Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023
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Liebe Festivalbesucher:innen!<br />
Der Mensch ist ein seltsames, ein erschreckendes Tier. Es scheint sich gleichermaßen<br />
vorwärts wie im Krebsgang zu bewegen. Es ist das erzählende Tier, und seit Jahrtausenden<br />
sucht es nach seiner wahren Natur, scheint sie zwischenzeitlich entdeckt zu haben,<br />
nur um im nächsten Augenblick sich selbst nicht mehr zu trauen und sich zu wun<strong>der</strong>n über<br />
die immense Zerstörung, die es anzurichten imstande ist. Es verschläft und verträumt ein<br />
Drittel seines ganzen Lebens und weiß bis heute nicht genau, was das zu bedeuten hat.<br />
Wenn es sich nun dieser Tage umschaut, muss es feststellen, dass es offenbar bisher<br />
nicht in <strong>der</strong> Lage war, die Verantwortung zu übernehmen für den gesamten Planeten –<br />
den es ja nicht allein bevölkert. Nicht nur den Wissenschaften, auch den Künsten kam<br />
und kommt die Erforschung <strong>der</strong> eigenen Natur des Menschen zu, ebenso <strong>der</strong> Natur, die<br />
ihn umgibt. Aber Wissenschaft und Kunst haben nicht den gleichen Begriff von Wahrheit.<br />
Und sie arbeiten nicht nur einhellig nebeneinan<strong>der</strong> her. Wer mit offenen Augen und Ohren<br />
durch die Welt geht, wird von Schwindel erfasst. In den Krisen unserer Zeit ist es schwer<br />
auszumachen, worin genau das Projekt bestehen könnte, die Menschheit friedfertiger,<br />
gerechter, mitfühlen<strong>der</strong> zu machen. Offen zuzugeben, man sei überfor<strong>der</strong>t angesichts<br />
<strong>der</strong> täglichen Meldungen über Krieg, Verwüstung, schwindende Ressourcen und soziale<br />
Ungleichheit, gleicht einem Eingeständnis von Schwäche. Die aber gehört sich nicht; man<br />
muss stark sein, die Übersicht behalten, das Richtige tun – und vor allem beständig und<br />
mit Überzeugung jene zurechtweisen, die sich auf dem falschen Pfad befinden. Der Tonfall<br />
verschärft sich überall; Rede und Gegenrede folgen einan<strong>der</strong> in Sekundenschnelle; man<br />
spricht von notwendigen Debatten, zettelt aber Polemiken und Kampagnen an, zelebriert<br />
öffentliche Schuldzuweisungen, klagt über die angebliche Inkompetenz des Gegenübers,<br />
das rasch und unaufwendig zum Gegner wird – den man dann wie<strong>der</strong>um schnellstens<br />
zum Feind hochstilisiert, damit die Dramatik stimmt. Eine wichtige Rolle spielt die Scham,<br />
denn womöglich kann man nicht mithalten in dem überbordenden, misstönenden Konzert<br />
von gegenwärtigen Stimmen, Stimmungen, Meinungen, Haltungen, Überzeugungen –<br />
o<strong>der</strong> wie immer man das nennen will, was einem zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort<br />
zu Gebote stehen sollte. Wo aber ist <strong>der</strong> richtige Ort? Was ist <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt? Was<br />
passiert mit uns, wenn wir zu langsam sind, womöglich zu furchtsam, zu zögernd, zu zweifelnd,<br />
»im Stockfinstern herumtappend«, wie Dostojewski es formulierte? Vielleicht kann<br />
das Stockfinstere erhellend sein. Die Künste haben alle großen Entwicklungsprozesse<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft mitgemacht, oftmals haben sie sie vorausgesehen; hinterfragt haben sie<br />
sie immer – und sich stets in gebührendem Abstand zur Politik bewegt. Letztere kann die<br />
Künste betrachten, einen offenen Dialog mit ihnen führen o<strong>der</strong> sie notfalls beargwöhnen.<br />
Instrumentalisieren, sie zur Parteinahme zwingen kann sie sie nicht. Um frei zu bleiben,<br />
muss die Kunst auf ihrem Recht bestehen, auch im Dunkeln tappen zu dürfen, die Suche<br />
fortzusetzen, Evidenzen zu hinterfragen und sich ihre eigene Zeit zu nehmen. Diese kann<br />
nicht übereinstimmen mit dem pragmatischen Tempo <strong>der</strong> politischen Alltagsgeschäfte, in<br />
denen es um rasche Erfolge geht, um Erledigung, um die – durchschaubaren – Mechanismen<br />
des Machterhalts. Die Künste müssen listig bleiben; beweglich und verletzlich, beharrlich<br />
und for<strong>der</strong>nd, einfühlsam und wi<strong>der</strong>spenstig.<br />
2
We are all Detroit heißt <strong>der</strong> Film von Ulrike Franke und Michael Loeken (bekannt als filmproduktion<br />
loekenfranke), <strong>der</strong> Menschen in Detroit und Bochum porträtiert, sie erzählen<br />
lässt über den brutalen Wandel <strong>der</strong> Zeit. Der Verlust von Arbeit und <strong>der</strong> Verfall ganzer<br />
Stadtgebiete durch den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> industriellen Großproduktion werden zu Beginn<br />
des Films nicht durch eine Statistik veranschaulicht, son<strong>der</strong>n mit einem kleinen prophetischen<br />
Gedicht in Verbindung gebracht: 1637, mitten in den Verheerungen des Dreißigjährigen<br />
Krieges, verfasste <strong>der</strong> deutsche Barockdichter Andreas Gryphius das Sonett Es<br />
ist alles eitel. Die Zeilen, die von <strong>der</strong> Hybris und Verletzlichkeit <strong>der</strong> Menschen und von <strong>der</strong><br />
Vergänglichkeit ihrer Errungenschaften und aller Materie künden, werden abwechselnd<br />
von Bewohner:innen von Detroit und Bochum lakonisch vom Blatt gelesen, ohne Pathos,<br />
ohne Pose. »Sounds like he got it« (»Klingt, als hätte er’s kapiert«), sagt ein Detroiter,<br />
leicht ungläubig grinsend über den Umstand, dass das Gedicht ein paar Jahrhun<strong>der</strong>te alt<br />
ist und auf einem fernen Kontinent entstand. Über <strong>der</strong> ganzen Eingangssequenz des Films<br />
liegt eine merkwürdige Zärtlichkeit und Heiterkeit. Es ist eine schöne und wichtige Botschaft<br />
des Duos loekenfranke, dass <strong>der</strong> längst entschwundene Poet Gryphius wohl ein<br />
Bru<strong>der</strong> im Geiste jener Menschen ist, die quer über den Globus am heutigen Tag damit<br />
kämpfen, von <strong>der</strong> großen Ökonomie vergessen und schlicht dem Lauf <strong>der</strong> Zeit überlassen<br />
worden zu sein. Es geht hier nicht um abstraktes dokumentarisches Material, son<strong>der</strong>n um<br />
eine äußerst sensible Betrachtung von Menschen und um die Frage nach Verantwortung<br />
und den Möglichkeiten des Glücks. Das Individuum müsste mehr sein dürfen »als eine<br />
Wiesenblum’, die man nicht wie<strong>der</strong> find’t«, wie es im erwähnten Sonett heißt. Wir freuen<br />
uns, dass loekenfranke in dieser Saison ihre Filme bei uns zeigen und unsere Bildstrecke<br />
gestalten. In unserer letzten Festivalausgabe möchten wir weiter nach <strong>der</strong> Natur des Menschen<br />
forschen. In <strong>der</strong> über drei Jahre laufenden Diskurs- und Literaturreihe von und mit<br />
Lukas Bärfuss sind Sie diesem Thema, in seinem doppelten Sinne, bereits begegnet.<br />
Die Suche nach den Geistern, nach <strong>der</strong> Erinnerung, <strong>der</strong> Präsenz und dem Dialog mit den<br />
Toten (in <strong>der</strong> Spielzeit 2021) führte uns 2022 zu Fragestellungen nach unseren gesellschaftlichen<br />
Formen des Zusammenlebens – und <strong>2023</strong> nun zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
<strong>der</strong> offenbar noch immer unergründlichen Wesenheit des Menschen, des Individuums,<br />
des sich selbst fremden, Geschichten erzählenden Tiers, jenseits aller Theorien, Modelle<br />
und Imperative diverser politischer Systeme. Die Künste fragen weiter, suchen weiter,<br />
bringen uns zusammen und machen uns Mut! Wir sind froh, diesen Sommer mit Ihnen zusammen<br />
und mit all den eingeladenen Künstler:innen, von denen viele uns über drei Jahre<br />
die Treue halten, Musiktheater, Tanz, Schauspiel, Konzert, Film, Performance, Bildende<br />
Kunst und Spartenübergreifendes feiern zu können! Die drängenden Fragen zu stellen mit<br />
Neugier und Freude, mit Nachdenklichkeit und Gelächter, in freundschaftlicher Nähe und<br />
Komplizenschaft.<br />
Ihre<br />
Barbara Frey und das Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
3
Dear festival visitors!<br />
The human is a strange and terrifying animal! It seems to move sideways as much as it<br />
progresses forwards. It is the storytelling animal, and for millennia it has been searching<br />
for its true nature, at times appearing to have discovered it only to lose faith in itself the<br />
next moment and be amazed at the immense destruction it is capable of causing. It sleeps<br />
and dreams away a third of its entire life and to this day still does not know what this<br />
means. If it looks around right now, it must conclude that it is clearly not in a position to<br />
assume responsibility for the whole planet – which it does not inhabit alone. Not only the<br />
sciences but also the arts can be used to examine its own human nature, as well as the<br />
nature that surrounds it. But science and nature do not un<strong>der</strong>stand truth in the same way.<br />
And they do not operate alongside each other in unanimity. Anyone who walks through the<br />
world with their eyes and ears open, will find their head spinning. Among the crises of our<br />
time, it is difficult to tell exactly what the project might consist of that will make humanity<br />
more peaceful, more just, more empathetic. To openly admit being unable to cope in the<br />
face of daily news reports of war, destruction, dwindling resources and social injustice, is<br />
tantamount to a confession of weakness. However, that is wrong: we have to be strong,<br />
retain an overview, do the right thing – and above all constantly and convincingly correct<br />
those who are taking the wrong course. Everywhere the tone of discourse is becoming<br />
harsher; claims and counterclaims follow one another within seconds; people talk about<br />
necessary debate, but they instigate polemics and campaigns, delight in attributing public<br />
blame, complain about the apparent incompetence of their opposite numbers, turning<br />
them rapidly and easily into opponents – who can then be talked up as enemies to make<br />
things really dramatic. Shame plays an important role because we might not be able to<br />
withstand this overwhelming dissonant concert of current voices, moods, opinions, attitudes,<br />
convictions – or whatever we want to call what we have at our disposal at the right<br />
time in the right place. But where is the right place? And what is the right time? What will<br />
happen to us if we are too slow, maybe too afraid, too hesitant, too dubious, »tapping<br />
around in the dark« as Dostoyevsky put it? Perhaps the dark can be illuminating. The arts<br />
have participated in all the major developments of society. They have often foreseen them<br />
and they have always questioned them – and they have always operated at a suitable remove<br />
from politicians. The latter can observe the arts, take part in an open dialogue with<br />
them or, if necessary, be suspicious of them. But they cannot manipulate them or force<br />
them to take sides. In or<strong>der</strong> to remain free, art must insist on its right to be allowed to also<br />
tap around in the dark, to continue searching, challenge evidence and to take its own time.<br />
This cannot coincide with the pragmatic tempo of everyday politics, which is about quick<br />
successes, about getting things done, about the – transparent – mechanics of staying in<br />
power. The arts have to remain cunning; agile and vulnerable, tenacious and demanding,<br />
perceptive and rebellious.<br />
4
We are all Detroit is the name of the film by Ulrike Franke and Michael Loeken (known as<br />
the film company loekenfranke) that portrays people in Detroit and Bochum and allows<br />
them to tell of the brutal changes wrought by time. At the beginning of the film, job losses<br />
and the collapse of whole districts of the city due to the decline of large-scale industrial<br />
production are not illustrated with statistics, instead they are linked to a small prophetic<br />
poem: in 1637, in the midst of the devastation of the Thirty Years War, the German Baroque<br />
poet Andreas Gryphius composed the sonnet All is vanity. His lines proclaiming the<br />
hubris and vulnerability of human beings, of the transience of their achievements and of<br />
everything material are read out loud by inhabitants of Detroit and Bochum, taking turns,<br />
laconically, without pathos, without posing. »Sounds like he got it«, says one man from<br />
Detroit, grinning in faint disbelief that the poem is several centuries old and was written on<br />
a continent far away. The film’s entire opening sequence of the film is overlaid with a mysterious<br />
ten<strong>der</strong>ness and cheerfulness. It is a beautiful and important message from the duo<br />
loekenfranke, that the long-gone poet Gryphius is indeed a brother in spirit of the people<br />
who are struggling today right across the globe, forgotten by the economy at large and<br />
simply abandoned to let time take its course. This is not abstract documentary material,<br />
but a highly sensitive observation of human beings and the question of responsibility and<br />
the possibility of happiness. The individual has to be allowed to be more »than a meadow<br />
flower one cannot find again«, as the sonnet I have mentioned says. We are delighted that<br />
loekenfranke will present their films with us this season and design our picture series.<br />
In our last edition of the festival, we wish to probe further into the nature of human beings.<br />
In the three-year series of discussions and readings by and with Lukas Bärfuss you have<br />
already encountered this theme – in more ways than one. The search for ghosts, for the<br />
memory, presence and dialogue with the dead (in the 2021 season) led us in 2022 to questions<br />
about our society’s forms of living together – and now in <strong>2023</strong>, to an examination of<br />
the evidently still unfathomable essence of humanity, the individual, the story-telling animal,<br />
a stranger to itself, defying all the theories, models and imperatives of diverse political<br />
systems. The arts will keep on asking, keep on searching, will bring us together and give us<br />
courage! We are glad that this summer, together with you and all the invited artists, many<br />
of whom have been loyal to us for three years, we can celebrate music theatre, dance,<br />
theatre, concerts, films, performance, the visual arts and interdisciplinary work! That we<br />
can ask urgent questions, with curiosity and delight, with thoughtfulness and laughter, in<br />
friendly intimacy and complicity.<br />
Yours<br />
Barbara Frey and the <strong>Ruhrtriennale</strong> team<br />
5
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Musiktheater<br />
14 DIE ERDFABRIK<br />
Georges Aperghis / Jean-Christophe Bailly<br />
42 AUS EINEM TOTENHAUS<br />
Leoš Janáček / Dmitri Tcherniakov / Dennis Russell Davies /<br />
Bochumer Symphoniker / Chor <strong>der</strong> Janáček-Oper des<br />
Nationaltheaters Brno<br />
141 Eine Reise ins Innere<br />
Andri Hardmeier im Gespräch<br />
mit Georges Aperghis<br />
145 Alle sollten zu zehn Stunden Handarbeit<br />
pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />
Lukas Bärfuss im Gespräch<br />
mit Jean-Christophe Bailly<br />
150 Möglichkeitsformen des Menschseins<br />
Barbara Eckle im Gespräch<br />
mit Nahlah Saimeh<br />
Schauspiel<br />
12 EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />
William Shakespeare / Barbara Frey / Martin Zehetgruber /<br />
Burgtheater Wien<br />
48 LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE<br />
Philippe Quesne / Vivarium Studio<br />
52 LA POSIBILIDAD DE LA TERNURA /<br />
DIE MÖGLICHKEIT VON ZÄRTLICHKEIT<br />
Marco Layera / Teatro La Re-sentida<br />
Für alle ab 14 Jahren<br />
58 AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KELLERLOCH<br />
Fjodor Dostojewski / Barbara Frey / Bettina Meyer /<br />
Nina Hoss / Alex Silva<br />
176 Theater ist ja auch die Kunst<br />
des Recyclings!<br />
Andreas Karlaganis im Gespräch<br />
mit Christina Wald<br />
180 Die Utopie eines Gartens<br />
für Heute und Morgen<br />
Eric Vautrin im Gespräch<br />
mit Philippe Quesne<br />
160 Hombre Modelo<br />
Reflexionen aus den Proben<br />
156 Der Blick in die eigene Fratze<br />
Judith Gerstenberg im Gespräch<br />
mit Barbara Frey und Nina Hoss<br />
Objekttheater<br />
46 IM GARTEN DER POTINIERS / AU JARDIN DE POTINIERS<br />
Compagnie Ersatz / Création Dans la Chambre<br />
Für Kin<strong>der</strong> ab 7 Jahren und Familien
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Tanz / Performance<br />
24 SKATEPARK<br />
Mette Ingvartsen<br />
Für alle ab 12 Jahren<br />
26 EXTRA LIFE<br />
Gisèle Vienne<br />
188 Skateboarden strukturiert die<br />
Weltanschauung <strong>der</strong>er, die es praktizieren<br />
Von Bojana Cvejić<br />
164 Nacht und Licht<br />
Von Sandra Lucbert<br />
44 EXÓTICA<br />
Amanda Piña<br />
172 Jenseits <strong>der</strong> Verfestigung von Identitäten<br />
Von Amanda Piña und Sara Abbasi<br />
50 THE VISITORS<br />
Constanza Macras / Dorky Park<br />
Für alle ab 14 Jahren<br />
54 MONUMENT 0.10: THE LIVING MONUMENT<br />
Eszter Salamon / Carte Blanche<br />
56 THE THIRD ROOM X FLORENTINA HOLZINGER<br />
168 Slashing Anticipations<br />
Von Tamara Saphir<br />
184 Lebendige Monumente,<br />
monochrome Rituale<br />
Von Maja Zimmermann<br />
Konzert<br />
32 ABENDLOB UND MORGENGLANZ<br />
Sergej Rachmaninow / Chorwerk Ruhr / Florian Helgath<br />
192 Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />
Sprache, Spiel und Schlagfertigkeit im<br />
Musikprogramm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong><br />
Von Barbara Eckle<br />
34 ANNA CALVI<br />
30 MASCHINENHAUSMUSIK<br />
Gustafsson / Guy / Millà / Eve Risser / Kee Avil /<br />
Mopcut Feat. Farida Amadou / Ensemble of Nomads<br />
38 SCHLAGZEUGMARATHON<br />
Marilyn Mazur / Billy Cobham / Mohammad Reza Mortazavi<br />
und viele an<strong>der</strong>e<br />
60 PLAY BIG!<br />
Sofia Gubaidulina / Michael Wertmüller / Simon Steen-An<strong>der</strong>sen /<br />
Titus Engel / Basel Sinfonietta / NDR Bigband / Chorwerk Ruhr<br />
62 QUID CHAOS<br />
Huelgas Ensemble / Paul Van Nevel
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Installation<br />
16 JETZT & JETZT<br />
Mats Staub<br />
136 Über das Verschwinden, Erinnern<br />
und den magischen Moment<br />
Barbara Frey im Gespräch<br />
mit loekenfranke und Mats Staub<br />
198 Jetzt!<br />
Von Nina Bade<br />
36 MY BODY IS NOT AN ISLAND<br />
Eva Koťátková<br />
Für alle Altersgruppen<br />
Junge Triennale<br />
68 JUNGE TRIENNALE / SCHULEN<br />
69 TEENS IN THE HOUSE III — EINE JUNGE RESIDENZ<br />
Jugendliche und junge Erwachsene ab 16 Jahren<br />
Dialog / Literatur<br />
64 DIE NATUR DES MENSCHEN<br />
Lukas Bärfuss / Bibiana Beglau / Philipp Blom / Anna Drexler /<br />
Matthias Glaubrecht / Sachiko Hara / Theo Nabicht /<br />
Carl Oesterhelt / Pollyester / Wiebke Puls / Jutta Weber<br />
67 FESTIVALBIBLIOTHEK<br />
70 PAPPELWALDKANTINE<br />
71 FESTIVALCAMPUS<br />
145 Alle sollten zu zehn Stunden<br />
Handarbeit pro Woche verpflichtet<br />
sein. Alle!<br />
Lukas Bärfuss im Gespräch<br />
mit Jean-Christophe Bailly<br />
Film<br />
22 FILMRETROSPEKTIVE LOEKENFRANKE<br />
28 SI C’ÉTAIT DE L’AMOUR<br />
Patric Chiha / Gisèle Vienne<br />
29 JERK<br />
Gisèle Vienne<br />
136 Über das Verschwinden, Erinnern<br />
und den magischen Moment<br />
Barbara Frey im Gespräch<br />
mit loekenfranke und Mats Staub
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Wege<br />
20 RAUBBAUFOLGELYRIK BOCHUM<br />
Stefan Wartenberg<br />
21 AK KU KU<br />
San Keller<br />
21 ¿DÓNDE ESTAMOS?<br />
Gaby Blanco<br />
134 Kohlenstraße<br />
Von Stefan Wartenberg<br />
BILDSTRECKE<br />
73 FOTOGRAFIEN VON LOEKENFRANKE<br />
SERVICE<br />
204 Spielstätten<br />
209 Ihr Besuch<br />
208 Tickets<br />
212 Freundeskreis & Club.Ruhr<br />
214 Team<br />
215 Dank<br />
222 Impressum
Maschinenhalle Zweckel<br />
Shuttlebus verfügbar<br />
Bottrop<br />
Gebläsehalle<br />
Gebläsehalle Gießhalle<br />
Schalthaus Kraftzentrale Ost<br />
Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Oberhausen<br />
Kulturkirche<br />
Liebfrauen Duisburg<br />
Duisburg Duisburg<br />
Duisburg<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Hauptbahnhof<br />
Mülheim<br />
SPIELSTÄTTEN<br />
SPIELSTÄTTEN<br />
Gebläsehalle/Schalthaus Kulturkirche<br />
Ost<br />
Landschaftspark<br />
Liebfrauen Duisburg<br />
Duisburg-Nord<br />
König-Heinrich-Platz 3<br />
Emscherstraße 47051 Duisburg 71<br />
47137 Duisburg<br />
Gebläsehalle Maschinenhalle / Gießhalle Zweckel/<br />
Kraftzentrale<br />
Frentroper Straße 74<br />
Landschaftspark<br />
45966 Gladbeck<br />
Duisburg-Nord<br />
Emscherstraße 71<br />
47137 Duisburg<br />
Mehr Informationen zu Spielorten, unseren Spielorten, Anfahrt zu Anfahrt<br />
und Parkmöglichkeiten: Siehe siehe ab Seite 204 226<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />
45326 Essen<br />
Salzlager<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein<br />
Areal C<br />
Heinrich-Imig-Straße 11<br />
45141 Essen<br />
Mischanlage<br />
Salzlager<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein<br />
Areal C<br />
Arendahls Wiese<br />
/<br />
45141 Ecke Fritz-Schupp-Allee<br />
Essen<br />
45141 Essen<br />
Kettwig<br />
10<br />
10
Gladbeck<br />
Herne<br />
Gelsenkirchen<br />
Maschinenhaus<br />
Essen<br />
PACT Zollverein<br />
Mischanlage<br />
Salzlager<br />
Zeche Zollverein<br />
Bahnhof<br />
Zollverein<br />
Nord<br />
Hospital zum<br />
Heiligen Geist<br />
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Turbinenhalle<br />
Pappelwaldkantine<br />
Festivalbibliothek<br />
Bochum Innenstadt<br />
Bochum<br />
Hauptbahnhof<br />
Maschinenhalle<br />
Metropolis Kino<br />
Bochum<br />
Zeche Zollern<br />
Dortmund<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
Essen<br />
KGV Bergmannsheil<br />
PACT Zollverein<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein<br />
Areal B<br />
Bullmannaue 20a<br />
45327 Essen<br />
Halle Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
5<br />
UNESCO-Welterbe Bochum / Turbinenhalle Zollverein /<br />
Areal Pappelwaldkantine A<br />
/<br />
Gelsenkirchener Festivalbibliothek Str. 181<br />
45309 An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Essen 1<br />
44793 Bochum<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Metropolis Kino<br />
Bochum Hauptbahnhof<br />
/ Turbinenhalle /<br />
Pappelwaldkantine/<br />
Kurt-Schumacher-Platz 13<br />
Festivalbibliothek<br />
44787 Bochum<br />
An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />
44793 Maschinenhalle Bochum<br />
Zeche Zollern<br />
Grubenweg 5<br />
44388 Dortmund<br />
Wege STÜH33 <strong>2023</strong><br />
Stühmeyerstraße Zu Fuß 33 / By foot<br />
44787 Bochum<br />
Wege 2021 + 2022<br />
Fahrrad / Bike<br />
Straßenbahn / Tram<br />
Zug / Train<br />
11<br />
11
EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />
WILLIAM SHAKESPEARE<br />
BARBARA FREY<br />
MARTIN ZEHETGRUBER<br />
BURGTHEATER WIEN<br />
Schauspiel<br />
Theater ist ja auch die Kunst des Recyclings!<br />
→ Magazin, Seite 176<br />
12
Als »das Stück <strong>der</strong> Stunde« bezeichnet Barbara Frey, die inszenierende Intendantin<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, Shakespeares geniales und abgründiges Meisterwerk Ein Sommernachtstraum,<br />
das seit mehr als 400 Jahren das Publikum verzaubert und verwirrt. Bei<br />
diesem dichterischen Naturereignis versagen alle Gattungsbegriffe. Der Text wechselt<br />
seine Gestalt, mäan<strong>der</strong>t durch die verschiedenen Genres von höfischem Spiel zum <strong>der</strong>ben<br />
Schwank, vom Traumspiel zum philosophischen Exkurs, von Komödie zu Tragödie.<br />
Nichts in diesem Text behält seine anfängliche Gestalt. Das ist zutiefst beunruhigend.<br />
Wir werden konfrontiert mit <strong>der</strong> Zumutung <strong>der</strong> Unberechenbarkeit. Wir wohnen dem<br />
Kontrollverlust <strong>der</strong> Figuren bei, erleben ihn selbst, erkennen die Brutalität <strong>der</strong> unverlässlichen<br />
Gefühle, sehen, wie Liebe sich entfärbt und zur Verachtung wird und wie<br />
umgekehrt Ignoranz abgelöst wird durch plötzlich aufflammende Leidenschaft. Wir verirren<br />
uns mit den einan<strong>der</strong> Jagenden im nächtlichen Wald, <strong>der</strong> unser Sehvermögen einschränkt<br />
und die klaren Konturen verschwimmen lässt: die klare Trennbarkeit von Wahn<br />
und Realität. Wir werden vor die Frage gestellt, ob <strong>der</strong> Wach- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Traumzustand<br />
wirkmächtiger ist, ja, wie diese beiden Zustände überhaupt zu unterscheiden sind und<br />
wer uns warum und zu welchem Zwecke die Träume eingibt, denen wir nachstreben o<strong>der</strong><br />
die uns heimsuchen. Hat <strong>der</strong> Mensch, haben wir einen eigenen Willen o<strong>der</strong> werden wir<br />
gesteuert – durch was und durch wen? Barbara Frey wird gemeinsam mit dem Ensemble<br />
des Burgtheater Wien das famose spielerische Potential dieses Stückes ausschöpfen<br />
und sich mit ihm fragen, ob die entfernte Vergangenheit uns nicht Wesentliches über<br />
unsere krisengeschüttelte Gegenwart mitzuteilen hat – ist die Renaissance doch nicht<br />
nur die Wiege unseres Selbstverständnisses, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Ursprung des Paradoxons,<br />
in und mit dem wir seither leben.<br />
»The play of the hour« is how its director, the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s Artistic Director Barbara<br />
Frey, describes Shakespeare’s brilliant and profound masterpiece A Midsummer Night’s<br />
Dream, which has been enchanting and baffling audiences for over 400 years. This poetic<br />
force of nature defies every category of genre. The text shifts in shape, mean<strong>der</strong>ing<br />
through a range of forms from court drama to broad farce, from a dream play to a philosophical<br />
treatise, from comedy to tragedy. Nothing here retains its original appearance.<br />
This is deeply unsettling. We are confronted with the shock of unpredictability. We watch<br />
as the characters lose control and experience it ourselves, recognising the brutality of<br />
unreliable emotions. We see how love fades and turns into contempt and conversely how<br />
ignorance gives way to sudden outbursts of passion, we get lost along with the young<br />
lovers chasing each other through the forest at night, that restricts our vision and blurs<br />
clear distinctions such as that between madness and reality. We are presented with the<br />
question of whether our waking or dreaming state is more powerful, or indeed whether<br />
we can even distinguish between the two, and who, why and to what purpose we are<br />
introduced to the dreams that we aspire to or that haunt us. Do humans, do we have a<br />
will of our own – or are we being controlled – by what, or by whom?<br />
Together with the Burgtheater Vienna’s resident ensemble, Barbara Frey will not only<br />
unleash the famous dramatic potential of this brilliant text, but also ask whether the<br />
distant past might have something important to tell us about our current crisis-ridden<br />
present – might the Renaissance not only be the cradle of our identity, but also the origin<br />
of the paradox that we have lived in and with ever since?<br />
Regie<br />
Barbara Frey<br />
Bühne<br />
Martin Zehetgruber<br />
Mitarbeit Bühne<br />
Stephanie Wagner<br />
Kostüme<br />
Esther Geremus<br />
Musik<br />
Josh Sneesby<br />
Barbara Frey<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Licht Design<br />
Rainer Küng<br />
Dramaturgie<br />
Andreas Karlaganis<br />
Regieassistenz<br />
Verena Holztrattner<br />
Kostümassistenz<br />
Leni Poindl<br />
Inspizienz<br />
Veronika Hofene<strong>der</strong><br />
Souffleuse<br />
Bernie Knoll<br />
Theseus / Titania<br />
Markus Scheumann<br />
Hippolyta / Oberon<br />
Sylvie Rohrer<br />
Egeus / Elfe / Squenz<br />
Gunther Eckes<br />
Lysan<strong>der</strong> / Schnock<br />
Marie-Luise Stockinger<br />
Demetrius / Schnauz<br />
Langston Uibel<br />
Helena / Schlucker<br />
Lili Win<strong>der</strong>lich<br />
Hermia<br />
Meike Droste<br />
Puck<br />
Dorothee Hartinger<br />
Flaut / Elfe<br />
Sabine Haupt<br />
Zettel<br />
Oliver Nägele<br />
Live-Musik<br />
Josh Sneesby<br />
Kraftzentrale, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Do 10. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 11. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 12. August _________________ 20.00 Uhr<br />
So 13. August ___________________ 18.00 Uhr<br />
Mi 16. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Do 17. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />
ermäßigt ab 12 €<br />
Deutsch mit englischen<br />
Übertiteln<br />
Eine Koproduktion von<br />
Burgtheater Wien und <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />
Brost-Stiftung<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
des Vereins <strong>der</strong> Freunde und<br />
För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> e. V.<br />
www.ruhr3.com/traum<br />
13
DIE ERDFABRIK<br />
GEORGES APERGHIS<br />
JEAN-CHRISTOPHE<br />
BAILLY<br />
Musiktheater<br />
Eine Reise ins Innere<br />
→ Magazin, Seite 141<br />
Alle sollten zu zehn Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />
→ Magazin, Seite 145<br />
14
Tief im Inneren <strong>der</strong> Erde ruht ihr Gedächtnis. Der Komponist Georges Aperghis und <strong>der</strong><br />
Schriftsteller Jean-Christophe Bailly suchen es auf. Es beginnt eine imaginäre Reise hinab<br />
durch die geschichtete Zeit. Ständiger Begleiter ist die nachtschwarze Dunkelheit,<br />
Urmutter <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> Schlaflosigkeit, aber auch <strong>der</strong> ältesten Spiele und skurrilsten<br />
Fantasiegeburten. Im Zusammenspiel mit flüchtig-wandelbaren animierten Zeichnungen<br />
lassen fünf Musiker:innen die Szenerie durch Klang, Wort und Körper erstehen:<br />
Gemeinsam graben sie sich durch verschiedene Materialien hindurch ins Dunkel, tasten<br />
sich durch Hohlräume, begegnen kindlichen Angstfantasien und ergeben sich verzerrten<br />
Gedankenbil<strong>der</strong>n, die einen beim nächtlichen Wachliegen ereilen. Die Mine wird<br />
zu einem poetischen Ort, dessen Reichtum an Assoziationen Aperghis und Bailly zu<br />
Tage för<strong>der</strong>n. Je tiefer wir steigen, desto näher kommen wir dem Himmel. 300 Millionen<br />
Jahre tief treffen wir auf Kohle. Bailly, <strong>der</strong> mit Dichtung von Annette von Droste-<br />
Hülshoff und eigenen Gedichten <strong>der</strong> Erdfabrik Sprache verleiht, nennt sie ein »Kind des<br />
Lichts«; schließlich war <strong>der</strong> schwarze Stoff aus <strong>der</strong> Tiefe vor Urzeiten einmal lebendige<br />
Vegetation, die sich von Sonnenlicht ernährte. Dieses Licht des Himmels findet er<br />
im eigenartig kühlen Glanz <strong>der</strong> Kohle wie<strong>der</strong>. Dunkel und Licht, Ernst und Spiel, Mut<br />
und Angst, Großes und Kleines – <strong>der</strong> Verbund <strong>der</strong> extremen Pole, das Zusammenwirken<br />
innerer Wi<strong>der</strong>sprüche und universaler Gegensätze sind auch Motor von Aperghis’<br />
»théâtre musical«, seiner eigenen poetisch-abstrakten Form von Musiktheater, bei <strong>der</strong><br />
nicht Figuren Geschichten erzählen, son<strong>der</strong>n das Publikum mit den Produkten seiner<br />
eigenen Vorstellung selbst zur Geschichte wird. Mit <strong>der</strong> Erdfabrik hat Ernst von Siemens<br />
Musikpreisträger Georges Aperghis, ein Magier <strong>der</strong> minimalen Mittel, für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ein universal-intimes Kammermusiktheater <strong>der</strong> Sinne, Urgefühle und Gedanken<br />
geschaffen, eine spielerisch-ernste Hommage an die menschliche Imaginationskraft.<br />
Deep inside the earth lies its memory. The composer Georges Aperghis and the writer<br />
Jean-Christophe Bailly go in search of this, setting off on an imaginary journey down<br />
through the layers of time. Their constant companion is a darkness as black as night:<br />
the primordial mother of fear and insomnia as well as the oldest of games and the most<br />
outlandish fantasies. Through interplay with fleeting and mutating animated drawings, five<br />
musicians conjure up the scene with sounds, words and bodies: together they dig through<br />
various materials into the darkness, feel their way through cavities, encounter childlike<br />
fears and images that creep up while we lie awake at night. The mine becomes a poetic<br />
location whose wealth of associations are unearthed by Aperghis and Bailly. The deeper<br />
we go, the closer we get to the universe. 300 million years down, we hit coal. Bailly, who<br />
uses a poem of Annette von Droste-Hülshoff and his own writings to lend Die Erdfabrik<br />
a language, calls coal the »child of light«. After all, this black stuff from the depths of<br />
primeval time was once living vegetation that fed on sunlight. He rediscovers this heavenly<br />
light in the unique and cool glow of coal. Darkness and light, seriousness and play,<br />
courage and fear, vast expanses and tiny details – the combination of extreme opposites,<br />
the interaction of internal contradictions and universal oppositions are also the drivers of<br />
Aperghis’s »théâtre musical«, his own poetic and abstract form of music theatre in which<br />
characters do not tell stories, but the audience themselves become the story, along with<br />
the products of their own imagination. With his Die Erdfabrik, the Ernst von Siemens<br />
Music Prize-winner Georges Aperghis, a magician of minimalist means, has created for<br />
the <strong>Ruhrtriennale</strong> a universal and intimate chamber opera of the senses, primal emotions<br />
and ideas, a playful and serious homage to the power of human imagination.<br />
Komposition, Regie<br />
Georges Aperghis<br />
Text<br />
Jean-Christophe Bailly<br />
Koordination Künstlerische<br />
Produktion<br />
Émilie Morin<br />
Bühne, Requisite<br />
Nina Bonardi<br />
Kostüme<br />
Julie Scobeltzine<br />
Licht Design<br />
Daniel Lévy<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Co-Sounddesign<br />
Sebastian Schottke<br />
Video Design, Animation<br />
Jeanne Apergis<br />
Video Installation, Technik<br />
Jérôme Tuncer<br />
Musikalische Studienleitung<br />
Uli Fussenegger<br />
Dramaturgie<br />
Andri Hardmeier<br />
Barbara Eckle<br />
Stimme<br />
Donatienne Michel-Dansac<br />
Perkussion<br />
Christian Dierstein<br />
Dirk Rothbrust<br />
Trompete<br />
Marco Blaauw<br />
Kontrabass<br />
Sophie Lücke<br />
Gebläsehalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Uraufführung<br />
Fr 11. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
Sa 12. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
So 13. August ___________________ 18.00 Uhr<br />
Do 17. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
Fr 18. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
Sa 19. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
So 20. August ___________________ 18.00 Uhr<br />
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />
ermäßigt ab 12 €<br />
Deutsch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Produziert von <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
in Kooperation mit La Muse en<br />
Circuit Centre National de<br />
Création Musicale<br />
Aufführungsrechte Musik<br />
© Editions Durand, Paris<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
durch die RAG-Stiftung<br />
Kompositionsauftrag von<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong>, finanziert durch die<br />
Ernst von Siemens Musikstiftung<br />
Dauer: ca. 70min<br />
www.ruhr3.com/erdfabrik<br />
15
MY BODY IS NOT<br />
AN ISLAND<br />
EVA KOŤÁTKOVÁ<br />
Installation<br />
Für alle Altersgruppen<br />
16
Ein dekonstruierter, gigantischer Körper – teils Tier, teils Mensch – aus einem Metallgerüst<br />
geschweißt, überdimensionale Kleidungsstücke, bunte Kostüme, Transportkisten<br />
und Materialcollagen entfalten sich in <strong>der</strong> weitläufigen Installation My Body Is Not An<br />
Island <strong>der</strong> tschechischen Künstlerin und Filmemacherin Eva Koťátková (*1982 in Prag)<br />
zu einer immersiven Landschaft. Fiktive und reale Geschichten, die von physischer<br />
o<strong>der</strong> psychischer Unterdrückung erzählen, sind <strong>der</strong> Arbeit eingeschrieben. Die Erzählungen<br />
aus menschlicher, tierischer und pflanzlicher Perspektive werden wöchentlich<br />
von Performer:innen innerhalb <strong>der</strong> Kulturkirche Liebfrauen und im umliegenden Duisburger<br />
Stadtraum aktiviert und können vom Publikum durch eigene Erfahrungen ergänzt<br />
werden.<br />
Ausgehend von ihrem Interesse an gesellschaftlichen Strukturen – wie Familie, Schule<br />
o<strong>der</strong> Arbeit – geht Eva Koťátková in ihrer Arbeit <strong>der</strong> Frage nach, wie Normierungsprozesse<br />
unser Alltagsleben prägen und Formen von übertriebener (Selbst-)kontrolle, Gewalt<br />
und Angst hervorrufen können.<br />
Beeinflusst von surrealistischer Poesie und theatralen Szenografien entwirft die Künstlerin<br />
einen inklusiven Ort, an dem wir uns unseren Träumen, unserem Unbewussten zuwenden<br />
dürfen. My Body Is Not An Island ist eine Einladung an Kin<strong>der</strong>, Jugendliche und<br />
Erwachsene, sich in an<strong>der</strong>e hineinzufühlen und Emotionalität als Zugang zur Welt zu<br />
erlernen: Bring your emotions and your jackets too, ruft die Künstlerin auf.<br />
Urbane Künste Ruhr zeigt zu je<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> einen eigenen künstlerischen Beitrag.<br />
Im Anschluss an das Ruhr Ding: Schlaf, das sich als städteübergreifendes Ausstellungsprojekt<br />
im Frühsommer dieses Jahres unserem Verhältnis zu Körper und Zeit im postindustriellen<br />
Kontext widmete, erfolgt die Einladung an Eva Koťátková, nach Stationen<br />
in Bordeaux und Prag eine ortsspezifische Version von My Body Is Not An Island für die<br />
Kulturkirche Liebfrauen in Duisburg zu entwickeln.<br />
Künstlerin<br />
Eva Koťátková<br />
Assistenz <strong>der</strong> Künstlerin<br />
Karolina Liberová<br />
Komposition<br />
Marie Čtveráčková<br />
Martin Hůla<br />
Ursula Sereghy<br />
Künstlerische Leitung, Kuratorin<br />
Britta Peters<br />
Assistenzkuratorin<br />
Alisha Danscher<br />
Projektmanagement<br />
Larissa Koch<br />
Technische Leitung<br />
Stefan Göbel<br />
Technische Projektleitung<br />
Sebastian Rietz<br />
Marketing<br />
Kerstin Finkel<br />
Presse<br />
Hannes Klug<br />
Kunstvermittlung<br />
Kim Lempelius<br />
İpek Gençtürk<br />
Josephine Hofmann<br />
A giant, deconstructed body – part animal, part human – welded from a metal frame,<br />
transport crates and collages of material, unfolds to create an immersive landscape in<br />
the extensive installation My Body Is Not An Island by the Czech artist and film-maker<br />
Eva Koťátková. Stories both factual and fictional telling of physical and mental oppression<br />
are written into the work. Tales from the perspectives of humans, animals and plants are<br />
activated every week by the performer and can be supplemented with the public’s own<br />
experiences.<br />
Originating from her own interest in social structures – such as the family, schools, or<br />
work – in this art work, Eva Koťátková explores the question of how normalisation processes<br />
shape our everyday lives and can give rise to forms of excessive (self-)control,<br />
violence and fear.<br />
Influenced by the poetics of surrealism and theatrical stage designs, the artist has created<br />
an inclusive place in which we can face our dreams and our unconscious. My Body<br />
Is Not An Island invites children, young people and adults alike to empathise with others<br />
and to learn how to use emotions as a way in to the world: Bring your emotions and your<br />
jackets too, the artist tells us.<br />
Urbane Künste Ruhr makes its own artistic contribution to each <strong>Ruhrtriennale</strong>. Following<br />
up on Ruhr Ding: Schlaf, an exhibition project across several cities early this summer that<br />
addressed our relationship with the body and time in a post-industrial context, it has<br />
invited Eva Koťátková to create a site-specific version of My Body Is Not An Island at Liebfrauenkirche<br />
Duisburg after the work had previously been seen in Bordeaux and Prague.<br />
Kulturkirche Liebfrauen,<br />
Duisburg<br />
Eröffnung<br />
Sa 12. August ___________________ 14.00 Uhr<br />
Eine Produktion von<br />
Urbane Künste Ruhr<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Laufzeit<br />
12.August – 23. September<br />
Mi-So 12-19 Uhr<br />
Eintritt frei<br />
www.ruhr3.com/kotatkova<br />
17
WEGE<br />
ALJOSCHA BEGRICH<br />
Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
ALTES ZU NEUEM<br />
LEBEN ERWECKEN<br />
STEFAN SCHNEIDER<br />
EL EXTRANJERO<br />
LISANDRO RODRIGUEZ<br />
UNEARTH<br />
AZADEH GANJEH<br />
DURCHSAGE<br />
PENG! KOLLEKTIV<br />
AK KU KU<br />
SAN KELLER<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Kohlenstraße<br />
→ Magazin, Seite 134<br />
Künstler:innen präsentieren die<br />
Welt außerhalb <strong>der</strong> Spielstätten<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Dieses Jahr<br />
als gemeinsame Ausflüge.<br />
Begrenzte Teilnehmer:innenzahl /<br />
Anmeldung erfor<strong>der</strong>lich unter:<br />
www.ruhr3.com/wege<br />
Die Eintrittskarten kosten 2 Euro<br />
und gelten am Tag <strong>der</strong> Ver anstalt<br />
ung als Fahrkarte für die<br />
Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />
im gesamten Verkehrsverbund<br />
Rhein-Ruhr (VRR).<br />
Kettwig
¿DÓNDE<br />
ESTAMOS?<br />
GABY<br />
BLANCO<br />
Zeche<br />
Zollverein<br />
Bahnhof<br />
Zollverein<br />
Nord<br />
ACHTMAL BLINZELN<br />
ANNA KPOK<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
NATURBÜRO 1—7<br />
LOEKENFRANKE<br />
Hospital zum<br />
Heiligen Geist<br />
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
ZWISCHENTAGE<br />
RUHRORTER<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
RAUBBAUFOLGELYRIK BOCHUM<br />
STEFAN WARTENBERG<br />
INSIDE OUT<br />
TEHERAN RE:PUBLIC<br />
Bochum<br />
Hauptbahnhof<br />
KGV Bergmannsheil<br />
LOS VIENTOS<br />
LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />
Auch im dritten Jahr <strong>der</strong> Intendanz von Barbara Frey wird das Projekt WEGE fortgeführt,<br />
um die Strecken zwischen den weit verteilten Spielstätten <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> zu bespielen.<br />
Drei Performancekünstler:innen wurden eingeladen, aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
Projekte für unterwegs zu entwickeln, die einen Blick auf den Raum des Dazwischen und in<br />
ihm das Verhältnis zwischen Natur und Energie aufzuzeigen. Doch an<strong>der</strong>s als in den Jahren<br />
zuvor wird in diesem Jahr das Publikum gemeinsam mit den Künstler:innen die WEGE als<br />
Gruppe zurücklegen, um in Austausch und direkte Begegnung zu kommen – in Bochum,<br />
Essen und Duisburg.<br />
In our third year we also continue our project WEGE, creating works for the routes between<br />
the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s disparate venues. Three performance artists have been invited to devise<br />
projects to be experienced on the move from a variety of perspectives, each of which<br />
presents a view of these intermediate spaces and what they reveal about the relationship<br />
between nature and energy. However, in contrast to previous years, this year audiences will<br />
experience the WEGE projects in groups together with the artists, so that they can meet<br />
and exchange reactions – in between Bochum, Essen and Duisburg.<br />
Konzept<br />
Aljoscha Begrich<br />
Eine Auftragsarbeit <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Wege <strong>2023</strong><br />
Wege 2021 + 2022<br />
Zu Fuß / By foot<br />
Fahrrad / Bike<br />
Straßenbahn / Tram<br />
Zug / Train<br />
www.ruhr3.com/wege
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
KGV Bergmannsheil<br />
RAUBBAUFOLGELYRIK<br />
BOCHUM<br />
STEFAN WARTENBERG<br />
Konzept, Performance Stefan Wartenberg Beratung Fabian Kaufung,<br />
Maja Zimmermann Mit Stefan Wartenberg, Lena Dorn<br />
Dichter:innen des Bochumer Dichter:innentreffens: Michael Barthel,<br />
Lena Dorn, Sascha Kokott, Lütfiye Güzel, Lars Banhold, Christoph<br />
Kleinhubbert und Thomas Anzenhofer, Hannes Fuhrmann und<br />
Sybille Lengauer<br />
Der Flaneur und Lyriker Stefan Wartenberg aus Leipzig<br />
lädt zu einem literarischen Spaziergang durch Bochum.<br />
Im Zentrum des Walks stehen alte und neue Gedichte, die<br />
im allerweitesten Sinne die Themen Arbeit und Energie<br />
verhandeln und damit die omnipräsente Geschichte auf<br />
allen Wegen dieser Stadt zeigen. Orte werden mit Texten<br />
konfrontiert – und umgekehrt: praktizierte Literatur im<br />
öffentlichen Raum.<br />
Leipzig flaneur and poet, urbanologist and phenomenologist<br />
Stefan Wartenberg invites you on a literary walk from<br />
the centre of Bochum to its outskirts. At the heart of the<br />
walk, poems old and new engage with the topics of nature<br />
and energy in the broadest sense and illuminate the history<br />
that is omnipresent on all routes within the city. Places<br />
are confronted with texts – and vice versa: this is literature<br />
being practiced in public space.<br />
Treffpunkt: Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Anmeldung unter: www.ruhr3.com/lyrik<br />
Endpunkt: KGV Bergmannsheil<br />
Dauer: ca. 90 min<br />
Sa 12. August _____________________________ 16.00 Uhr<br />
So 13. August _____________________________ 16.00 Uhr<br />
Fr 1. September____________________ 17.00 Uhr<br />
Sa 2. September___________________ 16.00 Uhr<br />
So 3. September___________________ 16.00 Uhr<br />
Specials: _Dichter:innentreffen im Anschluss an die<br />
Performances am 12.8. und 2.9.<br />
Haus <strong>der</strong> Geschichte des Ruhrgebiets,<br />
Clemensstraße 17, 44789 Bochum<br />
20
Bahnhof<br />
Zollverein Nord<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Hospital zum<br />
Heiligen Geist<br />
AK KU KU<br />
SAN KELLER<br />
¿DÓNDE ESTAMOS?<br />
GABY BLANCO<br />
Konzept San Keller Sound XAV-06 Y Mit San Keller<br />
Der Konzept- und Spaziergangskünstler San Keller bittet<br />
zum Tanz durch Duisburg. Die verklungenen Sounds <strong>der</strong><br />
ehemaligen Industrie werden mit einem Techno-Set verwoben,<br />
welches San Keller gemeinsam mit dem Publikum<br />
durch die Straßen tragend zur Aufführung bringt. AK KU KU<br />
verbindet die Akkus <strong>der</strong> Lautsprecher, die die Dauer <strong>der</strong><br />
Performance bestimmen, und den das Territorium markierenden<br />
Kuckuck, um gemeinsam zu rufen: »Schau her, ich<br />
habe noch Power!«<br />
The Swiss conceptual and promenade artist San Keller<br />
invites you to dance through Duisburg. The faded sounds<br />
of former industries are combined with a techno set that<br />
will carry San Keller and the audience through the streets<br />
together to create a performance. AK KU KU links the<br />
batteries of the loudspeakers that determine the duration<br />
of the performance and the cuckoo marking its territory,<br />
both of them calling out: »Look here, I’ve still got power!«<br />
Treffpunkt: Duisburg Hauptbahnhof, Bahnhofsvorplatz<br />
Anmeldung unter: www.ruhr3.com/akkuku<br />
