW aus.
Das Festival NOW! wird ermöglicht durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
und die Kunststiftung NRW.
Das komplette Festivalprogramm mit allen Konzerten unter
www.philharmonie-essen.de | Tickets T 02 01 81 22-200
08—12 2021
ZUSAMMEN
BÜHNE ONLINE KÜNSTLERHAUS STADTRAUM PLATTFORM
Meg Stuart / Damaged Goods, Amanda Piña, Robert Walser, Gisèle Vienne, Mapa Teatro, Mette Ingvartsen, Laokoon, Tim Etchells,
Vlatka Horvat, Anja Müller, Dennis Deter, Maria F. Scaroni, Panorama JangadaRaft, Michiel Vandevelde, Forced Entertainment,
Johannes Paul Raether, Nathan Fain, Barbara Raes, Sophie De Somere, Claire Vivianne Sobottke, Tian Rotteveel, Jared Gradinger,
Viola Luise Barner, Júlia Maia, Lydia Tesfai, Joëlle Karfich, Zauri Matikashvili, Kai Er Eng, Total Refusal (Susanna Flock, Leonhard
Müllner, Robin Klengel, Michael Stumpf), Liza Baliasnaja, Theo Livesey, Christine De Smedt, Association of Black Art_ists e.V. (Princela
Biyaa, Fayo Said, Clémence Garcia-Lindenmeyer, Marny Garcia Mommertz), Dragana Bulut, Omsk Social Club, Joey Holder,
Bruno Alves de Almeida, Juan Pablo Pacheco Bejarano, Carmel Barnea Brezner Jonas, Clarissa Aidar, Jere Ikongio, Dario Srbic,
Eliana Otta, Imayna Caceres, Nuno Cassola, Vasilikí Sifostratoudaki, Lucy Ilado, Stefania Smolkina, Riyadhus Shalihin, Rosa Whitely,
Sina Hensel, Wisrah Villefort, Sarah Johanna Theurer, Zahra Malkani, Shahana Rajani u.v.m. www.pact-zollverein.de
PACT ZOLLVEREIN
Choreographisches Zentrum
NRW Betriebs-GmbH
Bullmannaue 20 a
45327 Essen
Öffentliche Förderer
Michiel Vandevelde ›Ghosts of the Past‹, Filmstill ©: Michiel Vandevelde
SCHAUSPIELHAUS BOCHUM | THEATER DORTMUND
THEATER DUISBURG | PACT ZOLLVEREIN
THEATER UND PHILHARMONIE ESSEN
MUSIKTHEATER IM REVIER GELSENKIRCHEN
THEATER HAGEN | SCHLOSSTHEATER MOERS
RINGLOKSCHUPPEN RUHR | THEATER AN DER RUHR
THEATER OBERHAUSEN | RUHRTRIENNALE
RUHRFESTSPIELE RECKLINGHAUSEN
ruhrbuehnen.de
Kultur
Bildung
Kreativität.BANK
Engagement
Kunst
Fördern, was NRW bewegt.
nrwbank.de/kreativität
Das Feuilleton
im Radio.
Rang
Deutschlandfunk Kultur berichtet von der Ruhrtriennale
1
Das Theatermagazin
Samstag, 14.05 Uhr
Kompressor
Das Kulturmagazin
Montag – Freitag, 14.07 Uhr
bundesweit und werbefrei
UKW, DAB+, Online, und in
der Dlf Audiothek App
deutschlandfunkkultur.de
Fazit
Kultur vom Tage
Montag – Sonntag, 23.05 Uhr
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Ruhrtriennale an fast allen Spielstätten
mit unseren Bücher- und CD-Tischen.
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WIR WÜNSCHEN IHNEN VIEL FREUDE BEI DER RUHRTRIENNALE 2021.
Hallen, Kokereien, Maschinenhäuser und Halden des Bergbaus und der
Stahlindustrie werden zu unverwechselbaren Protagonistinnen für das Festival.
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Eine Titel der FUNKE Mediengruppe
IMPRESSUM
Herausgeberin
Kultur Ruhr GmbH
Gerard-Mortier-Platz 1
44793 Bochum
Geschäftsführung
Barbara Frey, Dr. Vera Battis-Reese
Kontakt
Tel.: +49 (0)234 97483-300
info@ruhrtriennale.de
www.ruhrtriennale.de
Redaktion
Dramaturgie, Künstlerisches Betriebsbüro,
Marketing und Pressestelle
Bildserie Geister
Tobias Zielony
Übersetzungen
David Tushingham, Panthea, Christian
Dawid, Tess Lewis, Bochert Translations
Art Direction und Grafik Design
María José Aquilanti &
Ann Christin Sievers
Satz
María José Aquilanti, Moritz Kappen,
Sophie Schäfer, Ann Christin Sievers
Druck und Herstellung
Kunst- und Werbedruck GmbH & Co. KG,
Bad Oeynhausen
Redaktionsschluss
1. Juli 2021
Änderungen vor be halten.
All information subject to change.
Wir haben uns bemüht, alle Urheberrechte
zu ermitteln. Sollten darüber hinaus
Ansprüche bestehen, bitten wir, uns diese
mitzuteilen.
Korrektorat
Supertext
Magazin Textnachweise
Gilles Amalvis Interview mit Meg Stuart
entstand für das Festval d’Automne Paris
2020; alle anderen Artikel sind Originalbeiträge.
Die Ruhrtriennale 2021–2023 ist Partnerin des Aktionsnetzwerkes Nachhaltigkeit in Kultur und Medien.
Die Programmübersicht wurde klimaneutral gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.
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