Endpunkt: offen<br />
Dauer: solange die Akkus halten<br />
Mi 23. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
Do 24. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
Fr 25. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
Sa 26. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
So 27. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
Mi 30. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />
Idee, Regie, Text, Performance Gaby Blanco Mit Udo Schwammborn,<br />
Women of the Puna Beratung Manuel Iglesias Grafikdesign Alejandra<br />
Stefani<br />
Die argentinische Stadterforscherin Gaby Blanco wird bei<br />
ihrer Tour durch Essen Minen arbeit zwischen Südamerika<br />
und Deutschland miteinan<strong>der</strong> abgleichen. In den Unterschieden<br />
und Gemeinsamkeiten befragt sie den grundsätzlichen<br />
Zugang zur Natur: Kann <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mensch<br />
etwas an<strong>der</strong>es sehen als Gebiete <strong>der</strong> Eroberung und Ausnutzung?<br />
Es ist Zeit, uns durch Rituale selbst als Teil <strong>der</strong><br />
Natur zu verstehen, um zu fragen, wo wir stehen und wohin<br />
wir gehen.<br />
In her tour around Essen, Argentinian urbanologist Gaby<br />
Blanco will compare mine working in South America and<br />
Germany. On the basis of these differences and similarities<br />
she will question our fundamental approach to nature: Can<br />
mo<strong>der</strong>n humans see anything other than territory for conquest<br />
and exploitation? It is time for us to employ rituals to<br />
see ourselves as part of nature in or<strong>der</strong> to ask where we<br />
stand and where we are heading.<br />
Treffpunkt: Essen Zollverein Nord<br />
Anmeldung unter: www.ruhr3.com/woher<br />
Endpunkt: Hospital zum Heiligen Geist, Essen Stoppenberg<br />
Dauer: ca. 150 min<br />
Sa 16. September____________________ 17.00 Uhr<br />
So 17. September___________________ 16.00 Uhr<br />
Do 21. September___________________ 18.00 Uhr<br />
Fr 22. September___________________ 18.00 Uhr<br />
Sa 23. September___________________ 18.00 Uhr<br />
Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia<br />
www.ruhr3.com/wege<br />
21
FILMRETROSPEKTIVE<br />
LOEKENFRANKE<br />
Zu einem Festival <strong>der</strong> Künste gehört auch die Filmkunst.<br />
In Kooperation mit dem letzten verbliebenen Bahnhofskino<br />
Deutschlands, dem Metropolis im Bochumer<br />
Hauptbahnhof, zeigen wir eine Retrospektive des in Witten<br />
beheimateten Filmkollektivs loekenfranke, das wie<br />
kein an<strong>der</strong>es den Blick auf das Ruhrgebiet geprägt hat.<br />
Ihre preisgekrönten Langzeitdokumentationen erzählen<br />
von großen gesellschaftlichen Umbruchprozessen,<br />
vom Trösten und Durchhalten, vom Verschwinden und<br />
Bleiben, von Arbeit und Heimat, von einer Stadt, die<br />
sich neu erfindet, und dem Kampf um den Erhalt einer<br />
großen Liebe.<br />
Any arts festival should also include the art of film. In<br />
co-operation with Germany’s last remaining station cinema,<br />
the Metropolis in Bochum Hauptbahnhof, we present<br />
a retrospective from the Witten-based film collective<br />
loekenfranke, which has had an unparalleled impact<br />
on how the Ruhr region is perceived. We will also be<br />
screening two feature films presenting the work of choreographer<br />
Gisèle Vienne, whose latest production will<br />
receive its world premiere at this year’s <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Über das Verschwinden,<br />
Erinnern und den magischen Moment<br />
→ Magazin, Seite 136<br />
Metropolis Kino,<br />
Bochumer Hauptbahnhof<br />
Jeden Samstag vom 12. August<br />
<strong>2023</strong> bis 23. September <strong>2023</strong><br />
(außer am 9.9.<strong>2023</strong>) – mit<br />
Einführungen und anschließenden<br />
Filmgesprächen mit den<br />
anwesenden Künstler:innen<br />
www.ruhr3.com/loekenfranke<br />
UND VOR MIR DIE STERNE … –<br />
DAS LEBEN DER SCHLAGERSÄNGERIN<br />
RENATE KERN<br />
Ein Stück bundesrepublikanischer Wirklichkeit und <strong>der</strong>en<br />
Trostszenarien im deutschen Schlager. Roter Faden für<br />
den Dokumentarfilm über Deutschland zwischen 1965<br />
und 1997 ist das Leben <strong>der</strong> Renate Kern: ihre ewige Suche<br />
nach Identität, ihre Karriere und ihr Scheitern als Schlagersternchen<br />
und schließlich ihr Selbstmord 1991.<br />
A slice of German reality and the solace offered by popular<br />
songs.<br />
Einführung: Judith Gerstenberg<br />
Sa 12. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />
D 1998, Dauer: 90 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
HERR SCHMIDT UND HERR<br />
FRIEDRICH<br />
Eine Beziehung. Eine Reise in die deutsche Vergangenheit<br />
und ins deutsche Provinzleben. Die Liebe zwischen<br />
Herrn Schmidt und Herrn Friedrich begann viele Jahre vor<br />
dem Mauerfall, als <strong>der</strong> eine im Westen kaufmännischer<br />
Angestellter war und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in Ostberlin kellnerte. Als<br />
Langzeitarbeitslose mussten die beiden Mittfünfziger die<br />
Sinnfrage Tag für Tags aufs Neue beantworten.<br />
A relationship, a journey into Germany’s past and life in<br />
the German provinces.<br />
Einführung: Barbara Frey<br />
Sa 19. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />
D 2001, Dauer: 72 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
22
LOSERS AND WINNERS –<br />
ARBEIT GEHÖRT ZUM LEBEN<br />
Eine Geschichte aus <strong>der</strong> globalisierten Wirtschaft. 400<br />
chinesische Arbeiter:innen zerlegen die Dortmun<strong>der</strong><br />
Kokerei Kaiserstuhl in ihre Einzelteile und verschiffen<br />
sie in ihre Heimat.<br />
A story of economic globalisation. 400 Chinese workers<br />
dismantle the Kaiserstuhl coking works in Dortmund<br />
into parts and ship them to their homeland.<br />
Einführung: Mischa Leinkauf<br />
Sa 26. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />
D 2006, Dauer: 100 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
ARBEIT HEIMAT OPEL<br />
Porträt von sechs Auszubildenden im Opel-Werk Bochum<br />
und von Lebensträumen und Sorgen am Anfang eines<br />
Arbeitslebens, dessen Zukunft ungewiss ist.<br />
A portrait of six apprentices at the Opel works in Bochum,<br />
the lives they dream of and their worries at the beginning<br />
of a working life whose future is uncertain.<br />
Einführung: Mats Staub<br />
Sa 2. September____________________ 17.00 Uhr<br />
D 2012, Dauer: 90 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
GÖTTLICHE LAGE –<br />
EINE STADT ERFINDET SICH NEU<br />
Ein Film über den Wandel <strong>der</strong> Industriegesellschaft zur<br />
Freizeitgesellschaft. Auf einem ehemaligen Stahlwerksgelände<br />
in Dortmund wird über viele Jahre ein neuer<br />
Stadtteil gebaut. Den Mittelpunkt bildet ein künstlicher<br />
See, an dessen Ufern luxuriöse Wohnungen entstehen.<br />
Planer und Anwohner, Visionäre und Zweifler werden zu<br />
Gewinnern und Verlierern dessen, was man gesellschaftlichen<br />
Fortschritt nennt.<br />
A new suburb is being built on the site of a former steelworks<br />
in Dortmund. Its centrepiece is an artificial lake –<br />
the Phönixsee. About the transformation from an industrial<br />
society to one based on leisure.<br />
Einführung: Aljoscha Begrich<br />
Sa 16. September____________________ 17.00 Uhr<br />
D 2014, Dauer: 104 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
WE ARE ALL DETROIT<br />
Die Suche nach einer neuen Identität nach dem Ende des<br />
Industriezeitalters. Ein Blick auf zwei weit entfernte Städte,<br />
Bochum und Detroit, vor denen nach dem Weggang <strong>der</strong><br />
Autoindustrie gigantische Herausfor<strong>der</strong>ungen liegen. Die<br />
Industrie verschwindet, was bleibt, sind die Menschen.<br />
The search for a new identity after the industrial age has<br />
ended.<br />
Im Anschluss Gespräch mit loekenfranke<br />
Sa 23. September____________________ 17.00 Uhr<br />
D 2021, Dauer: 119 min<br />
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />
Verleih: realfiction<br />
23
SKATEPARK<br />
METTE<br />
INGVARTSEN<br />
Tanz<br />
Für alle ab 12 Jahren<br />
Skateboarden strukturiert die<br />
Weltanschauung <strong>der</strong>er, die es praktizieren<br />
→ Magazin, Seite 188<br />
24
Legenden zufolge zwangen niedrige Wellen die Surfer:innen von Los Angeles eines Tages<br />
aus dem Wasser auf den Asphalt. Durch die Straßen gleitend und jedes neue Hin<strong>der</strong>nis<br />
überwindend ist Skaten inzwischen zu einer einzigartigen Choreografie geworden,<br />
die sich den öffentlichen Raum erobert hat, Hin<strong>der</strong>nisse mit waghalsigen Bewegungen<br />
überwindet und eine eigene Subkultur initiiert hat.<br />
In ihrer neuen Arbeit verwandelt die dänische Choreografin Mette Ingvartsen die Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
in einen Skatepark. Hin<strong>der</strong>nisse, Kanten und Gelän<strong>der</strong> werden vom Skatepark<br />
im öffentlichen Raum zum Bühnensetting und machen das Skaten zu einem Teil<br />
des Tanzvokabulars. Eine große Gruppe bestehend aus Tänzer:innen und Skater:innen<br />
sucht den Nervenkitzel des Tempos und die beson<strong>der</strong>e Energie <strong>der</strong> Bewegung auf Rollen<br />
– eine physische Erinnerung aus Mette Ingvartsens eigener Jugend. Statt virtuoser<br />
Kunststücke zeigt Skatepark vielmehr eine Gemeinschaft, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> sich unermüdlich<br />
ausprobieren, scheitern und immer wie<strong>der</strong> die Grenzen des Möglichen neu<br />
ausloten, aber auch ihr gemeinsames Abhängen, Musikhören, Lachen und Tanzen.<br />
Während Mette Ingvartsen mit einer festen Gruppe von Tänzer:innen und Skater:innen<br />
zusammenarbeitet, sucht sie für jeden Aufführungsort junge lokale Skater:innen, um<br />
Begegnungen zu stiften und das Gefühl für diese beson<strong>der</strong>e Subkultur des Skatens<br />
zu vermitteln. Wie alle ihre Arbeiten zeichnet sich auch diese durch die Suche nach<br />
Berührungspunkten zwischen Tanz und erweiterten choreografischen Praktiken außerhalb<br />
des Bühnenraums aus. Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> zeigt jedes Jahr eine Arbeit<br />
von Mette Ingvartsen. Skatepark ist als Deutschlandpremiere in <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum zu erleben.<br />
According to legend, low waves forced Los Angeles’s surfers out of the water one day<br />
and onto the tarmac. Gliding through the streets and overcoming every new obstacle,<br />
skateboarding has now evolved into a unique form of choreography that has reclaimed<br />
open spaces, overcome obstacles with daredevil manoeuvres and developed its own<br />
subculture.<br />
In her new work the Danish choreographer Mette Ingvartsen transforms the Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
into a skate park. Obstructions, kerbs and railings turn a public skate park into<br />
a stage setting and make skateboarding part of the vocabulary of dance. Here a big<br />
group of dancers and skaters go looking for the thrill of speed and the special energy of<br />
movement on wheels – a physical memory from Mette Ingvartsen’s own youth. Instead<br />
of virtuoso artistic tricks, Skatepark focusses far more on a community whose members<br />
are tirelessly trying things out, failing and re-assessing the limits of what is possible, also<br />
showing them hanging out together, listening to music, laughing and dancing.<br />
While Mette Ingvartsen works together with a regular group of dancers and skaters, she<br />
also looks for young local skaters in each venue in or<strong>der</strong> to generate encounters and<br />
communicate a sense of this specific skateboarding subculture. As is the case here, her<br />
works are characterised by searching for points of contact between dance and choreographic<br />
practices that extend beyond the stage. <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> has so far<br />
presented one work by Mette Ingvartsen each year. Skatepark will receive its German<br />
premiere at the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum.<br />
Konzept, Choreografie<br />
Mette Ingvartsen<br />
Assistenz Choreografie<br />
Michaël Pomero<br />
Kostüme<br />
Jennifer Defays<br />
Sound Design<br />
Anne van de Star<br />
Peter Lenaerts<br />
Licht Design<br />
Minna Tiikkainen<br />
Szenografie<br />
Pierre Jambé/Antidote<br />
Technisches Bühnendesign<br />
Stéphane Thonnard<br />
Bühnenkonstruktion<br />
Construction Workshop des<br />
Théâtre National Bruxelles:<br />
Joachim Pochet, Joachim<br />
Hesse, Pierre Jardon, Yves<br />
Philippaerts, Andrea Messana,<br />
Boyd Gates<br />
Dramaturgie<br />
Bojana Cvejić<br />
Technische Leitung<br />
Hans Meijer<br />
Tontechnik<br />
Milan Van Doren, Yrjänä<br />
Rankka, Filip Vilhelmsson<br />
Lichttechnik<br />
Bennert Vancottem, Jan-Simon<br />
De Lille<br />
Musik<br />
Felix Kubin, Mord Records, Why<br />
the eye, sonaBLAST! Records,<br />
Rrose, The Fanny Pads, Restive<br />
Plaggona<br />
Mit<br />
Damien Delsaux, Manuel Faust,<br />
Aline Boas, Mary-Isabelle<br />
Laroche, Sam Gelis,<br />
Fouad Nafili, Júlia Rúbies<br />
Subirós, Thomas Bîrzan,<br />
Briek Neuckermans, Indreas<br />
Kifleyesus, Arthur Vannes,<br />
Camille Gecchele<br />
Lokale Skater:innen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Sa 12. August _________________ 20.00 Uhr<br />
So 13. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 19. August _________________ 20.00 Uhr<br />
So 20. August ___________________ 16.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 75 min<br />
Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />
ermäßigt ab 12 €<br />
Great Investments wird<br />
unterstützt von Fondation<br />
d’entreprise Hermès,<br />
Wilhelm Hansen Fonden,<br />
The Flemish Authorities, VGC,<br />
Tax Shelter of the Belgian<br />
Fe<strong>der</strong>al Government & The<br />
Danish Arts Council<br />
Produktion: Great Investment vzw<br />
Koproduktion: La Danse en<br />
grande forme (CNDC – Angers,<br />
Malandain Ballet Biarritz, La<br />
Manufacture CDCN Nouvelle-<br />
Aquitaine Bordeaux · La Rochelle,<br />
CCN de Caen en Normandie,<br />
L’échangeur – CDCN Hautsde-France,<br />
CCN2 – Grenoble,<br />
La Briqueterie – CDCN du Val<br />
de Marne, CCN – Ballet national<br />
de Marseille, CCN de Nantes,<br />
CCN d’Orléans, Atelier de Paris /<br />
CDCN, Le Gymnase CDCN<br />
Roubaix – Hauts-de-France,<br />
La Place de La Danse – CDCN<br />
Toulouse – Occitanie, La MC2<br />
– Grenoble), <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />
Wiener Festwochen und Tanz -<br />
quartier Wien, La Villette<br />
und Théâtre Chaillot, deSingel,<br />
Kaaitheater und Théâtre<br />
National, Kunstencentrum VIER-<br />
NULVIER, Next Festival,<br />
Charleroi danse centre chorégraphique<br />
de Wallonie –<br />
Bruxelles, International Theatre<br />
Rotterdam, Perpodium<br />
www.ruhr3.com/skatepark<br />
25
EXTRA LIFE<br />
GISÈLE VIENNE<br />
Schauspiel / Tanz<br />
Nacht und Licht<br />
→ Magazin, Seite 164<br />
26
Am Ende einer durchfeierten Nacht erleben zwei Geschwister, <strong>der</strong>en enges Verhältnis<br />
in <strong>der</strong> Kindheit durch ein Drama jäh zerstört worden war, einen beson<strong>der</strong>en Moment<br />
<strong>der</strong> Nähe. Nach zwanzig Jahren sind sie fähig, den Zusammenbruch des Systems zu<br />
verstehen, das dieses traumatische Ereignis ermöglicht hat. Jetzt entwerfen die beiden<br />
Erwachsenen mit neuer Empfindungs- und Analysefähigkeit einen möglichen Handlungsspielraum<br />
und damit eine Zukunft.<br />
Die Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne setzt mit dieser neuen Arbeit ihre<br />
ebenso bewegende wie rigorose Dekonstruktion des Wahrnehmungssystems in seinen<br />
gesellschaftlich geprägten narrativen und psychischen Strukturen fort. Hierfür erforscht<br />
sie gemeinsamen mit den Spieler:innen und Tänzer:innen Katia Petrowick, Adèle Haenel<br />
und Theo Livesey die Archäologie eines Moments <strong>der</strong> ganz beson<strong>der</strong>en Empfindung.<br />
Sie erfindet eine künstlerische Sprache, die es ermöglicht, perzeptive Schichten <strong>der</strong><br />
Erfahrung <strong>der</strong> Gegenwart auseinan<strong>der</strong>zufalten: Vergangenheit, Gegenwart, antizipierte<br />
Zukunft, Erinnerung und Wunschvorstellung.<br />
Das extrem dichte choreografische Stück folgt einer feinverästelten Partitur, bestehend<br />
aus dem Spiel <strong>der</strong> Darsteller:innen, <strong>der</strong> Musik Caterina Barbieris, dem Sound Design von<br />
Adrien Michel und dem Licht von Yves Godin.<br />
Entstanden ist eine einzigartige Bühnensprache, in <strong>der</strong> sinnliche Erfahrungen Möglichkeitsräume<br />
für Gedanken und Worte schaffen.<br />
Director and choreographer Gisèle Vienne continues her moving and exacting deconstruction<br />
of perceptual frameworks and narrative and psychological structures.<br />
At the end of a night partying, a sister and brother find each other again. Twenty years<br />
before, when they were children, they were united by a close bond, only to be torn apart<br />
by a tragedy. Now that they are capable of un<strong>der</strong>standing the collapse of the system that<br />
made this traumatic experience possible and acting on a new sensitivity and capacity<br />
for analysis, the two adults can imagine a sphere of action as well as a possible future.<br />
With EXTRA LIFE, Gisèle Vienne pursues her exploration of systems of perception. By<br />
developing and unfolding the layers of the experience of this moment, this sensitive<br />
openness, the choreographer invents a form in which different strata of what constitutes<br />
the present experience coexist: past, present, anticipated future, construction of memory,<br />
imagination. This intense choreographic work follows a sophisticated and unique<br />
artistic language made up of the actors’ and dancers’ performances, Caterina Barbieri’s<br />
music, Adrien Michel’s sound design and Yves Godin’s lighting.<br />
Gisèle Vienne’s reflection on perceptual hierarchies takes the form of a heterogeneous<br />
collage, created in collaboration with and performed by Katia Petrowick, Adèle Haenel<br />
and Theo Livesey. The result is a distinctive theatrical and choregraphic language in<br />
which sensory experiences make thoughts and words possible.<br />
Konzept, Choreografie, Regie,<br />
Szenografie<br />
Gisèle Vienne<br />
Kreiert mit und performt von<br />
Adèle Haenel<br />
Theo Livesey<br />
Katia Petrowick<br />
Originalmusik<br />
Caterina Barbieri<br />
Sound Design<br />
Adrien Michel<br />
Licht<br />
Yves Godin<br />
Text<br />
Adèle Haenel<br />
Theo Livesey<br />
Katia Petrowick<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Dennis Cooper<br />
Kostüme<br />
Gisèle Vienne, Camille Queval<br />
Inspizienz<br />
Antoine Hordé<br />
Toninspizienz<br />
Adrien Michel<br />
Lichtinspizienz<br />
Samuel Dosière<br />
Iannis Japiot<br />
Technische Direktion<br />
Erik Houllier<br />
Produktion und Distribution<br />
Alma Office:<br />
Anne-Lise Gobin<br />
Camille Queval<br />
Andrea Kerr<br />
Administration<br />
Cloé Haas<br />
Giovanna Rua<br />
Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />
Essen<br />
Uraufführung<br />
Mi 16. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Do 17. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />
So 20. August ___________________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 110 min<br />
Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />
ermäßigt 12 €<br />
Französisch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
DACM / Company Gisèle Vienne<br />
wird vom Ministère de la culture<br />
et de la Communication - DRAC<br />
Grand Est, <strong>der</strong> Région Grand Est,<br />
<strong>der</strong> Ville de Strasbourg, vom<br />
Institut Français für internationale<br />
Tourneen und von Dance<br />
Reflections by Van Cleef &<br />
Arpels unterstützt.<br />
Produktion: DACM / Company<br />
Gisèle Vienne<br />
Koproduktion: <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />
Théâtre National de Bretagne –<br />
Centre Européen Théâtral<br />
et Chorégraphique, MC93 –<br />
Bobigny, MC2 – Grenoble,<br />
Théâtre national de Chaillot,<br />
Maillon – Théâtre de Strasbourg,<br />
Tandem – Scène<br />
nationale de Douai, Points<br />
Communs – Nouvelle Scène<br />
nationale de Cergy Pontoise,<br />
CND Centre national de la<br />
danse, Le Volcan – Scène<br />
nationale du Havre, Centre<br />
Culturel André Malraux- Scène<br />
nationale de Vandoeuvre lès<br />
Nancy, NTGent, Cité du Théâtre<br />
Domaine d’O Montpe llier,<br />
Festival d’Automne à Paris,<br />
La Filature, Scène nationale<br />
de Mulhouse, Comédie de<br />
Clermont, Internationales<br />
Sommerfestival Kampnagel –<br />
Hamburg, Tanzquartier Wien,<br />
Triennale – Mailand, Comédie de<br />
Genève<br />
www.ruhr3.com/life<br />
27
SI C’ÉTAIT DE L’AMOUR<br />
PATRIC CHIHA / GISÈLE VIENNE<br />
Film<br />
»Dem Film entkommen zu wollen, ist zwecklos, besser man verliert sich in ihm bis zum<br />
Schwindel« (Débordements). Der Dokumentarfilm über Gisèle Viennes Rave-Tanzstück<br />
Crowd ist selbst eine Techno-Party – mit repetitiven Bewegungen, kathartischen Momenten<br />
und 15 Körpern voll geballter sexueller Energie, die physisch und emotional aufeinan<strong>der</strong>treffen.<br />
Zugleich erlebt man die Choreografin bei den Proben ihrer intensiven,<br />
genauen Arbeit am Körper.<br />
»Trying to escape this film is pointless: it is better to lose yourself in it until you’re dizzy«.<br />
(Débordements) The documentary film about Gisèle Vienne’s rave dance piece Crowd<br />
is itself a techno party – featuring repetitive movement, moments of catharsis and 15<br />
bodies bursting with sexual energy colliding physically and emotionally. At the same time,<br />
we also see the choreographer in rehearsal and her intense, precise work on the body.<br />
Di 15. August _________________ 20.00 Uhr<br />
FR 2020, 82 min. OmdtU<br />
Regie: Patric Chiha<br />
mit: Gisèle Vienne<br />
Verleih: ImmerGuteFilme<br />
www.ruhr3.com/amour<br />
Metropolis Kino,<br />
Bochumer Hauptbahnhof<br />
28
JERK<br />
GISÈLE VIENNE<br />
Film<br />
Nach mehr als zwölf Jahren internationaler Tourneen hat die Choreografin Gisèle Vienne<br />
beschlossen, ihr Kultstück Jerk zu verfilmen – als eigenständiges Werk. Jerk basiert auf<br />
<strong>der</strong> Geschichte um den amerikanischen Serienmör<strong>der</strong> Dean Corll, <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> 1970er-<br />
Jahre mithilfe zweier Teenager in Texas mehr als 20 Jungen tötete. In <strong>der</strong> Tradition des<br />
Genre- und Horrorfilms erforscht Vienne die Mechanismen <strong>der</strong> Gewalt.<br />
After touring internationally for over twelve years, the choreographer Gisèle Vienne finally<br />
decided to film her cult piece Jerk as a work in its own right. Jerk is based on the story<br />
of the American serial killer Dean Corll, who, aided by two teenagers, killed more than 20<br />
young boys in Texas in the mid-1970s. Vienne uses the tradition of genre and horror films<br />
to analyse the mechanisms of violence.<br />
Di 22. August _________________ 20.00 Uhr<br />
FR 2021, 72 min. OmU<br />
Regie: Gisèle Vienne<br />
Verleih: Shellac<br />
www.ruhr3.com/jerk<br />
Metropolis Kino,<br />
Bochumer Hauptbahnhof<br />
29
MASCHINENHAUSMUSIK<br />
EVE RISSER // KEE AVIL<br />
Après un Rêve / Zehn Jahre erforschte Eve Risser die<br />
Eingeweide des Konzertflügels. Dann entdeckte sie ihre<br />
Faszination für die perkussive und rhythmische Magie, die<br />
im Körper des ganz gewöhnlichen Klaviers schlummert.<br />
Après un Rêve – nach <strong>der</strong> berühmten elegischen Komposition<br />
von Gabriel Fauré benannt – ist eine poetisch-mechanische<br />
Performance, die von <strong>der</strong> unmittelbaren Nähe<br />
zwischen Publikum und Instrument lebt. Die als Rhythmusbox<br />
organisierten Hämmer setzen die Walze zukünftiger<br />
Erinnerungen in Bewegung. Man entsteigt ihnen, wie<br />
man aus einem Traum erwacht. »O Nacht, gib mir deine<br />
Lügen zurück« (Romain Bussine). Eine Hand für den Groove,<br />
die an<strong>der</strong>e für die Seele. Und die Füße? Für die Party!<br />
Après un Rêve / Eve Risser spent ten years exploring the<br />
innards of the concert grand. Then she discovered her fascination<br />
for the percussive and rhythmic magic dormant<br />
within the body of the upright piano. Après un Rêve – a<br />
title taken from the famous elegiac composition by Gabriel<br />
Fauré – is a poetic and mechanical performance sustained<br />
by the direct proximity between the audience and the instrument.<br />
The hammers organised as a rhythm box set<br />
waves of future memories in motion. Emerging from these<br />
is like awakening from a dream. »Oh Night, give me back<br />
your lies« (Romain Bussine). One hand is for the groove,<br />
the other is for the soul. And the feet? They’re for the party!<br />
Präpariertes Klavier, Kick Drum Eve Risser<br />
Crease / Musik ist für Kee Avil kein rein akustisches<br />
Phänomen. Die Lie<strong>der</strong>, die sie schreibt, begreift sie als<br />
Skulpturen: »Es beginnt mit einem ersten Wort, Gefühl<br />
o<strong>der</strong> Klang, die ich zu einer definierten Form weitermodelliere<br />
und in einer imaginären Struktur befestige. Manchmal<br />
ist meine Rolle aber auch, an dessen äußerer Hülle<br />
zu schaben, um ihre wahre Gestalt freizulegen und ihren<br />
Platz im großen Ganzen sichtbar zu machen.« Mit Gitarre,<br />
Electronics und ihrer Stimme tastet sie diese Prozesse auf<br />
unkonventionellste Weise langsam ab, verknetet Klänge<br />
mit Geräuschen, entwirrt sie wie<strong>der</strong> und durchläuft auf<br />
diesem sinnlichen Weg die aufregendsten Transitstadien.<br />
Crease / For Kee Avil, music is more than a purely acoustic<br />
phenomenon. She thinks of the songs she writes as sculptures:<br />
»It stems from an initial word, emotion or sound,<br />
which I then build on, moulding it into a more refined<br />
shape, glued into an artificial structure. Other times, my<br />
role is to peel it, scrape at its exterior, to reveal its natural<br />
state and its part within the whole.« She uses the guitar,<br />
electronics and her voice to tease out these processes<br />
slowly in the most unconventional ways, kneading together<br />
sounds and noises, then disentangling them again and<br />
passing through the most exciting transitional states along<br />
this sensory route.<br />
GUSTAFSSON / GUY / MILLÀ<br />
Sie zählen zu den spannendsten und charakterstärksten<br />
Stimmen <strong>der</strong> internationalen Improvisationsszene in drei<br />
Generationen: Als Urgewalt am Saxofon ist Mats Gustafsson<br />
in Jazz- wie in Hardcore-Kreisen berüchtigt. Ein<br />
breites Spektrum vereint auch Barry Guy: Für den Kontrabassisten<br />
umfasst es Barockmusik genauso wie Jazz und<br />
Neue Musik. Er gründete und leitete das legendäre London<br />
Jazz Composers Orchestra und spielte u. a. in Christopher<br />
Hogwoods Academy of Ancient Music. Jordina<br />
Millàs Weg durch verschiedene multidisziplinäre Bereiche<br />
als Pianistin und Improvisatorin ist indessen von einem<br />
steten Forschungstrieb begleitet, <strong>der</strong> hauptsächlich ihrem<br />
Instrument gilt – und die schwarzweißen Tasten sind nur<br />
<strong>der</strong> Beginn dieses Kosmos. In verschiedenen Duoformationen<br />
sind die drei Musiker:innen jahrelang zusammen<br />
durch die Welt getourt. Als Trio stehen sie im Maschinenhaus<br />
nun zum ersten Mal gemeinsam auf <strong>der</strong> Bühne!<br />
Diese überfällige Weltpremiere ist <strong>der</strong> Kulminationspunkt<br />
eines Abends, an dem die drei so eigenständigen Künstler:innen<br />
zuerst solo und in allen möglichen Duokonstellationen<br />
zu erleben sind, bevor sie mit geballter Energie im<br />
Trio zusammenwachsen.<br />
They are among the most exciting voices and strongest<br />
characters on the international improvisation scene and<br />
span three generations: Mats Gustafsson is a legend in<br />
both jazz and hardcore circles as a primal force on the<br />
saxophone. Barry Guy also covers a very broad spectrum,<br />
with the double bassist playing Baroque music as well as<br />
jazz and new music. He has performed amongst others<br />
with Christopher Hogwood’s Academy of Ancient Music<br />
and is the foun<strong>der</strong> and director of the legendary London<br />
Jazz Composers Orchestra. Jordina Millà’s route across<br />
various multidisciplinary fields as a pianist and improviser<br />
has been accompanied by a constant urge for exploration<br />
that is mainly applied to her own instrument – whose<br />
black and white keys simply represent the start of this<br />
universe. The three musicians have already spent years<br />
touring the world together in various duos. Their concert<br />
at the Maschinenhaus will be the first time they all appear<br />
together on stage! This overdue world premiere will be the<br />
culminating point of an evening on which these three very<br />
individual artists will first be heard solo and then in every<br />
possible combination as duos before they pool all their<br />
energies together as a trio.<br />
Mi 30. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Saxofon Mats Gustafsson<br />
Kontrabass Barry Guy<br />
Klavier Jordina Millà<br />
Mi 23. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Stimme, E-Gitarre Kee Avil<br />
30
DIE KONZERTREIHE <strong>2023</strong><br />
Die Konzertreihe für Neugierige und Abenteuerlustige geht weiter – diesmal mit gleich zwei<br />
Weltpremieren: Erstmals treffen Mats Gustafsson, Barry Guy und Jordina Millà, drei Größen<br />
<strong>der</strong> internationalen Jazz- und Improvisationsszene, als Trio aufeinan<strong>der</strong>. Aus Freund:innen<br />
im Leben werden Freund:innen auf <strong>der</strong> Bühne, wenn die einzigartige Bassistin Farida<br />
Amadou zur Wiener Band Mopcut stößt. Mit <strong>der</strong> Gitarristin und Sängerin Kee Avil und<br />
<strong>der</strong> Pianistin Eve Risser stehen sich an einem Abend zwei einzigartige Solokünstlerinnen<br />
gegenüber. Und fernab von je<strong>der</strong> stilistischen Sesshaftigkeit erwan<strong>der</strong>t das Ensemble of<br />
Nomads, ein junges Band-Hybrid zwischen zeitgenössischer Musik und Rock, multimediale,<br />
performative und virtuose Kontinente.<br />
Our concert series for curious and adventurous listeners continues – this time with two<br />
world premieres: first up, Mats Gustafsson, Barry Guy and Jordina Milà, three greats of the<br />
international jazz and improvisation scene, will meet and perform as a trio for the first time.<br />
Friends off stage turn into friends on stage when the unique bassist Farida Amadou is joined<br />
by the Viennese band Mopcut. Two singular solo artists face off on the same evening<br />
with the guitarist and singer Kee Avil and the pianist Eve Risser. And far removed from any<br />
settled style, a young hybrid band, Ensemble of Nomads, roams the continents between<br />
contemporary music and rock in its own multimedia, performative and virtuoso style.<br />
www.ruhr3.com/mhm<br />
Maschinenhaus Essen<br />
17 / 27 €, ermäßigt 12 €<br />
Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />
Kulturstiftung Pro Helvetia<br />
MOPCUT FEAT. FARIDA AMADOU<br />
Die junge Wiener Band Mopcut ist ein Phänomen <strong>der</strong> Extreme.<br />
Ihre Improvisationssprache gehört zu den originellsten<br />
und experimentellsten, die zur Zeit nachwachsen. Die<br />
Schlüsselzutaten, mit denen die Vokalistin Audrey Chen,<br />
<strong>der</strong> Gitarrist Julien Desprez und <strong>der</strong> Schlagzeuger Lukas<br />
König hantieren, heißen Noise, Beats und Lo-Fi Electronics.<br />
Spielerisch und finster, asketisch und ausufernd –<br />
die schärfsten Gegensätze sind wie die Pole einer Batterie,<br />
die sie mit einer unablässig hochintensiven Energie<br />
versorgt. Ob sie den Weg in Richtung Maximalismus o<strong>der</strong><br />
Minimalismus einschlagen – jede Bewegung, jede Entwicklung<br />
wird aus ihren alles umhüllenden Soundscapes<br />
geboren. Auf <strong>der</strong> Bühne des Maschinenhauses stößt die<br />
außergewöhnliche Bassistin Farida Amadou erstmals zu<br />
ihren Freund:innen von Mopcut. Verwurzelt in Blues, Jazz<br />
und Hiphop fügt Farida Amadou dem Kräftefeld <strong>der</strong> Band<br />
eine neue, unberechenbare Dimension hinzu.<br />
The young Viennese band Mopcut is a phenomenon of<br />
extremes. Its language of improvisation is among the most<br />
original and innovative currently evolving. The key ingredients<br />
that vocalist Audrey Chen, guitarist Julien Desprez<br />
and percussionist Lukas König deploy are noise, beats<br />
and lo-fi electronics. Playful and dark, ascetic and expansive<br />
– their sharpest oppositions are like the terminals of a<br />
battery providing them with a constant stream of intense<br />
energy. Whether they move in the direction of maximalism<br />
or minimalism, every move and every development is born<br />
out of their all-encompassing soundscapes. At the Maschinenhaus<br />
the remarkable bassist Farida Amadou will join<br />
her friends from Mopcut on stage for the first time. With<br />
roots in blues, jazz and hip-hop, Farida Amadou will add<br />
an unpredictable new dimension to the band’s force field.<br />
Mi 6. September ______ 20.00 Uhr<br />
Mopcut<br />
Stimme, Analogue electronics Audrey Chen<br />
E-Gitarre Julien Desprez<br />
Schlagzeug, Synthesizer Lukas König<br />
E-Bass Farida Amadou<br />
ENSEMBLE OF NOMADS<br />
Alchemia / E-Gitarre und Schlagzeug suggerieren eine<br />
Jazz-/Rockwelt, Cello und Klavier einen klassischen Kontext.<br />
Keines von beiden trifft zu, wenn das Ensemble of Nomads<br />
auf <strong>der</strong> Bühne steht. Die vier jungen Musiker:innen, die<br />
sich aus vier verschiedenen Erdteilen zusammengefunden<br />
haben, fühlen sich als Nomad:innen im Leben wie in<br />
<strong>der</strong> Musik. Zu Hause sind sie dann, wenn sie zwischen<br />
eindeutigen Stilrichtungen wan<strong>der</strong>n und die Geheimnisse<br />
und Schönheiten des Dazwischen erkunden. Ihre Konzerte<br />
bestehen aus eigens für sie komponierten zeitgenössischen<br />
Werken und sind zugleich sorgfältig inszenierte Shows mit<br />
Video, Live-Electronics und Lichtdesign, die immer wie<strong>der</strong> die<br />
Grenze zum Musiktheater passieren. Für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
haben sie einen panoptischen Abend aus Werken von Lucia<br />
Kilger, Heinz Holliger, Alexey Nadzharov, Gary Berger, Sam<br />
Pluta, Kevin Juillerat und Emilio Guim »komponiert«, <strong>der</strong> sie<br />
als Performer:innen ebenso for<strong>der</strong>t wie als Virtuos:innen<br />
ihrer Instrumente.<br />
Alchemia / Electric guitar and drums suggest a world<br />
of jazz or rock, cello and piano indicate a more classical<br />
context. Neither of these is the case when Ensemble of<br />
Nomads is on stage. The four young musicians, who have<br />
come together from four different parts of the globe, feel<br />
like nomads in life as well as in music. They feel at home<br />
roaming between specific styles and exploring the secrets<br />
and beauties of what lies in between. Their concerts<br />
consist of contemporary works composed specially for<br />
them and are also carefully staged shows with video, live<br />
electronics and lighting design which repeatedly cross the<br />
boundaries to music theatre. For the <strong>Ruhrtriennale</strong> they<br />
have »composed« a panoptic evening from works by Lucia<br />
Kilger, Heinz Holliger, Alexey Nadzharov, Gary Berger, Sam<br />
Pluta, Kevin Juillerat and Emilio Guim, which challenges<br />
their performing as well as their instrumental skills.<br />
Mi 13. September ______ 20.00 Uhr<br />
E-Gitarre Emilio Guim<br />
Violoncello Charlotte Lorenz<br />
Klavier Talvi Hunt<br />
Perkussion, Schlagzeug João Pacheco<br />
31
ABENDLOB UND<br />
MORGENGLANZ<br />
SERGEJ RACHMANINOW<br />
CHORWERK RUHR<br />
FLORIAN HELGATH<br />
Konzert<br />
SERGEJ RACHMANINOW<br />
Das große Abend- und Morgenlob op. 37 (1915)<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Musikalische Leitung<br />
Florian Helgath<br />
Trompete<br />
Tom Arthurs<br />
32
Mit <strong>der</strong> ganzen Klangpracht und Strahlkraft eines <strong>der</strong> großen Werke <strong>der</strong> Chorliteratur<br />
bringt das Chorwerk Ruhr unter <strong>der</strong> Leitung von Florian Helgath die sakral anmutende<br />
Jugendstil-Maschinenhalle <strong>der</strong> Zeche Zollern zum Erklingen. Wo bis in die Mitte des<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die För<strong>der</strong>maschinen dröhnten, weiten sich die Klangräume. Sergej<br />
Rachmaninow, dessen Geburtstag sich <strong>2023</strong> zum 150. Mal jährt, knüpft mit seinem<br />
zuweilen kraftvollen, dann wie<strong>der</strong>um filigranen Großen Abend- und Morgenlob für gemischten<br />
Chor a-cappella an die russisch-orthodoxe Kirchenmusiktradition an. Zentrales<br />
Thema <strong>der</strong> fünfzehn altslawischen Kirchentexte, die er aus <strong>der</strong> Ganznächtlichen<br />
Vigil vertont hat, ist das Mysterium <strong>der</strong> Auferstehung, das große Geheimnis des christlich-abendländischen<br />
Glaubens. Die Vigil, eine gemeinschaftlich gefeierte Nachtwache<br />
im Aufgang des Tages, ist aus den Gebeten <strong>der</strong> Asket:innen und frühen Christ:innen<br />
entstanden, die sich in Vorbereitung auf die großen kirchlichen Feste wie Ostern und<br />
Weihnachten versammelt haben. Sie wachten in <strong>der</strong> Nacht, um Jesus Christus als das<br />
aufstrahlende Licht, das neue Leben, den Morgenglanz zu erwarten. Rachmaninow verwendet<br />
alte russische, griechische und ukrainische Melodien und verbindet diese mit<br />
seiner eigenen spätromantischen Klangsprache. Ein zeitloses Ganzes, das sich von einstimmigen<br />
Gesängen bis hin zu sechsstimmigen Jubelchören erstreckt. Ein vokales Ereignis<br />
in <strong>der</strong> Dortmun<strong>der</strong> »Kathedrale <strong>der</strong> Industriekultur«.<br />
With one of the greatest works of the choral repertoire Chorwerk Ruhr conducted by<br />
Florian Helgath will bring the Jugendstil machine hall at Zeche Zollern to resounding life.<br />
Where generators used to hum until the middle of the 20th century, there is now space<br />
for sound. With his at times powerful and then again delicate All-Night Vigil for mixed<br />
a cappella choir, Sergej Rachmaninow, whose 150th anniversary is celebrated in <strong>2023</strong>,<br />
recalls traditional Russian Orthodox church music. The central theme of the fifteen ancient<br />
Slavic sacred texts that he set in the All-Night Vigil is the Resurrection, the great<br />
mystery of Christian faith. The vigil, celebrated communally at the break of day, is taken<br />
from ascetic and early Christian prayers that were collected in preparation for major<br />
church feasts such as Easter and Christmas. These worshippers would remain awake all<br />
night in anticipation of Jesus Christ’s arrival in the form of beams of light, the new life,<br />
the morning glory. Rachmaninow drew on old Russian, Greek and Ukrainian melodies<br />
and combined them with his own late Romantic sound language. A timeless whole that<br />
stretches from monophonic chants to six-part choruses of jubilation, a vocal happening<br />
in Dortmund’s »cathedral of industrial culture«.<br />
Maschinenhalle Zeche Zollern,<br />
Dortmund<br />
Fr 18. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Sa 19. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
So 20. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />
ermäßigt 12 €<br />
Eine Chorwerk Ruhr Produktion<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong><br />
www.ruhr3.com/abendlob<br />
33
ANNA CALVI<br />
Popkonzert<br />
34
Die Explosivität <strong>der</strong> britischen Singer-Songwriterin und Gitarristin Anna Calvi macht<br />
vor Genregrenzen ebenso wenig Halt wie vor heteronormativen Geschlechterzuschreibungen<br />
und Rollenklischees. Ihre Musik verhandelt persönliche Themen wie Verlangen,<br />
Angst, Intimität und Lust; zugleich übt sie Gesellschaftskritik und thematisiert patriarchale<br />
Dominanz und die Unterdrückung von Min<strong>der</strong>heiten. Bei ihr trifft feministisches<br />
Empowerment auf humorvolle Nonchalance und große Experimentierfreude, vorgetragen<br />
mit <strong>der</strong> Lust am großen Auftritt, bekannt für die Qualität ihrer Live-Performances.<br />
In ihrem 2018 erschienenen und international gefeierten Album Hunter reist sie tief hinab<br />
in die eigenen seelischen Abgründe und schöpft daraus einen kraftvollen wie zarten,<br />
brutalen wie schönen Klang voller Pathos und Theatralik. Zwei Jahre darauf erschien das<br />
Spin-Off-Album Hunted, für das sie sieben Songs unter Mitwirkung von Künstler:innen<br />
wie Courtney Barnett, Julia Holter o<strong>der</strong> Charlotte Gainsbourg neu einspielte, um den teils<br />
opulent ausgestatteten Songs wie<strong>der</strong> einen reduzierten und intimen Klang zu verleihen.<br />
Zuletzt erschien ihre EP Tommy – <strong>der</strong> Soundtrack zur sechsten Staffel <strong>der</strong> britischen<br />
Erfolgsserie Peaky Blin<strong>der</strong>s und eine Hommage an die schillernde Titelfigur.<br />
The explosive power of British singer-songwriter and guitar player Anna Calvi has as little<br />
respect for genre boundaries as for hetero normative gen<strong>der</strong> boundaries and stereotypes.<br />
Her music deals with personal themes such as desire, fear, intimacy and lust. At<br />
the same time, she is critical of society, attacking patriarchal dominance and the oppression<br />
of minorities. She combines feminist empowerment with humorous nonchalance<br />
and a great delight in experimentation, and she is famous for the quality of her live<br />
performances.<br />
In her internationally acclaimed album Hunter, released in 2018, she dives deep down<br />
into her own soul and creates a powerful yet gentle, brutal yet beautiful sound, full of pathos<br />
and theatricality. Two years later the spin-off album Hunted was released, for which<br />
she made new recordings of seven songs featuring artists such as Courtney Barnett,<br />
Julia Holter and Charlotte Gainsbourg, giving these at times opulently arranged tracks a<br />
reduced and intimate sound.<br />
Her most recent release was the EP Tommy – the soundtrack to the sixth season of the<br />
successful British TV series Peaky Blin<strong>der</strong>s and a homage to its remarkable title character.<br />
Gießhalle,<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />
Fr 25. August _________________ 20.00 Uhr<br />
www.ruhr3.com/calvi<br />
35
JETZT<br />
& JETZT<br />
MATS<br />
STAUB<br />
Installation<br />
Über das Verschwinden,<br />
Erinnern und den magischen Moment<br />
→ Magazin, Seite 136<br />
Jetzt!<br />
→ Magazin, Seite 198<br />
36
Was war ich (und bin es nicht mehr)? Wer bin ich jetzt? Was möchte ich noch werden?<br />
Hun<strong>der</strong>t Menschen aus dem Ruhrgebiet haben sich zusammen mit dem Künstler Mats<br />
Staub auf eine intensive Selbstreflexion eingelassen: Im Spätsommer 2021 und im Frühjahr<br />
<strong>2023</strong> wurden sie beim Blick in den Spiegel gefilmt. Sie schauten auf zwei Momente<br />
in ihrem Leben und den Wachstumsprozess dazwischen. Der jüngste Teilnehmer war damals<br />
9, die älteste Teilnehmerin ist nun 82 Jahre alt – alle denken auf ihre Weise über die<br />
Suche nach ihrem Platz in <strong>der</strong> Welt nach, schauen mit Sorge auf den Beginn eines neuen<br />
Lebensabschnittes o<strong>der</strong> blicken voller Stolz auf Erreichtes. Aus den einzelnen Realitäten<br />
entsteht in diesem Langzeitprojekt ein menschliches Panorama, das als Installation in<br />
<strong>der</strong> Bochumer Turbinenhalle präsentiert wird. Dort sind während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021<br />
die ersten Aufnahmen für Jetzt & Jetzt entstanden, während im vor<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> Halle<br />
die Installation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden zu sehen war. Damals trugen<br />
alle eine Maske, es war unentschieden, wer Bundeskanzler:in werden würde, und Kyiv<br />
war kein Kriegsschauplatz. Während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> wird die Turbinenhalle zum<br />
Raum <strong>der</strong> Reflexion, in dem alle Besucher:innen eingeladen sind, den Gesprächsaufnahmen<br />
und lebensgroßen Videoportraits in ihrem eigenen Tempo zu begegnen. Jetzt & Jetzt<br />
ist eine einzigartige Momentaufnahme, die es ermöglicht, zwei Gegenwarten eines Menschen<br />
im Dialog zu erleben und dabei sich selbst und unsere Gesellschaft zu befragen.<br />
Die Arbeiten von Mats Staub zeichnen sich durch einen geduldigen und zugewandten<br />
Blick auf Menschen aus, sie verhandeln elementare Themen des Lebens in einem Kontext<br />
des Gemeinsamen. Jetzt & Jetzt ist seine dritte Arbeit bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> und<br />
rahmt auf beson<strong>der</strong>e Weise Anfang und Ende <strong>der</strong> Intendanzzeit Barbara Freys.<br />
What was I (that I no longer am)? Who am I now? What do I still want to become?<br />
One hundred people from the Ruhr region have agreed to take part in an intense process<br />
of self-reflection together with the artist: in late summer 2021 and again in early <strong>2023</strong> they<br />
were filmed looking into a mirror. They looked at two moments in their lives and how they<br />
had grown in between. The youngest participant was 9 when the project started and the<br />
oldest is now 82 – all of them think in their own way about trying to find their place in the<br />
world, eyeing the start of a new chapter in their lives with concern or looking back with<br />
pride on what they have achieved. From the individual realities in this long-term project,<br />
a human panorama is created that will be presented as an installation in the Turbinenhalle<br />
in Bochum. This is where the initial recordings for Jetzt & Jetzt were made during<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, while the installation 21 – Memories of Growing Up could be seen in<br />
the front section of the hall. Back then, everyone wore masks, it had not been decided who<br />
Germany’s new Chancellor would be and Kyiv was not a war zone. During <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
<strong>2023</strong> the Turbinenhalle will become a space for reflection, where all visitors are invited to<br />
encounter the recorded conversations and life-size video portraits in their own time. Jetzt<br />
& Jetzt is a unique snapshot that enables us to see the same person in two different presents<br />
in dialogue with each other, and questioning both themselves and society.<br />
The works of Mats Staub are distinguished by the patient and caring attention they pay<br />
to people. They are concerned with life’s fundamental issues in a communal context.<br />
Jetzt & Jetzt is his third work for the <strong>Ruhrtriennale</strong> and frames the beginning and end of<br />
Barbara Frey’s Artistic Directorship in a unique way.<br />
Idee, Konzept, Leitung<br />
Mats Staub<br />
Video Design<br />
Benno Seidel<br />
Szenografie<br />
Louisa Robin<br />
Technische Leitung<br />
Hanno Sons<br />
Projektentwicklung<br />
Elisabeth Schack<br />
Matthias Stickel<br />
Dramaturgie<br />
Simone von Büren<br />
Fre<strong>der</strong>ieke Tambaur (2021)<br />
Nina Bade (<strong>2023</strong>)<br />
Gespräche<br />
Nina Bade (<strong>2023</strong>)<br />
Mats Staub<br />
Kamera<br />
Benno Seidel<br />
Stephan Komitsch (<strong>2023</strong>)<br />
Postproduktion<br />
Benno Seidel<br />
Mats Staub<br />
Tonbearbeitung<br />
Leonardo Nerini<br />
Produktionsleitung<br />
Nina Bade (2021)<br />
Katharina Rückl (<strong>2023</strong>)<br />
Barbara Simsa<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Uraufführung<br />
Eröffnung am 24. August<br />
Laufzeit: 25. August –<br />
23. September<br />
Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />
Mit deutscher Tonspur<br />
Beim Erwerb eines Tickets<br />
können Sie dieses für die<br />
gesamte Ausstellungsdauer<br />
vom 25.8. bis 23.9. nutzen.<br />
Das Ticket, welches Sie im<br />
Ticketshop erwerben, gewährt<br />
Ihnen erstmalig Eintritt. Beim<br />
erstmaligen Besuch erhalten<br />
Sie vor Ort eine Dauerkarte.<br />
Wir laden Sie herzlich dazu ein,<br />
mehrmals zu kommen und<br />
die Installation im eigenen<br />
Tempo zu besuchen.<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> in Koproduktion<br />
mit zwischen_produktionen<br />
www.ruhr3.com/jetzt<br />
37
SCHLAGZEUG-<br />
MARATHON<br />
Konzerte<br />
Die Faszination für perkussive Klangerzeugung ist so<br />
alt wie die Menschheit. Die Bedeutung aber, die dem<br />
Schlagzeug insbeson<strong>der</strong>e für die Entwicklung <strong>der</strong> Jazz-,<br />
Rock- und Popmusik zukommt, kann gar nicht überschätzt<br />
werden. PACT Zollverein steht während eines über zwölfstündigen<br />
musikalischen »Marathons« ganz im Bann des<br />
Schlagzeugs. Raum für Raum erwan<strong>der</strong>t sich das Publikum<br />
den reichen Schlagzeugkosmos, es lässt sich treiben<br />
durch 15 unterschiedlichste Performances. Von ikonischen<br />
Werken <strong>der</strong> zeitgenössischen Musik bis hin zu legendären<br />
Jazz-Größen wie Marilyn Mazur und Billy Cobham,<br />
von Improvisationen bis zu Klanginstallationen: Über ein<br />
Dutzend Musiker:innen werden die Mauern <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Waschkaue in Vibration versetzen. Ein einmaliges<br />
Aufeinan<strong>der</strong>treffen verschiedenster Ausdrucksformen,<br />
ein einzigartiger Parcours durch die Welt <strong>der</strong> Schlaginstrumente,<br />
zuweilen funkensprühend, zuweilen ganz fein<br />
die Obertonspektren erkundend. In jedem Fall variantenreich,<br />
pulsierend, packend.<br />
The fascination of producing percussive sound is as old<br />
as humanity itself. However, the importance that percussion<br />
has had, particularly in the development of jazz, rock<br />
and pop music, cannot be overestimated. For the duration<br />
of this twelve-hour musical marathon, PACT Zollverein is<br />
thoroughly enthralled by percussion. The audience can<br />
wan<strong>der</strong> through room after room of the rich percussive<br />
universe, exploring 15 intensely different performances.<br />
From iconic works of contemporary music to legendary<br />
jazz greats such as Marilyn Mazur and Billy Cobham, from<br />
improvisations to sound installations: Over a dozen musicians<br />
will set the walls of the former washroom vibrating.<br />
A once-only meeting between the most diverse forms<br />
of expression, a unique promenade through the world of<br />
percussion instruments, at times producing fireworks, at<br />
times subtly probing the overtone spectrum, in any event<br />
varied, pulsating and gripping.<br />
Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />
→ Magazin, Seite 192<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Sa 26. August ____ 13.00–1.45 Uhr<br />
Marathon-Ticket:<br />
52 €, ermäßigt 36 €<br />
Einzelticket:<br />
27 €, ermäßigt 12 €<br />
Tickets sind erhältlich für<br />
einzelne Konzerte sowie für<br />
den gesamten Marathon.<br />
Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />
Kulturstiftung Pro Helvetia<br />
Perkussion<br />
Brian Archinal<br />
Billy Cobham<br />
Peter Eisold<br />
Camille Emaille<br />
Aly Keïta<br />
Marilyn Mazur<br />
Mohammad Reza Mortazavi<br />
Lucas Niggli<br />
Etienne Nillesen<br />
Dirk Rothbrust<br />
Julian Sartorius<br />
Pol Small<br />
Gabriel Valtchev<br />
Ensemble This | Ensemble That<br />
Brian Archinal<br />
Victor Barceló<br />
Miguel Angel Garcia Martin<br />
Bastian Pfefferli<br />
Klavier<br />
Matthieu Cognet<br />
Virginie Déjos<br />
Klanginstallation<br />
Olli Holland<br />
38
INTRO MIT JULIAN SARTORIUS<br />
Julian Sartorius wan<strong>der</strong>te von Basel nach Genf und trommelte<br />
auf so ziemlich allem, was er am Wegrand fand, von<br />
<strong>der</strong> Tankzapfsäule über Weidezäune bis hin zu morschen<br />
Baumstämmen. Zur Eröffnung des Schlagzeugmarathons<br />
erkundet er mit seinen Schlägeln das Gebäude von PACT<br />
Zollverein, wo sich überraschende Sounds aller Art finden<br />
lassen.<br />
Julian Sartorius hiked from Basel to Geneva, drumming on<br />
more or less everything he could find along the way, from<br />
petrol pumps to fences to rotten tree trunks. To open the<br />
percussion marathon, he explores PACT Zollverein with his<br />
sticks, finding all kinds of surprising sounds.<br />
KLANGSKULPTUREN VON THOMAS<br />
ROTHER, BESPIELT VON PETER EISOLD<br />
Der Schriftsteller und Künstler Thomas Rother hat sich<br />
in seinem Kunstschacht während Jahrzehnten <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
<strong>der</strong> Zeche Zollverein gewidmet. Dabei sind<br />
archaische Klangskulpturen entstanden, die im Garten<br />
von PACT Zollverein vom improvisierenden Schlagwerker<br />
Peter Eisold bespielt werden.<br />
The writer and artist Thomas Rother has dedicated his<br />
work over decades to Zollverein’s past. It consists of archaic<br />
sound sculptures, which will be played on in the garden<br />
of PACT Zollverein by Peter Eisold.<br />
Ganzes Gebäude<br />
13 Uhr<br />
BÉLA BARTÓK: SONATE FÜR ZWEI<br />
KLAVIERE UND SCHLAGZEUG<br />
Mit <strong>der</strong> 1938 uraufgeführten Sonate für zwei Klaviere<br />
und Schlagzeug von Béla Bartók erklingt eines <strong>der</strong> ersten<br />
klassischen Werke, das dem Schlagzeug eine Rolle als<br />
Soloinstrument einräumte. Mit den Schlagzeugern Dirk<br />
Rothbrust und Brian Archinal sowie <strong>der</strong> Pianistin Virginie<br />
Déjos und dem Pianisten Matthieu Cognet.<br />
With the Sonata for Two Pianos and Percussion by<br />
Béla Bartók, premiered in 1938, we can hear one of the<br />
first classical compositions to feature percussion as a<br />
solo instrument. With the percussionists Dirk Rothbrust<br />
and Brian Archinal and the pianists Virginie Déjos and<br />
Matthieu Cognet.<br />
Große Bühne<br />
13.30 Uhr<br />
14.15 Uhr<br />
SOLOWERKE VON K. STOCKHAUSEN,<br />
M. FELDMAN UND I. XENAKIS<br />
Dirk Rothbrust und Brian Archinal, zwei Virtuosen des<br />
zeitgenössischen Schlagzeugs, führen drei einzigartige<br />
Pionierwerke <strong>der</strong> Schlagzeugliteratur auf, die zu Klassikern<br />
geworden sind: Karlheinz Stockhausens 1959<br />
entstandene Komposition Zyklus No. 9, Morton Feldmans<br />
The King of Denmark von 1964 sowie Psapha von Iannis<br />
Xenakis aus dem Jahr 1975.<br />
Dirk Rothbrust and Brian Archinal, two contemporary<br />
percussion virtuosos will perform three unique, pioneering<br />
works of the percussion repertoire that have since<br />
become classics: Karlheinz Stockhausen’s composition<br />
Zyklus No. 9, written in 1959, Morton Feldman’s The King<br />
of Denmark from 1964 and Psapha by Iannis Xenakis from<br />
the year 1975.<br />
Große Bühne<br />
14.50 Uhr<br />
www.ruhr3.com/marathon<br />
39
ETIENNE NILLESEN:<br />
SNARE DRUM SOLO<br />
Etienne Nillesen versteht es, aus einer einzigen kleinen<br />
Trommel komplexe und subtile Klänge zu locken. Mit einem<br />
minimalistischen Ansatz und erweiterten Spieltechniken<br />
verschiebt er die Grenzen <strong>der</strong> natürlichen Akustik.<br />
Etienne Nillesen un<strong>der</strong>stands how to coax complex and<br />
subtle sounds out of one little drum. With a minimalist<br />
approach and an extended playing technique, he pushes<br />
back the limits of natural acoustics.<br />
Studio 2<br />
15.40 Uhr<br />
JULIAN SARTORIUS:<br />
RLLRLRLRLLRRLRLRLRLRLRLRR<br />
Eine Performance, die sich auf <strong>der</strong> Grenze zwischen Minimalismus,<br />
Groove und Spektralklängen bewegt: Julian<br />
Sartorius präpariert die Instrumente des Ensemble This |<br />
Ensemble That mit einer Vielfalt an alltäglichen Objekten.<br />
Das Ergebnis ist eine Reise durch eine Flut von Klängen<br />
und Klangfarben.<br />
A performance that moves along the bor<strong>der</strong> between<br />
minimalism, groove and spectral sounds: Julian Sartorius<br />
will prepare the instruments of Ensemble This | Ensemble<br />
That with a wide range of everyday objects. The result is a<br />
journey through a flood of sounds and tone colours.<br />
Studio 3<br />
16.20 Uhr<br />
MOHAMMAD REZA<br />
MORTAZAVI: TOMBAK UND DAF<br />
Der aus dem Iran stammende Musiker Mohammad Reza<br />
Mortazavi ist einer <strong>der</strong> virtuosesten Handtrommler <strong>der</strong><br />
Welt. Aus den traditionellen persischen Instrumenten<br />
Tombak und Daf zaubert er mit seinen ganz eigenen<br />
Techniken ein atemberaubendes Geflecht aus tanzbaren<br />
Rhythmen, schnellen Beats und tranceartigen Strukturen.<br />
The Iranian musician Mohammad Reza Mortazavi is<br />
one of the world’s most skilful hand drummers. Using<br />
his own personal technique on the traditional Persian<br />
instruments tombak and daf, he is able to magic up a<br />
breath-taking texture of danceable rhythms, fast beats<br />
and trance-like structures.<br />
Große Bühne<br />
17.20 Uhr<br />
CAMILLE EMAILLE: IMPROVISATION<br />
Je<strong>der</strong> »Unfall« ist ein Vorschlag für eine Idee. Camille<br />
Emaille präpariert ihr Drum-Set mit Dosen, Gitarrensaiten,<br />
Steinen und an<strong>der</strong>en Gegenständen und entwickelt<br />
dadurch ein sich selbst modulierendes Instrumentarium<br />
voll von unerwarteten Sounds.<br />
Every »accident« suggests an idea. Camille Emaille uses<br />
tin cans, guitar strings, stones and other objects to prepare<br />
her drum kit, developing a self-modulated collection of<br />
instruments full of unexpected sounds.<br />
Studio 2<br />
18.20 Uhr<br />
KLANGSKULPTUREN VON THOMAS<br />
ROTHER, BESPIELT VON PETER EISOLD<br />
19 Uhr<br />
MARILYN MAZUR: DRUM SOLO<br />
Die dänische Musikerin und Komponistin Marilyn Mazur<br />
ist eine Ikone des Jazz-Schlagzeugs. In ihrer beeindruckenden<br />
Laufbahn hat sie sich als meisterhafte Perkussionistin<br />
und musikalische Visionärin etabliert. Unvergessen<br />
sind bis heute ihre Konzerte und Aufnahmen mit<br />
dem Trompetengott Miles Davis. Bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ist sie mit einem großbesetzten Solo zu Gast.<br />
The Danish musician and composer Marilyn Mazur is<br />
an icon of jazz percussion. During her impressive career,<br />
she has established herself as a masterful percussionist<br />
and musical visionary. Her concerts and recordings with<br />
the trumpet god Miles Davis remain unforgotten to this<br />
day. She makes a guest appearance at the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
with an extensive solo.<br />
Große Bühne<br />
19.30 Uhr<br />
CAMILLE EMAILLE: OTTO<br />
Ein Trio bestehend aus Camille Emaille, Gabriel Valtchev<br />
und Pol Small. Jede:r spielt ein Tapan, eine zweifellige<br />
bulgarische Zylin<strong>der</strong>trommel. OTTO ist eine Musik, die<br />
in ihrem Vokabular minimalistisch, in ihrer Energie aber<br />
umso intensiver ist: komplexe Polyrhythmen und Variationen<br />
von Klangfarben.<br />
A trio made up of Camille Emaille, Gabriel Valtchev and Pol<br />
Small. Each of them plays a tapan, a double-headed cylindrical<br />
drum from Bulgaria. OTTO is a music with a minimalist<br />
vocabulary, but whose energy is all the more intense: with<br />
complex polyrhythms and variations of timbres.<br />
Studio 3<br />
20.30 Uhr<br />
40
ALY KEÏTA & LUCAS NIGGLI:<br />
BALAFON & DRUMS<br />
Der ivorische Musiker Aly Keïta ist ein Großmeister des<br />
Balafons. Zusammen mit dem in Kamerun geborenen<br />
Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli mischt Keïta das<br />
traditionelle afrikanische Repertoire mit westlichem Jazz<br />
und Improvisation: »brotherhood of vibes and grooves«.<br />
The Ivorian musician Aly Keïta is a master of the balafon.<br />
Together with the Cameroon-born Swiss percussionist<br />
Lucas Niggli, Keïta blends the traditional African repertoire<br />
with Western jazz and improvisation in a »brotherhood<br />
of vibes and grooves«.<br />
Große Bühne<br />
21.30 Uhr<br />
ETIENNE NILLESEN:<br />
SNARE DRUM SOLO<br />
Studio 2<br />
22.30 Uhr<br />
BILLY COBHAM: DRUM SOLO<br />
Mit seinem kraftvollen und komplexen Spiel beeinflusst<br />
<strong>der</strong> panamaisch-US-amerikanische Drummer seit einem<br />
halben Jahrhun<strong>der</strong>t wie kaum ein an<strong>der</strong>er die Entwicklung<br />
<strong>der</strong> Jazz- und Fusion-Szene. Er schrieb Jazz-Rock-<br />
Geschichte mit seiner ersten Soloplatte Spectrum und<br />
arbeitete im Lauf seiner Karriere mit Größen wie George<br />
Duke, Micheal Brecker o<strong>der</strong> Peter Gabriel. Nun ist die<br />
trommelnde Legende zu Gast bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
With his powerful and complex playing, the US-Panamanian<br />
drummer has had an almost unparalleled influence<br />
on the development of the jazz and fusion scene for half<br />
a century. He created jazz rock history with his first solo<br />
record Spectrum and over the course of his career has<br />
worked with greats such as George Duke, Michael Brecker<br />
and Peter Gabriel. Now this drum legend is a guest of the<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
OLGA NEUWIRTH: CORONATION IV<br />
Als Antwort auf die Konzertverbote während <strong>der</strong> Corona-<br />
Pandemie komponierte die österreichische Komponistin<br />
und Ernst von Siemens Musikpreisträgerin Olga Neuwirth,<br />
<strong>der</strong>en Musiktheater Bählamms Fest bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
2021 zu erleben war, ihren vielstündigen Zyklus coronAtion,<br />
eine immersive, hypnotische Raummusik. Zum nächtlichen<br />
Ausklang des Schlagzeugmarathons im Foyer spielt Lucas<br />
Niggli aus dem vierten Teil des Zyklus.<br />
As a response to the concert ban during the coronavirus<br />
pandemic, the Austrian composer and Siemens<br />
Music Prize-winner Olga Neuwirth, whose opera Bählamms<br />
Fest was presented at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, created with<br />
coronAtion a cycle of several hours, an immersive, hypnotic<br />
spatial music. As a late-night finale to the percussion<br />
marathon, Lucas Niggli will play sections from Part<br />
Four of the cycle in the foyer.<br />
Foyer<br />
0.15 Uhr<br />
OLLI HOLLAND: N.E.W.S. // N.O.W.S.<br />
Während des gesamten Marathons ist auf PACT Zollverein<br />
eine Klanginstallation von Olli Holland zu erleben: Der<br />
Rhythmus von Schlagzeilen weltweiter Radionachrichten<br />
überträgt sich in N.E.W.S. // N.O.W.S. synchron auf vier<br />
alte Marschtrommeln und setzt damit das Schlagzeug in<br />
direkten Bezug zum gesprochenen Wort.<br />
During the entire marathon, a sound installation by Olli<br />
Holland can be experienced, in which the rhythm of headlines<br />
from worldwide radio news is directly transferred to<br />
four marching drums and thus places the percussion in<br />
direct relation to the spoken word<br />
Große Bühne<br />
23.15 Uhr<br />
www.ruhr3.com/marathon<br />
41
AUS EINEM TOTENHAUS<br />
LEOŠ JANÁČEK<br />
DMITRI TCHERNIAKOV<br />
DENNIS RUSSELL DAVIES<br />
BOCHUMER SYMPHONIKER<br />
CHOR DER JANÁČEK-OPER<br />
DES NATIONALTHEATERS BRNO<br />
Musiktheater<br />
Möglichkeitsformen<br />
des Menschseins<br />
→ Magazin, Seite 150<br />
Hinweise<br />
Bei dieser Produktion handelt es sich um eine immersive Inszenierung, bei <strong>der</strong> sich<br />
Publikum und Darsteller:innen im Bereich des Gefängnishofes in unmittelbarer Nähe<br />
zueinan<strong>der</strong> bewegen werden. Wenn Sie das Geschehen lieber aus <strong>der</strong> Distanz verfolgen<br />
möchten, empfehlen wir Ihnen, sich beim Ticketkauf für Plätze in den Bereichen<br />
Seitenhof, Galerie 1 o<strong>der</strong> Galerie 2 zu entscheiden. Die Galerie 1 hat eine Höhe von<br />
ca. 3,5 Metern, die Galerie 2 eine Höhe von ca. 6 Metern.<br />
Für die Produktion bieten wir ausschließlich Stehplätze an, da sich Publikum und<br />
Darsteller:innen während <strong>der</strong> Vorstellung von einem Ort zum an<strong>der</strong>en bewegen werden.<br />
Während <strong>der</strong> Vorstellung kommt es zu Kampfszenen zwischen Darsteller:innen<br />
und professionellen Stuntkünstler:innen. Für Besucher:innen unter 14 Jahren wird <strong>der</strong><br />
Besuch nicht empfohlen.<br />
42
Im sibirischen Gefangenenlager gibt es keine Helden. Ob arm o<strong>der</strong> reich, gebildet o<strong>der</strong><br />
ungebildet, adelig o<strong>der</strong> nicht – hier sind alle gleich und im Grauen ohne Ende vereint.<br />
Fjodor Dostojewski hat es erlebt und in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />
minutiös beschrieben. Sie dienten Leoš Janáček als Vorlage zu seiner letzten Oper<br />
(1927/28), die unter dem Motto »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« an unser Mitgefühl<br />
appelliert. Janáček, <strong>der</strong> seine Musik <strong>der</strong> individuellen Sprache <strong>der</strong> Menschen abhorchte,<br />
gibt jedem Insassen seine eigene Stimme, um sie in <strong>der</strong> vielstimmigen Anonymität und<br />
Gleichgültigkeit untergehen zu lassen. Rohe Klänge und beharrliche Rhythmen machen<br />
die Härte <strong>der</strong> Lagerrealität geradezu körperlich spürbar. In den gewaltigen Dimensionen<br />
<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle setzt Starregisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov diese<br />
Idee fort: In einer riesigen begehbaren Bühneninstallation löst er die schützende Trennung<br />
zwischen Künstler:innen und Publikum auf. Wir bewohnen eine erbarmungslose<br />
Gefängniswelt, sind unentrinnbar mitverhaftet mit all den »Schicksallosen«, die hier<br />
eine Existenz als lebendige Tote fristen. Mit ihnen bewegen wir uns durch einen von<br />
würdelosen Raufereien und Saufereien gezeichneten Alltag. Uns, seinen Mitgefangenen,<br />
schil<strong>der</strong>t Luka aus nächster Nähe, wie er aus Rache für dessen Willkür den Major<br />
erstach. Uns erzählt Skuratov, wie er den reicheren Rivalen um die geliebte Luisa erschoss.<br />
Šiškov erzählt uns, wie er aus Eifersucht seiner unschuldigen Braut Akulina die<br />
Kehle durchschnitt. Interessiert uns ihr Leid, ihre Wut, ihre Reue? O<strong>der</strong> kehren wir uns<br />
ab, suchen Distanz zu diesen glücklosen Gescheiterten, beobachten sie aus <strong>der</strong> Ferne?<br />
Wir sind unter ihnen nachts, wenn sie weinen, sind mit ihnen im Lazarett, wenn sie im<br />
Fieber sprechen, wenn sie sterben. Wir schauen uns sogar ihre frivolen Theateraufführungen<br />
an, um den zermürbenden Lagertrott zu unterbrechen. Fühlen wir mit ihnen?<br />
In a Siberian prison camp, there are no heroes. Whether rich or poor, educated or uneducated,<br />
nobles or commoners – everyone is equal here, united in a horror that never<br />
ends. Fyodor Dostoyevsky experienced this himself and described it in precise detail in<br />
his Notes from the House of the Dead. These provided the material for Janáček’s final<br />
opera (1927/28) which appeals to our sympathy on the basis that there is »a spark of God<br />
in every creature.« Janáček, whose music was inspired by listening to individual human<br />
speech, gives each inmate his own voice, only for them to sink into polyphonic anonymity<br />
and indifference. Raw sounds and insistent rhythms make the harsh reality of life in<br />
the camp almost physically tangible. Star director and stage designer Dmitri Tcherniakov<br />
realises this idea in the vast dimensions of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle: dissolving the protective<br />
separation between the artists and the audience in a giant, walk-through stage<br />
installation. We inhabit a merciless prison world, inseparably incarcerated with those<br />
whom fate has abandoned, who now mark out an existence as the living dead. Together<br />
with them, we move through daily life that is occupied with undignified brawling and<br />
drinking. Luka tells us, his fellow prisoners, how he stabbed his commanding officer as<br />
revenge for his despotism. Skuratov tells us how he shot a wealthier rival for his beloved<br />
Luisa. Šiškov tells us how he slit his innocent bride Akulina’s throat out of jealousy. Are<br />
we interested in their sorrow, their anger, their regrets? Or do we turn our backs, distance<br />
ourselves from these unfortunate failures, and observe them from afar? We are with<br />
them at night, when they are crying, we are with them in the infirmary when they talk in<br />
a fever, when they are dying. We even watch their frivolous theatre productions to break<br />
up the grinding camp routine. Do we feel empathy for them?<br />
Oper in drei Akten (1927/28)<br />
Libretto<br />
Leoš Janáček nach F. M.<br />
Dostojewskis Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus<br />
Musikalische Leitung<br />
Dennis Russell Davies<br />
Regie, Bühne<br />
Dmitri Tcherniakov<br />
Kostüme<br />
Elena Zaytseva<br />
Licht Design<br />
Gleb Filshtinsky<br />
Live Action Director<br />
Ran Arthur Braun<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Associate Set Design<br />
Danila Travin<br />
Regieassistenz<br />
Joël Lauwers<br />
Musikalische Studienleitung<br />
Daniel Linton-France<br />
Casting Manager<br />
Boris Ignatov<br />
Dramaturgie<br />
Barbara Eckle<br />
Alexandr Petrovič Gorjančikov<br />
Johan Reuter<br />
Aljeja, ein junger Tatar<br />
Bekhzod Davronov<br />
Šiškov<br />
Leigh Melrose<br />
Luka (Filka Morozov)<br />
Stephan Rügamer<br />
Skuratov<br />
John Daszak<br />
Šapkin<br />
Alexey Dolgov<br />
Der Alte<br />
Neil Shicoff<br />
Čerevin, Fröhlicher Sträfling<br />
Elmar Gilbertsson<br />
Čekunov, Sträfling 1<br />
Stephan Bootz<br />
Bochumer Symphoniker<br />
Chor <strong>der</strong> Janáček-Oper des<br />
Nationaltheaters Brno<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Do 31. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Sa 2. September_________ 21.00 Uhr<br />
So 3. September_________ 21.00 Uhr<br />
Mi 6. September_________ 21.00 Uhr<br />
Fr 8. September_________ 21.00 Uhr<br />
Sa 9. September_________ 21.00 Uhr<br />
Tickets: 42 €, ermäßigt 12 €<br />
Tschechisch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
© Mit freundlicher Genehmigung<br />
von Universal Edition AG Wien<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die<br />
Kunststiftung NRW<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Alfried<br />
Krupp von Bohlen und<br />
Halbach-Stiftung<br />
Dauer: ca. 90 min<br />
www.ruhr3.com/totenhaus<br />
43
EXÓTICA<br />
AMANDA PIÑA<br />
Tanz<br />
Jenseits <strong>der</strong> Verfestigung von Identitäten<br />
→ Magazin, Seite 172<br />
44
Bereits im Titel spiegelt sich die Praxis <strong>der</strong> Zuschreibung <strong>der</strong> als »fremd« gelesenen<br />
und sexuell aufgeladenen Kunstformen, die bis heute andauert. Um dieses Phänomen<br />
und seine gegenwärtigen Resonanzen sichtbar zu machen, reist Amanda Piña in ihrer<br />
neuen Tanzperformance mit ihrem Ensemble in die Vergangenheit und erweckt in einer<br />
Beschwörung <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Art die exotisierten und teils queeren Bühnenkünstler:innen<br />
La Sarabia, Nyota Inyoka, François »Féral« Benga und Leïla Be<strong>der</strong>khan, die in den<br />
1920er-Jahren mit großem Erfolg in Europa lebten und arbeiteten und weltweit tourten,<br />
wie<strong>der</strong> zum Leben. Dabei entlarvt sie nicht nur den exotisierenden White Gaze,<br />
<strong>der</strong> den künstlerischen Gestaltungsraum durch vorherrschende Vorstellungen dessen,<br />
was als orientalisch o<strong>der</strong> afrikanisch galt, eingrenzte. Amanda Piña zeigt zugleich, mit<br />
welcher Vehemenz die genannten Künstler:innen diesen limitierten Raum zu nutzen verstanden,<br />
um darin künstlerisch herausragende Choreografien zu kreieren, die anhand<br />
von Zeichnungen und Bilddokumenten teils noch heute zugänglich sind. Exótica widmet<br />
sich diesen Tänzen und versteht sich zugleich als Hommage an alle vergessenen<br />
Performer:innen of Colour, die keinen Platz im Kanon <strong>der</strong> Tanzgeschichte fanden und<br />
erst langsam wie<strong>der</strong>entdeckt werden. Denn obwohl die Archive mit zahlreichen Zeitungsartikeln<br />
bestückt sind, die von ihrer großen Popularität zeugen, verschwanden diese<br />
Tänzer:innen nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend von den Bühnen Europas und<br />
aus dem kulturellen Gedächtnis. Amanda Piña, die im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits<br />
2021 ihre Arbeit Danza y Frontera zeigte, widmet sich diesem Akt des Vergessens und<br />
fragt, welchen Gesetzmäßigkeiten er unterliegt.<br />
The title reflects the practice of categorising art forms that are sexually charged and<br />
read as »foreign« which still goes on today. In or<strong>der</strong> to make this phenomenon and<br />
its contemporary resonances visible, Amanda Piña and her ensemble travel back into<br />
the past in her new dance performance, where she revives the eroticised and, in some<br />
cases, queer stage artists La Sarabia, Nyota Inyoka, François »Féral« Benga and Leila<br />
Be<strong>der</strong>khan, who toured Europe with great success in the 1920s, in a very special form<br />
of séance. Here she not only reveals the exoticising white gaze whose prevailing preconceptions<br />
about what was »Oriental enough« or »African enough« restricted artists’<br />
room for manoeuvre. At the same time, Amanda Piña demonstrates the force with<br />
which the artists named were able to use this limited space to create choreographies<br />
of outstanding artistic quality that can still be viewed now in the form of drawings<br />
and visual documentation. Exótica is dedicated to these dances and sees itself as<br />
a homage to all those forgotten performers of colour, who did not find a place in the<br />
canon of dance history and are only now slowly being rediscovered. For, even though<br />
the archives contain numerous newspaper articles attesting to their great popularity,<br />
after the Second World War these dancers increasingly disappeared from European<br />
stages and popular memory. Amanda Piña, who previously presented her work Danza<br />
y Frontera at the <strong>Ruhrtriennale</strong> in 2021, addresses this act of forgetting and questions<br />
the rules on which it is based.<br />
Künstlerische Leitung<br />
Amanda Piña<br />
Performance von und mit<br />
Ángela Muñoz Martínez<br />
Kabangu Bakambay André<br />
Juan Carlos Palma<br />
Venuri Perera<br />
Amanda Piña<br />
iSaAc Espinoza Hidrobo<br />
Dramaturgie<br />
Nicole Haitzinger<br />
Integral Design<br />
Michiel Jimenez<br />
Bühne, Szenografie<br />
Forêt Asiatique (1921) von Albert<br />
Dubosq, reproduziert von<br />
Decoratelier Jozef Wouters als<br />
Teil von Infini #18 (2022)<br />
Technische Leitung<br />
Santiago Doljanin<br />
Musik<br />
Ángela Muñoz Martínez, Zevra<br />
Sound Design<br />
Dominik Traun<br />
Kostüme<br />
Fe<strong>der</strong>ico Protto<br />
Regieassistenz<br />
Pierre-Louis Kerbart<br />
Produktion, Distribution<br />
neon lobster / Giulia Messia<br />
Katharina Wallisch<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Fr 1. September_______ 20.00 Uhr<br />
Sa 2. September_______ 20.00 Uhr<br />
So 3. September_________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 90 min<br />
Tickets: 17 / 27 €,<br />
ermäßigt ab 12 €<br />
Sprache: Englisch<br />
Veranstaltet von PACT Zollverein<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Produktion:<br />
Amanda Piña/Fortuna<br />
Koproduktion:<br />
Kunstenfestivaldesarts, Holland<br />
Festival, Festival d’Automne,<br />
Tanzquartier Wien, PACT<br />
Zollverein, DDD – Festival Dias<br />
da Dança, La Bâtie-Festival de<br />
Genève, NEXT Festival<br />
Amanda Piña/Fortuna wird<br />
geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Stadt Wien,<br />
Abteilung Kunst und Kultur<br />
des Bundeskanzleramtes<br />
Österreich<br />
www.ruhr3.com/exotica<br />
45
IM GARTEN DER<br />
POTINIERS /<br />
AU JARDIN DES<br />
POTINIERS<br />
COMPAGNIE ERSATZ<br />
CRÉATION DANS LA<br />
CHAMBRE<br />
Objekttheater<br />
Für Kin<strong>der</strong> ab 7 Jahren und Familien<br />
46
Blumen öffnen sich, Donner kracht, Vögel zwitschern und das Publikum sitzt mittendrin,<br />
steckt den Kopf in einen Garten, <strong>der</strong> lauter kleine und große Überraschungen bereithält.<br />
Aus <strong>der</strong> Perspektive eines Berges in dieser liebevoll gestalteten Pop-up-Landschaft erlebt<br />
jede:r die Naturspektakel aus einem eigenen Blickwinkel, aber immer direkt vor <strong>der</strong><br />
Nase. Wie von Geisterhand erwachen die fiktiven Pflanzen in diesem Mikrokosmos zum<br />
Leben, sie wachsen, vermehren sich, verblühen. Und die Zuschauenden tauchen ein in<br />
diese lebendige Installation, diese Welt zwischen Illusion und Realität, die sie den natürlichen<br />
Lauf <strong>der</strong> Dinge und die Schönheit <strong>der</strong> Natur intensiv erfahren lässt im unnatürlichen<br />
Setting <strong>der</strong> kunterbunten Bühnenlandschaft.<br />
Die französisch-belgische Compagnie Ersatz ist ein multidisziplinär arbeitendes<br />
Kollektiv, das sich in den Bereichen Darstellende Kunst, Installation und Illustration verortet.<br />
Ihr künstlerischer Ansatz ergibt sich aus <strong>der</strong> Schnittstelle <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />
Professionen ihrer Mitglie<strong>der</strong>: dem Illustrator Pierre Mercier, dem Sounddesigner Noam<br />
Rzewski, dem Lichtdesigner Léonard Cornevin und <strong>der</strong> Theaterregisseurin und Dramaturgin<br />
Camille Panza. In Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Quebecer Theatergruppe Création<br />
Dans la Chambre, <strong>der</strong>en Arbeit sich auf die Erforschung des Intimen in ungewöhnlichen<br />
Umgebungen konzentriert, haben sie mit Au jardin des Potiniers ein fantastisches Universum<br />
geschaffen, das die Schönheit <strong>der</strong> Welt in ihrer Zerbrechlichkeit und Poesie<br />
greifbar vorführt. Momente voller Wun<strong>der</strong> und Witz rufen uns die Fragilität unseres Planeten<br />
in Erinnerung. Ein Spektakel, das Kin<strong>der</strong> verspielt für die Umwelt sensibilisieren<br />
und Erwachsene nachdenklich machen kann.<br />
Mit<br />
Camille Panza<br />
Léonard Cornevin<br />
Adrien Drummel<br />
Pierre Mercier<br />
Aurélien Dubreuil Lachaud<br />
Giuseppe Della Trumba<br />
Kreation<br />
Compagnie Ersatz and<br />
Création Dans la Chambre<br />
Flowers open, thun<strong>der</strong> booms, birds sing and the audience sits right in the middle of the<br />
action, with their heads in the middle of a garden full of surprises both large and small.<br />
They each experience the world from the perspective of a rock inside this lovingly detailed<br />
pop-up landscape – right in front of their noses. As if guided by ghostly hands, the<br />
fictional plants in this microcosm come to life, they grow, reproduce and fade. And the<br />
audience immerse themselves in this living installation, this world between illusion and<br />
reality that offers them an intense experience of the natural course of events and beauty<br />
of nature in the unnatural setting of a brightly-coloured stage landscape.<br />
The French-Belgian company Ersatz is an interdisciplinary collective that works in the<br />
visual arts, installation and illustrated books. The group’s artistic approach has evolved<br />
out of the common ground between the different professions of its members; illustrator<br />
Pierre Mercier, sound designer Noam Rzewski, lighting designer Léonard Cornevin and<br />
theatre director and dramaturg Camille Panza. Together with the Quebec theatre company<br />
Création Dans la Chambre, whose work focusses on exploring intimacy in unconventional<br />
surroundings, in Au jardin des Potiniers they have created a fantasy universe<br />
that presents the beauty of the world in all its vulnerability and poetry in tangible form.<br />
Moments filled with won<strong>der</strong> and humour remind us of our planet’s fragility. A performance<br />
that playfully makes children aware of the environment and offers adults food<br />
for thought.<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Do 7. September___________ 9.00 Uhr<br />
Do 7. September__________ 11.00 Uhr<br />
Fr 8. September___________ 9.00 Uhr<br />
Fr 8. September__________ 11.00 Uhr<br />
Sa 9. September__________ 11.00 Uhr<br />
Sa 9. September_________ 15.00 Uhr<br />
Sa 9. September__________ 17.00 Uhr<br />
So 10. September__________ 11.00 Uhr<br />
So 10. September_________ 15.00 Uhr<br />
So 10. September__________ 17.00 Uhr<br />
Mo 11. September___________ 9.00 Uhr<br />
Mo 11. September__________ 11.00 Uhr<br />
Di 12. September___________ 9.00 Uhr<br />
Di 12. September__________ 11.00 Uhr<br />
Mi 13. September___________ 9.00 Uhr<br />
Mi 13. September__________ 11.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 50 min<br />
Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />
Schulen für 5 € pro Person<br />
Informationen zu Tickets und<br />
Workshops für Schulen s. S. 68<br />
Keine Sprache<br />
Produktion:<br />
Compagnie Ersatz et Création<br />
Dans la Chambre<br />
Koproduktion:<br />
Théâtre Nouvelle Génération -<br />
CDN de Lyon<br />
Mit <strong>der</strong> Unterstützung von<br />
Théâtre Aux Écuries – Montréal,<br />
La Serre – Arts Vivants – Montréal,<br />
Montévidéo – Marseille,<br />
Centre Wallonie-Bruxelles –<br />
Paris, Le Carreau – Scène<br />
Nationale de Forbach et de<br />
l’Est mosellan<br />
Au jardin des Potiniers wird<br />
finanziell unterstützt von <strong>der</strong><br />
Fédération Wallonie-Bruxelles,<br />
Région Grand Est, Conseil des<br />
Arts du Canada (CAC), Institut<br />
Français, Wallonie-Bruxelles<br />
International (WBI), Bureau<br />
International de la Jeunesse<br />
(BIJ), Commission internationale<br />
du théâtre francophone (CITF),<br />
Conseil des arts et lettres du<br />
Québec (CALQ) und Conseil des<br />
arts de Montréal (CAM).<br />
www.ruhr3.com/garten<br />
47
LE JARDIN DES<br />
DÉLICES /<br />
DER GARTEN<br />
DER LÜSTE<br />
PHILIPPE QUESNE<br />
VIVARIUM STUDIO<br />
Schauspiel<br />
Die Utopie eines Gartens für Heute und Morgen<br />
→ Magazin, Seite 180<br />
48
Zum ersten Mal wird <strong>der</strong> gefeierte französische Künstler Philippe Quesne als Regisseur<br />
bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> zu sehen sein – mit einem neuen Projekt, das zugleich die großangelegte<br />
Retrospektive seiner bisherigen Theaterarbeit mit dem Vivarium Studio darstellt,<br />
das <strong>2023</strong> sein 20jähriges Bestehen feiert. Hierfür versammelt er die wichtigsten Protagonist:innen<br />
und Motive seiner bisherigen Arbeiten und verwebt sie zu einem großen<br />
theatralen Panoramabild. Gegenstand seiner künstlerischen Beschäftigung waren stets<br />
die essentiellen, drängenden Fragen unserer Zeit. Philippe Quesne und seiner Company<br />
ging und geht es immer ums Ganze. In immer wie<strong>der</strong> neuen Versuchen zeichnen sie die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte nach, ihre Höhenflüge und Abstürze, sie untersuchen<br />
ihre Träume, den Motor ihres Strebens, den Willen zur Macht und das Scheitern.<br />
Sie fragen nach den Regeln <strong>der</strong> Gemeinschaftsbildung und nach dem Umgang mit <strong>der</strong><br />
Umwelt. Woher rührt unser Krisenbewusstsein, woran misst die Menschheit die Realität?<br />
Auf hochpoetische, spielerische Weise lässt Quesne wissenschaftliche und ästhetische<br />
Fragestellungen ineinan<strong>der</strong>greifen. Die sich als künstlerische Forschung begreifende<br />
Arbeit verortet sich an <strong>der</strong> Schnittstelle von Kunst, Philosophie, Politik, Ökologie<br />
und kindlichem Spiel. Die Theaterproduktionen des Vivarium Studios sind humorvolle,<br />
luzide Feiern <strong>der</strong> Imaginationskraft als Antwort auf die Ängste unserer Zeit. Für sein<br />
großangelegtes Jubiläumsstück tritt Philippe Quesne in einen Dialog mit dem berühmten,<br />
bald 500 Jahre alten Gemälde Der Garten <strong>der</strong> Lüste von Hieronymus Bosch, einem<br />
Meisterwerk <strong>der</strong> Kunstgeschichte. Das Bild markiert den Übergang vom Mittelalter zur<br />
Renaissance. Quesne befragt mit ihm den Wesenskern des menschlichen Selbstverständnisses,<br />
die utopischen Visionen <strong>der</strong> Menschen, sein Verhältnis zu sich als Spezies<br />
und sein gebrochenes Verhältnis zur Natur.<br />
The acclaimed French artist Philippe Quesne makes his debut as a director at the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
– with a project that also represents a large-scale retrospective of his previous<br />
works with the Vivarium Studio which will celebrate its 20th anniversary in <strong>2023</strong>. Here he<br />
assembles leading protagonists and motifs from his earlier works and weaves them into<br />
a broad theatrical panorama. His artworks have consistently addressed the urgent and<br />
fundamental issues of our time. Philippe Quesne and his company are and have always<br />
been concerned with the big picture. They have repeatedly made fresh attempts to trace<br />
the course of human history, its high and low points, exploring its dreams, the motives<br />
for its endeavours, its will to power and its failures. They question the rules for how we<br />
form communities and our treatment of the environment. Where does our sense of crisis<br />
come from and how does humanity measure reality? Quesne intertwines processes of<br />
scientific and aesthetic enquiry in a highly poetic and playful manner. Work that regards<br />
itself as artistic research occupies a space where art, philosophy, politics and ecology<br />
intersect with childlike play. Vivarium Studios’ theatre productions are humorous and<br />
lucid celebrations of the power of the imagination as the answer to the fears of our time.<br />
For this large-scale anniversary performance, Philippe Quesne enters into a dialogue<br />
with the famous, almost 500-year-old painting The Garden of Earthly Delights by Hieronymus<br />
Bosch, a masterpiece of art history. The picture represents the transition from<br />
the Middle Ages to the Renaissance. Quesne joins it in questioning the core essence of<br />
human identity, humanity’s utopian visions, its relationship to itself as a species and its<br />
broken relationship to nature.<br />
Konzept, Bühne, Szenografie<br />
Philippe Quesne<br />
Mitarbeit Szenografie<br />
Elodie Dauguet<br />
Kostüme<br />
Karine Marques Ferreira<br />
Mitarbeit Dramaturgie<br />
Éric Vautrin<br />
Regieassistenz<br />
François-Xavier Rouyer<br />
Ton<br />
Janyves Coïc<br />
Licht<br />
Jean-Baptiste Boutte<br />
Requisite<br />
Mathieu Dorsaz<br />
Ankleide, Mitarbeit Kostüm<br />
Estelle Boul<br />
Technische Mitarbeit<br />
Marc Chevillon<br />
Inspizienz<br />
François Boulet, Martine Staerk<br />
Bühnentechnik<br />
Ewan Guichard<br />
Videotechnik<br />
Matthias Schny<strong>der</strong><br />
Lichttechnik<br />
Cassandre Colliard<br />
Bühnenbau<br />
Ateliers du Théâtre<br />
Vidy-Lausanne<br />
Produktion, Booking<br />
Judith Martin, Elizabeth Gay<br />
Produktion Vivarium Studio<br />
Charlotte Kaminski<br />
Mit<br />
Jean-Charles Dumay<br />
Léo Gobin<br />
Sébastien Jacobs<br />
Elina Löwensohn<br />
Nuno Lucas<br />
Isabelle Prim<br />
Thierry Raynaud<br />
Gaëtan Vourc’h<br />
Kraftzentrale,<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Do 7. September_______ 20.00 Uhr<br />
Fr 8. September_______ 20.00 Uhr<br />
Sa 9. September_______ 20.00 Uhr<br />
So 10. September_________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 120 min<br />
Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />
ermäßigt 12 €<br />
Französisch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Produktion:<br />
Vivarium Studio<br />
Théâtre Vidy-Lausanne<br />
Koproduktion:<br />
Festival d’Avignon, <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />
Tangente St. Pölten - Festival für<br />
Gegenwartskultur, Théâtre du<br />
Nord Centre Dramatique National<br />
Lille Tourcoing Hauts-de-France,<br />
Maison de la Culture d’Amiens<br />
Pôle européen de création et de<br />
production, Centro dramatico<br />
nacional, MC93 - Maison de la<br />
culture de Seine-Saint-Denis, Le<br />
Maillon - Théâtre de Strasbourg<br />
Scène européenne, Kampnagel,<br />
Festival NEXT, Scène nationale<br />
Carré-Colonnes Bordeaux-Métropole,<br />
Berliner Festspiele,<br />
National Theater and Concert<br />
Hall Taipei<br />
www.ruhr3.com/lust<br />
49
THE VISITORS<br />
CONSTANZA<br />
MACRAS<br />
DORKYPARK<br />
Tanz<br />
Für alle ab 14 Jahren<br />
Slashing Anticipations<br />
→ Magazin, Seite 168<br />
50
Die neue Arbeit von Constanza Macras setzt eine Zusammenarbeit zwischen DorkyPark<br />
und Menschen aus Johannesburg fort, die vor zehn Jahren im verarmten und gefährlichen<br />
Stadtteil Hillbrow als szenischer Workshop begann. Aus <strong>der</strong> Begegnung entstand<br />
Begeisterung, Beachtung, Bewun<strong>der</strong>ung – und Hillbrowfication, eine Show, die<br />
lachend die Fragen nach den Menschen in dem Viertel zwischen Depression und Ambition<br />
umtanzte. 2022 erlebte die weltweite Tournee dieses hochenergetischen Stückes<br />
in <strong>der</strong> Duisburger Gebläsehalle im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> einen ihrer Höhepunkte.<br />
Daher scheint es nur folgerichtig, wenn die argentinische Choreografin mit<br />
The Visitors genau dort den Faden wie<strong>der</strong> aufnimmt und mit ihrem südafrikanischen<br />
Team Bil<strong>der</strong> von Gewalt und Horror, aber auch <strong>der</strong> tanzenden Befreiung davon präsentiert.<br />
In The Visitors vertanzen 15 Tänzer:innen Bil<strong>der</strong> von Horror-Filmen zu kraftvollen<br />
Musikbeats. Denn Startpunkt des Projektes sind die beliebten Slasher-Horrorfilme, in<br />
denen Jugendliche in den von ihren Eltern verlassenen Häusern bedroht und getötet<br />
werden. Das Stück befragt die Konstruktion des An<strong>der</strong>en als Monster, die negativen<br />
Projektionen auf nigerianische Einwan<strong>der</strong>:innen und die grauenhaften Konsequenzen<br />
<strong>der</strong> Taten <strong>der</strong> Kolonialmächte, die bis heute gesellschaftspolitische Strukturen bestimmen.<br />
Doch ähnlich wie in Slasher-Filmen wird in <strong>der</strong> Tanzperformance <strong>der</strong> Horror durch<br />
humorvolle und absurde Exzesse in nichtlinearen Zusammenhängen kreativ bekämpft.<br />
The new piece by Constanza Macras continues a collaboration between DorkyPark and<br />
young dancers from Johannesburg, that began five years ago as a scenic workshop<br />
in the and dangerous suburb of Hillbrow. This encounter resulted in mutual enthusiasm,<br />
respect and admiration – and in Hillbrowfication, a futuristic show that laughingly<br />
danced around questions about the future ranging from depression to ambition. The<br />
global tour of this high-energy performance reached one of its highpoints in 2022 at<br />
the Gebläsehalle in Duisburg as part of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. For this reason, it only seems<br />
right that in The Visitors the Argentinian choreographer should pick up where she left<br />
off together with her South African team and present images of violence and horror but<br />
also of liberation from these through dance. In The Visitors 15 dancers express images<br />
of horror films to powerful musical beats. The project’s starting point is the popular<br />
genre of slasher movies, in which young people left alone at home by their parents are<br />
threatened and killed. The piece questions the construction of the other as a monster,<br />
the projections made onto Nigerian immigrants and the appalling consequences of the<br />
deeds committed by colonial interlopers, which continue to determine the structures of<br />
society and politics to this day. However, as in slasher movies, the horror in this dance<br />
performance is combatted creatively through humorous excess and absurd outcomes<br />
in non-linear contexts.<br />
Choreografie, Regie<br />
Constanza Macras<br />
Dramaturgie<br />
Tamara Saphir<br />
Kostüme<br />
Roman Handt<br />
Musik<br />
Spoek Mathambo<br />
Bühne<br />
Noluthando Lobese<br />
Produktion, Management<br />
Jimena Soria<br />
Regieassistenz<br />
Mica Heilmann<br />
Produktionsassistenz<br />
Leó Pflimlin<br />
Produktion<br />
Vicky Kouraraki<br />
Produzent Johannesburg<br />
Gerard Bester<br />
Sound Design<br />
Stephan Wöhrmann<br />
Licht Design<br />
Sergio Pessanha<br />
Performance<br />
Alexandra Bodí<br />
Emil Bordás<br />
Tshepang Josias Lebelo<br />
Brandon Magengelele<br />
Vusimuzi T Magoro<br />
Bongani Innocent Mangena<br />
Thulani Mgidi<br />
Nkalala Jackson Mogotlane<br />
Miki Shoji<br />
John Mbuso Sithol<br />
und viele mehr<br />
Gebläsehalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Europäische Erstaufführung<br />
Sa 9. September_________ 19.00 Uhr<br />
So 10. September__________ 17.00 Uhr<br />
Mi 13. September_________ 19.00 Uhr<br />
Do 14. September_________ 19.00 Uhr<br />
Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />
ermäßigt 12 €<br />
Englisch mit deutschen<br />
Übertiteln<br />
Eine Produktion von Constanza<br />
Macras | DorkyPark in<br />
Koproduktion mit<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong>, Kampnagel,<br />
The Windybrow Arts Centre<br />
and Market Theatre<br />
The Visitors wird geför<strong>der</strong>t vom<br />
Internationalen Koproduktionsfonds<br />
des Goethe-Instituts<br />
www.ruhr3.com/visitors<br />
51
LA POSIBILIDAD DE<br />
LA TERNURA /<br />
DIE MÖGLICHKEIT<br />
VON ZÄRTLICHKEIT<br />
MARCO LAYERA<br />
TEATRO LA RE-SENTIDA<br />
Schauspiel<br />
Für alle ab 14 Jahren<br />
Hombre Modelo<br />
→ Magazin, Seite 160<br />
52
In dem international beachteten Projekt Paisajes para no colorear brachte La Re-sentida<br />
mit unvermittelter Härte Geschichten von jungen Frauen aus Santiago de Chile auf die<br />
Bühne. 2021 wurden sie auch bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> für ihre leidvollen Geschichten und<br />
ihre Kraft <strong>der</strong> Darstellung umjubelt und beweint. Als Konsequenz und Weiterentwicklung<br />
wollen Marco Layera und sein Team nun die Konstruktion von Männlichkeit befragen.<br />
Nicht zuletzt <strong>der</strong> Krieg in <strong>der</strong> Ukraine macht weltweit die Vorstellungen von Männlichkeit<br />
in den Kategorien von Stärke, Kontrolle und Macht wie<strong>der</strong> populär und konfrontiert uns<br />
täglich mit den Bil<strong>der</strong>n davon, während <strong>der</strong> Kampf gegen den historischen Machismus<br />
und die Infragestellung von männlichen Selbstverständlichkeiten weiterhin notwendig<br />
und immer noch heftig umstritten ist. Doch wie verorten sich männlich gelesene junge<br />
Menschen zwischen Feminismus und Patriarchat? Sind sie selbst Opfer eines toxischen<br />
Systems o<strong>der</strong> mitverantwortlich dafür? Gibt es die Möglichkeit einer an<strong>der</strong>en Männlichkeit?<br />
La Re-sentida erarbeitet ein Projekt, in dem männlich gelesene junge Menschen<br />
ihre Lage schil<strong>der</strong>n und präsentieren können. Das Stück wird aus Geschichten <strong>der</strong> Realität<br />
entwickelt und bezieht die Jugendlichen nicht nur als Darstellende, son<strong>der</strong>n auch<br />
als Autor:innen ein, um sie zum Bestandteil eines sozialen und künstlerischen Prozesses<br />
zu machen. Ihre Energie, ihre Gefühle, ihre Fragen und Anklagen werden auf <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> erstmals mit dem Blick von Erwachsenen konfrontiert.<br />
In the internationally acclaimed project Paisajes para no colorear, La Re-sentida placed<br />
the stories of young women from Santiago de Chile on stage in a direct, raw and powerful<br />
manner. The performance was greeted with cheers and tears at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021<br />
for the performers’ suffering, anger and the power of their performances. As a consequence<br />
and extension of this work, Marco Layera and his team now want to question<br />
the construct of masculinity. One effect of the war in Ukraine has been to make notions<br />
of masculinity associated with strength, control and power popular once again, confronting<br />
us with images of this on a daily basis, while the struggle against historic machismo<br />
and questioning of male identities continue to be necessary and still produce intense<br />
reactions. But how do young people who are read as male position themselves between<br />
feminism and patriarchy? Are they also victims of a toxic system – or do they share<br />
responsibility for it? Is a different masculinity possible? La Re-sentida have produced a<br />
project in which young people who are read as male can describe and present their situation.<br />
The play has been developed from true stories and includes young people not only<br />
as performers but also as authors, making them an integral part of a social and artistic<br />
process. Their energy, their emotions, their questions and accusations will be presented<br />
to an audience and to adult eyes for the first time in Essen at the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Regie<br />
Marco Layera<br />
Mitarbeit Regie<br />
Carolina de la Maza<br />
Text<br />
Marco Layera<br />
Carolina de la Maza und<br />
Ensemble<br />
Bühne<br />
Teatro La Re-sentida<br />
Kostüme<br />
Daniel Bagnara<br />
Dramaturgie<br />
Aljoscha Begrich<br />
Produktion<br />
Victoria Iglesias Àlvarez<br />
de Araya<br />
Regieassistenz<br />
Katharine Maureira<br />
Humberto Espinoza<br />
Licht Design<br />
Karl Sateler<br />
Sound Design<br />
Andrés Quezada<br />
Technische Leitung<br />
Karl Sateler<br />
Psychologie<br />
Rodrigo Mardones<br />
Mitarbeit Theorie<br />
Ernesto Orellana<br />
Mit<br />
José Miguel Araya Moreno<br />
Leftrarü Valdivia Castro<br />
Camilo Bugueño Espejo<br />
Efraín Chaparro Pérez<br />
Matías Mendez González<br />
Dimitri Bueno Ferrer<br />
Marcos Cruz Andulce<br />
Salzlager,<br />
Welterbe Zollverein, Essen<br />
Uraufführung<br />
Do 14. September_________ 18.00 Uhr<br />
Fr 15. September_________ 18.00 Uhr<br />
So 17. September_________ 18.00 Uhr<br />
Di 19. September__________ 11.00 Uhr<br />
Do 21. September_________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 70 min<br />
Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />
Schulen für 5 € pro Person<br />
Informationen zu Tickets und<br />
Workshops für Schulen s. S. 68<br />
Spanisch mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Eine Produktion von GAM<br />
Cultural Center und <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Koproduziert mit Münchner<br />
Kammerspiele<br />
www.ruhr3.com/ternura<br />
53
MONUMENT 0.10:<br />
THE LIVING<br />
MONUMENT<br />
ESZTER SALAMON<br />
CARTE BLANCHE<br />
Tanz<br />
Lebendige Monumente, monochrome Rituale<br />
→ Magazin, Seite 184<br />
54
The Living Monument lässt eine monochrome Welt intensiver Farben entstehen, in<br />
<strong>der</strong> Zeit stillzustehen scheint. Die gemeinsam mit vierzehn Performer:innen von Carte<br />
Blanche entwickelte Choreografie formt traumartige Landschaften aus Körpern, Stoffen<br />
und Objekten, die sich beständig transformieren und neu zusammenfinden. Langsam<br />
sich verän<strong>der</strong>nde Szenerien, von auftauchenden und verschwindenden Figuren belebt,<br />
enthüllen vibrierende Bil<strong>der</strong>, fragmentarische Erzählungen und erinnerte Visionen. Ein<br />
fesselndes Spiel mit Langsamkeit und andauern<strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong> Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft simultan existieren.<br />
Eszter Salamons choreografische Arbeiten rufen sensorische Halluzinationen hervor,<br />
Verschiebungen zwischen Sinn, Wahrnehmung und Erinnerung. The Living Monument<br />
ist Teil <strong>der</strong> MONUMENT-Serie, in welcher sich die Künstlerin seit fast zehn Jahren mit<br />
<strong>der</strong> Frage beschäftigt, was von <strong>der</strong> Vergangenheit bleibt und uns heute noch prägt.<br />
Eine intensive künstlerische Suche nach alternativen Geschichtsschreibungen und<br />
einem neuen Blick auf die Vergangenheit, um eine an<strong>der</strong>e Zukunft imaginieren zu<br />
können. Die erste Arbeit <strong>der</strong> Serie, MONUMENT 0: HAUNTED BY WARS (1913–2013),<br />
eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> gewaltvollen Kolonialgeschichte, war 2014 ebenfalls im<br />
Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bei PACT Zollverein zu sehen. In den folgenden MONUMENT-<br />
Arbeiten, von denen die meisten bei PACT zu erleben waren, richtete Salamon den<br />
Fokus auf Lebensgeschichten, die es vor dem Vergessen zu bewahren gilt. The Living<br />
Monument bezieht sich auf keine konkreten historischen Ereignisse, son<strong>der</strong>n folgt vielmehr<br />
<strong>der</strong> Idee des Traums, des konstanten Wandels und schafft so eine trance ähnliche<br />
Stimmung <strong>der</strong> Trugbil<strong>der</strong>, Assoziationen und Fiktionen, die vermeintlich längst Vergangenes<br />
mit Zukünftigem verknüpfen.<br />
The Living Monument creates a monochrome world of intense colours where time seems<br />
to stand still. The choreography devised together with 14 dancers from Carte Blanche<br />
creates dreamlike landscapes out of bodies, textiles and objects which constantly transform<br />
themselves to make new combinations. Slowly changing scenes, populated by<br />
emerging and disappearing figures, reveal vibrant images, fragmentary narratives and<br />
remembered visions. A compelling play on slowness and enduring time, in which past,<br />
present and future exist simultaneously.<br />
Eszter Salamon’s choreographic works summon up sensory hallucinations and shifts<br />
between meaning, perception and memory. The Living Monument is part of the MON-<br />
UMENT series, in which the artist has spent almost ten years exploring the question of<br />
what remains of the past and continues to shape us today: an intense artistic search for<br />
alternative writings of history and a new view of the past in or<strong>der</strong> to be able to imagine<br />
a different future. The first work in the series, MONUMENT 0: HAUNTED BY WARS<br />
(1913–2013), was a confrontation with violent colonial history that was also seen as part<br />
of the <strong>Ruhrtriennale</strong> at PACT Zollverein in 2014. In the MONUMENT works that followed,<br />
most of which were also seen at PACT, Salamon focused on preserving life stories from<br />
being forgotten. The Living Monument does not refer to specific historical events, instead<br />
it follows the idea of a dream, of constant change, thus creating a trance-like mood of<br />
illusions, associations and fictions linking what seemed to be long gone with the future.<br />
Konzept, Choreografie, Kostüme<br />
Eszter Salamon<br />
Szenografie<br />
James Brandily<br />
Licht Design<br />
Silje Grimstad<br />
Komposition<br />
Carmen Villain<br />
Choreografieassistenz<br />
Elodie Perrin<br />
Christine De Smedt<br />
Kostümassistenz<br />
Laura Garnier<br />
Sound Design<br />
Leif Herland<br />
Mit<br />
Caroline Eckly<br />
Noam Eidelman Shatil<br />
Nadege Kubwayo<br />
Timothy Bartlett<br />
Dawid Lorenc<br />
Adrian Bartczak<br />
Aslak Aune Nygård<br />
Ole Martin Meland<br />
Brecht Bovijn<br />
Gaspard Schmitt<br />
Mathias Stoltenberg<br />
Manon Campion<br />
Ihsaan de Banya<br />
Mai Lisa Guinoo<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Fr 15. September_______ 20.00 Uhr<br />
Sa 16. September_______ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 120 min<br />
Tickets: 17 / 27 €, ermäßigt 12 €<br />
Keine Sprache<br />
Veranstaltet von PACT<br />
Zollverein für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Eine Produktion von<br />
Carte Blanche<br />
Monument 0.10: The Living<br />
Monument wird unterstützt<br />
durch Botschaft Gbr (Alexandra<br />
Wellensiek) / Studio E.S (Elodie<br />
Perrin) / Institute of Speculative<br />
Narration and Embodiment<br />
Eszter Salamon ist unterstützt<br />
durch Bureau Ritter/TANZPAKT<br />
RECONNECT, geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />
Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />
für Kultur und Medien im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Initiative NEU-<br />
START KULTUR. Hilfsprogramm<br />
Tanz.<br />
www.ruhr3.com/monument<br />
55
THE THIRD<br />
ROOM X<br />
FLORENTINA<br />
HOLZINGER<br />
Rave / Happening<br />
56
The Third Room X Florentina Holzinger ist ein Fest <strong>der</strong> elektronischen Musik in ihrer<br />
ganzen Bandbreite, von experimentellen Live Sets bis Contemporary Electronic Dance<br />
Music, verbunden mit einem musikalischen Action Happening von Florentina Holzinger,<br />
die mit ihrem Ensemble die Höhen <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>halle erobern wird.<br />
Wir wollen ein multidisziplinäres Festivalerlebnis schaffen, das von 23.00 Uhr bis in<br />
die Morgenstunden andauert und das Konzert, Rave und Performance miteinan<strong>der</strong><br />
verbindet. Die Namen <strong>der</strong> Künstler:innen werden wir zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen,<br />
doch so viel können wir schon verraten: Es wird ein diverses und internationales<br />
Line-up, das in Zusammenarbeit mit dem Essener Kollektiv The Third Room entstanden<br />
ist, und ein unvergesslicher Abend voll musikalischer Highlights. Nachdem die<br />
Ausnahmekünstlerin Florentina Holzinger 2021 in <strong>der</strong> Kraftzentrale einen großen Erfolg<br />
mit A Divine Comedy feierte, wird sie in diesem Jahr den Rave durch ihre künstlerische<br />
Intervention bereichern und den Abend mit <strong>der</strong> musikalischen Performance Étude for a<br />
Bell im wahrsten Sinne einläuten.<br />
While the rave in the last edition of the festival was an extension of the performance<br />
of Respublika, this year we focus on the broad spectrum of electronic music, ranging<br />
from experimental un<strong>der</strong>ground to contemporary electronic dance music.<br />
We want to create a special festival night by combining a concert, rave and performance.<br />
We will announce the names of the performers at a later date, but we can tell you that<br />
a diverse and international line-up awaits that has been assembled in collaboration with<br />
the Essen-based collective The Third Room and will provide an unforgettable evening of<br />
musical highlights. Following the remarkable artist Florentina Holzinger’s success in the<br />
Kraftzentrale in 2021 with A Divine Comedy, she will present an artistic intervention at<br />
this year’s rave. Together with her ensemble she will literally »ring in« the evening in the<br />
action happening Étude for a Bell.<br />
Musikalische Intervention<br />
Étude for a Bell<br />
Konzept, Künstlerische Leitung<br />
Florentina Holzinger<br />
Bühne<br />
Nikola Knežević<br />
Technische Produktion<br />
Stephan Werner<br />
Sound Design<br />
Stefan Schnei<strong>der</strong><br />
Licht Design<br />
Max Kraußmüller<br />
Produktion, Management<br />
neon lobster / Giulia Messia,<br />
Katharina Wallisch<br />
Mit<br />
Florentina Holzinger<br />
und Ensemble<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />
Sa 16. September________ 23.00 Uhr<br />
www.ruhr3.com/rave<br />
57
AUFZEICHNUNGEN<br />
AUS DEM KELLERLOCH<br />
FJODOR DOSTOJEWSKI<br />
BARBARA FREY<br />
BETTINA MEYER<br />
NINA HOSS<br />
ALEX SILVA<br />
Schauspiel<br />
Der Blick in die eigene Fratze<br />
→ Magazin, Seite 156<br />
58
Ein Mensch, verbittert und von höchster Intelligenz, erklärt seine Unabhängigkeit<br />
vom Lauf <strong>der</strong> Dinge. Sein übersteigertes, feinnerviges Bewusstsein vom Zustand <strong>der</strong><br />
Welt hat ihn zum Untätigen werden lassen. Verzweifelt, komisch, schmerzhaft und<br />
voller Wi<strong>der</strong>sprüche erkennen wir in ihm einen Repräsentanten unserer Zeit. Nina<br />
Hoss steigt in den Gedankenfluss von Dostojewskis psychologischem Meisterwerk<br />
ein und folgt den kreisenden und hakenschlagenden Sätzen in die Tiefen seines humanen<br />
Pessimismus. Wie kaum ein an<strong>der</strong>er Schriftsteller hat Fjodor Dostojewski<br />
die Not des Menschen, seine vergebliche Suche nach sich selbst beschrieben. Gleich<br />
zweimal begegnen wir diesem Autor im diesjährigen Festival: in <strong>der</strong> Vorlage für Leoš<br />
Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus und in dieser frühen Erzählung, die die Hauptphase<br />
seines Schaffens einläutet und in <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> ganze philosophische Problemhorizont<br />
seiner fünf großen Romane bereits ankündigt. Fjodor Dostojewskis Mo<strong>der</strong>nität<br />
findet sich in den wesentlichen Fragen, die er stellt: nach <strong>der</strong> Freiheit des Menschen,<br />
nach Erkenntnis, nach dem Leben, dem Tod, dem Wesen des Schönen, <strong>der</strong> Möglichkeit<br />
des Glaubens, dem Vertrauen auf den Fortschritt, das sich mit <strong>der</strong> Hoffnung verbindet,<br />
<strong>der</strong> Mensch begänne gut zu handeln, wenn er über seine wahren Interessen aufgeklärt<br />
sei. Letzteres bezweifelt die erzählende Figur vehement, sie ringt um Wahrhaftigkeit,<br />
leuchtet hinein in unser Unbewusstes und beweist sich schließlich ihren freien Willen<br />
dadurch, dass sie sich für das Wi<strong>der</strong>sinnige, Unvernünftige, womöglich Zerstörerische<br />
entscheidet. Das Publikum ist eingeladen, sich in <strong>der</strong> Mischanlage Essen Schritt für<br />
Schritt den Weg in das »Kellerloch« zu bahnen, sich von <strong>der</strong> Soundcollage Alex Silvas<br />
führen zu lassen, um schließlich bei Tee und Wodka dem furiosen Monolog beizuwohnen.<br />
Ein moralisch-literarisches Intensitätserlebnis son<strong>der</strong>gleichen.<br />
Regie<br />
Barbara Frey<br />
Bühne, Kostüme<br />
Bettina Meyer<br />
Sound Design, Komposition<br />
Alex Silva<br />
Licht Design<br />
Ulrich Schnei<strong>der</strong><br />
Bühnenbildassistenz<br />
Samuel Herger<br />
Regieassistenz<br />
Mechthild Harnischmacher<br />
Mit<br />
Nina Hoss<br />
One person, seemingly embittered but highly intelligent, articulates their independence<br />
from the course of events. Their exaggerated and highly strung awareness of the<br />
state of the world has led them to become inactive. Desperate, comic, painful and full<br />
of contradictions, we can see them as representative of our time. Nina Hoss immerses<br />
herself in the stream of thought of this psychological masterpiece and follows its<br />
whirling and sidestepping sentences down into the depths of human pessimism.<br />
Fyodor Dostoyevsky described human misery and humanity’s vain search for itself like<br />
practically no other writer. We encounter this author twice at this year’s festival; in the<br />
novel on which Janáček based his opera From the House of the Dead and in this early<br />
short story which heralded the principal phase of his creative output and which touches<br />
upon the full spectrum of philosophical problems addressed in his five great novels.<br />
Fyodor Dostoyevsky’s mo<strong>der</strong>nity can be found in the essential questions he asks:<br />
about the possibility of human freedom, about knowledge, about life, death, the nature<br />
of beauty, the possibility of belief, faith in progress, which is connected to the hope<br />
that humans may act benevolently if they are enlightened as to their true interests.<br />
The latter is something the narrator severely doubts – they grapple for the truth, shed<br />
light on our unconscious and ultimately prove their own free will by choosing what is<br />
nonsensical, unreasonable and potentially destructive.<br />
The audience at the Mischanlage in Essen is invited to make its way step by step<br />
»un<strong>der</strong>ground« in or<strong>der</strong> to witness this bravura monologue over tea and vodka. A moral<br />
and literary experience of unparalleled intensity.<br />
Mischanlage,<br />
Welterbe Zollverein, Essen<br />
Mi 20. September_______ 20.00 Uhr<br />
Do 21. September_______ 20.00 Uhr<br />
Fr 22. September_______ 20.00 Uhr<br />
Sa 23. September_______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />
Deutsch mit englischen<br />
Übertiteln<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
www.ruhr3.com/kellerloch<br />
59
PLAY BIG!<br />
BASEL SINFONIETTA<br />
NDR BIGBAND<br />
CHORWERK RUHR<br />
TITUS ENGEL<br />
Konzert<br />
SOFIA GUBAIDULINA<br />
Revuemusik für Sinfonieorchester und Jazzband (1976/1995/2002)<br />
MICHAEL WERTMÜLLER<br />
Shlimazl für Sinfonieorchester und Bigband (<strong>2023</strong>)<br />
Uraufführung<br />
SIMON STEEN-ANDERSEN<br />
TRIO für Orchester, Bigband, Chor und Video (2019)<br />
Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />
→ Magazin, Seite 192<br />
Musikalische Leitung<br />
Titus Engel<br />
Basel Sinfonietta<br />
NDR Bigband<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Dirigent NDR Bigband<br />
Thorsten Wollmann<br />
Dirigent Chorwerk Ruhr<br />
Michael Alber<br />
Schlagzeug<br />
Lucas Niggli<br />
E-Gitarre<br />
Kalle Kalima<br />
60
Bigband und Sinfonieorchester sind wie Pinguin und Eisbär – sie begegnen sich praktisch<br />
nie. Und das nicht ohne Grund: Die improvisatorische Freiheit des Jazz und die<br />
komplexe Bauweise klassischer Kompositionen stehen für zwei komplett gegensätzliche<br />
Ansätze des Musikmachens, die Komponist:innen selten in sich vereinen. Und<br />
wenn sie es doch tun?<br />
Dass musikalische Wesensfremdheit auch ein kreativer Motor sein kann, beweist Sofia<br />
Gubaidulina, <strong>der</strong>en Musik hauptsächlich mit religiös-spiritueller Tiefe assoziiert wird,<br />
nicht aber mit Jazz und Unterhaltungsmusik. Ihre geisterhaft ironische Revuemusik ist<br />
wie <strong>der</strong> Blick einer tatarischen Mystikerin auf die Ästhetik <strong>der</strong> Hollywood-Filmmusik <strong>der</strong><br />
1970er Jahre – mitten im Kalten Krieg. Ein selten gehörter Coup <strong>der</strong> bescheidenen Grande<br />
Dame <strong>der</strong> zeitgenössischen Musik, <strong>der</strong> ihr eine weitere mysteriöse Dimension verleiht.<br />
In beiden Welten gleichermaßen heimisch ist <strong>der</strong> Jazz-Schlagzeuger und Komponist<br />
Michael Wertmüller. Bereits in seinem experimentellen Opernraum D•I•E öffnete er bei <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021 die Schleusen <strong>der</strong> Stilgrenzen. In seinem neuen Werk Shlimazl greift<br />
er nun die Tradition <strong>der</strong> Bigband auf und lässt sie mit dem Sinfonieorchester als geschlossenen<br />
Klangapparat wie ein gigantisches Ufo abheben. Angetrieben von zwei fabelhaften<br />
Jazz-Virtuosen verwachsen dabei Komplexität und Coolness zu einem polymetrischen<br />
Kunststück, als hätte es nie ein lineares Zeitmaß gegeben.<br />
Irrwitzig und riesenhaft ist das Spektakel in Simon Steen-An<strong>der</strong>sens TRIO. Die drei Stimmen<br />
seines Trios heißen nicht etwa Violine, Cello und Klavier, son<strong>der</strong>n Chor, Orchester<br />
und Bigband. Sie sind Werkzeuge einer atemberaubenden audiovisuellen Zeitmaschine,<br />
bei <strong>der</strong> musikalische Geschichte und Gegenwart, Schnipsel archivierten Filmmaterials<br />
und Live-Musik einen verrückten metaphysischen Organismus bilden – gesteuert natürlich<br />
von Mastermind Steen-An<strong>der</strong>sen selbst: Spielversessen wie ein Marionettenspieler<br />
hält <strong>der</strong> dänische Komponist und Installationskünstler die Fäden in <strong>der</strong> Hand und lässt<br />
seine Figuren einen fantastisch-skurrilen Tanz tanzen.<br />
A big band and a symphony orchestra are like a penguin and a polar bear – two creatures<br />
that never meet. Well, hardly ever. The freedom to improvise in jazz and the complex construction<br />
of classical compositions represent two entirely different approaches to music-making<br />
which composers rarely combine.<br />
But what if they do? The fact that an alien musical language can also drive creativity forward<br />
is proven by Sofia Gubaidulina, whose music is primarily associated with religious<br />
and spiritual depth and not with jazz or entertainment. Her ghostly and ironic Revue Music<br />
is like a Tartar mystic’s perspective on the aesthetic of Hollywood film scores from the<br />
1970s – written in the middle of the Cold War. A rarely-heard coup from the modest grande<br />
dame of contemporary music, which lends her an additional dimension of mystery.<br />
Equally at home in both worlds is the jazz percussionist and composer Michael Wertmüller.<br />
He has already opened up the floodgates to stylistic crossover in his experimental opera<br />
space D•I•E at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021. In his latest work Shlimazl, he now seizes on the big band<br />
tradition and, forming a closed sound machine together with a symphony orchestra, makes<br />
it take off like a gigantic UFO. Driven on by two won<strong>der</strong>ful jazz virtuosos, it combines complexity<br />
and coolness to create a polymetric tour de force as if linear time had never existed.<br />
The spectacle in Simon Steen-An<strong>der</strong>sen’s TRIO is both crazy and vast. The three parts in<br />
his trio are not a combination like violin, cello and piano, but choir, orchestra and big band.<br />
These are the tools of a breath-taking audio-visual time machine in which musical history<br />
and present, snippets of archive film material and live music form a crazy metaphysical<br />
organism – guided, of course, by the mastermind Steen-An<strong>der</strong>sen himself: intensely focussed<br />
on his performance like a puppeteer, the Danish composer and installation artist<br />
holds all the strings and makes his characters dance a fantastic and quirky dance.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Do 21. September_______ 20.00 Uhr<br />
Fr 22. September_______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 22 / 37 / 52 / 67 €,<br />
ermäßigt 12 €<br />
Shlimazl von Michael Wertmüller<br />
ist eine Auftragskomposition<br />
von Basel Sinfonietta und<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Eine Koproduktion von<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> und Basel<br />
Sinfonietta, in Kooperation mit<br />
dem Norddeutschen Rundfunk<br />
Die Veranstaltung wird von<br />
NDR und WDR für den Hörfunk<br />
aufgezeichnet und zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in beiden<br />
Programmen gesendet.<br />
www.ruhr3.com/playbig<br />
61
QUID CHAOS<br />
HUELGAS<br />
ENSEMBLE<br />
PAUL VAN NEVEL<br />
Konzert<br />
JOSQUIN DESPREZ<br />
Qui habitat<br />
ANTOINE BRUMEL<br />
Missa Et ecce terræ motus<br />
PIETER MAESSINS<br />
Tota pulchra es<br />
ROBERTUS WYLKYNSON<br />
Salve Regina<br />
GIOVANNI PIERLUIGI DA PALESTRINA<br />
Missa Viri Galilei: Agnus Dei<br />
PIERRE DE MANCHICOURT<br />
Sustinuimus pacem<br />
LEONHARD LECHNER<br />
Quid, Chaos<br />
CLAUDIO MONTEVERDI<br />
Missa in illo tempore: Sanctus<br />
JOSQUIN DESPREZ<br />
Qui habitat<br />
Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />
→ Magazin, Seite 192<br />
Musikalische Leitung<br />
Paul Van Nevel<br />
Huelgas Ensemble<br />
62
»Warum, o Chaos, versuchst Du, die Welt in Unordnung zu bringen?,« fragt die Liebe in<br />
Leonhard Lechners hellsichtigem Hochzeitslied Quid, Chaos für 24 Stimmen. Wo immer<br />
das Huelgas Ensemble unter Paul Van Nevel auftritt, scheinen den Klangräumen keine<br />
Grenzen gesetzt, wird das Chaos in geordnete Bahnen geleitet. Den Auftakt zur Intendanz<br />
von Barbara Frey machte 2021 ein Konzert im Morgengrauen auf Zeche Zweckel.<br />
Drei Festivalausgaben später findet diese künstlerische Ära nun ihren Abschluss mit<br />
einem nächtlichen Konzert in <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>thalle, das allein <strong>der</strong> menschlichen<br />
Stimme gehört. Das gefeierte belgische Vokalensemble – nach 2021 erneut bei <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> zu Gast – öffnet dem Publikum nahezu überirdische Klangsphären. In<br />
fließenden, scheinbar nie enden wollenden harmonischen Entwicklungen zeigt sich die<br />
Kunst <strong>der</strong> Polyphonie in all ihren Facetten: von Josquin Desprez’ Qui habitat, einem Gipfelwerk<br />
kanonischer Kompositionskunst, in dem die 24 Stimmen einen magisch-schwebenden<br />
Raumklang erschaffen, über ein Perpetuum mobile von Pieter Maessins und die<br />
Klangpracht von Robertus Wylkynson bis hin zum meisterhaften Kontrapunkt Claudio<br />
Monteverdis. Den Kern dieser Reise durch die Vielstimmigkeit <strong>der</strong> Renaissance bildet<br />
Antoine Brumels spektakuläre Messe Et ecce terræ motus. Schon zur Entstehungszeit<br />
wurde das Werk seiner unerhörten Kühnheit wegen gerühmt. Europa erlebte um<br />
das Jahr 1500 einen ähnlich radikalen Umbruch <strong>der</strong> Werte wie in <strong>der</strong> heutigen Zeit. So<br />
schrieb Brumel mit seiner 12-stimmigen »Erdbebenmesse« eine Art Zukunftsmusik, die<br />
die Vision einer besseren Welt entwirft. Und schließlich wird auch die Liebe in Leonhard<br />
Lechners Quid, Chaos überzeugt, trotz aller Miseren, die die Welt erdulden muss, in ihr<br />
zu verweilen, da es für die Liebe doch immer einen Platz geben müsse.<br />
»Why, oh Chaos, do you try to bring the world into disor<strong>der</strong>?« asks Love in Leonhard<br />
Lechner’s prophetic 24-part wedding song Quid, Chaos. Wherever the Huelgas Ensemble<br />
performs un<strong>der</strong> Paul Van Nevel, acoustic spaces seem limitless and chaos is guided<br />
into or<strong>der</strong>ed lines. Barbara Frey’s term as Artistic Director of the <strong>Ruhrtriennale</strong> opened<br />
in 2021 with a concert at dawn in Zeche Zweckel. Three festival editions later, her<br />
artistic era reaches its conclusion with a nocturnal concert devoted purely to the human<br />
voice. The celebrated Belgian vocal ensemble – guests at the <strong>Ruhrtriennale</strong> once again<br />
after 2021 – opens almost otherworldly spheres of sound to the audience. In flowing,<br />
apparently never-ending harmonic developments, the art of polyphony is displayed in all<br />
its facets: ranging from Josquin Desprez’s Qui habitat, a supreme work of canonical composition,<br />
in which the 24 voices create a magical, hovering sound space, to a perpetuum<br />
mobile by Pieter Maessins and the sonic splendour of Robertus Wylkynson to the masterful<br />
counterpoint of Claudio Monteverdi. The centrepiece of this journey through<br />
Renaissance polyphony is Antoine Brumel’s spectacular mass Et ecce terræ motus.<br />
Even at the time it was written, this work was famed for its remarkable boldness. Around<br />
the year 1500 Europe experienced a similarly radical shift in values to the present day. In<br />
his 12-part »Earthquake Mass« Brumel wrote a type of music of the future that outlines<br />
the vision of a better world. And ultimately Love in Lechner’s Quid, Chaos is persuaded<br />
to remain on Earth despite all the miseries the world must endure because there must<br />
always be a place for Love.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Sa 23. September________ 22.30 Uhr<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />
Dauer: ca. 90 min<br />
www.ruhr3.com/chaos<br />
63
DIE NATUR DES MENSCHEN<br />
LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />
LUKAS BÄRFUSS<br />
BIBIANA BEGLAU<br />
PHILIPP BLOM<br />
ANNA DREXLER<br />
MATTHIAS GLAUBRECHT<br />
SACHIKO HARA<br />
THEO NABICHT<br />
CARL OESTERHELT<br />
POLLYESTER<br />
WIEBKE PULS<br />
JUTTA WEBER<br />
64
Auch im dritten Jahr setzen wir unsere Reihe über die<br />
Natur des Menschen fort und untersuchen ihren Titel<br />
in seiner doppelten Lesbarkeit: Was ist das Wesen<br />
des Menschen? Aber auch: Welchen Begriff macht <strong>der</strong><br />
Mensch sich von <strong>der</strong> Natur? Wann hat sich die konfliktbeladene<br />
Gegenüberstellung von Mensch und Natur in<br />
unserem Bewusstsein überhaupt verankert? Antworten<br />
finden sich im größten Wissens- und Erfahrungsspeicher<br />
<strong>der</strong> Menschheit: in <strong>der</strong> Literatur. Drei Abende, drei literarische<br />
Reisen durch die Jahrhun<strong>der</strong>te, durch Kontinente.<br />
Vorgetragen von Bibiana Beglau, Wiebke Puls und Anna<br />
Drexler, begleitet von den Musiker:innen Pollyester, Theo<br />
Nabicht, Carl Oesterhelt und Sachiko Hara. Zuvor wird<br />
<strong>der</strong> Schriftsteller Lukas Bärfuss sich im Gespräch mit herausragenden<br />
Wissenschaftler:innen drei Begriffspaaren<br />
nähern, die unsere Vergangenheit formen, die Gegenwart<br />
umtreiben und unsere Zukunft bestimmen: Natur und Luxus,<br />
Natur und Technik, Natur und Traurigkeit.<br />
Our series about »human nature« continues in Year<br />
Three and we examine its title in two senses: what is the<br />
nature of human beings? But what do humans un<strong>der</strong>stand<br />
»nature« to be? When did the idea of human beings<br />
and nature as conflicting opposites become rooted<br />
in our minds? Answers can be found in humanity’s greatest<br />
repository of knowledge and experience: in literature.<br />
Three evenings with three literary journeys through the<br />
centuries and across continents. Presented by Bibiana<br />
Beglau and Wiebke Puls, accompanied by the musicians<br />
Pollyester, Carl Oesterhelt and Sachiko Hara. These will<br />
be preceded by the writer Lukas Bärfuss in conversation<br />
with distinguished scientists, examining three pairs of<br />
concepts that have shaped our past, occupy our present<br />
and will determine our future: nature and luxury,<br />
nature and technology, and nature and sadness.<br />
NATUR UND LUXUS<br />
PHILIPP BLOM / BIBIANA BEGLAU /<br />
POLLYESTER<br />
Luxuria, die Wollust, ist für die christliche Morallehre eines<br />
<strong>der</strong> sieben Hauptlaster. Gleichzeitig gehört <strong>der</strong> Luxus<br />
zur Kunst, zu ihrem Festcharakter. Kunstwerke schmücken<br />
wie Gold, sie schaffen Status – doch jedes Werk<br />
von Rang kritisiert gleichzeitig den eigenen Glanz und<br />
seine Pracht. Diese Ambivalenz beunruhigt. Sie führt zu<br />
ethischen Fragen. Wie werden Perlen zum Protest, wie<br />
wird Luxus zu Kritik? Kann Ethik zum Genuss werden?<br />
Sind Stil und Moral vereinbar? O<strong>der</strong> erfreuen wir uns in<br />
<strong>der</strong> Kunst stets an <strong>der</strong> Unmoral? Reproduzieren wir damit<br />
die Laster? Welchen Schmuck, welchen Luxus braucht die<br />
Menschlichkeit?<br />
Luxuria, lust, is viewed by Christian moral teaching as one<br />
of the Seven Deadly Sins. At the same time, luxury is part<br />
of art and of its festive character. Like gold, art works are<br />
ornamental, they confer status – yet at the same time,<br />
every work of distinction criticises its own glory and splendour.<br />
This ambivalence is disturbing. It leads to ethical<br />
questions. How do pearls turn into protest, how does luxury<br />
turn into criticism? Can ethics become a pleasure?<br />
Are style and morals reconcilable? Or in art do we always<br />
delight in immorality? Does this mean we are reproducing<br />
vice? What ornament, what luxury does humanity require?<br />
So 27. August<br />
17.00 Uhr<br />
Dialog: Lukas Bärfuss im Gespräch mit dem Historiker und<br />
Schriftsteller Philipp Blom (Die Unterwerfung. Anfang und Ende<br />
<strong>der</strong> Herrschaft des Menschen über die Natur, München 2022)<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Bibiana Beglau<br />
Musik: Pollyester<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Konzept<br />
Lukas Bärfuss<br />
Judith Gerstenberg<br />
Die dreiteilige Dialogreihe zur<br />
Natur des Menschen wird in<br />
Zusammenarbeit mit dem<br />
Kulturradio WDR 3 im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Kulturpartnerschaft<br />
aufgezeichnet und zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in WDR 3<br />
Forum gesendet.<br />
Alle sollten zu zehn Stunden<br />
Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />
→ Magazin, Seite 145<br />
www.ruhr3.com/natur<br />
65
NATUR UND TECHNIK<br />
JUTTA WEBER / ANNA DREXLER /<br />
THEO NABICHT<br />
Der Golem, jenes Wesen aus Lehm des Baal Schem Tov,<br />
diese »Masse ohne Form«, ist das Werkzeug, das sich<br />
von seinem Herrn emanzipiert. Und Mary Shelley hat mit<br />
Frankensteins Monster <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne einen Albtraum geschenkt.<br />
Er sucht den Menschen in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Technologie<br />
heim, als Cyborg, als Humanoid, als Roboter, als<br />
Künstliche Intelligenz. Gleichzeitig transportieren die<br />
Geräte die Sehnsucht nach <strong>der</strong> Erlösung von <strong>der</strong> Sterblichkeit<br />
und <strong>der</strong> Gewalt: Der Tod und das Patriarchat<br />
werden durch den künstlichen Menschen überwunden.<br />
Aber ist die Maschine wirklich künstlich o<strong>der</strong> gehört sie<br />
zu unserer Natur, zur Natur des Menschen? Gibt es eine<br />
Grenze zwischen <strong>der</strong> Humanität und dem Humanoiden?<br />
Steht das eine dem an<strong>der</strong>en feindlich gegenüber? Liegt<br />
die Menschlichkeit in <strong>der</strong> Überwindung des Menschen,<br />
in <strong>der</strong> Maschine?<br />
The golem, the creature made of clay by Baal Schem Tov,<br />
this »formless mass«, is the tool that liberates itself from<br />
its master. And Mary Shelley provided the Mo<strong>der</strong>n age with<br />
a nightmare in Frankenstein’s monster: The nightmare that<br />
haunts human beings in the form of technology, as a cyborg,<br />
as a humanoid, as a robot, as Artificial Intelligence.<br />
At the same time, devices convey a longing for redemption<br />
from mortality and violence: death and the patriarchy are<br />
being overcome by artificial humans. But is the machine<br />
really artificial – or is it part of our nature, human nature?<br />
Is there a bor<strong>der</strong>line between humanity and the humanoid?<br />
Is one the enemy of the other? Does humanity lie in<br />
overcoming humans – in the machine?<br />
So 3. September<br />
17.00 Uhr<br />
Lukas Bärfuss im Gespräch mit <strong>der</strong> Professorin für Technik forschung<br />
und Mediensoziologie Jutta Weber (Umkämpfte Bedeutungen:<br />
Naturkonzepte im Zeitalter <strong>der</strong> Technoscience)<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Anna Drexler<br />
Musik: Theo Nabicht<br />
NATUR UND TRAURIGKEIT<br />
MATTHIAS GLAUBRECHT / WIEBKE PULS /<br />
SACHIKO HARA / CARL OESTERHELT<br />
Der Mensch, so schreibt Robert Burton in seinem monumentalen<br />
Buch über die Melancholie, sei <strong>der</strong> souveräne<br />
Herr <strong>der</strong> Welt, und gleichzeitig lebe er im Elend, unter allen<br />
Tieren, zermartert von schwarzen Gedanken, vom Todesdrang.<br />
Man kann es mit George Steiner auch an<strong>der</strong>s<br />
sehen: Die Traurigkeit ist die Voraussetzung des Denkens<br />
und damit des Menschseins. Vernunft und Kritik bedürfen<br />
eines Bewusstseins, das die Trennung begreift und diese<br />
in einem Gedanken aufzuheben versucht. Als Metapher<br />
und Idee unerlässlich, endet Traurigkeit mitunter tödlich.<br />
Depression ist die Geißel <strong>der</strong> Menschheit, eine lebensgefährliche<br />
Volkskrankheit, beschrieben und beklagt von<br />
<strong>der</strong> Literatur aller Zeiten, aller Kontinente. Sie führt zur<br />
Individualität, zu Hamlet und zum Hilfsbuchhalter Bernardo<br />
Soares. Und manchmal, bei einer jungen Frau etwa,<br />
Antigone mit Namen, wird die Trauer politisch. Können wir<br />
die Traurigkeit teilen, organisieren, kann sie uns als Gesellschaft<br />
versammeln, vereinen?<br />
Mankind, Robert Burton writes in his monumental book<br />
on melancholy, is the sovereign master of the world, yet at<br />
the same time, he lives a life of misery, lower than all the<br />
animals, plagued by dark thoughts, by a death urge. One<br />
can also see this differently, as George Steiner did. Sadness<br />
is a pre-requisite of thinking and therefore also of<br />
humanity. Reason and critique require a consciousness<br />
that un<strong>der</strong>stands the distinction and attempts to remove<br />
them in a single thought. Indispensable as a metaphor<br />
and an idea, sadness sometimes ends fatally. Depression<br />
is the scourge of humanity, a life-threatening and widespread<br />
disease, described and lamented by the literature<br />
of all ages and all continents. It leads to individuality,<br />
to Hamlet, and to the assistant bookkeeper Bernardo<br />
Soares. And sometimes, for example in a young woman<br />
by the name of Antigone, sadness becomes political. Can<br />
they share and organize sadness, can it assemble and<br />
unite us as a society?<br />
So 10. September<br />
17.00 Uhr<br />
Dialog: Lukas Bärfuss im Gespräch mit dem Zoologen und Wissenschaftsjournalisten<br />
Matthias Glaubrecht (Das Ende <strong>der</strong> Evolution.<br />
Der Mensch und die Vernichtung <strong>der</strong> Arten)<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Wiebke Puls<br />
Musik: Sachiko Hara und Carl Oesterhelt<br />
66 www.ruhr3.com/natur
FESTIVALBIBLIOTHEK <strong>2023</strong><br />
Festivalzentrum<br />
Die Festivalbibliothek wächst! Die Gastgeschenke unserer<br />
Künstler:innen, mit denen sie uns Einblick geben in<br />
ihre Lektüren und Themen, die sie gegenwärtig beschäftigen,<br />
dokumentieren die an Ereignissen und Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
reichen Jahre 2021–<strong>2023</strong>. Gegen ein Pfand lassen<br />
sich die Bücher in <strong>der</strong> Pappelwaldkantine entleihen. Die<br />
Sammlung wird im Anschluss des Festivals an die Stadtbücherei<br />
Bochum übergeben.<br />
The Festival Library is growing! The gifts from our guest<br />
artists, which offer insights into their reading and the<br />
themes that currently concern them, document the eventful<br />
and challenging years 2021–<strong>2023</strong>. The books can be<br />
borrowed if you leave a deposit at the Pappelwaldkantine.<br />
After the festival, the collection will be donated to Bochum<br />
City Library.<br />
Mit Beiträgen von / With contributions by:<br />
Georges Aperghis, Brian Archinal, Lukas Bärfuss, Jean-Christophe Bailly, Bibiana Beglau,<br />
Gaby Blanco, Marco Blaauw, Aljoscha Begrich, Billy Cobham, Matthieu Cognet, Virginie<br />
Déjos, Christian Dierstein, Anna Drexler, Peter Eisold, Camille Emaille, Barbara Frey,<br />
Adèle Haenel, Florian Helgath, Olli Holland, Nina Hoss, Mette Ingvartsen, San Keller,<br />
Pollyester, Marco Layera, loekenfranke, Constanza Macras, Marilyn Mazur, Bettina<br />
Meyer, Mohammad Reza Mortazavi, Theo Nabicht, Paul Van Nevel, Lucas Niggli, Etienne<br />
Nillesen, Amanda Piña, Wiebke Puls, Philippe Quesne, Louisa Robin, Sylvie Rohrer,<br />
Eszter Salamon, Ulrich Schnei<strong>der</strong>, Benno Seidel, Alex Silva, Mats Staub, Simon Steen-<br />
An<strong>der</strong>sen, Gisèle Vienne, Angela Vucko, Stefan Wartenberg, Martin Zehetgruber u. v. m.<br />
/ and many more<br />
In <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />
11. August – 23. September<br />
Eintritt frei<br />
Öffnungszeiten unter<br />
www.ruhr3.com/bib<br />
www.ruhr3.com/bib<br />
67
JUNGE TRIENNALE<br />
Die Junge Triennale gibt Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen die<br />
Gelegenheit, Kunst und Kultur zu erleben und selbst zu<br />
machen. Sie bietet jungen Menschen begleitend zum Programm<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> künstlerische Projekte und an<br />
Produktionen anknüpfende Workshops an.<br />
In diesem Jahr erleben Grundschüler:innen und Familien<br />
Im Garten <strong>der</strong> Potiniers / Au jardin des Potiniers (S. 46)<br />
die Poesie <strong>der</strong> Natur aus <strong>der</strong> Sicht von Bergen in einer<br />
kunterbunten Pop-up-Landschaft. Jugendliche ab 14 Jahren<br />
und Erwachsene begegnen in gleich zwei Produktionen<br />
jungen Menschen von an<strong>der</strong>en Kontinenten und ihren<br />
Geschichten: Die chilenische Theaterproduktion La posibilidad<br />
de la ternura / Die Möglichkeit von Zärtlichkeit<br />
(S. 52) lädt dazu ein, sich mit Männlichkeitsbil<strong>der</strong>n und<br />
<strong>der</strong>en Auswirkungen zu beschäftigen. In The Visitors<br />
(S. 50) verbinden sich die alltäglichen Gewalterfahrungen<br />
junger Tänzer:innen aus dem südafrikanischen<br />
Johannesburg auf fantasievolle Weise mit <strong>der</strong> jugendlichen<br />
Faszination an Horrorfilmen.<br />
The productions in the programme that are particularly<br />
suited to young audiences are marked in the programme<br />
with recommended ages.<br />
SCHULEN<br />
Detaillierte Produktionsempfehlungen für Schulen finden<br />
Sie auf unserer Internetseite.<br />
Für Grundschulklassen ab dem 2. Schuljahr empfehlen wir<br />
anknüpfend an einen Vorstellungsbesuch von Im Garten<br />
<strong>der</strong> Potiniers / Au jardin des Potiniers (S. 46) einen Workshop,<br />
bei dem die Beschäftigung mit Natur nach dem Theaterbesuch<br />
im Freien weitergeht.<br />
Ab <strong>der</strong> 9. Klasse bieten wir zur Vor- o<strong>der</strong> Nachbereitung<br />
des Vorstellungsbesuchs von La posibilidad de la ternura /<br />
Die Möglichkeit von Zärtlichkeit (S. 52) einen begleitenden<br />
Theaterworkshop für Klassen an, in dem wir uns kreativ mit<br />
geschlechterspezifischer Sozialisation, Rollenbil<strong>der</strong>n und<br />
biografischen Theaterformen beschäftigen.<br />
Vorbereitend auf das Kunstvermittlungsprojekt TEENS<br />
IN THE HOUSE III – Eine junge Residenz veranstalten wir<br />
regelmäßig an Wochenenden Workshops für Jugendliche<br />
ab 16 Jahren. Für Schulen bieten wir künstlerische Interventionen<br />
und Infostände im Schulgebäude an, die Jugendliche<br />
neugierig auf das Projekt machen.<br />
Gerne beraten wir Lehrkräfte zum gesamten Programm<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> und organisieren Workshops o<strong>der</strong><br />
Gespräche zur Vor- bzw. Nachbereitung des Veranstaltungsbesuchs<br />
mit Schüler:innen o<strong>der</strong> dem Kollegium.<br />
Beratung und Tickets für Schulen unter<br />
jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />
für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei<br />
pro Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen nach Verfügbarkeit.<br />
Eine Reservierung ist ab sofort bis 14 Tage vor <strong>der</strong><br />
Veranstaltung möglich.<br />
Die Eintrittskarten gelten am Tag <strong>der</strong> Veranstaltung als<br />
Fahrkarte für die Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />
im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).<br />
SCHOOLS<br />
We also present morning performances of Au jardin des<br />
Potiniers and La posibilidad de la ternura / The Possibility<br />
of Ten<strong>der</strong>ness and offer accompanying workshops<br />
for school classes and courses. Events to accompany<br />
other <strong>Ruhrtriennale</strong> productions can also be organised<br />
on request.<br />
68<br />
www.jungetriennale.de
TEENS IN THE HOUSE III<br />
EINE JUNGE RESIDENZ<br />
Du möchtest die <strong>Ruhrtriennale</strong> mit an<strong>der</strong>en Jugendlichen<br />
und jungen Erwachsenen erleben?<br />
Du bist kreativ und hast Lust, dich künstlerisch mit deinen<br />
eigenen Erfahrungen und Erlebnissen rund um Geschlechterrollen<br />
auseinan<strong>der</strong>zusetzen?<br />
Dann solltest du bei TEENS IN THE HOUSE III mitmachen!<br />
Eine Woche lang residieren junge Menschen ab 16 Jahren<br />
auf <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Wir besuchen Vorstellungen<br />
des internationalen Kunstfestivals und beschäftigen uns<br />
kreativ mit den eigenen gesellschaftlichen Ideen, Einstellungen,<br />
Haltungen, For<strong>der</strong>ungen zu den Themen <strong>der</strong><br />
Stücke. In den künstlerischen Workshops geht es dieses<br />
Jahr um die Bedeutung von Geschlechterrollen und<br />
Männlichkeit(en) in unserer Gesellschaft – anknüpfend an<br />
die chilenische Produktion La posibilidad de la ternura /<br />
Die Möglichkeit von Zärtlichkeit (S. 52). Mit professioneller<br />
Anleitung entsteht während <strong>der</strong> Residenz eine Präsentation,<br />
in <strong>der</strong> wir unsere Perspektiven mit dem Festivalpublikum<br />
teilen.<br />
TEENS IN THE HOUSE ist queer, inklusiv und solidarisch.<br />
Die Teilnehmenden haben unterschiedlichste Familiengeschichten<br />
und setzen sich für Vielfalt ein.<br />
Melde dich jetzt an und bring deine Ideen ins Festival ein!<br />
Die Residenz ist barrierearm – schreib uns gerne, was du<br />
für die Teilnahme benötigst.<br />
Do you want to experience the <strong>Ruhrtriennale</strong> together with<br />
other teenagers and young adults?<br />
Are you creative and keen to explore your encounters and<br />
experiences with gen<strong>der</strong> roles artistically?<br />
If so, then take part in TEENS IN THE HOUSE III!<br />
For a whole week young people aged 16 and over will be<br />
resident at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. We will attend performances<br />
at the international arts festival and engage creatively with<br />
our own ideas about society, attitudes, approaches and<br />
demands relating to issues in the plays. This year the artistic<br />
workshops will focus on the significance of gen<strong>der</strong> roles<br />
and masculinities in our society – linked to the Chilean<br />
production La posibilidad de la ternura / The Possibility<br />
of Ten<strong>der</strong>ness (see pp. 52). With professional guidance, a<br />
presentation will be created during the residency in which<br />
we can share our perspectives with the festival audience.<br />
TEENS IN THE HOUSE is queer, inclusive and solidary.<br />
Those taking part have the broadest range of family<br />
backgrounds and actively support diversity.<br />
Register now and contribute your own ideas to the festival!<br />
We aim to make the residency as accessible as possible –<br />
please write and let us know what you need to be able to<br />
take part.<br />
Essen, Bochum, Duisburg<br />
9.– 15. September<br />
Für Jugendliche und junge<br />
Erwachsene ab 16 Jahren<br />
Präsentation <strong>der</strong> jungen<br />
Residenz am 15. September im<br />
Anschluss an La posibilidad de<br />
la ternura / Die Möglichkeit von<br />
Zärtlichkeit vor dem Salzlager,<br />
Welterbe Zollverein, Essen<br />
Konzept und Projektleitung<br />
Anne Britting<br />
Projektmitarbeit<br />
Yannick Warkus<br />
FSJ Kultur<br />
Ilka Hütte<br />
Instagram: @jungetriennale<br />
Teilnahme kostenlos<br />
Anmeldung:<br />
jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die<br />
Stiftung Mercator<br />
www.ruhr3.com/teens<br />
69
PAPPELWALDKANTINE<br />
DEXTER RED<br />
Festivalzentrum<br />
Im Jahr 2006 ließ <strong>der</strong> kürzlich verstorbene Jürgen Flimm,<br />
damaliger Intendant <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, einen Pappelwald<br />
vor die Jahrhun<strong>der</strong>thalle in Bochum pflanzen. Als<br />
Barockgarten konzipiert, wurde er, begleitet von einem<br />
rauschenden Fest, an das Publikum übergeben. Warum<br />
ausgerechnet die Pappel? Pappel leitet sich von lateinisch<br />
populus ab, denn im alten Rom fühlten sich die Menschen<br />
durch das Rauschen <strong>der</strong> Bäume an das fröhliche Durcheinan<strong>der</strong>sprechen<br />
in Volksversammlungen erinnert.<br />
Die Pappeln waren in Kübeln in die Erde gepflanzt worden,<br />
sie waren nicht für die Ewigkeit bestimmt und doch sind<br />
sie uns bis heute erhalten geblieben. Ihre Wurzeln sprengten<br />
die Kübel, verankerten sich im Boden, mittlerweile<br />
ragen sie weit in die Höhe; sie spenden uns ihren kühlen<br />
Schatten und verwandeln den Vorplatz in einen ganz<br />
beson<strong>der</strong>en Ort. Was Sie im Rauschen <strong>der</strong> Blätter hören<br />
wollen, überlassen wir Ihnen. Wir kümmern uns nur darum,<br />
dass Sie dabei we<strong>der</strong> Hunger noch Durst leiden müssen,<br />
und versorgen Sie mit vegetarischen und regionalen<br />
Leckerbissen in unserer Pappelwaldkantine. Und vielleicht<br />
rauscht zuweilen auch <strong>der</strong> Geist von Jürgen Flimm durch<br />
die Blätter <strong>der</strong> Pappeln und prostet Ihnen fröhlich zu.<br />
In 2006, the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s Artistic Director at the time,<br />
Jürgen Flimm – who died recently – organised the planting<br />
of a »Pappelwald« (a copse of poplar trees) in front of the<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle in Bochum. He had chosen an exploration<br />
of the Romantic, Baroque and Medieval periods as<br />
the artistic line of enquiry for his years at the Triennale.<br />
This copse of poplars was originally conceived as a Baroque<br />
garden, and was handed over to the public in his<br />
second year at a raucous party. Why choose poplars? The<br />
name poplar is <strong>der</strong>ived from the Latin »populus«, because<br />
the rustle of these trees reminded the ancient Romans of<br />
the cheerful hubbub of crowds of people.<br />
In 2006 the poplars were planted in the earth inside pots<br />
as they were not intended to be permanent – however,<br />
they are still there today. They have outgrown their pots<br />
and have become much taller, providing us with cooling<br />
shade and making the square in front of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
a very special place. What you might hear in the<br />
rustle of their leaves, we will leave up to you. We will simply<br />
make sure that you will not have to suffer from hunger or<br />
thirst and provide you with vegetarian and regional delicacies<br />
in our Pappelwaldkantine. And maybe from time<br />
to time the ghost of Jürgen Flimm will rustle through the<br />
poplar leaves and cheerfully raise a glass to you.<br />
Pappelwald an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Konzept, Design<br />
Dexter Red<br />
11. August – 23. September<br />
Eintritt frei<br />
Öffnungszeiten unter<br />
www.ruhr3.com/pappelwald<br />
70<br />
www.ruhr3.com/pappelwald
FESTIVALCAMPUS<br />
Seit 2012 ist <strong>der</strong> Festivalcampus ein fester Bestandteil<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Auch in <strong>der</strong> zweiten Ausgabe von<br />
Barbara Frey kommen wie<strong>der</strong> internationale Studierende<br />
aus verschiedenen künstlerischen und kulturtheoretischen<br />
Disziplinen aus Polen, Kroatien, Norwegen, Schweiz, Irland,<br />
Deutschland, Dänemark zusammen. Das Campusprogramm<br />
wird von Carla Gesthuisen und Philipp Schulte in<br />
enger Zusammenarbeit mit den Lehrenden <strong>der</strong> Partnerhochschulen<br />
konzipiert und setzt sich im Rahmen eines<br />
viel seitigen Seminar- und Workshopprogramms mit dem<br />
Festival programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> auseinan<strong>der</strong>.<br />
An drei verschiedenen Wochenenden bekommen die<br />
Work shopgruppen die Möglichkeit, Einblicke in die<br />
Arbeits weisen <strong>der</strong> Festivalkünstler:innen zu gewinnen<br />
und in einen lebendigen Diskurs zu treten. Dabei entsteht<br />
ein enger Austausch mit den Künstler:innen, dem Team<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> sowie untereinan<strong>der</strong>. Die gemeinsamen<br />
Erfahrungen und die kritischen Reflexionen darüber bilden<br />
die Grundlage für eine lebendige und gesellschaftlich<br />
relevante künstlerische und kulturelle Arbeit, bei <strong>der</strong> die<br />
Teilnehmer:innen und »Künstler:innen von morgen« Impulse<br />
an ihre Hochschulen und in ihre künftige Arbeit<br />
mitnehmen. Gemeinsam mit dem Festivalcampus ist die<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> ein Ort, an dem Austausch, Kritik und Diskussion<br />
stattfinden.<br />
The Festival Campus has been a regular part of the<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> since 2012. In Barbara Frey’s second year<br />
as artistic director, international students from Poland,<br />
Croatia, Norway, Switzerland, Ireland, Germany and Denmark<br />
working in a range of disciplines in the arts and cultural<br />
theory will once again come together. The Campus<br />
programme is conceived by Carla Gethuisen and Philipp<br />
Schulte in close collaboration with the partner universities<br />
and explores the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s festival programme<br />
in a multi-faceted series of seminars and workshops.<br />
On three different weekends, workshop groups are given<br />
the opportunity to gain insights into the working methods<br />
of festival artists and take part in lively discussions. Here<br />
an exchange with the artists, the <strong>Ruhrtriennale</strong> team and<br />
within the group itself can take place. Their shared experiences<br />
and critical reflections form the basis for vivid<br />
and socially relevant artistic and cultural work, in which<br />
the participants and »artists of tomorrow« take ideas back<br />
to their universities and into their future projects. Alongside<br />
the Festival Campus, the <strong>Ruhrtriennale</strong> is a place for<br />
exchange, constructive criticism and discussion.<br />
Bochum<br />
Konzeption, Durchführung<br />
Carla Gesthuisen<br />
Dr. Philipp Schulte<br />
www.ruhr3.com/campus<br />
71
FOTOGRAFIEN<br />
VON LOEKENFRANKE<br />
73
In den Jahren 2021 bis <strong>2023</strong> haben wir Künstler:innen beauftragt, sich in Bildserien mit<br />
jener Region auseinan<strong>der</strong>zusetzen, aus <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Auftrag des Festivals ableitet: die<br />
kulturelle Belebung <strong>der</strong> verlassenen Industriebauten, dieser Zeugnisse nicht nur einer<br />
vergangenen Zeit, son<strong>der</strong>n auch eines vergangenen Bewusstseins und Weltbezugs.<br />
Kaum eine an<strong>der</strong>e Gegend in Deutschland hat in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren einen so<br />
radikalen Wandel erlebt wie das Ruhrgebiet. Und die Künste sind es, die noch immer zu<br />
begreifen suchen, was uns Menschen da wi<strong>der</strong>fahren ist.<br />
2021 folgte <strong>der</strong> Fotograf Tobias Zielony in seiner Serie Geister den Spuren seines Großvaters.<br />
Als Bergarbeiter in Gelsenkirchen war dieser Teil jener Kultur, die dem Ruhrgebiet<br />
bis heute seine prägende Gestalt gibt. 2022 suchte <strong>der</strong> Künstler Mischa Leinkauf die<br />
Übersicht über die Verän<strong>der</strong>ungen und Zeitschichten zu erlangen, die sich über die Jahre<br />
in die Ruhr-Landschaft eingezeichnet haben. Er erklomm dafür die Dächer und Schornsteine<br />
<strong>der</strong> Industriebauten und entdeckte aus spektakulärer Höhe neue Sichtachsen.<br />
<strong>2023</strong> nun baten wir das Dokumentarfilmduo loekenfranke, das wie kein an<strong>der</strong>es sein<br />
Auge geschärft hat für den Strukturwandel und seine Folgen, mit <strong>der</strong> ihm eigenen Bildsprache<br />
die gegenwärtige Verfasstheit des »Reviers« einzufangen. Entstanden sind<br />
Bil<strong>der</strong> von geradezu mythischer Kraft.<br />
Wie in weit entfernter Zeit, als Menschen Orientierung am Himmel suchten, Auguren<br />
aus <strong>der</strong> Formation des Vogelflugs den Willen <strong>der</strong> Götter herauslasen, erkennen wir auf<br />
den Bil<strong>der</strong>n kleine Menschentrauben unterschiedlicher Altersgruppen, bewaffnet mit<br />
Ferngläsern und Spektiven, verloren in einer Naturlandschaft, den Blick gebannt in eine<br />
Richtung gewandt. Sie sind in Erwartung. Offenbar versuchen sie, in <strong>der</strong> Ferne etwas zu<br />
erhaschen. Im Hintergrund ist die menschliche Ordnung noch sichtbar, aber sie ist nicht<br />
mehr bestimmend. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf etwas, mit dem eine<br />
Verbindung aufgenommen werden will, auf etwas, das sich <strong>der</strong> umstandslosen Verfügbarkeit<br />
entzieht, auf etwas, das – trotz allem – geblieben ist. O<strong>der</strong> zurückgekehrt?<br />
Auffällig ist das Licht, das die Jahres- o<strong>der</strong> Tageszeit vorgegeben hat, ein Licht, in dem<br />
keine Dauer liegt, das nicht länger währt als jener flüchtige Moment, <strong>der</strong> das Versprechen<br />
bereithält, dass die Kontaktaufnahme, <strong>der</strong> contact-call, zu diesem Unverfügbaren<br />
gelingen könnte – ist es doch ein Moment, <strong>der</strong> dem werktätigen Zeitmaß enthoben ist.<br />
Schon seit vielen Jahren porträtiert das Duo in seinen Filmen gesellschaftliche Transformationsprozesse,<br />
die Verwandlung <strong>der</strong> Landschaften, das sich än<strong>der</strong>nde Verhältnis von<br />
Kultur und Natur, die Rolle des Menschen in all dem.<br />
Zurzeit arbeitet loekenfranke an einer Langzeitdokumentation, die Birdwatcher beim<br />
Beobachten beobachtet. Nicht zufällig fällt diese populärer werdende Obsession <strong>der</strong><br />
Vogelbeobachtung in unsere katastrophisch erfahrene Gegenwart. So erklärt die Literaturwissenschaftlerin<br />
Tanja van Hoorn: »Vögel sind in auffälliger Weise ein die Natur-<br />
Kulturgrenzen überschreiten<strong>der</strong>, selbstreflexiver Spiegel, eine epistemische Figur, die im<br />
Zeichen <strong>der</strong> Verunsicherung und kritischen Überprüfung <strong>der</strong> eigenen Fähigkeiten aufgerufen<br />
wird.«<br />
Die Vogelbeobachtung erzählt von dem Wissen, dass das Ausbleiben o<strong>der</strong> Vorkommen<br />
an<strong>der</strong>er Spezies über unser Überleben entscheiden wird – und auch darüber,<br />
dass es an<strong>der</strong>e Ordnungen gibt als die menschengemachten. Dass sie gleichzeitig zur<br />
Bildung und Einübung ästhetischer Wahrnehmung befähigt, rückt sie zu den Künsten in<br />
zärtliche Nähe.<br />
Judith Gerstenberg<br />
130
In the years 2021 to <strong>2023</strong> we have commissioned artists to produce photo series examining<br />
the region that has inspired the festival’s mission: an artistic revival of its disused<br />
industrial buildings that are testament not only to a bygone age but to a way of thinking<br />
and a relationship with the world that are also past. Hardly any other region in Germany<br />
has experienced such a radical transformation over the last century as the Ruhr. And the<br />
arts are what still seeks to un<strong>der</strong>stand the human effects of this process.<br />
In his series Ghosts in 2021, the photographer Tobias Zielony attempted to find traces of<br />
his grandfather. As a coal miner in Gelsenkirchen, he had been part of the culture which<br />
continues to embody the Ruhr region to this day. In 2022, the artist Mischa Leinkauf<br />
sought an overview of the changes and layers of time that have inscribed themselves<br />
into the landscape of the Ruhr over the years. To do this, he climbed onto the roofs and<br />
chimneys of the region’s industrial structures and discovered new visual axes from their<br />
spectacular height.<br />
Now, in <strong>2023</strong>, we have asked the duo of documentary filmmakers loekenfranke, which<br />
have developed a sharp eye for structural change and its consequences that is unrivalled,<br />
to capture the current state of the region in their unique visual language. The results are<br />
images of almost mythic power.<br />
As if in some distant time, when human beings sought guidance from the skies and read<br />
auguries of the will of the gods from the patterns of birds in flight, we can recognise little<br />
groups of people of various ages in the pictures, armed with telescopes and binoculars,<br />
lost in a natural landscape, their rapt gaze pointing in one single direction. They are expectant.<br />
Evidently they trying to make out something in the distance. Human or<strong>der</strong> can<br />
be discerned in the background, but it is no longer decisive. Instead their attention is<br />
pointed towards something that they wish to establish contact with, towards something<br />
that defies easy availability, towards something that – despite everything – is still here.<br />
Or maybe has returned?<br />
It is noticeable that the light which the time of year or day has provided, a light that has no<br />
permanence, that lasts no longer than that brief moment, that offers a promise that the<br />
attempt to make contact with this reclusive entity might perhaps succeed – is a moment<br />
removed from the timescale of the working day.<br />
For many years, films by the duo have portrayed processes of social transformation, the<br />
metamorphoses of landscapes, the closer relationship between culture and nature, and<br />
the role of human beings in all of these.<br />
loekenfranke is currently working on a long-term documentary that watches birdwatchers<br />
watching. It is no coincidence that birdwatching is becoming a more popular obsession at<br />
the present time while we are experiencing a series of disasters. The literary scholar Tanja<br />
van Hoorn explains: »Birds are a conspicuous, self-reflective mirror that transcends the<br />
boundaries between nature and culture, as well as an epistemological figure that is called<br />
upon in an atmosphere of uncertainty and critical examination of one’s own abilities.«<br />
Birdwatching is an indicator of our awareness that the absence or presence of other species<br />
will be decisive for our own survival – and that there are other or<strong>der</strong>s besides those<br />
made by humans. The fact that it also cultivates the formation and practice of aesthetic<br />
perceptions gives it a ten<strong>der</strong> affinity with the arts.<br />
Judith Gerstenberg<br />
131
Bildstrecke<br />
Konzept / Realisation<br />
Michael Loeken & Ulrike Franke<br />
Fotos<br />
Michael Loeken, Ulrike Franke<br />
Dramaturgie<br />
Judith Gerstenberg<br />
Colourgrading:<br />
Thomas Haselau<br />
(Staudt Lithographie Bochum), Ole-Kristian Heyer<br />
Dank an<br />
Thomas Griesohn-Pflieger (Birdingtours), Tobias<br />
Rautenberg, Patrick Kretz, Uwe Frey, Max Huemer-<br />
Uffermann, Hermine Kittsteiner, Stefan Mücke,<br />
Verena Niehuis, Bernd Oehler, Danial Hutter, Sophia<br />
Hutter, Theodor, Alvar, Anabel Putz, Antje Schlieper,<br />
Kirsten Schlimm, Thies Wiechert, Hannah Kurau,<br />
Renate Zinke, Bettina Grosse, Jürgen Mauritz,<br />
Mischa Leinkauf, Christa Marek, Sabine Hartmann,<br />
Jörg Adams, Leonard Putz
133MAGAZIN
KOHLENSTRASSE<br />
VON STEFAN WARTENBERG<br />
Stefan Wartenberg<br />
WEGE<br />
Aljoscha Begrich, Gaby Blanco, San Keller, Stefan Wartenberg<br />
ab 12. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 18 _______________ www.ruhr3.com/wege<br />
134
Im Traum laufe ich immer durch die Straßen von Stahlhausen<br />
und Goldhamme. Die Wege sind unendlich, die<br />
Stadt kommt nie zur Ruhe; ein grenzenloses Ballungsgebiet<br />
von Häusern, Farben, Geräuschen und Zeit. Und<br />
Namen: Kohlenstraße Ecke Umweltpark. Die Autobahn<br />
brüllt. Die Geschichte brüllt. Die Wi<strong>der</strong>sprüche prasseln<br />
aufeinan<strong>der</strong> ein, unterbrechen meinen Lauf.<br />
Ein Schleichweg lockt mich vom Gehsteig ins Gestrüpp<br />
unter eine Brücke aus Beton, wo noch alte Schienen liegen.<br />
Weiter hinten ist die Schneise <strong>der</strong> aufgegebenen Güterstrecke<br />
längst asphaltierter Fahrradweg. Die Geräusche<br />
<strong>der</strong> Autos und Züge sind in <strong>der</strong> Senke nur noch dumpf zu<br />
hören, dafür Vögel und Rascheln im Unterholz. Ich folge<br />
einem dieser Fuchs- o<strong>der</strong> Wildschweinwege, geduckt<br />
durch Brombeerranken, lande auf einer verlassenen Zufahrtsstraße<br />
vor einem einzeln stehenden Tor. Der Zaun<br />
darum ist verschwunden, nur Betonpfeiler alle paar Meter<br />
bezeugen seine vergangene Existenz. Ich lasse mich<br />
treiben irgendwo im sogenannten Umweltpark, <strong>der</strong> eher<br />
ein weitläufiges Gewerbegebiet als ein Stadtgarten ist.<br />
Das Areal ist menschenleer. An seinen Grenzen verlaufen<br />
Schienen und die Autobahn. Ich folge dem Lauf eines fast<br />
ausgetrockneten Baches durch einen schmalen Tunnel.<br />
Haus <strong>der</strong> Geschichte des Ruhrgebiets. In meiner Lieblingsbibliothek<br />
forsche ich zur Vergangenheit jener Orte,<br />
durch die ich mich beim Laufen spülen lasse und <strong>der</strong>en<br />
klang volle Namen mich faszinieren. Die Kohlenstraße<br />
hieß früher tatsächlich einmal Brüllstraße. Das Gelände<br />
des heutigen Umweltparks war in den 1940er-Jahren eines<br />
von über 100 »Außenkommandos« des Konzentrationslagers<br />
Buchenwald. Außer einem 2019 errichteten, eher<br />
unscheinbaren Mahnmal an einem <strong>der</strong> zahlreichen Seiteneingänge<br />
des ehemaligen Bochumer Vereinsgeländes<br />
(heute vom Technischen Dienst <strong>der</strong> Stadt Bochum genutzt)<br />
entdecke ich vor Ort keine Spuren aus dieser Zeit,<br />
kein Gedenken. Aber die Geschichte mit all ihren unaushaltbaren<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen bleibt. Sie hat die Gegend wortwörtlich<br />
untergraben.<br />
KGV Bergmannsheil. Am an<strong>der</strong>en Ende des Tunnels entsteige<br />
ich dem Marbach in ein idyllisches Kleingartenparadies.<br />
Auf sonnigen Hängen wächst Gemüse und Salat.<br />
Es ist Samstagnachmittag, Stadiongeräusche hallen durch<br />
das kleine Tal. Trommeln und Trillern, ein Brausen. Jetzt hat<br />
also <strong>der</strong> VfL getroffen. Hinter mir schießt ein ICE durch<br />
die Horizontale. Ich laufe wie<strong>der</strong> auf festem Grund, laufe<br />
auf das große, mo<strong>der</strong>ne Krankenhaus zu, das ebenfalls<br />
Bergmannsheil heißt. »Berchmannsheil« – wie man hier<br />
sagt. Die beinahe ungebrochene Verbundenheit zur Geschichte<br />
des Bergbaus und <strong>der</strong> regionale Stolz auf dieses<br />
Erbe, auf die von Arbeit geschundenen Menschen,<br />
auf die von Maschinen gebeutelte Natur war es, was<br />
mich zuerst in diese Gegend trieb. Nicht nur das großartige<br />
Bergbaumuseum, die ganze Region ist ein Fest für<br />
Nostalgiker, Romantiker und Fans von Novalis, wie ich es<br />
zugegebenerweise bin. Den Symbolen des Raubbaus entkommt<br />
man hier nicht. Auch nicht dem Respekt, welcher<br />
den Proletariern <strong>der</strong> Schächte entgegengebracht wird,<br />
dem Kult, <strong>der</strong> sich bis auf den Fußballplatz ausdehnt,<br />
und <strong>der</strong> Wehmut in den Kneipen und Trinkhallen. Dies<br />
ist eine an<strong>der</strong>e Form des Vernarbens o<strong>der</strong> Verheilens, als<br />
ich sie aus den Revieren von Bitterfeld, Leipzig o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Lausitz kenne, wo ich herkomme.<br />
Beim Laufen habe ich genau das richtige Tempo, um<br />
über diese Dinge nachzudenken. Manchmal schreibe ich<br />
etwas auf. Wenn es mir schlecht geht, laufe ich bis zur<br />
Erschöpfung. Und dann: wie<strong>der</strong> zurück. Das Laufen beeinflusst<br />
das Denken, und das Denken erschöpft sich<br />
tatsächlich – irgendwann. Die Schleifen, die ich denke,<br />
lösen sich im Laufen. Sie kriegen mich nicht zu fassen,<br />
sind Schlingen nur, wenn ich es mir erlaube. Auch deshalb<br />
bin ich unterwegs. Beim Laufen lese ich o<strong>der</strong> ich<br />
blicke in Augen, sammelt sich <strong>der</strong> Müll im Rinnstein zur<br />
ersten Zeile eines Gedichts. O<strong>der</strong> zum Abschluss, zur<br />
Mitte. O<strong>der</strong> alles löst sich auf und die Worte verlieren<br />
wie<strong>der</strong> den Sinn. Was ich nicht mag, sind rote Ampeln,<br />
sie bringen mich aus dem Rhythmus.<br />
STEFAN WARTENBERG lebt in Leipzig und schreibt Gedichte und an<strong>der</strong>e Texte. Er ist Mitglied in<br />
den Künstler:innengruppen Graffitimuseum und Jazzstylecorner, mit denen er installativ<br />
und performativ arbeitet. 2021 gründete Wartenberg den Nachtalb Verlag Engelsdorf, welcher<br />
sich Lyrik und befreundeten Textgattungen zuwendet und junge Autor:innen för<strong>der</strong>t.<br />
Foto: Conny Reuter<br />
135
ÜBER DAS<br />
VERSCHWINDEN,<br />
DAS ERINNERN<br />
UND<br />
DEN MAGISCHEN<br />
MOMENT<br />
BARBARA FREY IM GESPRÄCH MIT DEM<br />
FILMKOLLEKTIV LOEKENFRANKE UND DEM<br />
KÜNSTLER MATS STAUB<br />
FILMRETROSPEKTIVE LOEKENFRANKE<br />
An jedem Festival-Samstag (außer 9. September)<br />
Siehe S. 22 _______________ www.ruhr3.com/loekenfranke<br />
JETZT & JETZT<br />
Installation<br />
Eröffnung am 24. August <strong>2023</strong><br />
Laufzeit: 25. August – 23. September<br />
Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/jetzt<br />
136
Sowohl beim Filmkollektiv loekenfranke als auch in den<br />
Video-Arbeiten von Mats Staub geht es im Grunde um<br />
eine genaue Beobachtung <strong>der</strong> Menschen. Man hat es mit<br />
Porträts zu tun. Menschen erzählen, zeigen sich, zweifeln,<br />
hoffen, kämpfen, machen eine Bestandsaufnahme<br />
ihres Lebens, ihrer Umgebung, <strong>der</strong> Verhältnisse, die sie<br />
geprägt haben und die ihnen bisweilen auch brutale Verän<strong>der</strong>ungen<br />
aufgezwungen haben. Es geht immer auch<br />
um die Frage nach den Möglichkeiten, ökonomischen und<br />
sozialen Zwängen zu trotzen – o<strong>der</strong> aber diese Zwänge<br />
akzeptieren zu müssen, auch oft ausdrücklich gegen die<br />
eigenen Sehnsüchte und Visionen. Was bleibt? Was ist<br />
aus den Sehnsüchten geworden? Was hat man gewinnen<br />
können – und was ist verloren? Kann man überhaupt<br />
Einfluss nehmen auf den schnöden Gang <strong>der</strong> Zeit? Wer<br />
ist eigentlich <strong>der</strong> Autor, die Autorin des eigenen Schicksals?<br />
Indem die Vergangenheit erforscht wird, bekommt<br />
man Aufschluss über die Gegenwart. Und eine fahle<br />
Ahnung dessen, was kommen mag. Warum ist es offenbar<br />
in die Natur des Menschen eingeschrieben, dass<br />
er immer wie<strong>der</strong> auslöschen muss, was er getan hat –<br />
nach angeblich bestem Wissen und Gewissen? Und warum<br />
ist es ebenso klar, dass er sich immer wie<strong>der</strong> erinnern<br />
will, womöglich erinnern muss, an all das, was er lieber<br />
vergessen hätte?<br />
Die Arbeiten von loekenfranke und Mats Staub sind<br />
wohl unter die Kategorie des »Dokumentarischen« einzuordnen<br />
– aber was heißt das? Erzählt das dokumentarische<br />
Filmmaterial von einer an<strong>der</strong>en Wahrheit, als die<br />
Künste es tun? Verlangt man von ihm eine immer neue,<br />
an<strong>der</strong>e, eine sozusagen wahrhaftigere Dimension all <strong>der</strong><br />
Fragestellungen, die die Künste seit jeher beschäftigen?<br />
Wäre die Dokumentation dann gewissermaßen den Künsten<br />
überlegen? Könnte sie gar Antworten geben?<br />
Die Werke von Mats Staub und loekenfranke lösen diesen<br />
scheinbaren Wi<strong>der</strong>spruch auf. Sie sind dokumentarische<br />
wie künstlerische Werke. Sie maßen sich keinen Wahrheitsbegriff<br />
an, mittels dessen man die Menschheit von<br />
ihren Nöten erlösen könnte; sie beanspruchen keinerlei<br />
»Weltverbesserung«.<br />
Eines aber können sie für sich beanspruchen: die Genauigkeit<br />
beim Hinschauen und Hinhören, die Präzision<br />
in <strong>der</strong> Porträtierung von Menschen rund um den Globus<br />
– und das Wissen darum, dass alles, was mit dieser Welt<br />
passiert, sei es im Ruhrgebiet, in an<strong>der</strong>en europäischen<br />
Gegenden o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>en Kontinenten, menschengemacht<br />
ist, und dass es darum geht, die Fragen zu stellen,<br />
die alle Künste seit Menschengedenken immer gestellt<br />
haben: Was ist Verantwortung? Wie leben wir zusammen?<br />
Wie können wir uns gegenseitig helfen? Was<br />
ist unsere Natur – und was ist die Natur, die uns umgibt?<br />
Wie können wir uns gegenseitig an <strong>der</strong> Zerstörung hin<strong>der</strong>n,<br />
die wir unablässig vorantreiben? Wie können wir die<br />
Grausamkeiten von Liebe und Tod ertragen, wie können<br />
wir aushalten, dass wir in die Welt geworfen sind und<br />
noch immer so wenig über uns wissen?<br />
Die Filmdokumente von loekenfranke und Mats Staub<br />
sind gleichermaßen nüchtern wie tiefsinnig, melancholisch<br />
wie humorvoll, scharf analysierend wie spielerisch.<br />
Das Schöne ist, dass sie sich in keine Kategorie einordnen<br />
lassen.<br />
Sie sind frei.<br />
Barbara Frey<br />
→<br />
137
Barbara Frey Heute, da die Natur weitgehend zerstört<br />
ist, gibt es eine sehr intensive Tierforschung, was eine<br />
seltsame Ironie hat. Man zählt gerne zu den »intelligenten<br />
Tieren« jene, die über Erinnerungsfähigkeit verfügen, ein<br />
Gedächtnis haben wie zum Beispiel Primaten, Elefanten,<br />
Ratten, Oktopusse. Was heißt das umgekehrt für die<br />
Natur des Menschen, <strong>der</strong> ja ein sich erinnerndes Tier ist?<br />
Was bedeutet Erinnerung in eurer Arbeit?<br />
Mats Staub Ein Weg ins Innere, im Wortsinn.<br />
Michael Loeken Erinnerung ist eine Begleiterscheinung<br />
des Suchens und Erforschens. Was gibt es zu<br />
entdecken? Zum Beispiel die Vogelbeobachter, die<br />
wir fotografieren: Aus <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong> Vögel erinnern<br />
sich die Leute an ihre eigene Situation. Haben<br />
die Vögel auch Spaß? Was machen sie eigentlich da?<br />
Ulrike Franke Erinnern ist Unberechenbarkeit: Plötzlich<br />
kommt etwas hoch in einem, ausgelöst durch einen<br />
Geruch o<strong>der</strong> einen Lichtreflex. Das ist verbunden<br />
mit Emotionen, fröhlichen o<strong>der</strong> melancholischen. Die<br />
Gier nach Erinnerung ist auch <strong>der</strong> Antrieb für das,<br />
was noch kommt. Man ist hin- und hergerissen.<br />
Michael Loeken Erinnerung geht oft mit Verdrängung<br />
einher.<br />
Der Geist von Hamlets ermordetem Vater bittet seinen<br />
Sohn nicht nur um Rache – er bittet ihn eindringlich darum,<br />
sich an ihn zu erinnern: »Remember me« (»Gedenke<br />
mein«). Daraus entsteht bei Hamlet diese merkwürdige<br />
Tathemmung.<br />
MS Es ist ja auch gut, sich genau zu überlegen, was<br />
<strong>der</strong> nächste Schritt sein kann. Da kommt die eigene<br />
Entscheidung ins Spiel. Unsere Arbeit ist das Innehalten<br />
und Beiseitetreten.<br />
ML Bei bestimmten unserer Projekte merken wir, dass<br />
man sich nicht erinnern will. Es sollen neue Projekte her,<br />
neue Landschaften im Ruhrgebiet entstehen. Alte<br />
Gebäude müssen weg – und umgekehrt pflegt man<br />
aber richtige Kathedralen <strong>der</strong> Vergangenheit. In unserer<br />
Arbeit gibt es aber keine Nostalgie, eher Melancholie.<br />
Nichts an eurer Arbeit wirkt nostalgisch o<strong>der</strong> gar romantisch.<br />
Das Lakonische dominiert als Grundgestus.<br />
UF Es geht um den Moment an sich. Da stößt man auf<br />
das bloße Sein. Ein Blick, eine Geste, hier und jetzt.<br />
Da verbirgt sich die Lakonie.<br />
ML Wir öffnen uns <strong>der</strong> ganzen Bandbreite <strong>der</strong> Gefühle,<br />
die wir erfassen wollen. Humor ist z. B. wichtig! Ein<br />
Humor, <strong>der</strong> Menschen nicht vorführt. Man muss gemeinsam<br />
lachen.<br />
MS Die Gefühle muss man aufkommen und weiterziehen<br />
lassen. Das ist das Lakonische in meiner Arbeit.<br />
Im Theater gibt es überhaupt nur den Moment. Nichts<br />
Bleibendes. Wie nähert ihr euch in euren Filmen dem<br />
Individuum, um es optimal zum Erzählen zu motivieren?<br />
Wie entsteht diese Unmittelbarkeit, die wir beim Anschauen<br />
empfinden?<br />
UF Im Theater muss <strong>der</strong> magische Moment reproduzierbar<br />
sein. Beim Filmemachen gibt es nur die absolute<br />
Einmaligkeit. Aber bloß nichts festzurren im Vorhinein!<br />
Die Menschen müssen auch unsere eigenen<br />
Sorgen und Ängste spüren, es gibt kein einseitiges<br />
Nehmen unsererseits. Nur durch Vertrauen entsteht<br />
so etwas wie Wahrhaftigkeit.<br />
ML Man muss die eigenen Schwächen zeigen, das<br />
schafft Normalität.<br />
MS Ich sage den Menschen immer, ich führe keine<br />
Interviews, son<strong>der</strong>n wir kommen miteinan<strong>der</strong> ins<br />
Gespräch. Ich zeige mich auch, bin präsent. Im Unterschied<br />
zu euch, Ulrike und Michael, muss ich aber etwas<br />
erzeugen, das absolut nicht natürlich ist. Bei 21<br />
– Erinnerungen ans Erwachsenwerden z. B. ist es eine<br />
Ulrike Franke und Michael Loeken<br />
138
Trotzdem bleiben ja viele magische Momente nicht erklärbar.<br />
Das ist das Schöne. Es kommt sozusagen etwas<br />
Drittes hinzu.<br />
MS Das erlebe ich auch so – zugleich bedeutet es unglaublich<br />
viel Arbeit, um die Bedingungen zu schaffen,<br />
dass sich magische Momente ereignen können.<br />
Wochenlanges Editieren, auf die Essenz kommen.<br />
Ich suche die volle Konzentration auf das Individuum.<br />
Dadurch entsteht etwas Universelles. Am Anfang<br />
sagten mir Leute, »das ist ja alles schön und gut –<br />
aber wer interessiert sich schon für die Großmutter<br />
von Frau Meier?«<br />
Mats Staub<br />
künstliche Situation: Die Menschen werden von mir<br />
beim Zuhören ihrer eigenen Geschichte porträtiert.<br />
Aber ich »inszeniere« sie nicht, ich versuche, ihnen<br />
eine Begegnung mit sich selbst zu ermöglichen.<br />
Du, Mats, bringst die Räume zum Verschwinden. Der<br />
Hintergrund in 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden<br />
und bei Jetzt & Jetzt ist schwarz. Dadurch entsteht dieses<br />
merkwürdig Sakrale. Ohne jede falsche Heiligkeit.<br />
Die Menschen wirken wie bewegliche Ikonen. In euren<br />
Arbeiten, Ulrike und Michael, spielen die Räume eine<br />
entscheidende Rolle.<br />
UF Die Räume halten alles fest, was verschwunden ist.<br />
In Herr Schmidt und Herr Friedrich ist in je<strong>der</strong> Schallplatte,<br />
jedem Liebesbrief, Foto und Nippes Erinnerung.<br />
In all unseren Filmen beziehen die Leute aus<br />
den sie umgebenden Räumen ihr Lebenselixier, ob<br />
es ein Wohnzimmer o<strong>der</strong> eine Straße im Ruhrgebiet<br />
ist. Eine Frau schaut seit 40 Jahren auf das Opelwerk<br />
Bochum, das dann verschwindet. Und <strong>der</strong> Baum vor<br />
dem Werk muss auch verschwinden. Die Frau verliert<br />
damit ihren angestammten Raum. Wir müssen alle<br />
Orte konkret aufsuchen, sie riechen!<br />
Beim Schauen eurer Filme rieche ich auch alles. Wie<br />
macht ihr das?<br />
ML Man muss wirklich alles wahrnehmen, einfangen<br />
und ernst nehmen, auch und gerade das scheinbar<br />
»Banale«.<br />
UF Das Entscheidende passiert im Schnei<strong>der</strong>aum, es<br />
geht um Komposition. Wie viel Wichtigkeit geben wir<br />
einem einzelnen Bild? In dem Film über die Schlagersängerin<br />
Renate Kern gibt es ein Foto, auf dem sie als<br />
Kind ganz verloren in einer Schneelandschaft steht.<br />
Wie lange das Bild exakt stehen bleibt, ist wichtig für<br />
den Gesamtzusammenhang, dadurch entsteht Nähe.<br />
Wie wir feststellen können, sehr viele!<br />
MS Ob ich eine Person aus dem Ruhrgebiet o<strong>der</strong> aus<br />
Kinshasa porträtiere – mich interessieren die Gesichter,<br />
dadurch entsteht etwas Verbindendes. Wenn auch<br />
die Hintergründe schwarz sind wie in 21, so gehen<br />
doch am Ende die Zuschauer:innen in einen speziellen<br />
Raum, um sich dort optimal auf die Porträtierten<br />
konzentrieren zu können. Deshalb liebe ich ja auch<br />
weiterhin die Theaterkunst. Man geht in einen realen<br />
Raum, das bedeutet etwas.<br />
Was sind für euch Held:innen? Wir sind ja 24 Stunden<br />
am Tag konfrontiert mit Heldentum. Im Netz, in Filmen,<br />
Serien, in <strong>der</strong> Werbung. Alles soll menschlich, nahbar<br />
und alltäglich anmuten – und wird doch stets ins Heroische<br />
gesteigert.<br />
MS Der Polizist in eurem Film Göttliche Lage!<br />
UF Die Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> er seinen Job<br />
ausführt, ihn liebt und uns ohne Wenn und Aber<br />
daran teilhaben lässt! Ein Kümmerer. Das wird aber<br />
nicht bewertet o<strong>der</strong> hochstilisiert, ist also womöglich<br />
nicht »heldenhaft«. Held:innen bekommen ja immer<br />
die Bestnote, sie werden ständig bewertet. Unsere<br />
Protagonist:innen sind alles an<strong>der</strong>e als ausgewogen<br />
o<strong>der</strong> perfekt.<br />
ML Es geht nicht um Heldentum, aber sehr wohl um<br />
starke Persönlichkeiten. Man nimmt den Menschen<br />
die Dinge ab, sie sind nicht künstlich.<br />
Barbara Frey<br />
139
Im Theater ist es umgekehrt: Tollen Schauspieler:innen<br />
nimmt man dann alles ab, wenn sie am künstlichsten sind.<br />
Das »Echte« ist ja gespielt. Ein Wesensmerkmal <strong>der</strong> Renaissance<br />
war die perfekte Mischung aus Sein und Spiel.<br />
UF Durch die Anwesenheit <strong>der</strong> Kamera ist bei uns im<br />
Grunde auch alles künstlich: Da stehen ja das Team,<br />
die Kamera, manchmal Licht. Es ist eine Art Verabredung.<br />
Es geht darum, vor Ort eine Intensität zu schaffen<br />
und zu erreichen, dass die Menschen trotzdem<br />
absolut bei sich sind.<br />
ML Es ist ja auch die Vorarbeit, das Kennenlernen davor.<br />
Aber man muss die Fragen, die man hat, auch über<br />
den Haufen werfen – und schon gar keine Antworten<br />
erwarten! Das ist <strong>der</strong> Unterschied zum Journalismus.<br />
MS Die Teilnehmenden müssen absolut bei sich bleiben<br />
können. Es geht um Schutz, damit sie sich öffnen<br />
können.<br />
Es geht um die Wahrnehmung des Gegenübers. Wahrnehmung<br />
schafft Augenhöhe und Empathie.<br />
ML Und wirkliches bei<strong>der</strong>seitiges Interesse!<br />
UF Die Geschichte des Cellisten Gregor Piatigorsky,<br />
<strong>der</strong> im Publikum den großen Pablo Casals erblickte:<br />
Der noch unbekannte Piatigorsky war entsetzlich aufgeregt<br />
und hatte am Ende das Gefühl, schlecht gespielt<br />
zu haben. Casals sagte aber nach dem Konzert<br />
zu ihm, er hätte sehr gut gespielt. Piatigorsky empfand<br />
das als falsches Lob und war gekränkt. Jahre später<br />
sprach er Casals darauf an. Der bekräftigte das Lob, da<br />
er ganz genau wahrgenommen hatte, wie an<strong>der</strong>s und<br />
beson<strong>der</strong>s die Fingersätze und <strong>der</strong> Bogenstrich von<br />
Piatigorsky an manchen Stellen gewesen waren. Man<br />
muss ja in jemand an<strong>der</strong>em etwas erkennen können!<br />
Umgekehrt hat je<strong>der</strong> Mensch die Sehnsucht danach,<br />
selbst erkannt zu werden.<br />
MS Es geht um die Zeit, die man sich gegenseitig<br />
widmet: Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die<br />
längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und<br />
ich befasse mich mit dem gesammelten Material.<br />
Diese Menschen bewohnen mich. Jetzt im März treffe<br />
ich hun<strong>der</strong>t Menschen zum zweiten Mal für Jetzt &<br />
Jetzt. Ich muss hun<strong>der</strong>t Zimmer in mir schaffen, wo<br />
sie temporär einziehen. Wenn Porträt und Schnitt<br />
fertig sind, können sie wie<strong>der</strong> ausziehen. Ich kann ja<br />
nicht immer mit ihnen leben!<br />
In euren Arbeiten ist alles »szenisch«, das ist die Nähe zum<br />
Theater, zum Drama. Wie entsteht die Dramaturgie beim<br />
Drehen selbst, also vor <strong>der</strong> Komposition im Schnei<strong>der</strong>aum?<br />
ML Wir lauern bei <strong>der</strong> Dreharbeit auf alles Situative.<br />
UF Interessant sind die Dinge, die nach den eigentlichen<br />
Gesprächen passieren, sozusagen beim Ausatmen:<br />
Da muss man dranbleiben, das ist wertvolles Material!<br />
MS Ich sage meinen Mitarbeitenden immer, sie dürfen<br />
auf keinen Fall die Stopptaste drücken, solange<br />
wir noch im Raum sind. Beim Aufbrechen sagen dann<br />
manche Teilnehmenden plötzlich noch die entscheidenden<br />
Sätze.<br />
Gibt es in eurer Kunst so etwas wie eine Ur-Szene, zu <strong>der</strong><br />
ihr immer wie<strong>der</strong> zurückkehrt?<br />
UF Man arbeitet sich im Grunde immer an einem<br />
Thema ab. Am Filminstitut in Köln, wo ich Studentin<br />
war, sah ich am ersten Tag an die Mauer gesprüht:<br />
JAMMERLAPPEN. Das fand ich grandios. Später wurde<br />
das übertüncht. In meinem ersten Film ging es<br />
dann um Erinnern und Verschwinden, und ich fragte<br />
die Leute, ob sie sich an diese Schrift erinnern könnten.<br />
Kaum jemand konnte es, und ich fühlte mich sehr<br />
einsam. Dann aber kam einer und sagte, er erinnere<br />
sich, da hätte gestanden: JAMA LA LAPP, aber er wisse<br />
nicht, was das bedeute. Als Michael und ich 25 Jahre<br />
später dann zusammen den Opel-Film gemacht haben,<br />
gab es diesen Moment, da nur noch die Schatten<br />
<strong>der</strong> Buchstaben OPEL am Gebäude zu sehen waren,<br />
da man die Schrift mit <strong>der</strong> Schließung des Werks abmontiert<br />
hatte.<br />
ML Im EL-DE-Haus in Köln (benannt nach seinem<br />
Erbauer Leopold Dahmen) war zwischen 1935 und<br />
1945 die Gestapo, im Keller waren die Zellen. Nach<br />
dem Krieg sagte man mit deutscher Gründlichkeit:<br />
Die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen da schön über malen,<br />
im Haus bringt man das Rentenamt unter, und im Keller<br />
kommen die Akten rein. Ich habe einen Film darüber<br />
gemacht, wie sich eine Bürgerinitiative bemüht hat, das<br />
Ganze zu einer Gedenkstätte zu machen. Dann kamen<br />
die Restauratoren, haben im Keller alles abgekratzt –<br />
und man konnte die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen wie<strong>der</strong><br />
lesen. Es geht in unserer Arbeit in vielfältiger Weise<br />
immer ums Verschwinden und Erinnern.<br />
MS Meine Ur-Szene hat mit meiner Großmutter zu tun.<br />
Am Ende ihres Lebens wie<strong>der</strong>holte sie ihre Erzählungen<br />
zunehmend. Aber es kam doch immer wie<strong>der</strong> ein<br />
Detail dazu. Ihr alter zittriger Zeigefinger fuhr in <strong>der</strong> Luft<br />
auf einer imaginären Landkarte um ganz Afrika herum,<br />
das beschrieb ihre Reise, damals in <strong>der</strong> Umrundung<br />
noch billiger als durch den Suez-Kanal, den sie mit<br />
einer schnellen Fingerbewegung markierte. In ihrem<br />
ganzen Körper, beson<strong>der</strong>s in diesem zittrigen Finger,<br />
steckte die gesamte Gegenwart <strong>der</strong> Vergangenheit.<br />
Ich fragte mich: Was ist dran an dieser Geschichte? Ich<br />
habe einen Umweg genommen. Es dauerte 20 Jahre,<br />
bis ich selbst die Reise dorthin unternahm, wo meine<br />
Großmutter gewesen war. Davor habe ich 300 Leute<br />
gefragt, was sie von ihren Großeltern wissen.<br />
Mir wurde dadurch klar, dass ein Porträt von einem<br />
selbst entsteht, wenn man von seinen Großeltern<br />
spricht. Die Frage, um die es letztlich geht, ist: Was ist<br />
eigentlich wichtig für unser Leben?<br />
Fotos: Luise Jakobi (Ulrike Franke und Michael Loeken; Barbara Frey) und Sabrina Weniger (Mats Staub)<br />
140
EINE REISE<br />
INS INNERE<br />
ANDRI HARDMEIER IM GESPRÄCH MIT DEM<br />
KOMPONISTEN GEORGES APERGHIS<br />
Georges Aperghis<br />
DIE ERDFABRIK<br />
Musiktheater<br />
ab 11. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />
141
Andri Hardmeier Neben <strong>der</strong> Steinkohle wurde im<br />
Ruhrgebiet auch Eisenerz abgebaut und ab Mitte des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit Koks aus <strong>der</strong> Ruhrkohle verhüttet.<br />
Ihr Musiktheater Die Erdfabrik wird in <strong>der</strong> Gebläsehalle<br />
des Landschaftsparks Duisburg-Nord uraufgeführt. Hier<br />
wurde noch bis 1985 Roheisen für die Stahlindustrie produziert.<br />
Wie kam es dazu, für diesen Ort ein neues Musiktheater<br />
zu schaffen?<br />
Georges Aperghis Als man mir vorschlug, ein neues<br />
Musiktheater für die <strong>Ruhrtriennale</strong> zu schreiben,<br />
dachte ich neben <strong>der</strong> geografischen Lage sofort an<br />
die Minen und die Kohle. Als ich ein Kind war, haben<br />
wir noch mit Koks geheizt. Ich habe angefangen, über<br />
das Thema zu recherchieren, viel über die Minen zu<br />
lesen, Fotos von Bergleuten anzuschauen. Und dann<br />
hat mir Jean-Christophe Bailly ein Gedicht von Annette<br />
von Droste-Hülshoff mitgebracht und wir fingen<br />
an, uns darüber zu unterhalten. Jean-Christophe<br />
war in verschiedenen Minen in Frankreich, im Ruhrgebiet<br />
und vor allem auch in Wales. Er hat mir Bil<strong>der</strong><br />
gezeigt, und dann begann ich zu realisieren, worum<br />
es mir geht, worüber ich sprechen möchte: über diese<br />
Arbeit unter sehr speziellen, schwierigen Bedingungen,<br />
die Dunkelheit und die verschiedenen Perspektiven<br />
darauf. Was ist das Dunkel? Wie kommt es zu<br />
den Räumen, die man kaum sieht o<strong>der</strong> die man nur<br />
sieht, weil es einen Schimmer gibt, ein kleines Licht?<br />
Das Gedicht Die Erzstufe von Annette von Droste-Hülshoff<br />
aus dem Jahr 1844 ist ein zentraler Bestandteil des<br />
von Jean-Christophe Bailly zusammengestellten und<br />
größtenteils selbst geschriebenen Texts, welcher <strong>der</strong><br />
Komposition zugrunde liegt. Darin heißt es: »Die Winde<br />
keucht, es rollt <strong>der</strong> Hund. / Hörst du des Schwadens<br />
Sausen nicht?« Annette von Droste-Hülshoff spielt mit<br />
dem Klang einzelner Wörter o<strong>der</strong> Silben. Man hört hier<br />
schon richtiggehend die Musik daraus. Sie zerlegen<br />
Worte in Silben und Phoneme, arbeiten mit Textfragmenten,<br />
mit Wie<strong>der</strong>holungen einzelner Klangzellen, die<br />
wie Baukästen angeordnet zu sein scheinen. Würden Sie<br />
das Spiel generell als zentralen Bestandteil Ihres kompositorischen<br />
Schaffens bezeichnen?<br />
Auf jeden Fall. Mir ist es wichtig, mit <strong>der</strong> Erinnerung<br />
des Publikums zu spielen, dem Wie<strong>der</strong>erkennen von<br />
Dingen, die in einem an<strong>der</strong>en Kontext erscheinen.<br />
Ich mag es, wenn das Publikum aktiv ist, und spiele<br />
mit den Vorgängen, den Erwartungen, wie es in <strong>der</strong><br />
klassischen Musik ja stets <strong>der</strong> Fall ist. Man hört ein<br />
Motiv, eine Variation, man folgt einer Linie, und das<br />
ist wun<strong>der</strong>bar. Es ist ein Spiel, ein kleines Labyrinth.<br />
Mit Silben zu arbeiten ist für mich, wie mit Noten, mit<br />
Klängen zu arbeiten. Es sind auch Klänge, aber man<br />
kann keine Harmonien daraus machen. Sie sollen nur<br />
gesprochen werden, aber es soll eine Musik aus dem<br />
Gesprochenen entstehen, aus <strong>der</strong> Nebeneinan<strong>der</strong>stellung<br />
einzelner Silben.<br />
Jean-Christophe erzählte mir auch von einem Karneval<br />
in Bolivien, wo es eine riesige Mine gibt. Als Gegenleistung<br />
für ihre tägliche Arbeit feierten die Leute ein<br />
ausgelassenes Fest mit Masken, eine Mischung aus<br />
zur Mine gehörenden Gottheiten und christlichen<br />
Heiligenfiguren. All dies brachte mich auf die Idee,<br />
dass die Steine und Höhlenwände zu grinsenden, beinahe<br />
dämonischen Figuren werden, wie ein verrücktes<br />
Fest in <strong>der</strong> Nacht.<br />
Die Erdfabrik ist eine Art Reise in die Vergangenheit<br />
unserer Erde, in Zeitalter, die viele Millionen Jahre zurückliegen.<br />
Jean-Christophe Bailly nennt die Kohle das<br />
»Kind des Lichts«, denn sie ist <strong>der</strong> uralte Speicher von<br />
Sonnenenergie früherer Epochen. Wie zeigt sich dieses<br />
Abtragen von tief unter <strong>der</strong> Erde liegenden Schichten in<br />
Ihrer Komposition?<br />
Das Abtragen von Schichten ist genau, was mich interessiert.<br />
Das steckt für mich auch im Titel Die Erdfabrik.<br />
Der Mensch glaubt, die Erde in seinem Sinne<br />
erschaffen zu können. Er kann Dinge finden und abbauen,<br />
er kann Stollen bauen und Tunnel. Er hat die<br />
Möglichkeit, die Erde so zu gestalten, wie er sie letztendlich<br />
haben will. Und dabei geht es nicht um Schönheit,<br />
son<strong>der</strong>n in erster Linie um Profit. Und während<br />
man in die Tiefe geht, durchgräbt man verschiedene<br />
Schichten, Sedimente aus Zeiten lange bevor die<br />
Menschheit diesen Planeten zu bewohnen begonnen<br />
hat. Ich habe versucht, unterschiedliche musikalische<br />
Materialien zu finden, so wie man im Erdinnern auf verschiedene<br />
Materialien stößt.<br />
Die Art und Weise, wie Sie sich mit dem Phänomen Bergbau<br />
beschäftigen, ist aber sehr assoziativ. Es handelt sich<br />
um eine Art Gedicht über Dunkelheit, Nacht, über Stille.<br />
Genau das ist es: eine kleine gedankliche Reise. Es<br />
gibt eigentlich gar nicht viel zu sehen, kleine Dinge,<br />
die die Sängerin macht, einen Fokus auf die fallenden<br />
Tropfen zum Beispiel, mit denen sie spielt, mit denen<br />
sie spricht. Die Spieler:innen, vier Musiker:innen und<br />
eine Sängerin, stellen keine Bergleute dar, sie manipulieren<br />
Zeichen und Töne, um eine Illusion zu erzeugen.<br />
Das Publikum glaubt zu sehen, sieht aber nicht wirklich,<br />
es stellt sich vielmehr Dinge vor, füllt Lücken.<br />
WAS MAN IN DER TIEFE<br />
DER ERDE FINDET,<br />
IST LETZTENDLICH DER<br />
HIMMEL.<br />
Man hat fast den Eindruck, dass Sie die Dinge mit<br />
Kin<strong>der</strong> augen sehen.<br />
Ja, das ist meine Sicht. Ursprünglich gab es sogar<br />
eine Sequenz, in <strong>der</strong> ein Kind durch den Raum ging,<br />
ins Schwarze, einfach so. Und dann habe ich sie<br />
weggelassen, weil es mir zu konkret erschien. Aber<br />
diese Bil<strong>der</strong> sprechen mich sehr an. Die Angst des<br />
Kindes im Dunkeln, die Spiele <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Dämmerung. Das Spiel, das man Blinde Kuh nennt.<br />
Genau das interessiert mich!<br />
142
Auch Ihr Instrumentarium zeugt von diesem Spielerischen:<br />
Das reiche Schlagwerk ist bestückt mit Melodica,<br />
Kin<strong>der</strong>flöten, Lockvögeln, singenden Sägen, Hämmern,<br />
Sirenen, Glasflaschen, um nur einige wenige zu nennen.<br />
Ich arbeite viel mit Geräuschen, aber hier sind es vor<br />
allem zwei Dinge, die ich zu finden versucht habe:<br />
Zum einen, wie ich mir das Geräusch fallen<strong>der</strong> Tropfen<br />
vorstelle. Zum an<strong>der</strong>n, wie und was man im Dunkeln<br />
hört. Das sind zwei Dinge, die am Ursprung meiner<br />
kompositorischen Arbeit lagen, die ich dann natürlich<br />
bearbeitet und verstärkt habe. Und ich habe Klänge<br />
aus Materialien gesucht, die den Werkzeugen <strong>der</strong><br />
Bergleute ähnlich sind. So gibt es Hämmer o<strong>der</strong> eben<br />
Alarmsirenen. Und ich habe versucht, den Instrumenten<br />
– Schlagzeug, Kontrabass und Trompete – Klänge<br />
zu entlocken, welche die Arbeitsgeräusche in <strong>der</strong><br />
Mine musikalisch umsetzen.<br />
In einem Gedicht von Jean-Christophe Bailly heißt es:<br />
»Das Dunkel <strong>der</strong> Nacht mit dem Glanz <strong>der</strong> Sterne ist wie<br />
das Abbild des Dunkels <strong>der</strong> Erde, wo viele unsichtbare<br />
kleine Glanzpunkte darauf warten, von uns gesehen zu<br />
werden.« Was bedeutet Ihnen dieser Bezug <strong>der</strong> Tiefe, <strong>der</strong><br />
Dunkelheit unter <strong>der</strong> Erde zum uns umgebenden All?<br />
Dieses Bild gefällt mir sehr. Was man in <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong><br />
Erde findet, ist letztendlich <strong>der</strong> Himmel, denn je tiefer<br />
man geht, desto reiner wird es. Es geht in Die Erdfabrik<br />
auch immer um Gegensätze, um das Verbinden extremer<br />
Pole: Licht und Dunkelheit, das Gewichtige und<br />
das Leichte, das Kleine und das Große, das Ernste und<br />
das Spiel. Denn wenn man wirklich in die Tiefe geht,<br />
ins Dunkle, und es immer hoffnungsloser zu werden<br />
scheint, gibt es immer noch das Kind in uns, das zurückkommt<br />
und sagt: Gut, lass uns wie<strong>der</strong> aufwachen,<br />
lass uns aufstehen und weiterspielen. Auch dies ist<br />
eine Art zu sagen – wie Jean-Christophe es ausdrückt –,<br />
dass, je tiefer man in die Erde geht, desto näher man<br />
dem Himmel kommt. Je tiefer man in die Traurigkeit<br />
sinkt, desto mehr Humor kann man haben, den man<br />
braucht, um zu überleben. Und so nähert man sich<br />
dem Himmel, indem man <strong>der</strong> Erde auf den Grund geht.<br />
Und da sind wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Kohle als dem »Kind<br />
des Lichts«, <strong>der</strong> Einsicht, dass die Kohle nichts an<strong>der</strong>es<br />
ist als die Vegetation längst vergangener Epochen,<br />
dass sie aus den Pflanzen jener entlegenen Zeit besteht,<br />
die von <strong>der</strong> Sonne genährt worden sind.<br />
Auch die Schlaflosigkeit, das Eintauchen in die Stille,<br />
das Unheimliche <strong>der</strong> uns umgebenden Dunkelheit spielt<br />
in Die Erdfabrik eine wichtige Rolle.<br />
Im Prinzip könnte man das ganze Stück eine Schlaflosigkeit<br />
nennen. Es geht um die Dinge, die einem<br />
durch den Kopf gehen, wenn man nicht schläft o<strong>der</strong><br />
vor sich hindöst. Es gibt dabei Momente, die angenehm<br />
sind, und dann gibt es Momente, in denen es<br />
ziemlich beängstigend werden kann. Man realisiert,<br />
dass im Dunkeln alles ganz an<strong>der</strong>s wird. Auch in <strong>der</strong><br />
Stille, in <strong>der</strong> wir nicht über die gleiche Wahrnehmung<br />
verfügen. Wir hören an<strong>der</strong>e Dinge in <strong>der</strong> Stille. Und das<br />
Erstaunliche ist, dass mir Jean-Christophe genau von<br />
diesem Erlebnis erzählt hat, das er hatte, als er in eine<br />
Mine hinabgestiegen war. Von dieser absoluten Stille,<br />
die dennoch nicht wie Stille ist, und von <strong>der</strong> Dunkelheit.<br />
Und so habe ich versucht, mir dies vorzustellen.<br />
Denn wir sind an eine Dunkelheit gewöhnt, die kein<br />
Schwarz ist, in <strong>der</strong> es immer irgendwo etwas gibt, das<br />
leuchtet. Das absolute Schwarz ist kaum zu finden,<br />
ebenso wenig wie die absolute Stille. Das letzte Mal,<br />
als ich diese erlebt habe, war im IRCAM (Institut de<br />
recherche et coordination acoustique/musique in Paris),<br />
wo es einen Raum gibt, in dem einfach nichts ist.<br />
Und da fängt man an, sich selbst zu hören, zu hören,<br />
wie <strong>der</strong> eigene Körper funktioniert. Es ist für mich eine<br />
Art Maschinenmusik mit Maschinen, die organisch<br />
sind. Das ist, woran ich arbeiten wollte.<br />
ES IST DAS PUBLIKUM,<br />
DAS ZUR ERZÄHLUNG<br />
WIRD, DENN ES MACHT<br />
GESCHICHTEN.<br />
Seit <strong>der</strong> Gründung Ihrer Theatergruppe Atelier Théâtre<br />
et Musique (ATEM) in den 1970er-Jahren im Pariser Vorort<br />
Bagnolet wurden Sie zur prägenden Figur im Bereich<br />
<strong>der</strong> Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters.<br />
Das »théâtre musical« kann dabei als Gegenentwurf<br />
zur Oper gesehen werden. Ein poetisches, experimentelles<br />
musikalisches Theater, in welchem Musiker:innen,<br />
Sänger:innen, Schauspieler:innen und bildende Künstler:innen<br />
zusammenkommen, zum Zweck <strong>der</strong> kollaborativen<br />
Kreation neuer Musiktheaterformen.<br />
Ja, es handelt sich um ein abstraktes, poetisches<br />
Musiktheater, das verschiedene Akteure zusammenbringt.<br />
Es geht mir dabei weniger darum, ein Gegenstück<br />
zur Oper zu finden, parallel habe ich auch<br />
Opern komponiert. Meine Herangehensweise ist vielmehr,<br />
jede Komponente des Musiktheaters zu isolieren.<br />
Zum Beispiel den Text zu isolieren, das Licht,<br />
die Bil<strong>der</strong>, die Klänge, die alle nicht das Gleiche erzählen.<br />
Das bedeutet, dass sie frei sind. Was mich<br />
dazu bringt, Musik zu schreiben, sind die vielen Möglichkeiten,<br />
diese Fragmente zusammenzubringen,<br />
übereinan<strong>der</strong>zulegen o<strong>der</strong> nebeneinan<strong>der</strong>zustellen.<br />
Fragmente, die zunächst nichts miteinan<strong>der</strong> zu tun<br />
haben. Meine Arbeit besteht darin, Verbindungen zu<br />
schaffen, aber keine Übergänge! Es sind vielmehr<br />
Brüche o<strong>der</strong> Konflikte o<strong>der</strong> ein Spiel zwischen den<br />
Dingen, ein Hin und Her, um zu einer Konstruktion<br />
zu kommen, die ich nicht kenne, die ich nie erwartet<br />
hätte und die ich hören möchte. Und so kann eine Art<br />
Polyphonie verschiedener Texte, verschiedener Musik<br />
etc. entstehen. In <strong>der</strong> Oper gibt es einen Text, eine<br />
Theater situation, es gibt Figuren und eine Geschichte,<br />
die erzählt werden will. Und wenn die Oper fertig<br />
komponiert ist, kommt <strong>der</strong> Regisseur o<strong>der</strong> die Regisseurin<br />
hinzu, um diese Geschichte auf die Bühne zu<br />
bringen. Im »théâtre musical« hingegen gibt es ein<br />
143
Thema, das ich von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten,<br />
über das ich verschiedene Geschichten zu<br />
erzählen versuche. Hier ist es die Mine, davor hatte<br />
ich etwas über Roboter gemacht, o<strong>der</strong> einen Abend<br />
über Überwachung und Kontrolle. Das sind alles Themen,<br />
um die ich mich dann drehe. Doch alles, was<br />
Musik, Klang o<strong>der</strong> Video betrifft, ist am Anfang unabhängig.<br />
Jedes Ding hat sein eigenes Leben. Daraus<br />
versuche ich, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Es ist<br />
also etwas völlig an<strong>der</strong>es, als eine lineare Geschichte<br />
zu erzählen. Und letztlich ist es das Publikum, das<br />
zur Erzählung wird, denn es macht die Geschichten.<br />
Ich gebe nur die Elemente vor. Oft erzählen mir<br />
Leute nach einer Vorstellung, dass sie an demselben<br />
Abend ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben.<br />
Das macht mich sehr glücklich.<br />
Sie selber haben Ihr Schaffen einmal als »faire musique<br />
de tout« (Musik aus allem machen) bezeichnet. Was verstehen<br />
Sie darunter?<br />
Das ist keine Erfindung von mir. Es ist die Idee, dass<br />
Musik auch eine visuelle Komponente hat. Das heißt,<br />
dass Gesten – wenn sie in einer musikalischen Zeit<br />
stehen – selber zu Musik werden, und dass schließlich<br />
alles, was sich innerhalb dieser Zeit befindet,<br />
zu Musik werden kann. Das ist wie im Theater, wenn<br />
man eine theatrale Zeit einrichtet. Und für mich steht<br />
das Theater immer auch in einer musikalischen Zeit,<br />
einer Zeit, in die man Ereignisse eintragen kann. Musiker:innen<br />
o<strong>der</strong> Sänger:innen o<strong>der</strong> Schauspieler:innen<br />
können für eine kurze Zeit zu einer Figur werden,<br />
auch nur für ein paar Sekunden. Und dann machen<br />
sie etwas an<strong>der</strong>es, weil die Musik ihnen das vorgibt.<br />
Es geht nicht nur darum, das Instrument zu spielen,<br />
es ist <strong>der</strong> ganze Körper, <strong>der</strong> involviert ist, die Verhaltensweisen.<br />
Sprache und Körper, Kommunikation<br />
und Interaktion bilden den Fokus. Man könnte sagen,<br />
dass es wie ein Puzzle ist, dass man unterschiedliche<br />
Momente wahrnimmt, dass zum Beispiel <strong>der</strong> Trompeter<br />
schließlich auf eine etwas verschwommene Art<br />
und Weise doch zu einer Figur geworden ist, ohne<br />
dass man genau wüsste, zu welcher. Man hat eine<br />
Idee, konkreter als gedacht, aber man kann es nicht<br />
definieren. Es ist nicht nur <strong>der</strong> schöne Klang, <strong>der</strong> die<br />
Musik ausmacht.<br />
Mit <strong>der</strong> Gleichstellung von Musik, Sprache, Gestik und<br />
Mimik öffnet sich Ihnen ein ganzes Forschungsfeld. Ihre<br />
Stücke integrieren vokale, instrumentale, narrative und<br />
szenische Elemente in einen einzigen Ausdrucksrahmen.<br />
Das Musizieren selber wird zur szenischen Aktion. Wie<br />
entwickeln Sie eine solche Produktion? Ist auch dies ein<br />
kollektiver Prozess?<br />
Meistens fange ich alleine an, um zu sehen, wohin die<br />
Reise geht. Dann habe ich gesehen, dass die Zeichnungen,<br />
die Jeanne Apergis anfertigt, sehr gut mit<br />
<strong>der</strong> Welt funktionieren könnten, die ich mir vorstellte,<br />
und eine Distanz zu einem konkreteren Theaterspiel<br />
schaffen. Ich habe ihr also davon erzählt und sie<br />
hat ein paar Versuche gemacht. Das läuft dann alles<br />
parallel. Ich habe angefangen zu schreiben und gleichzeitig<br />
mit Daniel Lévy über die Beleuchtung gesprochen<br />
und mit Nina Bonardi über die Bühne. Und so<br />
kommt alles zusammen, man trifft sich bei mir zu<br />
Hause und arbeitet gemeinsam weiter. Jérôme Truncer<br />
ist für das Video dazugekommen. Und natürlich war<br />
Jean-Christophe Bailly von Anfang an dabei. Nach und<br />
nach fügen sich dann all diese Aspekte zusammen,<br />
während ich die Musik schreibe.<br />
Mit dem WEGE-Projekt lässt sich im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
die Vielfalt des Ruhrgebiets erwan<strong>der</strong>n und erfahren.<br />
An <strong>der</strong> letztjährigen <strong>Ruhrtriennale</strong> hat <strong>der</strong> südamerikanische<br />
Künstler Lisandro Rodriguez den Weg<br />
zum Landschaftspark mit Fragen bepflastert über das<br />
Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />
Macht und Natur. In seinem Projekt El Extranjero sah er<br />
sich als einen Fremden, <strong>der</strong> Fragen stellt, um zu verstehen.<br />
Eine dieser Fragen lautete: »Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?«<br />
Oft denke ich, dass die tägliche Arbeit des Künstlers<br />
darin besteht, jeden Morgen in die Mine hinabzusteigen,<br />
um Material nach oben zu schaffen. Jeden<br />
Morgen nimmt man die Arbeit erneut auf, fragt sich,<br />
was passieren, was dabei herauskommen wird. Es ist<br />
natürlich nicht so hart und gefährlich wie in <strong>der</strong> Mine,<br />
sozial gesehen hat es nichts damit zu tun. Aber es ist<br />
<strong>der</strong> Grund des Schachtes, in den man hinabsteigen<br />
muss. Es ist auf jeden Fall eine Metapher für Konzentration,<br />
für den Versuch, in sich zu gehen, um Dinge zu<br />
hören. Ohne sich zu betrügen, ohne zu lügen.<br />
Der griechisch-französische Komponist GEORGES APERGHIS ist eine <strong>der</strong> prägendsten Figuren<br />
im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters. In den 1970er-Jahren gründete<br />
er in <strong>der</strong> Pariser Banlieue Bagnolet die Theatergruppe »Atelier Théâtre et Musique«<br />
(ATEM), in <strong>der</strong> sich Musiker:innen, Schauspieler:innen und Anwohner:innen gemeinsam<br />
<strong>der</strong> Entwicklung neuer musiktheatralischer Formen widmeten. Für sein umfassendes<br />
Lebenswerk wurde Georges Aperghis 2021 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis<br />
geehrt. Das Gespräch führte <strong>der</strong> Dramaturg ANDRI HARDMEIER im Rahmen <strong>der</strong> musikalischen<br />
Vorproben im Februar <strong>2023</strong> in München.<br />
Aus dem Französischen von Andri Hardmeier.<br />
Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert<br />
144
ALLE SOLLTEN ZU ZEHN<br />
STUNDEN HANDARBEIT<br />
PRO WOCHE VERPFLICHTET<br />
SEIN. ALLE!<br />
LUKAS BÄRFUSS IM GESPRÄCH MIT DEM<br />
LIBRETTISTEN VON DIE ERDFABRIK<br />
JEAN-CHRISTOPHE BAILLY ÜBER UNSER<br />
VERHÄLTNIS ZUR NATUR, GEBIETE<br />
DES VERGESSENEN UND VERLORENE ARCHIVE<br />
DIE NATUR DES MENSCHEN<br />
Literatur / Dialog<br />
ab 27. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/natur<br />
DIE ERDFABRIK<br />
Musiktheater<br />
ab 11. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />
145
Jean-Christophe Bailly<br />
Paris, 17. Februar <strong>2023</strong><br />
Lukas Bärfuss Jean-Christophe Bailly, erlauben Sie mir<br />
zu Beginn eine persönliche Frage. Sie wurden kurz nach<br />
dem Krieg, 1949, geboren. In ihrer Lebenszeit haben Sie<br />
zwei parallele und wi<strong>der</strong>sprüchliche Entwicklungen erlebt.<br />
Auf <strong>der</strong> einen Seite eine Verbesserung <strong>der</strong> Lebensbedingungen,<br />
wie sie keine Generation zuvor erlebt hat.<br />
Und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite eine ebenso beispiellose<br />
Zerstörung <strong>der</strong> Natur. Wie haben Sie diesen Wi<strong>der</strong>spruch<br />
in Ihr Denken integriert?<br />
Jean-Christophe Bailly Das ist schwer zu beantworten,<br />
da man als Kind unterschiedliche Dinge erlebt.<br />
Ich war begeistert von <strong>der</strong> sogenannten Natur, den<br />
Tieren, den Wäl<strong>der</strong>n, allem, was ich davon sehen<br />
und verstehen konnte, <strong>der</strong> sternenklaren Nacht, all<br />
das hat mich in Staunen versetzt. Erst spät wurde<br />
uns bewusst, dass wir mit <strong>der</strong> Industrie und <strong>der</strong><br />
postindustriellen Welt alles, aber auch wirklich alles,<br />
zerstören. Und es waren vor allem die Tiere, durch<br />
die mir die Zerstörung bewusst wurde. Das hat mich<br />
immer erschreckt: die Zahl <strong>der</strong> Menschen. Als ich<br />
geboren wurde, waren wir etwa dreieinhalb Milliarden<br />
Menschen. Jetzt sind wir acht Milliarden. Und<br />
wenn wir umgekehrt die Tigerpopulation betrachten,<br />
dann gab es damals Zehntausende. Jetzt zählen wir<br />
sie in Hun<strong>der</strong>ten, manchmal in einzelnen Tieren.<br />
Und wenn man diese beiden Linien sieht, die ständig<br />
ansteigende Linie <strong>der</strong> menschlichen Bevölkerung<br />
und die ständig abnehmende Linie des tierischen<br />
Lebens, dann ist das schrecklich.<br />
In Ihrem Essay La forme animal 1 verwenden Sie ein Zitat<br />
von Georges Canguilhem: »Zwischen dem Lebendigen<br />
und seinem Milieu entwickelt sich das Verhältnis als<br />
Debatte.« 2 Sind wir Menschen hier mitgemeint? Was<br />
wäre dann unser Milieu? Wir wurden doch aus dem<br />
Paradies, dem »umhegten Park, in dem wilde Tiere<br />
leben«, ausgeschlossen. Und können wir noch von einer<br />
Debatte sprechen? Eine Debatte erfor<strong>der</strong>t Subjekte,<br />
die sich auf gleicher Ebene begegnen – ist aus diesem<br />
Verhältnis nicht mittlerweile ein Krieg geworden? Wo<br />
stehen wir in dieser Debatte?<br />
Canguilhem bezieht sich eher auf die Beziehung <strong>der</strong><br />
Lebewesen im Allgemeinen. Ein bestimmtes Tier, eine<br />
bestimmte Pflanze, die Pflanze kann nicht leben, ohne<br />
in irgendeiner Weise mit <strong>der</strong> Umgebung zu diskutieren,<br />
das Leben hängt davon ab. Jedes Lebewesen bewertet<br />
die Welt auf diese Weise, berechnet seine Möglichkeiten.<br />
Es ist gezwungen, das zu berücksichtigen, was<br />
vor ihm, unter ihm, neben ihm, hinter ihm, über ihm<br />
ist. Auch die Menschen mussten so funktionieren, die<br />
Jäger und Sammlergemeinschaften existierten auf diese<br />
Weise, ihr Leben hing davon ab. Vom Moment an,<br />
als die Menschen eine Reihe von Dingen wie Privateigentum,<br />
Lagerung von Gütern und Waren erfanden,<br />
und mit <strong>der</strong> Entwicklung dessen, was die Geschichte,<br />
die Kriege, die Machtformen und so weiter hervorbrachten,<br />
entfernten sie sich immer mehr von dieser<br />
kontinuierlichen Beziehung, dem direkten Kontakt mit<br />
<strong>der</strong> Welt um sie herum.<br />
146
Als Kind habe ich im Urlaub die Milch auf dem Bauernhof<br />
geholt. Heute ist das praktisch verschwunden.<br />
Die Umgebung, in die ein Kind heute geboren wird, ist<br />
auch nicht mehr die Stadt, wie sie zur Zeit <strong>der</strong> aufstrebenden<br />
Bourgeoisie o<strong>der</strong> danach in <strong>der</strong> Industriegesellschaft<br />
entstand. Es ist eine Art Nicht-Stadt, eine<br />
relativ formlose Metropole mit einer Universalität <strong>der</strong><br />
Medien, <strong>der</strong> Mediatisierung von Waren und so weiter.<br />
Es ist etwas Erschreckendes, wo man letztendlich<br />
feststellen muss, dass die Debatte mit <strong>der</strong> Umwelt<br />
schwach ist.<br />
Sie haben lange an <strong>der</strong> École nationale supérieure de la<br />
nature et du paysage (Nationale Hochschule für Natur und<br />
Landschaft) in Blois unterrichtet.<br />
Ich habe dort sehr gerne gearbeitet. Noch dazu als<br />
Schriftsteller. Literatur könnte ich nicht unterrichten,<br />
sie ist mir zu nah. Ich würde mich ständig aufregen.<br />
Wenn ein Student mir sagt, dass er Gérard de Nerval<br />
nicht mag, werde ich verrückt. Während es dort einen<br />
Hintergrund von objektivem Wissen gab. Was macht<br />
man mit einer Industriebrache? Wie kann man verhin<strong>der</strong>n,<br />
dass <strong>der</strong> Fluss über die Ufer tritt? Und so begleiteten<br />
wir die Studierenden, selbst ich, <strong>der</strong> ich offensichtlich<br />
einen eher theoretischen Unterricht gab.<br />
Heute sehen wir, dass die Jugend wütend und verzweifelt<br />
ist. Das Gefühl <strong>der</strong> bevorstehenden Apokalypse ist<br />
verbreitet.<br />
Ich selbst bin nicht völlig verzweifelt, aber ich frage<br />
mich oft, warum.<br />
Was gibt Ihnen noch Hoffnung?<br />
Was mir Hoffnung gibt, sind die Gebiete, die Klammern<br />
des Vergessenen. Wenn ich auf dem Land spazieren<br />
gehe und einen Esel sehe. Er kommt zu mir und<br />
ich berühre seine Ohren. Es macht mich zufrieden.<br />
Ebenfalls die Nacht. Und manchmal die Menschen.<br />
Es gibt einige interessante Dinge, die man mit ihnen<br />
unternehmen kann. Ich war gerade in München zu<br />
den Proben von Georges Aperghis’ Komposition und<br />
verfolgte die Arbeit <strong>der</strong> Musiker:innen. Es ist reine Leidenschaft,<br />
Stunden um Stunden, um winzige Klänge<br />
zu perfektionieren. Alles, was eine Form von Aufmerksamkeit<br />
erfor<strong>der</strong>t, mit den Ohren, mit den Händen,<br />
mit dem Tastsinn, das macht mir Freude. Sogar ein<br />
Metzger, <strong>der</strong> Fleisch schneidet! Ich bin in dieser Hinsicht<br />
ein absoluter Rousseauist. Alle sollten zu zehn<br />
Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />
Erstaunlich, das von einem Intellektuellen zu hören.<br />
Aber ja, aber nein. Wenn ich jemanden wie Macron<br />
sehe, den französischen Präsidenten, dann ist er für<br />
mich eine Karikatur dessen, was ein Mensch sein sollte.<br />
Ich möchte ihm einen Schraubenzieher in die Hand<br />
drücken, und ich bin mir sicher, dass er kaum weiß, wie<br />
man damit umgeht. Das sind die Leute, die die Welt<br />
regieren. Sie sind erschreckend, eine Inkompetenz und<br />
Arroganz, die fast unbegreiflich ist.<br />
Als Jugendlicher arbeitete ich bei einem Tabakpflanzer.<br />
Er besaß auch Vieh. Es war ein grausames Leben. Einmal<br />
mussten wir ein Kalb zersägen, weil es im Geburtskanal stecken<br />
geblieben war. Es gab einen Nachbarn, <strong>der</strong> jede fremde<br />
Katze tötete, die sich auf seinen Hof gewagt hatte. Ich<br />
fand sie jeweils auf dem Misthaufen. Es war blutig, es gab<br />
einen gewissen Wahrheitsgehalt, aber es war nie idyllisch.<br />
Ich bin nicht sicher, ob ich über den Verlust dieser Welt<br />
traurig wäre. Sie haben ein Libretto über eine an<strong>der</strong>e untergegangene<br />
Welt geschrieben, die Welt <strong>der</strong> Kohlebergwerke.<br />
Wer in Essen, im Ruhrgebiet, eine Zeche besucht, wo<br />
die größten Maschinen standen, findet dort jetzt ein<br />
Vier-Sterne-Restaurant. Welches Recht haben wir,<br />
das zu tun? Das bedeutet nicht, dass man das Restaurant<br />
schließen und die Zeche wie<strong>der</strong> öffnen sollte.<br />
Aber die Geschwindigkeit, mit <strong>der</strong> die Menschen ihre<br />
Vergangenheit auslöschen, gefällt mir nicht.<br />
DIE GESCHWINDIGKEIT,<br />
MIT DER DIE<br />
MENSCHEN IHRE<br />
VERGANGENHEIT<br />
AUSLÖSCHEN, GEFÄLLT<br />
MIR NICHT.<br />
Sie sprechen oft von diesen verlorenen Archiven, von<br />
den ausgelöschten Erinnerungen. Warum sollten wir sie<br />
bewahren?<br />
Weil sie unsere Gesellschaft geformt haben, und darüber<br />
hinaus ist es klar, dass wir Menschen unsere<br />
Rohstoffe lokal produzieren sollten.<br />
Wir hören diese For<strong>der</strong>ungen zurzeit in vielen Debatten.<br />
Gerade in Bezug auf Russland o<strong>der</strong> China. Vielleicht ist<br />
die Globalisierung an ein Ende gekommen und die Re-<br />
Lokalisierung <strong>der</strong> Produktion eine Notwendigkeit.<br />
Davon bin ich fest überzeugt. Ein ehemaliger Student,<br />
den ich gerne besuche, ist Viehzüchter, und er tut dies<br />
unter mo<strong>der</strong>nen Bedingungen. Keine Chemie. Die Wiesen<br />
werden durch Kulturen o<strong>der</strong> Baumstreifen voneinan<strong>der</strong><br />
getrennt, die sich <strong>der</strong> Form des Geländes anpassen,<br />
um Abflüsse und Erosion zu vermeiden. Die<br />
Menge <strong>der</strong> Dinge, die transportiert werden müssen,<br />
wird begrenzt, die Ställe abgeschafft. Die Kühe schlafen<br />
im Winter im Wald und es geht ihnen gut.<br />
1 In: Le parti pris des animaux, Jean-Christophe Bailly, 2013<br />
2 »Entre le vivant et le milieu, le rapport s’établit comme un débat«, Georges Canguilhem, La Connaissance de la vie, 1965<br />
147
Aber dieser Landwirt produziert zu hohen Preisen für<br />
Menschen, die es sich leisten können. Das Wachstum<br />
und <strong>der</strong> wirtschaftliche Erfolg unserer Landwirtschaft<br />
verdankt sich dem intensiven Anbau und vor allem dem<br />
Einsatz von Kunstdünger. Ihm verdanken wir den Anstieg<br />
<strong>der</strong> Geburtenrate und <strong>der</strong> Lebenserwartung. Und<br />
gleichzeitig ist dieser Kunstdünger ein petrochemisches<br />
Produkt und ein wesentlicher Motor des Klimawandels.<br />
Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?<br />
Ich weiß es nicht. Aber es ist interessant zu sehen,<br />
dass es jetzt viele junge Leute in Frankreich und<br />
Europa gibt, die von <strong>der</strong> üblichen Spur abweichen<br />
und etwas an<strong>der</strong>es versuchen. Es ist nicht die<br />
Masse und sie sind weit von den Entscheidungs- und<br />
Machtbereichen entfernt, aber sie beginnen, kleine<br />
Inseln einer an<strong>der</strong>en Art des Handelns zu schaffen.<br />
DIE WELT UM UNS<br />
HERUM IST DIE<br />
VERFLECHTUNG<br />
VIELER UMWELTEN.<br />
Sie beziehen sich in Ihrer Arbeit oft auf den Biologen Jakob<br />
Johann von Uexkuell und sein Konzept <strong>der</strong> »Umwelt«.<br />
Und ich war erstaunt zu sehen, dass Sie den Begriff<br />
korrekt und ganz im Sinne Uexkuells im Plural verwenden.<br />
»Umwelten« ist auf Deutsch allerdings sehr ungebräuchlich.<br />
Heute beschreibt dieser Begriff eine Einheit, wo<br />
hingegen Uexkuell eine Vielfalt und also genau das<br />
Gegenteil beschreiben wollte.<br />
Er sagte, dass die Welt um uns herum die Verflechtung<br />
vieler Umwelten ineinan<strong>der</strong> ist, die sich allerdings<br />
selten treffen.<br />
des Einen befreite. So sehe ich die Dinge als etwas<br />
Systemisches. In einem System <strong>der</strong> gleichzeitigen<br />
Verflechtung.<br />
In einer Vielzahl.<br />
Wir sagen Regen, aber je<strong>der</strong> einzelne Tropfen ist<br />
interessant.<br />
Gleichzeitig gründet <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong> Naturwissenschaften,<br />
des Positivismus in <strong>der</strong> Tatsache, dass wir die Dinge in<br />
eine Kategorie einordnen. Ich hatte eine Erfahrung mit<br />
meinem Orthopäden, weil ich Probleme mit meinem Knie<br />
hatte, und dann ging ich von einem Spezialisten zum an<strong>der</strong>en.<br />
Am Ende landete ich bei dem großen Spezialisten<br />
und er sagte: Herr Bärfuss, Sie haben kein Knie, das gibt<br />
es nicht! Es ist nur eine Funktion zwischen Ihren Waden<br />
und Ihren Oberschenkeln. Sie sind also am Ende mit dem<br />
Universum verbunden. Ich war ein wenig beunruhigt,<br />
spirituell gut betreut, aber medizinisch war ich besorgt,<br />
weil ich eine Lösung für mein Knie wollte und nicht für<br />
mein spirituelles Leben.<br />
Wir sind alle ein wenig so. Sobald es uns schlecht<br />
geht, werden wir positivistisch. In <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
verlassen wir uns auf die Positivisten.<br />
Wir müssten eine Sprache finden, die die Vielfalt mit<br />
dem Individuum verbindet. Wenn wir nur das Universelle<br />
sehen, wird <strong>der</strong> Humanismus überflüssig. Denn es ist<br />
ziemlich sicher, dass es noch für eine sehr lange Zeit<br />
Leben auf diesem Planeten geben wird, aber es wird<br />
nicht notwen digerweise menschlich sein.<br />
Es wird Formen annehmen, die wir nicht kennen. Alle<br />
apokalyptischen Perspektiven sind möglich. Die Fähigkeiten<br />
des Menschen zur Zerstörung und Verwüstung<br />
Man müsste alle diese Umwelten kennen.<br />
Sie zu kennen, ist nicht möglich, aber anerkennen, anerkennen,<br />
dass es sie gibt.<br />
Dies steht im Wi<strong>der</strong>spruch zu <strong>der</strong> Idee einer Umwelt,<br />
einer Einheit, die geschützt werden muss.<br />
Die Idee <strong>der</strong> Einheit ist für mich ziemlich schrecklich.<br />
Ich habe vor langer Zeit etwas über die Ontologie<br />
<strong>der</strong> alten Ägypter gelesen. Es gibt eine Ursprungsgeschichte,<br />
die absolut wun<strong>der</strong>bar ist. Am Anfang gab<br />
es das Eine, aber das Eine ist gleich dem Chaos. Das<br />
Eine kann sich nicht sehen, da es eins ist. Es gibt keinen<br />
Blick auf es. Damit es eine Welt gibt, muss es zwei<br />
geben. Wenn es zwei gibt, gibt es Millionen. Und wenn<br />
jemand stirbt, sei es ein Mensch o<strong>der</strong> eine Maus, da<br />
dieses Lebewesen für alles Existierende empfänglich<br />
war, besteht durch den Tod die Gefahr, dass es vom<br />
Einen übernommen wird. Das Eine bedroht ständig<br />
die Existenz und ist in gewisser Weise ihr Ursprung.<br />
Aber die Existenz konnte, wenn man so will, nur werden,<br />
indem sie sich von diesem Klebstoff, diesem Leim<br />
Lukas Bärfuss<br />
148
sind erstaunlich. Natürlich ist das Beispiel, das mir in<br />
den Sinn kommt, das, was gerade in <strong>der</strong> Ukraine passiert.<br />
Sie verstehen nicht, wie eine solche Dummheit<br />
möglich ist.<br />
WENN WIR NUR DAS<br />
UNIVERSELLE SEHEN,<br />
WIRD DER HUMANIS<br />
MUS ÜBERFLÜSSIG.<br />
Liegt diese Zerstörung in <strong>der</strong> menschlichen Natur?<br />
Menschen sind zum Schlimmsten fähig. Als stünden<br />
sie vor einer Prüfungskommission, als müssten sie<br />
beweisen, dass wir dazu fähig sind. Wir können es<br />
immer noch schlimmer machen. Ich habe in Russland<br />
mehrmals für das Theater gearbeitet. Ich habe<br />
großartige Erinnerungen an die Arbeit mit Menschen,<br />
wun<strong>der</strong>baren Menschen. Selbst meine Erinnerungen<br />
werden von dem, was gerade passiert, angegriffen.<br />
Der Krieg verdirbt auch die Erinnerung?<br />
Das ist schrecklich.<br />
Jean-Christophe, sollen wir hier aufhören o<strong>der</strong> eine Pause<br />
machen?<br />
Nein, nein, wir werden aufhören. Ich fürchte, wenn<br />
wir weiter machen, müssten wir noch so viel mehr<br />
erzählen.<br />
LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Damatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet<br />
mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, kuratiert seit 2021 die<br />
Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
JEAN-CHRISTOPHE BAILLY, 1949 in Paris geboren, hat Theaterstücke, Erzählungen und Reiseberichte<br />
verfasst und auch zahlreiche Gedichte und Essays veröffentlicht. Baillys in<br />
Frankreich hochgeschätztes Werk bewegt sich an <strong>der</strong> Schnittstelle von Geschichte,<br />
Kunstgeschichte, Philosophie und Poesie. Er wurde u. a. mit dem Prix Décembre<br />
ausgezeichnet. Für Die Erdfabrik, Georges Aperghis’ Auftragskomposition für die<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong>, schrieb er das Libretto.<br />
Aus dem Französischen von Lukas Bärfuss.<br />
Fotos: Jérôme Panconi (Jean-Christophe Bailly), Lea Meienberg (Lukas Bärfuss)<br />
149
MÖGLICHKEITSFORMEN<br />
DES MENSCHSEINS<br />
BARBARA ECKLE<br />
IM GESPRÄCH MIT<br />
DER FORENSISCHEN<br />
PSYCHIATERIN<br />
NAHLAH SAIMEH<br />
AUS EINEM TOTENHAUS<br />
Musiktheater<br />
ab 31. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/totenhaus<br />
150
Leoš Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus spielt im sibirischen<br />
Gefangenenlager, das Straftäter und politische<br />
Gefangene an einem Ort <strong>der</strong> Demütigung, <strong>der</strong> Gewalt,<br />
<strong>der</strong> Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit versammelt<br />
– eine Schicksalsgemeinschaft <strong>der</strong> »Schicksallosen«<br />
(Imre Kertész). Als Forensische Psychiaterin beschäftigt<br />
sich Dr. Nahlah Saimeh täglich mit Straftätern schwerer<br />
Gewalt- und Sexualdelikte. Im Gespräch mit ihnen ermittelt<br />
sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer wie<strong>der</strong>holten<br />
Straftat ist und welcher Grad an Gefahr von<br />
ihnen für die Gesellschaft noch ausgeht. Sie erstellt<br />
Gutachten, auf <strong>der</strong>en Grundlage die Gerichte entscheiden,<br />
ob ein Straftäter in eine Justizvollzugsanstalt o<strong>der</strong><br />
eine Forensische Klinik eingewiesen wird, und über die<br />
Vollzugsdauer von Strafen o<strong>der</strong> Antritt und Ende <strong>der</strong><br />
Sicherungsverwahrung. Barbara Eckle, Leitende Dramaturgin<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, hat sie getroffen, um über<br />
Janáčeks Oper und <strong>der</strong>en literarische Vorlage, Fjodor<br />
Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu<br />
sprechen – und um zu erfahren, warum Menschen überhaupt<br />
Straftaten begehen.<br />
Dr. Nahlah Saimeh<br />
Barbara Eckle Frau Dr. Saimeh, sind Dostojewskis Schil<strong>der</strong>ungen<br />
aus dem Strafgefangenenlager in Sibirien um<br />
1855 in irgendeiner Weise vergleichbar mit einer heutigen<br />
Gefängnisrealität?<br />
Nahlah Saimeh Das Beeindruckende an Dostojewskis<br />
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ist für mich<br />
die unfassbare Präzision und Dichte: In jedem Satz<br />
formuliert er etwas über die menschliche Psyche,<br />
über die conditio humana und über menschliche Abgründe,<br />
und das mit einer sprachlichen Schönheit,<br />
die meisterlich ist. Inhaltlich ist das Buch mein tägliches<br />
Leben. Ich würde jeden Satz unterschreiben<br />
und sagen: Ja, genau so ist es. Es gibt für mich auch<br />
keinen Zeitsprung zwischen damals und heute, außer<br />
bei Ausstattung o<strong>der</strong> Technik. Das Gefängnis, das<br />
Dostojewski beschreibt, ist dahingehend mit mo<strong>der</strong>nen<br />
Gefängnissen in Nord- und Mitteleuropa natürlich<br />
nicht vergleichbar, weil Häftlinge heute Anspruch auf<br />
einen Einzelraum und eine eigene Toilette haben. Man<br />
hat kleine Feinheiten geän<strong>der</strong>t, die für den Lebenskomfort<br />
bedeutsam sind, aber das System, in dem<br />
so viele unterschiedliche schwierige Charaktere zusammengebracht<br />
werden und auf eine durchaus destruktive<br />
Weise miteinan<strong>der</strong> umgehen, hat sich nicht<br />
geän<strong>der</strong>t – wie auch die Menschen, die ins Gefängnis<br />
kommen, sich nicht geän<strong>der</strong>t haben. Das kann auch<br />
gar nicht sein, weil <strong>der</strong> Mensch in seiner tragischen<br />
Befähigung zum destruktiven Handeln über die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
hinweg konstant mit den gleichen Problemen<br />
seines Seins geboren wird. Die Menschen im Straflager,<br />
die Dostojewski beschreibt, sind Hochstapler,<br />
Betrüger, Mör<strong>der</strong>. Der eine bringt seinen Major um, <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e seine Ehefrau, <strong>der</strong> dritte tötet einen Nebenbuhler.<br />
Sie haben alle klassische Motive. Die hat es zu<br />
Dostojewskis Zeiten gegeben, die hat es in <strong>der</strong> Antike<br />
gegeben, die gibt es heute und die gibt es auch in 150<br />
Jahren noch. Es sind Konstanten des menschlichen<br />
Scheiterns.<br />
151
Als Forensische Psychiaterin arbeiten Sie seit über 20<br />
Jahren mit Menschen, die schwere, teilweise grau same<br />
Straftaten begangen haben. Leoš Janáček stellt <strong>der</strong><br />
Partitur zu seiner Oper Aus einem Totenhaus den Satz<br />
»In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« als Leitgedanken<br />
voran. Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben,<br />
können Sie diesen Satz – mal abgesehen von <strong>der</strong> religiösen<br />
Komponente darin – bestätigen?<br />
Diesen Satz von Janáček auf das forensisch-psychiatrische<br />
Tun und auf die Probanden anzuwenden, wäre<br />
mir zu konkret. Er ist aber von grundsätzlicher und<br />
übergeordneter Richtigkeit und gilt daher auch für<br />
jeden Menschen, den ich bisher getroffen habe. Ich<br />
mache keinen so großen Unterschied zwischen den<br />
Menschen, mit denen ich als Straftäter spreche und<br />
den Menschen, die keine Straftaten begangen haben,<br />
einschließlich meiner selbst. Denn <strong>der</strong> Unterschied<br />
zwischen Straftätern und uns Nichtstraftäterinnen ist<br />
eigentlich relativ klein und bezieht sich auf ganz wenige<br />
Bereiche. Als Menschen haben wir elementare Grundbedürfnisse,<br />
die uns allen zu eigen sind: Wir alle brauchen<br />
Schlaf, etwas zu essen und zu trinken. Wir alle<br />
kennen Erschöpfung o<strong>der</strong> Schmerz. Wir kennen Angst,<br />
und wir alle haben ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit,<br />
Wertschätzung, Anerkennung, Geborgenheit.<br />
Insofern gibt es eine Vielzahl von Eigenschaften, die wir<br />
miteinan<strong>der</strong> teilen. Doch da unser Bewusstsein dualistisch<br />
funktioniert, erleben wir alles dualistisch. Und<br />
das, worauf Janáček mit diesem Satz anspricht, ist eine<br />
allumfassende Wirklichkeitsebene, die wir mit dem dualistisch<br />
geprägten Verstand nicht erkennen können.<br />
Sokrates soll gesagt haben »Niemand tut freiwillig Unrecht«.<br />
Entscheiden tatsächlich die Umstände, ob man<br />
»gut« o<strong>der</strong> »schlecht« wird. Entscheidet man das nicht<br />
auch selbst?<br />
In unserem sehr individualistischen Kulturkreis sind<br />
die gesamte Erziehung und Sozialisation auf ein Ich<br />
ausgerichtet, auf die Frage: Wer bin ich und wer will<br />
ich sein? Kulturen, die das Ich als Teil eines großen<br />
Ganzen verorten, erziehen an<strong>der</strong>s, weil die eigene<br />
Person einem großen Organismus dient, einer Familie,<br />
einem Clan, einem Stamm. Hier hat die Individualität<br />
eine völlig untergeordnete Bedeutung, auch im Erleben<br />
des Selbstwerts. Natürlich sind wir auch das<br />
Ergebnis unserer Prägungen, unserer Erziehung,<br />
unserer frühen Bindungserfahrungen. Trotzdem muss<br />
ich mich irgendwann kritisch fragen, ob und unter<br />
welchen Prämissen mein Handeln Sinn macht, und<br />
was das für mein Selbstbild bedeutet. Vor diesem<br />
Hintergrund treffe ich Entscheidungen. Es gibt natürlich<br />
Lebensumstände, die es extrem schwer machen,<br />
durchgängig gut zu handeln o<strong>der</strong> auf Straftaten zu verzichten.<br />
In Kriegen etwa sind Menschen Ausnahmesituationen<br />
ausgesetzt, da lernt man sich unter Umständen<br />
selbst nochmal ganz an<strong>der</strong>s kennen. Wir<br />
können gut ein edles Bild von uns haben, wenn wir<br />
auf dem Sofa sitzen und nicht in einem Schlauchboot,<br />
das zu 220 % überbelegt ist und nur dann eine<br />
Chance hat, das an<strong>der</strong>e Ufer zu erreichen, wenn es<br />
Leute gibt, die dieses Boot verlassen. Und ich weiß<br />
nicht, ob wir wirklich von uns sagen können, dass<br />
wir wissen, wie wir in einer solchen Situation handeln<br />
würden, weil wir diese extremen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
nicht annähernd kennen. Trotzdem muss man sagen:<br />
Man entscheidet letztlich selbst. Die Verantwortung<br />
für sich und seine Taten trägt man, auch wenn man<br />
nicht fähig ist, mit ihr umzugehen. Und es ist ein großes<br />
Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, wo man<br />
frei ist, für sich zu entscheiden. Es gehört zur Würde<br />
eines Erwachsenen, Verantwortung tragen zu dürfen.<br />
ES GEHÖRT ZUR WÜRDE<br />
EINES ERWACHSENEN,<br />
VERANTWORTUNG<br />
TRAGEN ZU DÜRFEN.<br />
Zwischen dem inneren Wunsch, jemanden umzubringen,<br />
und <strong>der</strong> tatsächlichen Umsetzung in die Tat liegt doch<br />
nochmal eine enorme natürliche Hemmschwelle. Was<br />
befähigt einen Menschen, diese Hemmschwelle zu überschreiten?<br />
Nicht je<strong>der</strong> Mensch kann einen an<strong>der</strong>en umbringen.<br />
Es gibt immer Menschen, die aus grundsätzlichen<br />
Erwägungen o<strong>der</strong> aus ihrer eigenen metaphysischen<br />
Verortung heraus den Weg des Tötens nicht gehen<br />
werden. O<strong>der</strong> sie haben einen Emotionshaushalt,<br />
aus dem sich diese vermeintliche Notwendigkeit<br />
nicht ergibt. Sie erleben nie diese extreme Wut,<br />
Kränkung o<strong>der</strong> Rachsucht. Sie ärgern sich vielleicht,<br />
finden Dinge nicht richtig, aber das erreicht nie einen<br />
so destruktiven Punkt, dass sie ernsthaft darüber<br />
nachdenken, jemanden auszulöschen. Es gibt<br />
aber Persönlichkeiten, die so kränkbar, so eitel, so<br />
nachtragend o<strong>der</strong> in ihrer Selbstsicherheit so zerstörbar<br />
sind, dass an<strong>der</strong>e tatsächlich die Macht haben,<br />
sie innerlich zu zerstören. Der scheinbar einzige<br />
Weg besteht dann darin, diesen »Aggressor«, <strong>der</strong><br />
einem das Selbstwertgefühl zerstört hat, wie<strong>der</strong>um<br />
zu zerstören, um dann aus den Ruinen <strong>der</strong> Tat den<br />
eigenen Selbstwert wie<strong>der</strong> aufzubauen. Auch Temperamentsunterschiede<br />
spielen eine Rolle. Es gibt<br />
Menschen, die extrem cholerisch und reizbar sind,<br />
die ihre Impulse schlecht steuern können, insbeson<strong>der</strong>e<br />
ihre wütenden Impulse. Wenn Sie ein normales<br />
Maß an Impuls- und Emotionskontrolle haben,<br />
werden Sie in <strong>der</strong> Regel kein Totschlagsdelikt begehen.<br />
Dann könnte es theoretisch eher sein, dass Sie<br />
geplant, rational und kühl jemanden Töten würden.<br />
Aber das würde dann bedeuten, dass Sie töten moralisch<br />
mit Ihrem Selbstbild vereinbaren können o<strong>der</strong><br />
es sogar zu einem Bestandteil Ihres Selbstbildes<br />
geworden ist. Ich kann mich toll fühlen, wenn ich in<br />
<strong>der</strong> Lage bin, drei Leute kaltblütig zu erschießen. Ich<br />
kann mich aber genauso toll fühlen, wenn ich meinen<br />
persönlichen Wert darin sehe, jemandem kein Leid<br />
zuzufügen. Nur das eine ist die reifere Entscheidung.<br />
152
Dostojewski konnte seine Aufzeichnungen aus einem<br />
Totenhaus nur schreiben, weil er selbst vier Jahre lang<br />
wegen seiner Mitgliedschaft in sozialistisch-intellektuellen<br />
Kreisen in einem sibirischen Zwangsarbeits lager<br />
inhaftiert war. Hier entdeckte er »das Volk« – sprich:<br />
viele unterschiedliche Typologien von Menschen, denen<br />
er sonst nie begegnet wäre. Etliche von ihnen tauchen<br />
später in seinen fünf großen Romanen wie<strong>der</strong> auf.<br />
Ebenso lernte Dostojewski hier eine Art innere Freiheit<br />
kennen, also eine Freiheit, die nicht von äußeren, physischen<br />
Bedingungen abhängig ist, son<strong>der</strong>n eine metaphysische<br />
Freiheit, eine Art spirituelle Unantastbarkeit <strong>der</strong><br />
Seele. Das befähigte ihn offenbar, so urteilsfrei auf die<br />
unterschiedlichen Menschentypen zu schauen und sie –<br />
ob gut o<strong>der</strong> schlecht – als gleichwertig zu sehen. Wenn Sie<br />
für die Erstellung eines Gutachtens mit einem Straftäter<br />
sprechen, versuchen Sie da, Zugang zu finden zu diesem –<br />
um bei Janáček zu bleiben – »Funken Gottes«?<br />
In <strong>der</strong> professionellen Fragestellung geht es darum,<br />
einen Menschen so klar und präzise zu beschreiben,<br />
dass ich meine relevanten forensischen Schlussfolgerungen<br />
daraus ziehen kann. Es ist ja auch viel<br />
Verantwortung im Spiel. Dass ich ihm mit <strong>der</strong> Beschreibung<br />
nicht die Würde nehme, ist mir dabei<br />
wichtig. Ich glaube, dass es auch etwas mit Würde<br />
zu tun hat, einen Menschen so zu beschreiben, wie<br />
er ist, und ihn darin ernst zu nehmen. Ich urteile<br />
nicht über diese Menschen, ich beschreibe sie. Und<br />
ich hinterfrage, was von ihnen an Gefahr noch zu erwarten<br />
ist – eine sehr kleine Fragestellung im Vergleich<br />
zum großen Ganzen. Dabei ist mir klar, dass<br />
diese Person von vielen Bedingungen abhängt, die<br />
sie nicht selber bestellt hat: Geschlecht, Intelligenz,<br />
Elternhaus, Persönlichkeitseigenschaften. Man weiß<br />
nicht, was aus dieser Person geworden wäre, wenn<br />
sie unter an<strong>der</strong>en Vorzeichen groß geworden wäre.<br />
Natürlich sucht man sich nachher aus, was man<br />
mit seinem Leben und seinen Ressourcen macht.<br />
Man kann auch nicht aus <strong>der</strong> Verantwortung entlassen<br />
werden, wer man ist. Aber wie viele unendliche<br />
Möglichkeiten würden in einem selbst stecken unter<br />
an<strong>der</strong>en Bedingungen! Und deswegen ist mir immer<br />
klar, dass <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> da vor mir sitzt, potenziell<br />
auch ich selber sein könnte. Dieser Mann – mehrheitlich<br />
sind es ja Männer – ist eine Möglichkeitsform<br />
des Menschseins. Und ich bin auch nichts als eine<br />
von Abermilliarden Möglichkeitsformen des Menschseins.<br />
Und das ist letztlich nicht unähnlich, wie<br />
Dostojewski in seinen Aufzeichnungen aus einem<br />
Totenhaus auf seine Mitinsassen schaut.<br />
MIR IST IMMER KLAR,<br />
DASS DERJENIGE, DER<br />
DA VOR MIR SITZT,<br />
POTENZIELL AUCH ICH<br />
SELBER SEIN KÖNNTE.<br />
Dort gibt es tatsächlich keine einzige Bewertung o<strong>der</strong><br />
Verurteilung. Auch wenn er von einem Mitinsassen sagt,<br />
»er ist ein durch und durch grausamer Mensch«, versteht<br />
man das nicht als negative Äußerung. Das fasziniert mich<br />
sehr, und ich frage mich: Warum kann er diese eindeutigen<br />
Worte benutzen und wir lesen sie dennoch nicht als<br />
Werturteil?<br />
Das ist genau das, was ich mit meinen Gutachten anstrebe.<br />
Und ich muss sagen, dass mir das in jungen<br />
Jahren nicht gelungen ist. Da hatte ich viel mehr Hybris<br />
in <strong>der</strong> Art und Weise, wie ich Gutachten geschrieben<br />
habe. Sie waren inhaltlich nicht schlechter, aber sie<br />
waren an<strong>der</strong>s. Die langjährige Erfahrung hat bei mir<br />
zu mehr Demut geführt. Und das habe ich mir zur<br />
Eigenschaft gemacht: Menschen, egal was sie tun,<br />
so zu beschreiben, dass es sachlich bleibt. Meine<br />
Moral ist mir egal, das sage ich ganz klar. Betrachten<br />
zu können und seine sachlichen Schlüsse daraus zu<br />
ziehen, ohne zu bewerten – das ist das Entscheidende.<br />
Der Gefängnisalltag in Dostojewskis Aufzeichnungen aus<br />
einem Totenhaus ist von kleinen und großen Gewaltakten<br />
unter den Insassen geprägt. Janáček gibt diesen<br />
scheinbar lächerlichen Zankereien und Raufereien auffällig<br />
viel Raum in seiner Oper, wohl weil sie so untrennbar<br />
zu dieser Realität gehören, die Dostojewski in <strong>der</strong><br />
Vorlage beschreibt. Und das ist wohl auch heute kaum<br />
an<strong>der</strong>s. Warum gibt es im Gefängnis so viel Gewalt?<br />
Das Risiko von Gewalt entsteht vor allem dadurch,<br />
dass viele Menschen im Gefängnis eine sogenannte<br />
dissoziale Persönlichkeitsstörung haben. Das sind<br />
Personen, die sehr gewaltaffin, sehr rücksichtslos<br />
sind, sich knallhart durchsetzen und oftmals sehr<br />
schnell reizbar sind. Sie wählen Handgreiflichkeiten<br />
als selbstverständliches Mittel <strong>der</strong> Kommunikation<br />
und Interessensdurchsetzung. Sie haben in <strong>der</strong><br />
Durchschnittsbevölkerung eine Quote von ungefähr<br />
3–6 %. In einem Gefängnis haben ungefähr 70 % <strong>der</strong><br />
Leute diese Störung. Das heißt, es kommen mehrheitlich<br />
Leute mit einem an<strong>der</strong>en normativen Gefüge in<br />
die Haft. Und sie tragen ihr Sozialverhalten, dem sie im<br />
Grunde die Haft verdanken, wie<strong>der</strong> in die Haft hinein.<br />
Das heißt, es gibt Gewalthandlungen, Rankings, Knasthierarchien.<br />
Und es gibt Gewalt täter, die definieren,<br />
wer in <strong>der</strong> Rangebene unten ist. In deutschen Gefängnissen<br />
stehen üblicherweise Sexualstraftäter, die sich<br />
an Kin<strong>der</strong>n vergangen haben, in <strong>der</strong> Hierarchie ganz,<br />
ganz, ganz unten. Mit welcher Berechtigung sich nun<br />
zum Beispiel ein Mör<strong>der</strong> für etwas Besseres hält, erschließt<br />
sich mir auch nicht auf den ersten Blick. Aber<br />
es gibt immer noch einen, <strong>der</strong> unter einem selbst steht<br />
und den man abstrafen kann. Der eigene Selbstwert<br />
wird also auch darüber stabilisiert, dass ich einem an<strong>der</strong>en<br />
den Selbstwert nehme. Das ist ein klassisches<br />
Prinzip, das wir auch überall in <strong>der</strong> Gesellschaft sehen.<br />
Nur wenige <strong>der</strong> Sträflinge in Janáčeks Oper Aus einem<br />
Totenhaus haben überhaupt einen Namen. Die meisten<br />
heißen Sträfling 1, 2, 3, großer Sträfling, kleiner Sträfling,<br />
betrunkener Sträfling etc. Es gibt auch viele kleine<br />
Rollen, aber keine großen Hauptrollen, mit denen man<br />
153
mitfühlt und mitfiebert – was für eine Oper ungewöhnlich<br />
ist. Aber <strong>der</strong> Grund ist klar: Das Individuum hat in<br />
<strong>der</strong> Gefängniswelt keinen Stellenwert. Die zermürbende<br />
Deindividualisierung beschreibt auch Dostojewski<br />
in seinen Aufzeichnungen. Mit Namen lernen wir drei<br />
Sträflinge kennen, die in größeren Monologen erzählen,<br />
wie es zu ihrer Straftat kam, und sofort blicken wir an<strong>der</strong>s<br />
auf diese Figuren. Skuratov schil<strong>der</strong>t etwa, wie er<br />
den Bräutigam seiner großen Liebe Luisa erschossen<br />
hat, weil er diese Frau wirklich liebte und sie ihn. Aber<br />
dann kam ein reicherer Anwärter und bot ihr das komfortablere<br />
Leben – und Luisa hat es genommen. Was<br />
war an <strong>der</strong> Quelle dieses Mordes? Liebe – und eine verständlicherweise<br />
unfassbare Enttäuschung.<br />
WENN WIR GEBOREN<br />
WERDEN, TRETEN WIR<br />
IN EINE EXISTENZFORM<br />
EIN, IN DER WIR<br />
UNS VON DER WELT<br />
INSGESAMT ALS<br />
GETRENNT ERLEBEN.<br />
Das ist ein sehr schönes Motiv, so funktioniert es<br />
auch in <strong>der</strong> Realität. In diesem Fall ist es eine beson<strong>der</strong>s<br />
tragische Entscheidung <strong>der</strong> Frau, den reicheren<br />
Bräutigam zu wählen. Es fällt dem Leser also leichter,<br />
sich mit den Gefühlen von Skuratov zu identifizieren.<br />
Skuratovs Narrativ für die Tat hat allerdings einen<br />
Fehler. Er geht von <strong>der</strong> tiefen Liebe Luisas aus, aber<br />
Luisa verrät diese Liebe. Also ist es keine. Eine tiefe,<br />
existentielle Form von Liebe ist nicht korrumpierbar.<br />
Der für mich wesentliche Punkt ist – und das liegt<br />
außerhalb des Fachgebietes <strong>der</strong> forensischen Psychiatrie:<br />
Wenn wir geboren werden, treten wir in eine<br />
Existenzform ein, in <strong>der</strong> wir uns von <strong>der</strong> Welt insgesamt<br />
als getrennt erleben. Wir erleben unsere eigene<br />
Existenz als ein Getrenntsein von etwas. Und aus diesem<br />
Schmerz des Getrenntseins resultiert eine große<br />
Kraft, die in zwei Richtungen gehen kann: in Richtung<br />
Destruktivität o<strong>der</strong> in Richtung Konstruktivität. Also<br />
alles beson<strong>der</strong>s Wertvolle, Ehrenvolle, Selbstlose, fast<br />
übermenschlich Gute (Typus Mutter Teresa), stammt<br />
aus dem unbedingten Willen, dieses Getrenntsein zu<br />
überwinden und diesen Schmerz zu verarbeiten. Der<br />
gleiche Schmerz kann aber auch zum Entschluss zu<br />
etwas Zerstörerischem führen. Hier fließt die Energie<br />
in den Hass. Die Quelle ist aber die gleiche Not. Das<br />
ist die Tragik des Menschseins. Und im Gefängnis zeigt<br />
sich diese Tragik beson<strong>der</strong>s deutlich.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Haftbedingungen sind zwar nicht vergleichbar<br />
mit Zwangsarbeitslagern im zaristischen Russland o<strong>der</strong><br />
den sowjetischen Gulags o<strong>der</strong> gar mit den Konzentrationslagern<br />
des NS-Regimes, aber <strong>der</strong> ungarische Schriftsteller<br />
Imre Kertész, <strong>der</strong> zwei Konzentrationslager überlebt hat,<br />
ist <strong>der</strong> Meinung, was man dort erlebt, sei nicht in Literatur<br />
als Kunstform festzuhalten. Sein explizites Vorbild ist<br />
Dostojewski, <strong>der</strong> für seine Aufzeichnungen aus einem<br />
Totenhaus eine quasi nicht-literarische Form gewählt hat,<br />
also nicht den Roman, son<strong>der</strong>n ein vielstimmiges Nebeneinan<strong>der</strong><br />
gleichwertiger Schicksale, ein unsystematisches<br />
Gewebe ohne Handlung, das keine klassischen literarischen<br />
Formstandards erfüllt, keiner dramatischen Dynamik<br />
folgt – und dadurch <strong>der</strong> Situation, wie sie wirklich war,<br />
bedeutend näher kommt. Können Sie diese Ablehnung<br />
einer »Verkunstung« solcher Erfahrungen nachvollziehen?<br />
Ja, das kann ich. Ich verbringe extrem viel Zeit mit<br />
menschlichem Elend, und das ist auch <strong>der</strong> Grund,<br />
warum ich – und da stehe ich dazu – seit Jahren keine<br />
Romane mehr lese, weil ich mit so vielen realen Biografien<br />
und menschlichen Schicksalen arbeite, was<br />
ich auch gerne tue. Aber dazu will ich keine narrative,<br />
sekundäre Überformung haben. Ich brauche keine<br />
kunstvoll erzählten Schicksale. Aber Dostojewskis<br />
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus fallen auch für<br />
mich in eine ganz an<strong>der</strong>e Kategorie. Es ist ein Fass<br />
ohne Boden, ein philosophisches Werk eigentlich. Und<br />
zugleich für mich <strong>der</strong> ständige Blick in den Alltagsspiegel.<br />
Das hat mich tief beeindruckt.<br />
Sympathien und Antipathien sind in Dostojewskis Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus kein Thema – ganz<br />
an<strong>der</strong>s als in einem Roman, wo sich Sympathien und<br />
Antipathien für die Figuren bilden und sich im Laufe <strong>der</strong><br />
Geschichte meist auch verän<strong>der</strong>n. Mit diesen Dynamiken<br />
operieren und kalkulieren Schriftsteller:innen in <strong>der</strong> Regel.<br />
Genau. Sie steuern die Emotionen des Lesers. Aber<br />
hier ist es an<strong>der</strong>s: Der Leser wird komplett auf sich<br />
selbst zurückgeworfen, weil Dostojewski neutral bleibt.<br />
Er beschreibt hier zum Beispiel in wenigen knappen<br />
Sätzen einen Sadisten, wie er kleine Kin<strong>der</strong> quälte und<br />
sich an ihren Qualen und ihrer Angst weidete, bis er<br />
sie dann schlachtete. Und er beschreibt das genauso,<br />
wie er eine Frau beschreiben würde, die an einem<br />
Rosenstrauch mit einer Heckenschere Rosen abschneidet<br />
und in eine Vase stellt. Ich glaube, dass es<br />
dieses Unterschiedslose ist, das Janáček zu diesem<br />
Satz »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« veranlasst<br />
hat. Es ist das, was letzten Endes auf eine Dimension<br />
zusammenfällt, wenn wir den besagten Dualismus<br />
überwunden haben. Aber die Kraft unseres alltäglichen<br />
Lebens kommt aus dem Dualismus. Insofern liegt<br />
in <strong>der</strong> Kraft des Konstruktiven eben genauso die Kraft<br />
des Destruktiven. Das ist nicht voneinan<strong>der</strong> zu trennen.<br />
Und ein Roman o<strong>der</strong> eine Oper entsteht normalerweise<br />
auch aus dieser Polarität. Da werden Emotionen,<br />
Charaktere, Sympathien und Antipathien erzeugt und<br />
gegeneinan<strong>der</strong> geführt. Das Publikum will sich identifizieren.<br />
Aber in Janáčeks Oper Aus einem Toten haus wie<br />
in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />
verschwindet diese Identifizierbarkeit.<br />
154
Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil genau das<br />
die charakteristischste Eigenschaft von Janáčeks Musik<br />
ist: je<strong>der</strong> einzelnen Figur eine eigene Sprache zu geben –<br />
Sprechmelodien, die er gewöhnlichen Menschen im realen<br />
Leben abgehorcht und direkt in Musik übertragen hat.<br />
Im Totenhaus gibt er den Sträflingen zwar auch ihre eigene<br />
Stimme, aber diese Individuen versinken in Anonymität<br />
und Gleichgültigkeit. Ihre Geschichten werden von ihren<br />
Mitinsassen kaum wahrgenommen, oft werden sie beim<br />
Erzählen auch unterbrochen. Das ist überhaupt ein Merk <br />
mal <strong>der</strong> Musik in dieser Oper: Sie ist stark fragmentiert, es<br />
gibt kaum große Bögen, keinen Fluss, ständige Rhythmuswechsel,<br />
fetzenartige Chorpartien. Es scheint so, als sage<br />
sich Janáček in gleicher Weise vom klassischen Schema<br />
Oper los, wie Dostojewski sich in seinen Aufzeichnungen<br />
aus einem Totenhaus von den gängigen literarischen<br />
Kunstformen lossagt. Weil eben kein probates Kunstgefäß<br />
<strong>der</strong> Wahrheit gerecht wird, die es zu vermitteln gilt.<br />
In unserer Produktion greift nun <strong>der</strong> Regisseur und<br />
Bühnen bildner Dmitri Tcherniakov genau diesen Gedanken<br />
auf und setzt ihn in seiner Inszenierung konsequent im<br />
Raum fort: Er hebt die Trennung <strong>der</strong> Welten auf, lässt<br />
das Publikum nicht von außen auf eine vermeintliche<br />
Gefängnisrealität blicken, son<strong>der</strong>n steckt es mit in das<br />
alcatraz artige Gefängnis, das er in die Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
hineinbaut, sodass jede:r diese Welt aus <strong>der</strong> Innenperspektive<br />
heraus erlebt.<br />
Das ist eine wun<strong>der</strong>bare Idee, schmerzlich konsequent<br />
gedacht. Sehr spannend!<br />
Er macht das Publikum zu Mitinsassen – und das ist nicht<br />
unbedingt nur bequem. Man ist zwar mittendrin und erlebt<br />
das Geschehen und die Figuren aus unmittelbarer Nähe,<br />
aber man ist auch von Kargheit, Alltagsgewalt und Mikrobekriegungen<br />
umgeben und ist einer Gleichgültigkeit und<br />
Härte ausgesetzt, mit <strong>der</strong> man sonst kaum in Berührung<br />
kommt. Ob man nun vom komfortablen Opernsitzplatz<br />
o<strong>der</strong> aus dieser direkten Konfrontation heraus zu Empathie<br />
angehalten wird, ist ein Unterschied.<br />
WIR SELBST SIND<br />
DIE ANDERE<br />
MÖGLICHKEITSFORM<br />
DES GEGENÜBERS,<br />
UND DAS GEGENÜBER<br />
IST DIE ANDERE<br />
MÖGLICHKEITSFORM<br />
UNSERER SELBST.<br />
Nun ja, die ganze Oper ist unbequem (lacht). Der Regisseur<br />
nimmt also das Publikum beim Wort, als würde er<br />
sagen: »Wenn Ihr diese Oper ernst nehmt, dann müsst<br />
Ihr konsequent sein. Setzt euch ihrer Zumutung aus«.<br />
Wir selbst sind die an<strong>der</strong>e Möglichkeitsform des Gegenübers,<br />
und das Gegenüber, <strong>der</strong> Täter, ist die an<strong>der</strong>e<br />
Möglichkeitsform unserer selbst. Trotzdem hat man als<br />
Zuschauer Privilegien: Man hat die freie Wahl, je<strong>der</strong>zeit<br />
den Ort zu verlassen. Und man kann auf einer Meta-<br />
Ebene darüber reflektieren – allein diese Befähigung ist<br />
schon ein Privileg. Ein schwer milieu-gestörter Gewalttäter<br />
mit Drogenmissbrauch kann das alles nicht. Er ist<br />
in <strong>der</strong> Haft vor allem sich selbst ausgeliefert. Sie können<br />
in <strong>der</strong> JVA nicht sagen: »Ich habe Klaustrophobie, bitte<br />
lassen Sie die Tür auf.« Da ist die JVA das Top-Verhaltenstraining.<br />
Kann man sich dort gleich abgewöhnen.<br />
Unser ganzes Menschsein ist aufgespannt zwischen<br />
dem »Unbequemen« und dem Erhabenen. Das zeigt<br />
diese Oper ja auch, und das ist vielleicht die Quelle aller<br />
Kunst.<br />
→ Das Gespräch können Sie in voller Länger auf <strong>der</strong><br />
Website <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> unter <strong>der</strong> Rubrik Magazin lesen.<br />
DR. MED. NAHLAH SAIMEH ist Forensische Psychiaterin. Von 2000 bis 2004 war sie Chefärztin <strong>der</strong> Forensik<br />
in Bremen und von 2004 bis 2018 Ärztliche Direktorin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie<br />
Lippstadt. 2018 machte sie sich als Sachverständige selbständig. Ihr Schwerpunkt liegt in <strong>der</strong> Begutachtung<br />
bei schwerer Gewalt-und Sexualkriminalität. Sie ist Herausgeberin verschiedener Fachbücher und<br />
Autorin von true crime-Büchern und Essays. Mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> ITNS Nachlassverwaltung im Jahr<br />
2018 verwaltet sie das Oeuvre ihres Mannes, des Künstlers Ingolf Timpner (1963–2018). Im Juni <strong>2023</strong><br />
erscheint ihr erster Herausgeberband mit Texten zur Kunst von Ingolf Timpner. BARBARA ECKLE ist Leitende<br />
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23.<br />
Foto: Ralf Zenker<br />
155
DER BLICK<br />
IN DIE EIGENE<br />
FRATZE<br />
EIN PROBENGESPRÄCH VON<br />
JUDITH GERSTENBERG MIT<br />
BARBARA FREY UND NINA HOSS<br />
»Sowohl <strong>der</strong> Autor dieser Aufzeichnungen als auch die<br />
Aufzeichnungen selbst sind erdacht. Nichtsdestoweniger<br />
sind Menschen wie <strong>der</strong> Verfasser dieser Aufzeichnungen<br />
nicht nur denkbar, son<strong>der</strong>n unausbleiblich, wenn man jene<br />
Verhältnisse in Betracht zieht, unter denen unsere Gesellschaft<br />
sich gebildet hat. Ich wollte dem Publikum deutlicher,<br />
als es sonst zu geschehen pflegt, einen Repräsentanten<br />
<strong>der</strong> jüngst verflossenen Vergangenheit vor Augen<br />
stellen. Er gehört zu <strong>der</strong> noch in unsere Tage ragenden<br />
Generation. In diesem Fragment, das Kellerloch betitelt,<br />
stellt er sich selbst vor, seine Anschauungen und bemüht<br />
sich gewissermaßen die Gründe zu klären, warum er aufgetaucht<br />
ist und warum er mit Notwendigkeit bei uns auftauchen<br />
musste.« Fjodor Dostojewski<br />
Judith Gerstenberg Im Jahre 1864 veröffentlichte Fjodor<br />
Dostojewski in <strong>der</strong> Sankt Petersburger Monatszeitschrift<br />
Epocha seine Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Um<br />
sein Vorhaben <strong>der</strong> Leserschaft zu erläutern, stellte er<br />
obenstehende Notiz voran. Der Text leitet die Hauptschaffensphase<br />
des Autors ein und öffnet den philosophischen<br />
Horizont, <strong>der</strong> seine späteren großen Romane prägen wird.<br />
Liebe Nina Hoss, du tauchst gerade in die Gedankenwelt<br />
dessen ein, <strong>der</strong> diese Aufzeichnungen verfasst haben soll.<br />
Wer begegnet uns hier im Jahre <strong>2023</strong>?<br />
Nina Hoss (lacht) Das versuchen wir gerade herauszufinden.<br />
Wir befinden uns am Ende unseres ersten<br />
Probenblocks und ich spüre die immense Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
die dieser Text bedeutet. Als Schauspielerin,<br />
die den Charakter entwickelt, habe ich zum jetzigen<br />
Zeitpunkt eine Ahnung, aber noch kein Wissen. Das<br />
gefällt mir. Der Text for<strong>der</strong>t eine sehr intensive Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
ein und rüttelt an Gewissheiten,<br />
in denen ich bisher ganz gut gelebt habe. Ich fühle<br />
mich durch viele <strong>der</strong> dort formulierten Gedanken ertappt,<br />
entdecke aber auch die Wi<strong>der</strong>sprüche in ihnen<br />
und verzweifle an <strong>der</strong> verweigerten Logik. Das macht<br />
das Einverleiben <strong>der</strong> Zeilen schwer und dennoch bin<br />
ich absolut fasziniert. Dieser Text pflanzt in mir Fragen,<br />
die mich mein tägliches Leben in Beziehung zu ihnen<br />
setzen lassen. Nahezu alle Situationen, in denen ich<br />
mich wie<strong>der</strong>finde, erlebe ich unter dem Eindruck<br />
<strong>der</strong> Beschäftigung mit diesen Gedanken. Das gefällt<br />
mir übrigens generell sehr an <strong>der</strong> Theaterarbeit: die<br />
Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum probend<br />
und suchend mit einem so starken literarischen<br />
Gegenüber beschäftigen zu können. Das ist im Filmgeschäft,<br />
in dem ich in den letzten Jahren vorwiegend<br />
unterwegs war, kaum denkbar. Du fragst, wem man<br />
hier begegnen wird …<br />
156
AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KELLERLOCH<br />
Schauspiel<br />
ab 20. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 58 _______________ www.ruhr3.com/kellerloch<br />
157
… ja, ob die Generation, <strong>der</strong> dieser Charakter angehört,<br />
auch noch in unsere Tage ragt, obgleich <strong>der</strong> Text mehr<br />
als 150 Jahre alt ist?<br />
NH Absolut. Dieser Mensch, <strong>der</strong> hier spricht, wird<br />
notwendigerweise auftauchen, solange es uns Menschen<br />
noch gibt. Denn die Grundessenz des Textes<br />
thematisiert den Glauben, sich und alles, was einen<br />
umgibt, in den Griff bekommen zu können. Aber wie<br />
es aussieht – und das führt uns die Gegenwart gerade<br />
wie<strong>der</strong> eindrücklich vor Augen –, gelingt dies dem<br />
Menschen nicht. Immer, wenn er denkt, dass er sich<br />
»manierlich« verhält, und meint, alles durchdrungen zu<br />
haben, schießt doch wie<strong>der</strong> ein Begehren quer, etwas<br />
Irrationales, mitunter Zerstörerisches. Sei es auch nur<br />
das, alles kaputtschlagen zu wollen, um es wie<strong>der</strong> aufbauen<br />
zu können. Es bricht sich ein Wollen Bahn, das<br />
keiner Logik folgt. Offenbar geht es dem Menschen<br />
nicht um das Erreichen eines Ziels, son<strong>der</strong>n um das<br />
fortwährende Streben danach.<br />
DER TEXT RÜTTELT<br />
AN GEWISSHEITEN,<br />
IN DENEN ICH<br />
BISHER GANZ GUT<br />
GELEBT HABE.<br />
Der Mensch, heißt es, grenze sich vom Tier ab durch<br />
seinen freien Willen. Dieses freien Willens versichert er<br />
sich durch die Negation. Er kann sich gegen sein eigenes<br />
Interesse, gegen alle Vernunft, gegen die Natur gesetze<br />
stellen. Er macht davon Gebrauch, allein, weil er es kann.<br />
Dies tut auch die hier erzählende Person.<br />
Barbara Frey Das ist das dunkle Zentrum des Textes.<br />
Dostojewskis Protagonist formuliert einen vehementen<br />
Protest gegen das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung, das<br />
bis heute unser westliches Selbstverständnis prägt.<br />
Es macht uns vor, dass <strong>der</strong> Mensch sich fortschreitend<br />
zu einem edleren und guten Wesen entwickelt,<br />
wenn er sich denn nur endlich selbst verstanden hat.<br />
Er versteht sich aber nicht und wird sich nie verstehen.<br />
Darin liegt eine tiefe Kränkung. Dieser rätselhaften<br />
Natur des Menschen spüren wir im diesjährigen<br />
Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> nach. Keine Psychoanalyse,<br />
keine kritische Theorie, keine Philosophie und<br />
keine Naturwissenschaft hat uns bisher letztgültigen<br />
Aufschluss darüber geben können. Das benennt die<br />
Ich-Figur in Dostojewskis Text, und wir erleben das<br />
als Provokation. Heiner Müller hat einmal einen Gedanken<br />
Dostojewkis fortsetzend formuliert: Das eigentliche<br />
Problem sei, dass es überall Lösungen gibt.<br />
Wir hätten nicht zu viele Probleme, son<strong>der</strong>n zu viele<br />
Lösungen. Lösungen suggerieren uns ein Wissen, das<br />
wir nicht haben o<strong>der</strong> nutzen, sonst würden wir nicht<br />
unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.<br />
Ist das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung gescheitert?<br />
NH Können wir das überhaupt denken? Dieser Charakter<br />
ringt zumindest um Wahrhaftigkeit und daher<br />
richtet sich sein vehementer Protest gegen unser<br />
Selbstverständnis, dass alles immer besser wird, dass<br />
man das Schlechte hinter sich lassen kann. Unsere<br />
Rechtsprechung, unser Bildungssystem, unser humanistisches<br />
Weltbild baut darauf auf.<br />
BF Das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung steckt als Motor in all<br />
unserem Streben, auch das Vertrauen in die Vernunft,<br />
die Verstandeskraft. Aber das ist ja gerade das Faszinierende<br />
an dem Text. Er fragt, warum denn die Welt so<br />
aussieht, wie sie aussieht. Was gelingt <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
nicht? Woran scheitert sie? Wieso wird <strong>der</strong> Mensch<br />
nicht edel? Wieso führen wir noch immer Kriege? Wieso<br />
verhalten wir uns so grausam zueinan<strong>der</strong>? Durch<br />
die Penetranz des Fragens entsteht auch eine Komik,<br />
die mir an diesem Text sehr gefällt und die mich sofort<br />
an Nina Hoss denken ließ. Es braucht einen Kopf wie<br />
sie, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, alle Facetten dieses Gedankenstroms<br />
zum Leuchten zu bringen und den Witz darin<br />
aufzuspüren. Nina ist eine große Komikerin. Das mag all<br />
diejenigen überraschen, die sie nur aus den Kinofilmen<br />
kennen. Da spielt sie eher die dunklen, ernsten Rollen.<br />
NH Man verfängt sich tatsächlich in diesem Text wie<br />
in einem Spinnennetz. Das führt zu mancher Situationskomik,<br />
denn aus <strong>der</strong> Verstricktheit, Teil dessen<br />
zu sein, was man da gerade anklagt, führt kein Ausweg.<br />
Da veräußert jemand sein Denken im Moment,<br />
den Prozess, die Abschweifungen, behauptet aber,<br />
alles und jedes Detail vorausgedacht zu haben. Zu<br />
erkennen ist eine große Lust dieser Figur am Formulieren,<br />
die Freude an sprachlicher Schönheit, an <strong>der</strong><br />
Suche nach dem immer noch treffen<strong>der</strong>en Ausdruck.<br />
Das trägt sie mitunter auch aus <strong>der</strong> Spur, führt zu Wi<strong>der</strong>sprüchen.<br />
Dieser Monolog, diese Selbstbefragung<br />
ist sehr vital. Darum empfinde ich den Text nicht als<br />
deprimierend, auch wenn er dem Menschen wenig<br />
Schmeichelhaftes attestiert.<br />
BF Ich empfinde die Figur auch als listig, sie hat<br />
Freude an Täuschungsmanövern, am Spiel, die Sätze<br />
schlagen Haken, verwinkeln sich, entwickeln eine<br />
Freude am künstlerisch-literarischen Ausdruck und an<br />
<strong>der</strong> Behauptungskraft <strong>der</strong> Sprache. Dadurch dass sich<br />
die Figur gegen die Formel 2+2=4 auflehnt, beweist sie<br />
sich, dass sie existiert, sie konstituiert darüber ihr Ich.<br />
Daher lese ich die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch<br />
auch als Manifest des Lebenswillens.<br />
NH Letztlich ist dies auch ein Text über die Genese<br />
von Kunst. Wieviel Zweifel müssen ausgeräumt werden,<br />
um in die Tat zu kommen? Am Ende sagt die Figur, die<br />
sich ihrer Untätigkeit bezichtigt, sie mache sich jetzt<br />
ans Schreiben. Darin sieht sie offenbar eine Chance.<br />
Sie bringt ihr Denken in Form. Und darin erkennt man<br />
auch ihre Angewiesenheit auf Begegnung, durch die<br />
sich allein die Form überprüfen lässt. Sie hat sich<br />
– so behauptet sie – bewusst von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
abgekehrt, vom tätigen Leben, zurückgezogen in ein<br />
Kellerloch, aber in dem Versuch, die eigene Klage zu<br />
begreifen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein,<br />
liegt eben auch eine Form <strong>der</strong> Tätigkeit.<br />
158
Ich sehe hier die kathartische Methode <strong>der</strong> Kunst, den<br />
Menschen das Unglück bewusst zu machen und ihnen<br />
ihre Scheinbefriedigungen zu nehmen. Das Kellerloch<br />
im Titel, das du eben erwähntest, bezeichnet sowohl<br />
den randständigen Rückzugsort vor <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
als auch das Unbewusste, Verdrängte (auch wenn Freud<br />
erst später auftauchen sollte). Unser Kellerloch befindet<br />
sich auf <strong>der</strong> obersten Ebene <strong>der</strong> Mischanlage auf Zeche<br />
Zollverein. Warum dieser Ort?<br />
WIR STEHEN IN DER<br />
MISCHANLAGE IN<br />
EINEM AUSGETRÄUMTEN<br />
TRAUM<br />
BF Wir ziehen hier in ein Gebäude ein, das seine Bestimmung<br />
verloren hat. Die Räumlichkeiten gibt es nur noch<br />
deshalb, weil sie unter Denkmalschutz gestellt wurden.<br />
Das, wofür sie ursprünglich gebaut wurden, geschieht<br />
dort nicht mehr. Die Sinnentleerung ist körperlich erfahrbar.<br />
In dieses Vakuum stößt <strong>der</strong> Text, <strong>der</strong> die Leere<br />
mit Gedanken füllt. Gedanken, die den positivistischen<br />
Fortschrittsglauben an die Entwicklung <strong>der</strong> Technik, die<br />
Beherrschbarkeit <strong>der</strong> Natur, die Aufklärung des Menschen<br />
schon Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts infrage gestellt<br />
hatten. Der Text hat recht behalten. Wir stehen in <strong>der</strong><br />
Mischanlage in einem ausgeträumten Traum und werden<br />
gewahr, dass <strong>der</strong> Fortschritt vor allem Zerstörung<br />
bedeutet hat. Mir gefällt natürlich, dass diese Räumlichkeiten<br />
noch zu uns sprechen. Man meint, die Stimmen<br />
<strong>der</strong>er zu hören, die dort gearbeitet und gelitten haben.<br />
Die Vision von damals ist ebenso präsent wie unser heutiges<br />
Bewusstsein, das diese Vision umbewertet. Diese<br />
Reibung ist wertvoll für die Kunst.<br />
NH Kunst vermag die Dinge und den Menschen zu akzeptieren<br />
und zu zeigen, wie sie sind. Sie bewertet nicht,<br />
sucht keine Antworten, sie weist nicht zurecht. Das ist<br />
herausfor<strong>der</strong>nd. Sie zwingt einen, sich selber in die Fratze<br />
zu blicken, schonungslos, ohne Trost. Das for<strong>der</strong>t<br />
das eigene Denken heraus beim Lesen, Zuhören und<br />
Zuschauen. Sie verunsichert produktiv die bequemen<br />
Gewissheiten. Ich empfinde daher diesen Text auch als<br />
ungeheuer befreiend. Da spricht jemand Ungeheuerliches<br />
aus, Enttäuschendes, aber Wahres. Deshalb ist die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ihm auch so intensiv und treibt<br />
mich gegenwärtig noch in den Wahnsinn.<br />
Die Übersetzerin Swetlana Geier stellte in ihrer jahrzehntelangen<br />
Beschäftigung mit Dostojewski fest, dass bei<br />
ihm kein Wort überflüssig sei, dass je<strong>der</strong> Satz, jede Wie<strong>der</strong>holung,<br />
die Feinnervigkeit <strong>der</strong> Syntax einer brillanten<br />
Rhetorik geschuldet sind. Nina, wie begegnet dir seine<br />
Sprache?<br />
NH Wollüstig! Da hört sich jemand selbst leidenschaftlich<br />
gerne zu, jemand, <strong>der</strong> um seine Fähigkeit<br />
weiß, die Worte so schön zusammenzusetzen. Das ist<br />
natürlich auch sehr theatral.<br />
BF Die Wollust zeigt sich in dem Spaß, immer noch<br />
ein weiteres Argument zu finden gegen das vermeintlich<br />
helle Gebäude <strong>der</strong> Aufklärung. Dieses hatte sich<br />
ja zur Entstehungszeit <strong>der</strong> Aufzeichnungen aus dem<br />
Kellerloch tatsächlich in Gestalt des Kristallpalastes<br />
bei <strong>der</strong> Weltausstellung in London materialisiert.<br />
Gegen diese Vortäuschung <strong>der</strong> Transparenz wütet die<br />
hier sprechende Figur. Ihre Argumentation ließe sich<br />
übrigens ohne weiteres auch gegen die heutigen gläsernen<br />
Konzern- und Parlamentsgebäude anführen.<br />
Sie freut sich daran, schamlos zu übertreiben. Dieses<br />
Wüten ist geradezu manisch. Aber in dem Exzess<br />
steckt <strong>der</strong> Wille zur Kenntlichmachung.<br />
NH Dieser Furor hat auch eine Erotik und Verführungslust,<br />
dem an<strong>der</strong>en sein Spielzeug kaputt zu<br />
machen. In <strong>der</strong> Vehemenz und zuweilen Ungerechtigkeit<br />
findet sich die Komik, aber auch darin, dass hier<br />
jemand behauptet, alles unter Kontrolle zu haben,<br />
während er davon spricht, dass diese Behauptung<br />
<strong>der</strong> Menschheitsirrtum ist.<br />
Die Ich-Figur ist bei Dostojewski eine männliche. Was<br />
wi<strong>der</strong>fährt dem Text, wenn er von einer Frau gesprochen<br />
wird?<br />
BF Mir gefällt die Vorstellung einer weiblichen Stimme<br />
in dieser männlich geprägten Industriekultur,<br />
die Mischung aus <strong>der</strong> klirrenden geistigen Kälte des<br />
Dostojewski-Texts und dem Charme von Nina Hoss.<br />
An einem solchen Ort gehen einem viele Dinge durch<br />
den Kopf, auch sehr düstere. Als Frau nimmt man<br />
womöglich an<strong>der</strong>s wahr, aber – vor allem – man wird<br />
an<strong>der</strong>s wahrgenommen. Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran,<br />
dass die hier vorgetragenen Gedanken universell<br />
sind und sich nicht an ein Geschlecht binden.<br />
NH Vielleicht ist es noch immer überraschend, dass<br />
eine Frau so spricht und sich diesen Raum nimmt,<br />
mit scheinbar großer Selbstgewissheit über Grundsätzliches<br />
zu reden. Ich gebe zu, eine solche Haltung<br />
auszuleben, macht auch großen Spaß.<br />
NINA HOSS, geboren 1975 in Stuttgart, ist eine vielfach ausgezeichnete, international tätige Film- und<br />
Theater schauspielerin. Das Gespräch wurde im Februar <strong>2023</strong> geführt, in den Studios am Hansaplatz<br />
in Berlin, in denen die Proben stattfanden. Wenige Tage später wurde auf <strong>der</strong> Berlinale <strong>der</strong> jüngste Film<br />
mit ihr, Todd Fields vielfach preisgekröntes Musikdrama Tár, im Wettbewerb gezeigt. Mit <strong>der</strong> Festivalintendantin<br />
und Regisseurin BARBARA FREY verbindet sie eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit,<br />
die 2005 am Deutschen Theater Berlin begann und sich am Schauspielhaus Zürich fortsetzte.<br />
JUDITH GERSTENBERG ist leitende Dramaturgin für Schauspiel, Tanz und Performance an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Foto: Pascal Buenning<br />
159
HOMBRE<br />
MODELO<br />
REFLEXIONEN ZU VORBILDERN<br />
VON MÄNNLICHKEIT<br />
LA POSIBILIDAD DE LA TERNURA /<br />
DIE MÖGLICHKEIT VON ZÄRTLICHKEIT<br />
Schauspiel<br />
ab 14. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/ternura<br />
160
Abschlußfoto <strong>der</strong> Workshopphase, Januar <strong>2023</strong> Santiago de Chile<br />
161
Wie kaum ein an<strong>der</strong>es soziales Konstrukt ist »Männlichkeit« zu einem Kampfplatz zwischen<br />
Bewahrung von konservativen Vorstellungen und Vorherrschaften sowie kritisch emanzipierten<br />
Infragestellungen geworden, <strong>der</strong> ein Nachdenken darüber an den Rand <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />
gebracht hat. Doch was bedeutet Männlichkeit heute und mit welchen Vorbil<strong>der</strong>n –<br />
zum Nach ahmen o<strong>der</strong> Angreifen – wachsen Jugendliche heute auf? Für das Projekt von Marco<br />
Layera und La Re-sentida La posibilidad de la ternura wurden in einem halbjährigen Prozess<br />
in Santiago de Chile Workshops mit verschiedenen männlich gelesenen Jugendlichen<br />
mit unterschiedlichen sozialen Herkünften durchgeführt. Dabei fiel auf, wie schnell sich<br />
geeinigt wurde, wenn es darum ging, das toxische, maskuline, patriarchale Negativbild von<br />
Männlichkeit zu beschreiben, und wie schwer es im Gegenzug ist, ein positives Bild zu<br />
skizzieren. Wir veröffentlichen hier einige <strong>der</strong> Antworten auf die Frage:<br />
»Welchen Mann in deinem Leben würdest du als positives Modell für dein Bild von Männlichkeit<br />
beschreiben?«<br />
Matías<br />
José Araya, mein Theaterlehrer. Von ihm habe ich viel<br />
gelernt. Er ist ein sehr spiritueller Mensch, <strong>der</strong> stark<br />
mit <strong>der</strong> Natur verbunden ist. José ist eine Person, die<br />
nicht auf Kämpfe aus ist, und dafür bewun<strong>der</strong>e ich<br />
ihn sehr. Er ist ein Mensch, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> Seele<br />
an<strong>der</strong>er verbindet, er sucht stets das Gespräch und<br />
ist sich bewusst, dass es auf <strong>der</strong> Welt nicht nur Menschen<br />
gibt, son<strong>der</strong>n viele an<strong>der</strong>e Lebewesen, die ihr<br />
Leben gelassen haben, damit wir hier sein können,<br />
und wir deshalb <strong>der</strong> Natur dankbar sein müssen.<br />
Marcos<br />
Ein Vorbild für mich ist Paolo, <strong>der</strong> Freund meiner<br />
Mutter. In letzter Zeit hat er mir viel beigebracht. Es<br />
ist unglaublich, wie jemand, <strong>der</strong> dich kaum kennt,<br />
so viel Ruhe in dein Leben bringen kann. Paolo versucht<br />
immer, die Dinge ruhig anzugehen und dabei<br />
an das Wohl aller zu denken, auch wenn ich denke,<br />
dass ihm diese Anstrengung manchmal zu schaffen<br />
macht. Ich möchte ein Mensch sein, <strong>der</strong> innerlich so<br />
ruhig ist wie er.<br />
Dimitri<br />
Der Mann, <strong>der</strong> mich inspiriert hat, ist Fe<strong>der</strong>ico Moura:<br />
Er ist sensibel, ruhig, kann mit Emotionen umgehen,<br />
er spielt in zwei Bands, er respektiert seine Mitmenschen,<br />
er lebte schon in den 80er-Jahren offen seine<br />
Homosexualität und er schrieb ein Lied darüber: Sin<br />
disfraz (dt: Ohne Verkleidung). Er schreibt Gedichte und<br />
hat eine sozialistische Grundeinstellung. Er ist lei<strong>der</strong><br />
vor 24 Jahren an AIDS gestorben.<br />
Aukan<br />
Mein Bru<strong>der</strong> Alexis ist mir in vielerlei Hinsicht sehr<br />
ähnlich, wir teilen viele Schwächen, aber er hat es geschafft,<br />
sie zu überwinden. Alexis ist sehr ehrlich und<br />
hat kein Problem damit, dir die Wahrheit zu sagen, denn<br />
er nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine innere Logik<br />
ist beeindruckend: Er ist, was er sagt, und er macht,<br />
was er sagt. So will ich auch sein. Ich bewun<strong>der</strong>e ihn,<br />
seit ich klein war, als Kind war er mein Superheld.<br />
David<br />
Mein Vorbild ist mein Onkel Facundo. Ich bewun<strong>der</strong>e<br />
ihn, er wurde in einer armen Familie geboren, aber hat<br />
es dank harter Arbeit geschafft, ein Stipendium zu erhalten,<br />
um zu studieren. Er ist heute Informatiker, reist<br />
auf <strong>der</strong> ganzen Welt herum und lebt in Australien. Ich<br />
bewun<strong>der</strong>e ihn für alles, was er erreicht hat, und für<br />
seine schöne Beziehung zu seiner Partnerin. Er unternimmt<br />
viel, hat aber trotzdem immer Zeit für seine<br />
Freunde, liest und macht viel Sport. Obwohl er viel arbeitet,<br />
hat er Zeit, sich weiterzubilden. Facundo ist ein<br />
sehr toller und beson<strong>der</strong>er Mensch. Er ist wirklich eine<br />
Person, von <strong>der</strong> ich sagen kann: Ich wäre gern wie er.<br />
Daniel<br />
Ich habe mich für Mauricio entschieden, den Zwillingsbru<strong>der</strong><br />
meines Vaters. Ich finde, dass mein Onkel<br />
ein Beispiel für Standhaftigkeit und Mut ist, weil er<br />
Teil <strong>der</strong> LGBTQ+-Community ist, dies aber lange Zeit<br />
nicht offen gelebt hat und viel Schweres durchmachen<br />
musste. Trotzdem hat er es geschafft, zu sagen,<br />
wer er war und was er fühlte – auch gegenüber seinen<br />
Eltern, was zu seiner Zeit sehr schwer war. Außerdem<br />
bewun<strong>der</strong>e ich ihn für sein Wissen, er hat so<br />
viele Wissenfel<strong>der</strong>: Gärtnern, zeitgenössischen Tanz,<br />
Landschaftsbau … Ich wusste seine Aufmerksamkeit<br />
immer zu schätzen, die er mir als Kind schenkte. Er<br />
ging mit mir Kleidung kaufen o<strong>der</strong> nahm mich mit zu<br />
kulturellen Veranstaltungen, einfach nur, um Zeit mit<br />
mir zu verbringen – etwas, das mein Vater nie wirklich<br />
gemacht hat. Und Maurico arbeitet viel an sich selbst,<br />
meditiert und reflektiert. Eine solche Entwicklung <strong>der</strong><br />
Persönlichkeit hätte ich auch gern.<br />
Camilo<br />
Als Beispiele kann ich nur Frauen nennen. Denn ich<br />
habe nach wie vor das Gefühl, dass Frauen viel freier<br />
sind als Männer in <strong>der</strong> Art und Weise, wie sie sich<br />
ausdrücken, wie sie denken und wie sie mit Kin<strong>der</strong>n<br />
umgehen.<br />
162
Efraín<br />
Er heißt Moises. Moises arbeitet als Arzt und ist stets<br />
bemüht um unsere Gesundheit. Ich habe ihn seit einer<br />
Weile nicht mehr gesehen, aber ich bewun<strong>der</strong>e ihn für<br />
seine Fähigkeit, so viele Dinge zu tun, ohne gestresst<br />
zu sein und ohne zu vergessen, wo er herkommt. Er<br />
liebt seine Familie und das ist es, was ich am meisten<br />
an ihm bewun<strong>der</strong>e. Vor kurzem hat er meine Großmutter<br />
auf eine Reise in den Süden Chiles mitgenommen,<br />
sie war noch nie dort gewesen und diese Reise hat ihr<br />
sehr viel Lebensfreude gegeben. Ich würde ihn gerne<br />
nochmal wie<strong>der</strong>sehen, um ihm zu gratulieren für das,<br />
was er verän<strong>der</strong>t hat, und ihm für alles danken.<br />
Thormo<br />
Die Person, die ich ausgewählt habe, steht mir nicht<br />
mehr sehr nahe, aber ich habe mich für ihn entschieden,<br />
weil er mir sehr dabei geholfen hat, mit meiner<br />
Sexualität ins Reine zu kommen. Er hat mir dabei geholfen,<br />
zu erkennen, dass ich nicht alleine bin. Er war<br />
die erste Person, bei <strong>der</strong> ich wirklich das Gefühl hatte,<br />
gehört zu werden, und obwohl wir uns jetzt nicht mehr<br />
sehen und so gut verstehen, werde ich ihm immer<br />
dankbar sein, weil er <strong>der</strong> erste Mensch war, für den<br />
ich Gefühle hatte, und er mir sehr dabei geholfen hat,<br />
meine Persönlichkeit zu entwickeln und <strong>der</strong> Mensch<br />
zu werden, <strong>der</strong> ich heute bin.<br />
Aljoscha<br />
Mein männliches Vorbild ist mein Freund Rodrigo.<br />
Ich würde nicht sagen, dass ich so sein will wie er,<br />
weil er das genaue Gegenteil von mir ist, aber ich<br />
bewun<strong>der</strong>e ihn, weil er sehr in <strong>der</strong> Gegenwart lebt,<br />
offen für alle Menschen und ihre Probleme ist. Er ist<br />
sehr ausgeglichen und doch sehr emotional und gefühlvoll.<br />
Er hat immer Zeit, plant kaum o<strong>der</strong> organisiert<br />
etwas im Voraus.<br />
Kath<br />
Ich bin auf dem Land groß geworden, in einem sehr familiären,<br />
aber sexistischen Umfeld. Aber es gab einen<br />
Menschen, <strong>der</strong> mit allen Vorstellungen von Männlichkeit<br />
gebrochen hat. Dank ihm habe ich verstanden,<br />
dass es keine Dinge gibt, die nur Frauen machen,<br />
und Dinge, die nur Männer machen. Denn er war es,<br />
<strong>der</strong> früh aufstand, einkaufen ging, um das Frühstück<br />
und Mittag zuzubereiten, er zog seine Schürze an und<br />
kochte wie ein Gott. Er war sehr sensibel und liebevoll:<br />
mein Großvater.<br />
Nino<br />
Mein Vorbild ist mein großer Bru<strong>der</strong> Alejandro. Er ist<br />
<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> mir Kunst und Kultur nähergebracht hat.<br />
Heute ist er Ingenieur und Vater von zwei Töchtern –<br />
eine ist nicht von ihm, aber er kümmert sich um sie, als<br />
wäre sie seine eigene. Er ergreift oft Initiative, ist immer<br />
für die Familie da und eine verlässliche Stütze für uns.<br />
Alejandro legt viel Wert auf gute Kommunikation und<br />
er ist <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> die Familie zusammenbringt. Er hat<br />
mir beigebracht, niemals in den Alltagstrott zu verfallen<br />
und immer offen zu sein für neue Erfahrungen. Im<br />
Gegensatz zu meinem Vater hat er meine Bedürfnisse<br />
erfüllt, hat Fragen gestellt und nach meinen Interessen<br />
geforscht. Das habe ich immer gespürt und war<br />
ihm dafür schon immer dankbar. Er hat es immer geschafft,<br />
seine Liebe und Fürsorge zu zeigen. Und er ist<br />
immer für mich da, wenn ich ihn brauche.<br />
Leftraro<br />
Früher war ich selbst mein Vorbild, weil ich immer<br />
gern spielte, Dinge herausfand, dazulernte … Das<br />
hat mir dabei geholfen, ich selbst zu sein. Aber eines<br />
Tages kam mein kleiner Bru<strong>der</strong>; ich sah ihn an und<br />
wusste, dass er für immer eine große Hilfe sein würde.<br />
Während wir zusammen aufwuchsen, habe ich viel<br />
von ihm gelernt, obwohl er viel jünger ist als ich. Er ist<br />
intelligent, viel intelligenter als ich, und für mich ein<br />
gutes Vorbild. Ich habe ihn sehr lieb, denn er hat so<br />
viel Gutes in sich und ich möchte all das herausholen.<br />
Aus dem Spanischen von Ina Reichardt<br />
Foto: Teatro La Re-sentida<br />
163
NACHT<br />
UND LICHT<br />
VON SANDRA LUCBERT<br />
EXTRA LIFE<br />
Schauspiel / Tanz<br />
ab 16. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 26 _______________ www.ruhr3.com/life<br />
164
Gisèle Vienne<br />
12. Februar <strong>2023</strong><br />
Wie schafft es <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> als einzige unter den<br />
Arten über keine instinktive Verdrahtung verfügt, konsistent<br />
zu existieren, also zu konsistieren? Durch an<strong>der</strong>e<br />
Menschen nämlich – und zwar vor allem in seinen ersten<br />
Jahren, in denen das Problem sehr einfach ist: Hilfe o<strong>der</strong><br />
Sterben. Was wird nun aber aus einem Menschen, <strong>der</strong> anstelle<br />
konstituieren<strong>der</strong> Bekanntschaften zu früh eine zu<br />
schlechte Bekanntschaft macht? Das heißt eine Bekanntschaft,<br />
die diesen Menschen dazu führt, zu de-konstituieren,<br />
obwohl sein psychischer und körperlicher Halt noch<br />
umstritten ist?<br />
Was wird aus <strong>der</strong> Körper-Psyche-Konstitution eines<br />
Kindes, das von einem:r an<strong>der</strong>en verletzt wird, die:<strong>der</strong><br />
für seine Stärkung zuständig sein sollte?<br />
Dieser Körper wächst, freilich mit jenem Bruch, den man –<br />
ein familiäres man – in ihn hineingelegt hat. Eine hieroglyphische<br />
Erfahrung hat ihn gezeichnet, die er viel<br />
später entziffern wird – und dabei wird er seine schreckliche<br />
Pulverisierungskraft freisetzen. Hieroglyphisch:<br />
Die ersten Erfahrungen hängen von den Benennungen<br />
ab, die die Erwachsenen, die als Vermittlungsinstanzen<br />
des sozialen Körpers agieren, ihnen verleihen. Die Aussagen,<br />
die für sich beanspruchen, den Inzest zu bezeichnen,<br />
sind in Wirklichkeit ein Hin<strong>der</strong>nis für den Sinn. Sie<br />
benennen nichts an<strong>der</strong>es als die Verwischung dessen,<br />
was sie zu erfassen vortäuschen.<br />
Zunächst sagt »Onkel Bernhard« zu dir: »Gerade vergewaltige<br />
ich dich nicht, gerade bin ich voller Verständnis<br />
für dich.« 1 Einstellung und Entstellung vermischt:<br />
1 Kursiv gedruckte Zitate mit Anführungszeichen sind dem Stück von Gisèle Vienne entnommen.<br />
165
Lähmung deiner Reaktionsfähigkeit. Später dann, als<br />
Erwachsener, überbietet man – ein soziales man – das<br />
Ganze noch: »Inzest ist das Hauptverbot, das darf nicht<br />
geschehen«. Der soziale Körper verrenkt sich, damit er<br />
seinen Zivilisationspunkt aufbewahren kann, allerdings<br />
um den Preis einer Verleugnung, die dich schließlich in<br />
den symbolischen Limbus treibt. Claude Lévi-Strauss gibt<br />
einem in <strong>der</strong> Tat folgende Versicherung: »Dieses Verbot<br />
ist die Grundlage <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaften, die<br />
absolute Ächtung – auch wenn <strong>der</strong> Inzest sich immer und<br />
überall wie<strong>der</strong> ereignet.« 2<br />
Clara und ihr Bru<strong>der</strong> Felix machten als Kin<strong>der</strong> die<br />
schlechte Bekanntschaft von Onkel Bernhard. Sie wissen<br />
nun, dass er sie vergewaltigt hat, aber sie sind noch<br />
nicht über den Berg. Damit sie sich dem entziehen können,<br />
was sie innerlich zerreißt, müssen sie den Inzest erarbeiten.<br />
Sich also zunächst aus den Einstellungen und<br />
Entstellungen herausziehen. Und dann: sich einen an<strong>der</strong>en<br />
Bedeutungsanker suchen. Entgegen den falschen<br />
o<strong>der</strong> allzu zweideutigen Veridiktionen, in denen sie eingesperrt<br />
sind.<br />
Das Stück beginnt mit dem symbolischen Nicht-Ort, an<br />
dem Inzestopfer gefangen sind. »In the outer space«,<br />
wie Clara und Felix aus dem schwarzen stillstehenden<br />
Auto heraus sagen, in dem sie sitzen – dicht umnebelt.<br />
Nacht o<strong>der</strong> Morgengrauen, man hat null Ahnung, wo man<br />
sich befindet, »a car park in a forest«, Fahrzeug ohne<br />
Kennzeichen: lauter Unbestimmtheit – die beiden jungen<br />
Leute gehören vorerst nicht zu den strukturierenden<br />
Signifikanten des sozialen Körpers. Eine Radiosendung<br />
bestätigt diese unermüdliche Arbeit <strong>der</strong> symbolischen<br />
Verzerrung, <strong>der</strong> sie sich gegenübersehen, eine Verzerrung,<br />
die mit einer Verlagerung beginnt: Dort, wo man<br />
die Wirklichkeit aussprechen sollte, werden wir an einen<br />
fantastischen Ort versetzt. Dort ist von Aliens die Rede,<br />
die nachts in Kin<strong>der</strong>zimmer eindringen – immer wie<strong>der</strong>.<br />
Zeugenaus sagen und Expert:innen schließen das entstellende<br />
Interpretationssystem: Sie belegen, dass viele<br />
Menschen, Jungen o<strong>der</strong> Mädchen, schon im frühen Alter<br />
»Objekte sexueller Experimente« sind, aus denen man<br />
nur noch schließen kann, dass sie in den Bereich des<br />
Übernatürlichen gehören. Was sonst? Der Bru<strong>der</strong> und<br />
die Schwester kommentieren: »Nein, du wurdest nicht<br />
vergewaltigt, du wurdest von einer fliegenden Untertasse<br />
entführt« – zwischen Wut und Spott stellen sie nach<br />
und nach das neu dar, was die Radiosendung unkenntlich<br />
macht. Der Kampf wird immer deutlicher. Auf <strong>der</strong><br />
einen Seite das Bestreben des sozialen Körpers, auf die<br />
Außer-Irdischen das zu projizieren, was ihn selbst auszeichnet;<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite das Bestreben <strong>der</strong> Opfer<br />
des Inzests, diese Erfahrung an ihren Platz zu bringen,<br />
ihnen wie<strong>der</strong> Konturen zu verleihen – sie denkbar zu<br />
machen. Und überwindbar.<br />
Es ist ein erschwertes Fortschreiten, das man in den verlangsamten<br />
Bewegungen <strong>der</strong> beiden Protagonist:innen<br />
spürt, die wie in einem ewigen Albtraum gefangen sind.<br />
Eine Beharrlichkeit, die lange Zeit ein und dieselbe Sackgasse<br />
durchschreitet und in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung stecken<br />
bleibt. Das Bemühen, sich ihr zu entziehen, findet mangels<br />
geeigneter Mittel zunächst keinen an<strong>der</strong>en Ausweg,<br />
als die traumatische Szene erneut zu spielen – in verlagerten<br />
Formen. Clara isst ununterbrochen, Felix versucht,<br />
dem zyklischen Wechsel von Drogensucht und Entzug<br />
zu entkommen. Ablenkungsintensitäten, um nicht in den<br />
Abgrund zu stürzen, <strong>der</strong> sich durch das Aufbrechen des<br />
Sinnblocks auftut: Der soziale Signifikant, den sich das<br />
Inzestopfer zu eigen gemacht hat (wie viel auch immer<br />
es davon hat), sagt etwas, das im krassen Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu seinen Affekten steht. Der Sinn zerbricht an <strong>der</strong> Diskrepanz<br />
zwischen seinen beiden Komponenten, dem<br />
Signifikanten und dem Affekt – obwohl die Übereinstimmung<br />
bei<strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lich ist, damit <strong>der</strong> Sinn symptomfrei<br />
angeeignet wird. Ein in sich unstimmiger Sinn: ständige<br />
Abschwächung – und panisches Füllen <strong>der</strong> Lücke. Eine<br />
dritte Figur, eine Doppelgängerin von Clara, ebenfalls in<br />
Jogginghose und goldenem Trikot, eine anonyme Frau mit<br />
Baseballkappe, verräumlicht ihre psychischen Zustände,<br />
und zwar zuallererst durch diesen Wie<strong>der</strong>holungszwang.<br />
Wie bei Freud wird durch diese Figur die doppelte Natur<br />
dieses Zwangs deutlich: »die traumatische Spur des<br />
traumatischen Ereignisses bis zur Übelkeit immer wie<strong>der</strong><br />
aufsuchen, sowohl weil man ihr nicht entfliehen kann, als<br />
auch, weil man unermüdlich versucht, die Oberhand über<br />
sie zu gewinnen«. 3<br />
WIE LÄSST SICH EINE<br />
WIEDERHOLUNG<br />
IN EINE VERSCHIEBUNG<br />
VERWANDELN?<br />
Dieser zweiten Clara, einer choreografierten Form ihrer<br />
Psyche, obliegt es, sich in einem von Lasern durchzogenen<br />
Raum zu bewegen: kategoriale Trennwände und normative<br />
Korridore – diese Unsichtbaren, die die Existenz in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft bestimmen, soll heißen: die menschliche<br />
Konsistenz bedingen. Die Strukturen des erlaubten Sinns<br />
bringen diesen dritten Körper, <strong>der</strong> nach vorne drängt, zu<br />
Fall. Wörtlich: Das Double verkörpert die traumatische<br />
Wie<strong>der</strong>holung. Die gleiche Sequenz wie<strong>der</strong>holt sich mehrere<br />
Male identisch. Von <strong>der</strong> Laserwand ins Gesicht geschlagen,<br />
die Mütze weit nach hinten geschleu<strong>der</strong>t, dreht<br />
es sich um, geht zurück, hebt seine Mütze auf, setzt sie<br />
wie<strong>der</strong> auf, richtet sich auf, geht weiter – und wie<strong>der</strong> die<br />
2 Dorothée Dussy, L’Inceste, berceau des dominations, Pocket, 2021.<br />
3 Sigmund Freud, Au-delà du principe de plaisir, Payot, 2010.<br />
166
Wand. Und wie<strong>der</strong>: Ohrfeige, Kappe, Rückkehr. Und wie<strong>der</strong>,<br />
und immer wie<strong>der</strong> – aber es ist beharrlich. Seine automatisierten<br />
Gesten sind die einer Konsistenz, die durch<br />
eine Verlassenheit gestört wird, und die intakt geblieben<br />
ist, weil sie noch nicht erarbeitet werden konnte. Seine<br />
Macht kommt von den eingebrochenen und durchdringenden<br />
Markierungen, die nie an Sinnsequenzen gebunden<br />
sind, <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Geist bemächtigen könnte, die<br />
ganz im Gegenteil dem Eigensinn <strong>der</strong> Entstellungen ausgeliefert<br />
sind.<br />
Im Stück bekommen sie allmählich ein Gesicht und<br />
eine Stimme: eine Angst einflößende Puppe, die auf<br />
dem Rücksitz des Autos kichert. Der Bru<strong>der</strong> und die<br />
Schwester geben sich dabei eine gemeinsame bildliche<br />
Vorstellung des Inzests – bis sie ihn vollständig in das<br />
Verständliche und Sagbare zurückgeführt haben. Felix<br />
nennt sie Frankie. Aus Clara kommt ihre Stimme: anfangs<br />
die Stimme aus dem Zeichentrickfilm, den sie als<br />
Kin<strong>der</strong> zusammen schauten. Und nach und nach nimmt<br />
Frankie Gestalt an – eine in sich wi<strong>der</strong>sprüchliche: Zur<br />
süßen Stimme gesellt sich ein grinsendes Gesicht – bis<br />
zur finalen Auflösung in eine schrille und allgemeine<br />
Grausamkeit. Felix brüllt, um sie zum Schweigen zu bringen.<br />
Immer spricht sie durch Clara. Diese abscheuliche<br />
Puppe ist das Beharren <strong>der</strong> Erinnerung – und umso ungeheuerlicher,<br />
weil sie ohne passende Benennung bleibt.<br />
Wie lässt sich die Wie<strong>der</strong>holung in eine Verschiebung<br />
verwandeln? Gisèle Vienne führt die Form – Musik, Licht<br />
und Tanz – für diesen Weg vor, <strong>der</strong> aus Verän<strong>der</strong>ungen<br />
des physischen und psychischen Zustands besteht. Eine<br />
Durchquerung: von <strong>der</strong> Nacht ohne Anhaltspunkte bis<br />
zur Bildung neuer Verankerungen, die einzig den Eintritt<br />
in die Kriegsbereitschaft ermöglichen. Die Wie<strong>der</strong>eröffnung<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit, affektiert zu sein – das Heraustreten<br />
aus den abschwächenden Fixierungen –, ist ein<br />
Hochgefühl. Es zeigt sich in <strong>der</strong> Bewegungsfreiheit, die<br />
die <strong>der</strong> Selbstzerstörung entrissenen Körper allmählich<br />
wie<strong>der</strong>gewinnen.<br />
Konsistent zu existieren ist nur durch die an<strong>der</strong>en und<br />
mit ihnen möglich. Man kann aus dem Albtraum herauskommen,<br />
aber nicht aus dem Menschsein, <strong>der</strong> condition<br />
humaine. Genauer gesagt: Aus dem Albtraum wird man<br />
nur durch das richtig verstandene Menschsein herauskommen.<br />
Man braucht eine Untergruppe, von <strong>der</strong> aus man<br />
die Erfahrung, die ohne ein symbolisches Raster für ihre<br />
Erfassung nicht angeeignet werden kann und sich in eine<br />
Heimsuchung verwandelt, angemessen benennen kann.<br />
WENN MAN NICHT<br />
DIE RICHTIGEN<br />
ANDEREN HAT, MUSS<br />
MAN ANDERE<br />
ANDERE FINDEN.<br />
Wenn man nicht die richtigen An<strong>der</strong>en hat, muss man<br />
an<strong>der</strong>e An<strong>der</strong>e finden. Frankie taucht dort auf, wo <strong>der</strong><br />
soziale Körper ausweicht: ein sogenanntes Tabu, um<br />
das herum die Gesellschaft in Wahrheit unsagbare Kompromisse<br />
schließt. Gewöhnlich spiegeln die an<strong>der</strong>en die<br />
symbolische Ordnung – das, was sie sagt o<strong>der</strong> nicht sagt,<br />
das, was sie klarstellt o<strong>der</strong> verwirrt. Hier können die Gewöhnlich-An<strong>der</strong>en<br />
keinen Halt bieten: Sie tragen nur dazu<br />
bei, dass man tief in die Vorhölle absinkt. Aber es gibt<br />
immer noch Enklaven im sozialen Körper, Subräume, die<br />
die Bedeutungsabgrenzungen, die vom Kollektiv stabilisiert<br />
werden, nicht anerkennen. Bereiche, in denen sich<br />
Kollektive an<strong>der</strong>s gebildet und die Linien <strong>der</strong> Sinngebung<br />
an<strong>der</strong>s gezogen haben. Das sind die an<strong>der</strong>en An<strong>der</strong>en: die<br />
guten Bekanntschaften, mit und von denen aus man die<br />
unsichtbaren Trennwände nie<strong>der</strong> reißen und die Bewegung<br />
zurückbringen kann.<br />
SANDRA LUCBERT, geboren 1981 in Paris, studierte an <strong>der</strong> École normale supérieure und<br />
erlangte dort die Agregation in mo<strong>der</strong>ner Literatur. Sie absolvierte einen Master in<br />
psychoanaly tischen Studien in Paris VII. Ihre literarische Arbeit kreist um die Frage, wie<br />
Institutionen uns an Ort und Stelle halten – und unter ihnen insbeson<strong>der</strong>e die des Kapitalismus.<br />
Denn <strong>der</strong> Kapitalismus hält die Kontrolle nicht nur durch Gewalt, politischen<br />
und wirtschaftlichen Zwang aufrecht, er hält uns auch fest, indem er zu Impulsen aufruft,<br />
und dank imaginärer und sprachlicher Arbeit dessen, was Gramsci »Hegemonie« nennt.<br />
Als Grundlage für diesen Text besuchte Sandra Lucbert, eine Weggefährtin von Gisèle<br />
Vienne, eine szenische Probe von EXTRA LIFE.<br />
Aus dem Französischen von Clément Fradin<br />
Foto: Andrea Montano<br />
167
SLASHING<br />
ANTICIPATIONS<br />
TAMARA SAPHIR<br />
ÜBER DEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN<br />
TANZPROBEN UND SLASHERFILMEN<br />
THE VISITORS<br />
Tanz<br />
ab 9. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 50 _______________ www.ruhr3.com/visitors<br />
168
»Im Gegensatz zum linearen Schub <strong>der</strong> imperialen Zeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> unerbittlichen Wie<strong>der</strong>kehr<br />
<strong>der</strong> traumatischen Zeit, ist die Zeit <strong>der</strong> Verstrickung im Sinne Mbembes keine Serie,<br />
son<strong>der</strong>n eine Verstrickung von Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften, in <strong>der</strong>en<br />
Tiefen an<strong>der</strong>e Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte wohnen.«<br />
Debarati Sanyal, Critical Times (2019)<br />
Vor mehr als zehn Jahren begann Constanza Macras, in<br />
Südafrika mit Künstler:innen und Familien zu arbeiten. Im<br />
Laufe <strong>der</strong> Jahre haben wir bereits viele Geschichten und<br />
Erinnerungen miteinan<strong>der</strong> geteilt. Nachhaltig beeindruckend<br />
war die weit verbreitete Faszination für Teenie-<br />
Slasher-Horrorfilme. Daher beschlossen wir, gemeinsam<br />
ein Tanztheater in Johannesburg mit Bezügen zur Ästhetik<br />
und Handlung dieses Genres zu entwickeln.<br />
Falls Sie noch nie einen Slasher-Film gesehen haben<br />
(auch bekannt als Teen-Horrorfilm / Bodycount-Film):<br />
Hier werden Teenager:innen eine:r nach dem:r an<strong>der</strong>en<br />
von einem:r mysteriösen, psychopathischen, oft maskierten<br />
Killer:in getötet. Die bevorzugten Mordwaffen des:<strong>der</strong><br />
Killer:in sind Messer, Kettensäge o<strong>der</strong> auch stumpfe<br />
Gegenstände, aber selten Schusswaffen, daher auch <strong>der</strong><br />
Name des Genres: Slasher (dt: Aufschlitzer:in). Erwachsene<br />
sind während <strong>der</strong> Angriffe auf die Opfer oft abwesend<br />
o<strong>der</strong> hilflos. Klassische Slasher-Filme beginnen mit dem<br />
Mord an einer jungen Frau und enden mit einer einzigen<br />
Überlebenden, die es schafft, den Mör<strong>der</strong> zu überwältigen,<br />
dann aber feststellen muss, dass das Böse nicht<br />
vollständig besiegt wurde (wodurch <strong>der</strong> Film die Möglichkeit<br />
zur Fortsetzung erhält). Zu den amerikanischen<br />
Klassikern des Genres gehören The Texas Chainsaw<br />
Massacre (1974), Halloween (1978), Friday the 13th (1982),<br />
Candyman (1992) und Scream (1996).<br />
Der kanadische Kinokritiker Robin Wood sagt, Horror sei<br />
»vielleicht das progressivste (Filmgenre), selbst in seinem<br />
offenkundigen Nihilismus«. Diese Filme präsentieren oft<br />
unpopuläre Ansichten, die sich mit sozialen, rassistischen<br />
o<strong>der</strong> sexuellen Ungerechtigkeiten befassen. Auch Politik<br />
und Religion sind auftauchende Themen. Slasher-Filme<br />
»führen keine falsche Harmonie vor; sie för<strong>der</strong>n nicht das<br />
scheinbar Gute«, son<strong>der</strong>n stellen es vielmehr bloß und<br />
greifen es an. Sie bedienen nicht die Mechanismen von<br />
Identifikation und narrativer Kontinuität aus <strong>der</strong> Mainstream-Kultur<br />
und doch ist die Popularität dieses Genres<br />
ungebrochen.<br />
Die Wie<strong>der</strong>kehr des Vergangenen<br />
»Die Vergangenheit wird zurückkehren und dich in<br />
den Arsch beißen. Was immer du über die Vergangenheit<br />
zu wissen glaubst, vergiss es. Die Vergangenheit<br />
ruht nicht!«<br />
Regel Nr. 3 über Slasher-Filme, Dialog aus Scream 3<br />
von Wes Craven, 2000.<br />
Es gibt auffällige Parallelen zwischen dem Slasher-Movie-Genre<br />
und (post-)kolonialen Strukturen in <strong>der</strong> heutigen<br />
Gesellschaft Südafrikas. Die feministische Filmtheoretikerin<br />
Vera Dike betont den ähnlichen Mechanismus <strong>der</strong><br />
Markierung des An<strong>der</strong>sseins: Verbrechen in Slasher-Filmen<br />
erfolgen oft auf <strong>der</strong> Grundlage einer abwertenden<br />
Beurteilung des Opfers – sei es in Form von Kritik an den<br />
moralischen Standards <strong>der</strong> gejagten Teenager:innen (z. B.<br />
ihrer sexuellen Aktivitäten) o<strong>der</strong> aufgrund rassistischer<br />
Vorurteile. Außerdem gibt es immer eine starke Verbindung<br />
zwischen den Schrecken <strong>der</strong> Gegenwart und denen<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit. Die Gewalt in diesen Filmen ist weniger<br />
das Resultat einer Aktion, die aus dem Nichts im<br />
Hier und Jetzt auftaucht. Sie ist vielmehr ein Nachwirken<br />
<strong>der</strong> Schrecken <strong>der</strong> Vergangenheit, die vergessen und verdrängt,<br />
aber nicht überwunden wurden.<br />
Im südafrikanischen Kontext ist die Gegenwart auf vielfältige<br />
und komplexe Weise geprägt von <strong>der</strong> systematisierten<br />
Gewalt, die durch die nie<strong>der</strong>ländischen und britischen<br />
Kolonialherrscher:innen und anschließend durch das<br />
Apartheidregime ausgeübt wurde. Diese drei Machtsysteme<br />
eint, dass sie teilten, um zu herrschen. Sie bedienten<br />
sich des »Othering« auf <strong>der</strong> Grundlage rassistischer<br />
Konstruktionen und för<strong>der</strong>ten Rivalität und Missgunst<br />
unter Nachbar:innen, um das Potential für Solidarisierung<br />
und gemeinsamen Wi<strong>der</strong>stand zunichtezumachen. Durch<br />
die willkürliche Verteilung von »Privilegien« unter den verschieden<br />
konstruierten unterdrückten Gruppen säten die<br />
Herrschenden Neid und Ressentiments, um Nachbar:innen<br />
zu Konkurrent:innen und potenziellen Feind:innen zu<br />
machen.<br />
Diese Struktur <strong>der</strong> Vergangenheit taucht in Zeiten gesellschaftlicher<br />
Anspannung immer wie<strong>der</strong> auf drastische<br />
Weise auf, wie zuletzt bei den Unruhen während <strong>der</strong> Pandemie,<br />
als rassistische Übergriffe im ganzen Land zunahmen.<br />
Es kam zu vielen Angriffen auf Südafrikaner:innen<br />
mit indischer Abstammung, die während <strong>der</strong> Apartheid<br />
»Privilegien« gegenüber <strong>der</strong> schwarzen südafrikanischen<br />
Bevölkerung genossen hatten, und auf Migrant:innen aus<br />
an<strong>der</strong>en afrikanischen Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e aus Nigeria.<br />
Das Projekt THE VISITORS will vermitteln, wie <strong>der</strong>:die<br />
An<strong>der</strong>e als »Monster« erschaffen wird. Es zeigt auf, wie<br />
die xenophoben Konstrukte rund um die nigerianischen<br />
Einwan<strong>der</strong>:innen mit dem realen Schrecken <strong>der</strong> kolonialen<br />
Eindringlinge verbunden sind und wie diese bis heute die<br />
gesellschaftspolitischen Strukturen <strong>der</strong> südafrikanischen<br />
Gesellschaft beeinflussen.<br />
Die Killer in sogenannten Teen-Horrorfilmen sind keine<br />
komplexen, charismatischen Psychopath:innen wie etwa im<br />
Film Das Schweigen <strong>der</strong> Lämmer. Hier erscheint <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong><br />
eher als eine oberflächliche und unterentwickelte Figur,<br />
die oft kaum zu sehen ist. Statt selbst Protagonist:innen<br />
169
zu werden, verkörpern sie eine nahezu abstrakte Ursache<br />
von Gewalt. Sie sehen menschlich aus, sind aber praktisch<br />
unbesiegbar. Es reicht nicht aus, sie einmal zu töten. Diese<br />
beiden Elemente, Unsichtbarkeit und Unbesiegbarkeit,<br />
spiegeln die gesellschaftlich verinnerlichten und die Zeit<br />
überdauernden Formen <strong>der</strong> oben erwähnten Machtstrukturen<br />
wi<strong>der</strong>.<br />
In Kult-Slasher-Filmen wie Halloween von 1978 sind es<br />
immer wie<strong>der</strong> Jugendliche aus Vor- und Kleinstädten, die<br />
Gefahren ausgesetzt sind: zu Hause, in <strong>der</strong> Schule, beim<br />
Camping und in den Ferien. In den meisten dieser Filme erscheinen<br />
Eltern als völlig abwesend im Leben ihrer Kin<strong>der</strong>,<br />
sowohl physisch als auch emotional. Die Teenager:innen<br />
müssen immer allein mit den Killer:innen fertig werden.<br />
Das Zuhause in diesen Filmen bietet keinen sicheren Zufluchtsort<br />
vor einer aus den Fugen geratenen Welt. In <strong>der</strong><br />
Literatur über das Genre wird dies mit den Erfahrungen<br />
<strong>der</strong> Teenager:innen in verän<strong>der</strong>ten Familienstrukturen<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (Möglichkeit <strong>der</strong> Scheidung, verän<strong>der</strong>te<br />
Arbeitswelten) verknüpft. Doch dieser Aspekt wird im<br />
südafrikanischen Kontext gänzlich an<strong>der</strong>s gelesen. Denn<br />
mit <strong>der</strong> Arbeitspolitik und den Passgesetzen setzte das<br />
Apartheidregime eine staatlich orchestrierte und effektive<br />
Zerstörung von Familienstrukturen um. Männer waren oft<br />
dazu verpflichtet, sich für längere Zeit von ihren Familien<br />
fernzuhalten. So leben heute in Südafrika nur noch etwa<br />
35 Prozent <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit ihren beiden Elternteilen zusammen.<br />
Erwartung, Horror und Absurdes<br />
»Annie: Fürchtest du dich noch?<br />
Laurie: Ich habe mich nicht gefürchtet.<br />
Annie: Lüge!«<br />
Dialog aus Halloween von John Carpenter, 1978.<br />
Erwartung ist ein<br />
entscheidendes Element, um das Gefühl<br />
eines bevorstehenden Übels hervorzurufen. Bereits<br />
durch die reine Beschwörung seiner Anwesenheit wird das<br />
Böse in <strong>der</strong> Imagination des:<strong>der</strong> Zuschauer:in zum Leben<br />
erweckt. Erwartung bildet in diesen Filmen die Quelle des<br />
Schreckeffekts. Aber wie die Kinokritikerin Carol J. Clover<br />
hervorhebt, ist <strong>der</strong> schnelle Wechsel zwischen »echtem«<br />
Schrecken auf <strong>der</strong> einen Seite und einem persiflierenden,<br />
sich selbst parodierenden Schrecken auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
eines <strong>der</strong> auffälligsten Merkmale des Genres. Die Erwartung<br />
<strong>der</strong> Angst löst sich oft absichtlich in einer Übertreibung<br />
auf, die manchmal ins Absurde kippt und damit sogar<br />
Humor hervorbringt. David Lynch erläutert diesen Zusammenhang<br />
sehr anschaulich: »Wenn Sie einen Mann immer<br />
wie<strong>der</strong> gegen eine Wand rennen sehen, bis er zu blutigem<br />
Brei wird, bringt es uns nach einer Weile zum Lachen, weil<br />
es absurd ist.« Ein weiteres Phänomen in Slasher-Filmen<br />
ist <strong>der</strong> fehlende Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> verübten Gewalt<br />
und ihren Auswirkungen. Einige Figuren sterben nach<br />
einem einzigen Schlag, während an<strong>der</strong>e nach 20 Messerstichen<br />
im Körper vom Balkon stürzend weiterleben.<br />
THE VISITORS spielt mit diesen Charakteristiken. Der<br />
wahre Schrecken, <strong>der</strong> durch die Erwartung geschürt wurde,<br />
wird durch Inkohärenz unterbrochen. So als ob die<br />
Figuren meinten, es sei <strong>der</strong> effizienteste Weg, den Monstern<br />
(<strong>der</strong> Vergangenheit?) zu begegnen, indem man die<br />
Kommunikation im Verlauf des Gesprächs radikal än<strong>der</strong>t.<br />
Absurde Wendungen in den Handlungssträngen wie z. B.<br />
die Entdeckung, dass Tanzen die Monster vertreibt, funktionieren<br />
als humorvolle Auswege aus dem unerbittlichen<br />
Kreis des wie<strong>der</strong>kehrenden Grauens.<br />
170
Das Eindringen<br />
»Weiße kommen nie hierher, außer um uns ein Problem<br />
zu bereiten. Glauben Sie mir, das wollen wir nicht.«<br />
Dialog aus Candyman von Bernard Rose, 1992.<br />
Eine weitere Inspiration für THE VISITORS ist die berühmte<br />
Kurzgeschichte Das besetzte Haus des argentinischen<br />
Autors Julio Cortázar von 1946. Sie handelt von einem Geschwisterpaar,<br />
das in seinem Elternhaus lebt. Das Haus<br />
wird allmählich und auf furchteinflößende Weise von unbekannten<br />
Wesen o<strong>der</strong> Kräften »besetzt«. Diese nicht<br />
näher identifizierte und gruselige Kraft wird es schließlich<br />
schaffen, die Figuren aus ihrem Zuhause zu vertreiben.<br />
Am Ende verlassen sie das Haus, schließen die Tür hinter<br />
sich ab und werfen den Schlüssel in einen Gully, in <strong>der</strong><br />
Hoffnung, dass niemand ihn je finden wird. Die Geschichte<br />
selbst bietet keine Erklärungen o<strong>der</strong> Antworten, worauf<br />
sich die gruseligen Kräfte beziehen. In ihrer späteren Rezeption<br />
in Argentinien und Südamerika wurden sie stark<br />
mit <strong>der</strong> Schreckenszeit <strong>der</strong> lokalen Militärdiktaturen (und<br />
<strong>der</strong> mit ihnen verbündeten ausländischen Staaten während<br />
des Kalten Krieges) in Zusammenhang gebracht.<br />
In <strong>der</strong> Tradition von Slasher-Filmen gibt es immer einen<br />
Ort des Schreckens, an dem die Handlung stattfindet.<br />
Aber an<strong>der</strong>s als in Das besetzte Haus erfolgt die Invasion<br />
dieses Ortes nie allmählich o<strong>der</strong> subtil, son<strong>der</strong>n – im Gegenteil<br />
– plötzlich und spektakulär. In aufreibenden Szenen<br />
schließt sich das Opfer (in einem Haus, einer Schule,<br />
einem Zimmer, einem Auto) ein und wartet dort mit klopfendem<br />
Herzen, während sich <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> den Weg hinein<br />
bahnt – schlägt, hackt o<strong>der</strong> schlitzt. Dies sind die sogenannten<br />
»Penetrationsszenen« und üblicherweise Schlüsselmomente<br />
des Films.<br />
Der Schrecken, <strong>der</strong> durch das Eindringen des Monsters in<br />
den Schutzraum des Opfers hervorgerufen wird, wird im<br />
gefeierten Film Get Out von Jordan Peele auf eine weitere<br />
Ebene gehoben. Im Film versuchen die Monster, in<br />
den Kopf des Opfers einzudringen, um dessen Gehirn und<br />
Verstand zu kapern. Das Bild <strong>der</strong> Gehirntransplantation<br />
wird verwendet, um die Fortdauer von Rassismus zu veranschaulichen.<br />
In diesem Film ist, wie Peele es beschreibt,<br />
»die Gesellschaft selbst das Monster«.<br />
Der Ort des Schreckens in THE VISITORS ist die lutherische<br />
Friedenskirche in Johannesburg. Sie befindet sich<br />
in Hillbrow, einem Viertel, das während <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Apartheid<br />
von Deutschen geprägt war. Anschließend wurde es<br />
zu einem zentralen Ort für Migrant:innen aus den Townships,<br />
aus dem ländlichen Südafrika und an<strong>der</strong>en afrikanischen<br />
Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e Nigeria. Heute kämpft das<br />
Gebiet mit einem hohen Grad an Intoleranz und Xenophobie.<br />
Im Jahr 2019, als die gesellschaftlichen Spannungen<br />
(später zusätzlich befeuert durch die COVID-19-Pandemie)<br />
zunahmen, kam es auch in Hillbrow zu fremdenfeindlichen<br />
Übergriffen. Die lutherische Friedenskirche ist das einzige<br />
architektonische Überbleibsel <strong>der</strong> dortigen deutschen Gemeinde.<br />
Das Gebäude, welches jetzt in Church of Peace<br />
umbenannt wurde und Outreach-Community-Programme<br />
anbietet, erinnert nach wie vor an die Strukturen <strong>der</strong><br />
Vergangenheit. Seine neoromanische Architektur und<br />
sein markanter barocker Glockenturm heben sich auf befremdliche<br />
Weise vom Rest <strong>der</strong> Nachbarschaft ab. Es wirkt<br />
nahezu wie ein Geisterhaus einer europäischen Religion.<br />
TAMARA SAPHIR arbeitete als Dramaturgin bereits bei<br />
Hillbrowfication mit Constanza Macras zusammen und<br />
begleitet ebenso The Visitors in seiner Enstehung.<br />
Aus dem Englischen von Oliver Chrzanoswki<br />
Foto: Kruger Van Deventer, Design: Roman Handt<br />
171
JENSEITS<br />
DER VERFESTIGUNG<br />
VON IDENTITÄTEN<br />
VON AMANDA PIÑA / SARA ABBASI<br />
Clemencia Piña, La Sarabia<br />
EXÓTICA<br />
Tanz<br />
ab 1. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 44 _______________ www.ruhr3.com/exotica<br />
172
Amanda Piña widmet sich in Exótica vergessenen Künstler:innen,<br />
die in Europa zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts als<br />
»an<strong>der</strong>s« gelesen und exotisiert wurden. Trotz ihrer großen<br />
Popularität wurden diese Künstler:innen nicht in den Kanon<br />
<strong>der</strong> Tanzgeschichte aufgenommen und ihnen wurde<br />
verhältnismäßig wenig Platz in den Archiven zuerkannt,<br />
wodurch es teilweise schwierig ist, ihre Biografien zu rekonstruieren.<br />
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben<br />
wir kleine Portraits von ihnen zusammengestellt, welche<br />
hoffentlich Lust machen, ihnen weiter zu folgen. Wir beginnen<br />
mit La Sarabia und geben ihr den größten Raum, denn<br />
sie ist die Urgroßtante von Amanda Piña – und Amanda<br />
weiß einiges aus ihren Familienarchiven zu erzählen.<br />
La Sarabia<br />
Es gab immer Gerüchte in meiner Familie über meine Urgroßtante<br />
Clemencia Piña, La Sarabia. Zumindest hielt ich<br />
es für Gerüchte, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
eine berühmte Tänzerin in Paris war, dass sie vor dem<br />
letzten russischen Zaren getanzt hatte und dass es sogar<br />
eine französische Briefmarke gab, die sie abbildete. Aber<br />
dann fanden wir während unserer Recherche über an<strong>der</strong>e<br />
Tänzer:innen aus <strong>der</strong> Zeit so viel Material über meine Urgroßtante<br />
in <strong>der</strong> Französischen Nationalbibliothek. Sie war<br />
damals tatsächlich eine berühmte Künstlerin, doch als sie<br />
in Marseille starb, ging niemand aus meiner Familie zu ihrer<br />
Beerdigung; ich glaube, ihre Tochter, die auch Tänzerin war,<br />
wurde sogar in einem namenlosen Gemeindegrab begraben.<br />
Und das verfolgt mich irgendwie. Was war passiert?<br />
Wie kann es sein, dass du so berühmt bist und ein Land wie<br />
Frankreich repräsentierst, und am Ende wirst du einfach<br />
ausrangiert? War es, weil sie das Land doch nur sehr bedingt<br />
repräsentierte und am Ende doch fremd blieb, auch<br />
wenn man sie das Gegenteil glauben machen wollte?<br />
La Sarabia starb arm und blieb verlassen, doch ihr Leben<br />
muss unglaublich gewesen sein. Ihre Mutter verließ Mexiko<br />
mit ihr, als sie klein war, auf <strong>der</strong> Flucht vor <strong>der</strong> Familie,<br />
weil sie ihren Mann verlassen hatte. Damals konntest du<br />
dich nicht einfach scheiden lassen. Ihre Mutter floh also<br />
nach Paris und führte dort ein ausschweifendes Leben,<br />
sie hatte nämlich viel Geld geerbt. Als das Geld irgendwann<br />
aufgebraucht war, verdiente ihre Tochter La Sarabia<br />
bereits Geld durch ihren Tanz. Sie wurde berühmt durch<br />
die Danza Española, auch »Espagnolade« genannt, ein<br />
spanischer Tanz, <strong>der</strong> damals selten war und als exotisch<br />
galt. Natürlich war sie keine Spanierin, sie war Mexikanerin,<br />
in ihren A<strong>der</strong>n floss indigenes Blut, aber sie gab<br />
vor, spanisch zu sein, und verkörperte in ganz Europa<br />
sehr erfolgreich spanisches Ballett. Und sie hatte tatsächlich<br />
vor dem russischen Zaren getanzt. Irgendwas<br />
muss damals passiert sein, denn sie blieb lange Zeit in<br />
Sankt Petersburg. Manche behaupten, <strong>der</strong> Zar verliebte<br />
sich in sie, aber das werden wir nie erfahren. Es ging ihr<br />
lange Zeit sehr gut, aber dann bekam La Sarabia ein Kind<br />
von einem Mann, den sie kennengelernt hatte, einem<br />
Mexikaner. Sie liebten sich, aber seine Familie war gegen<br />
die Hochzeit, weil es für sie nicht akzeptabel war, dass<br />
meine Urgroßtante Bühnenkünstlerin war. Sie konnten<br />
also nicht heiraten, und so zog meine Urgroßtante ihre<br />
Tochter ohne den Vater auf, <strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Trennung litt<br />
und zumindest regelmäßig Geld schickte. Meine Tante<br />
erzählte mir, dass sie nach Marseille reiste, um die<br />
Tochter von La Sarabia zu besuchen. Das war vor acht<br />
Jahren, Lidia Siria war ihr Name, und sie war damals<br />
schon eine alte Dame. Als meine Tante klingelte, öffnete<br />
sie die Tür und schlug sie sofort wie<strong>der</strong> zu. Wenig<br />
später öffnete sie die Tür erneut und trug eine Fe<strong>der</strong>boa<br />
um den Hals, eine sehr alte Dame. Offenbar war ihr klar,<br />
dass meine Tante die letzte Piña war, die sie in ihrem Leben<br />
sehen würde. Also schenkte sie ihr einen Ring, den<br />
Ring ihrer Mutter, La Sarabia. Und ein paar Jahre später<br />
gab meine Tante den Ring an mich weiter, mit den<br />
Worten: »Ich glaube, <strong>der</strong> ist für dich bestimmt. Denn<br />
du bist wie sie.« Und ich trage den Ring immer. Ich fühle<br />
mich mit meiner Urgroßtante sehr verbunden, es gibt viele<br />
Parallelen in unseren Biografien, obwohl so viel Zeit dazwischen<br />
liegt. Manche sagen, wir würden uns ähnlich<br />
sehen, und tatsächlich gibt es Bil<strong>der</strong> von ihr, auf denen<br />
ich mich selbst erkenne. Manchmal denke ich, vielleicht<br />
sind wir alle, ohne es zu wissen, die Wie<strong>der</strong>geburt einer<br />
Ahnin o<strong>der</strong> eines Ahnen. Die Frage, wie wir zu dem werden,<br />
was wir sind, durch die Augen <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en, interessiert<br />
mich sehr. Wie viel Bewegungsspielraum bleibt<br />
uns innerhalb dieses Blicks? Es gibt eine gewisse Gewalt<br />
in je<strong>der</strong> Selbst- und Fremdbezeichnung, die kulturellen<br />
Manifestationen innewohnt, weil ihr Maßstab immer <strong>der</strong><br />
White Gaze war (ich glaube, <strong>der</strong> White Gaze ist männlich<br />
und heteronormativ). Und wir leben das heute noch, auch<br />
wenn sich viel verän<strong>der</strong>t hat und die Kräfteverhältnisse<br />
in <strong>der</strong> Welt sich verschoben haben. Heute können wir all<br />
diese Diskussionen führen und ein Festival wie die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
lädt mich ein, meine Arbeit vor überwiegend<br />
weißem Publikum zu zeigen. Und auch wenn da noch immer<br />
eine gewisse Brutalität mitschwingt, ist es irgendwie<br />
auch erfrischend und fantastisch, wie wir heute durch all<br />
diese Beschränkungen navigieren können. Was genau ist<br />
also heute dieser Blick, dieser White Gaze? Wie kann man<br />
ihn sichtbar machen und ihm dadurch seine Wirkung nehmen?<br />
Für mich ist <strong>der</strong> Motor für dieses Stück nicht nur<br />
das Andenken an diese wun<strong>der</strong>baren Künstler:innen, ich<br />
will sie auch mit unseren heutigen Biografien verweben<br />
und von ihren Tänzen und ihrem Mut lernen. Und ich will<br />
den White Gaze reflektieren, unterwan<strong>der</strong>n und in gewisser<br />
Weise zurückspielen, ohne dabei abschätzig zu sein.<br />
Ich glaube, es liegt für alle eine große Chance darin, ein<br />
Bewusstsein für den eigenen Blick zu erlangen: wenn das<br />
Publikum beispielweise über seine Art zu schauen nachdenkt<br />
und sich bewusst wird, durch wie viele Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
dieser Blick geformt wurde und wie sehr dieser Blick<br />
die Welt wie<strong>der</strong>um formt. Wollen wir die Welt <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en<br />
nur als ein Image konsumieren o<strong>der</strong> können wir uns<br />
durch diese Erfahrung <strong>der</strong> Zerbrechlichkeit <strong>der</strong> eigenen<br />
Welt bewusst werden? Wenn es eine Sensibilisierung in<br />
diese Richtung gibt, dann können wir daran wachsen und<br />
eine transzendente Erfahrung machen, die uns gemeinsam<br />
woan<strong>der</strong>s hinbringt. Es kann <strong>der</strong> Beginn einer Reise<br />
sein, ein gemeinsames sinnliches Ritual jenseits <strong>der</strong> Verfestigungen<br />
von Identitäten.<br />
Amanda Piña<br />
Aufgezeichnet von Sara Abbasi<br />
173
François »Féral« Benga<br />
François Benga wurde 1906 in Dakar geboren und zog<br />
als Siebzehnjähriger mit seinem Vater nach Paris. Der<br />
Senegal war damals französische Kolonie, Benga und sein<br />
Vater galten gemäß <strong>der</strong> damaligen rassistisch-kolonialen<br />
Anschauung nicht als Bürger, son<strong>der</strong>n als koloniale<br />
Subjekte, gefangen in einer prekären Situation, die kaum<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Teilhabe bot. Bereits in den 1920er<br />
Jahren fand Benga seinen Weg in die Pariser Revue-<br />
Szene und begleitete Josephine Baker an den Tomtoms<br />
während ihrer berühmten »Bananentänze«. Es dauerte<br />
nicht lange und er stieg zum Star in den Folies Bergère auf.<br />
Sein Bühnenname war Féral Benga, was so viel bedeutete<br />
wie »Der wilde Benga«. Im europäischen Konstrukt<br />
von Afrika repräsentierte Benga das maximal An<strong>der</strong>e und<br />
die mit Gefahr assoziierte Männlichkeit. Der europäische<br />
Blick interessierte sich weniger für sein enormes künstlerisches<br />
Potential o<strong>der</strong> seine performativen Fähigkeiten, er<br />
sah vielmehr das stark sexualisierte Objekt, den schwarzen<br />
Merkur, den schönen, schwarzen Adonis. In den Dreißigern<br />
tauchte er ein in die französische Avantgarde und<br />
wirkte als Schwarzer Engel in Cocteaus experimentellem<br />
Spielfilm Le sang d’un poète mit. 1934 unternahm er gemeinsam<br />
mit seinem Partner, dem britischen Anthropologen<br />
Geoffrey Gorer, eine Forschungsreise nach Westafrika,<br />
um für dessen nicht unproblematische Monografie<br />
Africa Dances verschiedene Tanzstile in einer Art Feldforschung<br />
zu »sammeln«. Obwohl er queer war, heiratete er<br />
kurz vor seinem Tod im Jahr 1957 und bekam einen Sohn.<br />
François Benga ist in Paris begraben.<br />
Nyota Inyoka<br />
Die Tänzerin, Choreografin, Autorin und Pädagogin Nyota<br />
Inyoka wurde 1896 in Paris geboren. Ihre Lebensgeschichte<br />
bewegt sich zwischen Faktizität, Invention, Legendenbildung<br />
und Selbstbestimmung. Ihre Mutter war Französin,<br />
vom Vater behauptete sie zu Beginn ihrer Karriere,<br />
er wäre Ägypter, später, er wäre In<strong>der</strong> – wahrscheinlich<br />
wusste sie es selbst nicht genau. Als ihren Geburtsort<br />
gab sie Pondicherry an und bezeichnete sich selbst als<br />
»danseuse hindoue«, Hindu-Tänzerin. In ihrer Blütezeit<br />
lebte sie als erfolgreiche Tänzerin äußerst mondän und<br />
verkehrte in den höchsten Pariser Kreisen, dennoch behielt<br />
ihre Existenz eine eigentümliche Fragilität. Ihre große<br />
Popularität än<strong>der</strong>te nichts daran, dass ihr Tod im Jahr<br />
1971 nur äußerst knapp thematisiert wurde, vermutlich<br />
setzte das Vergessen ihrer Person bereits ab den 1960er<br />
Jahren ein. Bereits ab 1917 trat sie als Nioka-Nioka in den<br />
Folies Bergère auf, angekündigt als »Perle d’Asie«, und<br />
ab den 1920er Jahren in üppigen Ausstattungsrevuen im<br />
Théâtre de l’Oasis unter <strong>der</strong> Leitung des Modeschöpfers<br />
Paul Poiret. 1931 fand in Paris die Internationale Kolonialausstellung<br />
statt, für die sie eine Galaveranstaltung zu<br />
Indien gestaltete. Weil Inyoka sich mit ihrem Programm<br />
aus Tänzen, <strong>der</strong>en indische Anmutung hauptsächlich auf<br />
einer Art Belebung historischer und ikonografischer Überlieferungen<br />
basierte, längst einen Namen gemacht hatte,<br />
wurde sie nun zur gleichsam offiziellen Repräsentantin<br />
<strong>der</strong> indischen Kultur. Ermutigt durch die positive<br />
Resonanz gründete sie eine Compa gnie, die Ballets Nyota<br />
Inyoka, die ihr Debüt 1932 mit einem Programm rekonstruierter<br />
Tänze aus Indien, Ägypten und Äthiopien mit großem<br />
Erfolg im Théâtre du Vieux-Colombier feierte. Spätestens<br />
seit diesem Datum war sie als Künstlerin »durchgesetzt«.<br />
Ihre Compagnie blieb bis zum Ende von Inyokas Bühnenlaufbahn<br />
1957 bestehen.<br />
174
Leïla Be<strong>der</strong>khan<br />
Leïla Be<strong>der</strong>khan wurde 1903 in Konstantinopel als Tochter<br />
eines kurdischen Vaters und einer österreichischen Mutter<br />
mit jüdischer Herkunft geboren. Sie entstammte dem<br />
Geschlecht <strong>der</strong> Bedr Khans und inszenierte sich in Europa<br />
als kurdische Prinzessin. Aufgewachsen ist sie in Ägypten,<br />
später zog sie in die Schweiz und debütierte dann<br />
in Wien, wo sie mit ihrer Mutter, einer Zahnärztin, lebte.<br />
Für ihr internationales Debut mietete sie das Konzerthaus<br />
in Wien, was Aufschluss über die finanziellen Mittel<br />
gibt, über die sie verfügte und die ihr ein ausgesprochen<br />
selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Sie beherrschte<br />
mehrere Sprachen und reiste enorm viel: Sie war in New<br />
York, Stockholm, Paris, machte Urlaub an <strong>der</strong> Côte d’Azur<br />
und im österreichischen Salzkammergut. Auch bei ihr vermischen<br />
sich Fakten und Legenden, die sie klug zu nutzen<br />
wusste, um die Marke <strong>der</strong> »orientalischen Prinzessin« erfolgreich<br />
zu lancieren. Wo es verlangt wurde, bediente sie<br />
den Exotismus, nutzte aber auch immer Elemente westlicher<br />
Tanzstile in ihren Choreografien, sowie westliche<br />
Instrumentierungen und Kostüme. Sie gab vor, drusische,<br />
zoroastrische, indische sowie ägyptische Tänze zu beherrschen<br />
und inszenierte sich als Repräsentantin diverser als<br />
»orientalisch« gelesener Kulturen. Der Höhepunkt ihrer<br />
Karriere war <strong>der</strong> Auftritt an <strong>der</strong> Mailän<strong>der</strong> Scala 1932, wo<br />
sie als Belkis in dem opulent ausgestatteten Ballett Belkis,<br />
Regina di Saba auftrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
zog sie sich von <strong>der</strong> Bühne zurück, gründete eine Tanzschule<br />
in einem Pariser Vorort und verstarb ebendort im<br />
Jahr 1986.<br />
Herzlichen Dank an Sandra Chatterjee, Christina Gillinger-<br />
Correa Vivar, Franz Anton Cramer und Nicole Haitzinger,<br />
die gemeinsam im FWF-Forschungsprojekt Bor<strong>der</strong>-Dancing<br />
Across Time an <strong>der</strong> Universität Salzburg arbeiten und ihr<br />
Wissen großzügig in Gesprächen und durch ihre Publikationen<br />
mit uns geteilt haben.<br />
AMANDA PIÑA war bereits 2021 mit Danza y Frontera Gast<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Sie ist eine mexikanisch-chilenische<br />
Performerin, Choreografin und Kulturarbeiterin, die seit<br />
vielen Jahren in Wien und Mexiko-Stadt lebt und international<br />
arbeitet. In ihren Performances sowie Installationen,<br />
Workshops und Vorträgen untersucht sie mit<br />
anthropologischem Interesse die politische und soziale<br />
Kraft von Tanz und seine Verflechtungen zwischen<br />
Tradition und Mo<strong>der</strong>ne. Seit fast zehn Jahren sammelt<br />
sie in ihrem Langzeitprojekt Endangered Human Movements<br />
vom Aussterben bedrohte Bewegungspraktiken<br />
und befasst sich mit <strong>der</strong> Rolle von Gedächtnis und Archiv<br />
im Kontext dekolonialer Emanzipationsbewegung.<br />
Diesem Artikel liegt ein Gespräch mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-<br />
Dramaturgin SARA ABBASI zugrunde.<br />
Fotos: BNF Paris (La Sarabia), J.C Mehú Tam-Tam-Photographies (François Féŕal<br />
Benga), Lou Lou Roudanez (Nyota Inyoka), Die bühne Theatremuseum wien<br />
(Leila Be<strong>der</strong>khan)<br />
175
THEATER IST JA<br />
AUCH DIE KUNST<br />
DES RECYCLINGS!<br />
ANDREAS KARLAGANIS IM GESPRÄCH MIT<br />
CHRISTINA WALD, PROFESSORIN FÜR ENGLISCHE<br />
LITERATUR, ÜBER WILLIAM SHAKESPEARES<br />
EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />
Christina Wald<br />
EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />
Schauspiel<br />
ab 10. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 12 _______________ www.ruhr3.com/traum<br />
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Andreas Karlaganis Bei Lektüre des Sommernachtstraums<br />
fällt auf, wie viele Themen darin verhandelt werden,<br />
die uns heute auch bewegen, von <strong>der</strong> Klima kata strophe<br />
bis zur Triggerwarnung im Theater. Und es ist ein zeitloses<br />
Stück über die Verwandlung.<br />
Christina Wald Ein Sommernachtstraum wird unterschätzt,<br />
wenn man denkt, er sei eine liebliche Komödie<br />
über Feen. Zu Shakespeares Zeit gab es so<br />
etwas wie den Sommernachtswahnsinn während<br />
einer festlichen Zeit im Mai und Juni, zu <strong>der</strong> Jugendliche<br />
zusammen in den Wald zogen. Natürlich<br />
war nicht gedacht, dass man sich unmoralisch entgrenzt,<br />
aber es war dennoch ein Initiationsritus mit<br />
Transgressionspotential. Es gab die Idee, dass es<br />
dabei zu Verwandlungen kommen könnte, sowohl<br />
innerer als auch äußerer Art, bei denen Hexerei im<br />
Spiel sein könnte. Neben solchen Bräuchen war<br />
Shakespeare literarisch von Ovids Metamorphosen<br />
inspiriert, die uns Verwandlungen vom Menschen ins<br />
Posthumane zeigen, sei es in Pflanzen o<strong>der</strong> in Tiere.<br />
Es sind ambivalente Verwandlungen. Es können Erlösungen,<br />
es können aber auch Bestrafungen sein<br />
wie Gefangenschaften im falschen Körper, ein Thema,<br />
das uns im Rahmen <strong>der</strong> Transsexualität gerade<br />
sehr beschäftigt. Die enge körperliche Verknüpfung<br />
von nicht-menschlicher Umwelt und Menschen wie<strong>der</strong>um<br />
wird in <strong>der</strong> Ökokritik immer deutlicher betont.<br />
Zettel, <strong>der</strong> Handwerker, wird in einen Esel verwandelt,<br />
doch interessanterweise nicht komplett, son<strong>der</strong>n er<br />
kriegt nur dessen Kopf. Er wird zum hybriden Wesen.<br />
Die Öko kritik spricht von »Trans-species«, ein Begriff,<br />
<strong>der</strong> deutlich machen soll, dass <strong>der</strong> Mensch nicht so<br />
souverän und unabhängig ist von <strong>der</strong> Tierwelt und<br />
<strong>der</strong> Natur, wie wir es über Jahrhun<strong>der</strong>te glauben wollten.<br />
Der Klimawandel und die Pandemie haben uns<br />
deutlich gemacht, dass wir von Mikroben, Viren, dem<br />
Wetter usw. abhängig sind und also vernetzt sind mit<br />
<strong>der</strong> Natur. Insofern ist Ein Sommernachtstraum tatsächlich<br />
ein Stück <strong>der</strong> Stunde.<br />
Der Übergang zur alternativen Lebensform scheint mit<br />
Gefühlen des Grauens verbunden zu sein. Man erkundet<br />
Dinge im Wald, die etwas mit einem selbst zu tun haben,<br />
die einen aber beunruhigen.<br />
Ja, Shakespeare zeigt uns auch einen Mittsommernachtsalbtraum,<br />
auch wenn sich für manche Figuren<br />
Wunschträume erfüllen. So wechselt Lysan<strong>der</strong> das<br />
Liebesobjekt, aber er leidet nicht so stark wie manche<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Auch Zettel realisiert nicht, dass er in<br />
einen Esel verwandelt ist, und wun<strong>der</strong>t sich, warum er<br />
so abgöttisch geliebt wird von <strong>der</strong> Feenkönigin Titania.<br />
Erst danach ist er verstört und versucht, sein Erlebnis<br />
in Worte zu fassen. Er ringt um eine Sprache, die versucht,<br />
den Traum darzustellen. Bei Titania ist die Deutung<br />
umstritten: Gerät sie in einen Albtraum o<strong>der</strong> kann<br />
sie ausleben, was sie sich immer schon gewünscht<br />
hat? Des einen Wunschtraum wird zum Albtraum des<br />
an<strong>der</strong>n. Das können wir in <strong>der</strong> unglücklichen Liebe tatsächlich<br />
oft sehen.<br />
Theater ist die Kunst <strong>der</strong> Verwandlung. In welchem Zustand<br />
ist <strong>der</strong> Mensch überhaupt fähig, sich zu verwandeln?<br />
Die Handwerker werden »rude mechanicals« genannt<br />
und verstehen Theater als basales Handwerk. An<strong>der</strong>erseits<br />
stehen auch die Elfen für das Theater, und<br />
Puck beginnt seinen Schlussmonolog mit den Worten:<br />
»If we shadows have offended …«. Das Theater ist somit<br />
verortet zwischen Handwerk und Zauberei, jener<br />
hohen Kunst, die für den Menschen eigentlich gar nicht<br />
zugänglich ist. Es ist <strong>der</strong> Raum, wo Verwandlung und<br />
alternative Wahrnehmung möglich sind. Auch wird die<br />
Frage aufgeworfen, wie begrenzt diese Verwandlung<br />
ist. Endet sie mit dem Theaterabend o<strong>der</strong> geht sie darüber<br />
hinaus? Es ist ausschlaggebend, dass Demetrius<br />
am Ende nicht zurückverwandelt wird. Wenn wir das<br />
Theater eher mit <strong>der</strong> Zauberei und <strong>der</strong> Magie assoziieren<br />
wollen, dann kann etwas davon weiterbestehen.<br />
Das wäre die Hoffnung, die das Theater eigentlich hat.<br />
Bei Zauberei spielen auch Substanzen eine Rolle – ein<br />
Elixier wird den schlafenden Menschen von den Elfen in<br />
die Augen getropft. Heute könnte man diesen Zustand<br />
mit Drogen herstellen.<br />
Bei Shakespeare ist die Grenze zwischen schädlichen<br />
Drogen und hilfreichem Medikament nicht klar gezogen.<br />
»Potion« ist ein neutraler Ausdruck, selbst das<br />
englische »drug« kann beides bedeuten – wir kennen<br />
den Ausdruck »drugstore« für Drogerie. Wir haben also<br />
das ganze Spektrum zwischen Therapie, Rausch und<br />
Gift für diese Mittel <strong>der</strong> Zeit. Im Sommernachtstraum<br />
wird die Liebe ohnehin als Rauschzustand dargestellt.<br />
Wenn man sich die aktuelle Hirnforschung o<strong>der</strong> die<br />
Erkenntnisse <strong>der</strong> Biochemie anschaut, wird deutlich,<br />
dass <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Verliebtheit ähnlich funktioniert.<br />
177
Oberon erzählt stolz die Entstehungsgeschichte jener<br />
Blume, für die es damals verschiedene Begriffe gab<br />
und die nur <strong>der</strong> Elfenkönig finden könne. Wenn man<br />
sich genauer ansieht, was es mit diesem »love-juice«<br />
auf sich hat, sieht man allerdings, dass es ein wildes<br />
Stiefmütterchen ist, das in Shakespeares Zeit in England<br />
in jedem Garten wuchs. Wir wissen, dass in Gesetzeserlassen<br />
<strong>der</strong> Zeit die Herstellung von Liebestränken<br />
verboten wurde, es also einen gewissen Glauben daran<br />
gegeben haben muss. Das Stück spielt mit dieser kulturellen<br />
Fantasie, respektive <strong>der</strong> kulturellen Angst.<br />
Nach dem Ende des Rauschs <strong>der</strong> Sommernacht beschreibt<br />
Puck die verdammten Seelen, die sich voller<br />
Scham vor dem Tag retten.<br />
Puck spielt auf Menschen an, die durch Selbstmord<br />
gestorben sind o<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en Gründen nicht anständig<br />
beerdigt werden konnten und deswegen die<br />
Lebenden weiter heimsuchen und nachts umherwan<strong>der</strong>n<br />
müssen. Nichtsdestotrotz ist es auch für die<br />
ganze Komödie interessant, dass Puck am Ende einer<br />
ausschweifenden Fantasie-Nacht von <strong>der</strong> Scham <strong>der</strong><br />
Rückkehr spricht. Zu Shakespeares Zeit wurde das<br />
Theater von den Autoritäten ja als eine gefährliche<br />
Gegenwelt zu den Moralvorstellungen <strong>der</strong> Kirche verstanden.<br />
Das war ein Grund, warum keine Frauen als<br />
Schauspielerinnen auftreten durften, weil allein diese<br />
Zurschaustellung für den öffentlichen Blick als sexueller<br />
Akt begriffen wurde. Daher die »boy-actors«,<br />
die ihrerseits nochmal ganz an<strong>der</strong>e Fragen betreffend<br />
Repräsentation von Geschlecht und Sexualität aufwerfen.<br />
Das Theater wurde von den Puritanern zu <strong>der</strong><br />
Zeit als eine Gefahrenquelle gesehen, eine mögliche<br />
Quelle <strong>der</strong> Verwandlung <strong>der</strong> Gesellschaft auf eine Art<br />
und Weise, die nicht gewünscht war.<br />
Kann man die Zeit, in welcher <strong>der</strong> Sommernachtstraum<br />
entstand, mit <strong>der</strong> heutigen Zeit vergleichen, wo sich Teile<br />
<strong>der</strong> patriarchalen Welt aus vielen Gründen ebenfalls mit<br />
rabiater Gewalt gegen Transformationen zur Wehr setzen?<br />
Patriarchal war das damalige System natürlich, trotzdem<br />
hatte es über Jahrzehnte mit Elisabeth I. eine<br />
weibliche Herrscherin, die das Patriarchat geschickt für<br />
sich zu nutzen wusste und sich auch als »a prince« präsentierte.<br />
Und zugleich war sie die »virgin queen«. Sie<br />
hat für sich eine über- respektive doppelgeschlechtliche<br />
Identität inszeniert. Es ist insgesamt interessant<br />
an <strong>der</strong> frühen Neuzeit, dass es im Vergleich zu heute<br />
einerseits rigi<strong>der</strong>e und moralischere Vorstellungen gab,<br />
die bis in die Details <strong>der</strong> gesetzlichen Klei<strong>der</strong>ordnung<br />
gingen, um Klassen- und Geschlechterzugehörigkeit<br />
zweifelsfrei zu signalisieren. An<strong>der</strong>erseits gab es im<br />
Theater aber strukturell vorgegeben Männer, die sich<br />
als Frauen verkleideten. In vielen Shakespeare-Komödien<br />
verkleiden sich diese Frauen wie<strong>der</strong> zu Männern.<br />
Infolgedessen haben wir ganz oft unklare sexuell-erotische<br />
Anziehungen, die gleichgeschlechtlich sind o<strong>der</strong><br />
sich gerade für die uneindeutige Geschlechtlichkeit<br />
interessieren. Was auch fasziniert – und das bringt<br />
uns zur Verwandlung zurück – ist, dass man zu Shakespeares<br />
Zeit von dem »one sex model« ausgegangen<br />
ist. Eine sehr patriarchale Vorstellung, die davon ausging,<br />
dass das einzige und eigentliche Geschlecht das<br />
männliche ist und Frauen in einer Vorstufe verhaftet<br />
sind. Man hat sich das biologisch so vorgestellt, dass<br />
Frauen einen nach innen invertierten Penis haben, welcher<br />
durch mangelnde Körperhitze nicht nach außen<br />
getreten ist. Wenn man sich Zeichnungen aus <strong>der</strong> Zeit<br />
anschaut, unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von<br />
heutigen Darstellungen <strong>der</strong> Geschlechtsorgane. Das<br />
legt nahe, dass sich Frauen damals zumindest theoretisch<br />
zu Männern verwandeln konnten. Es gab Geschichten,<br />
die besagten, dass dies auch passiert sei.<br />
Konkret handelte es sich zum Teil um die Auflösung für<br />
lesbische Liebesgeschichten: Eine Frau hat sich zum<br />
Mann »verwandelt« und konnte so auch offiziell mit<br />
ihrer Partnerin zusammenleben.<br />
EIN SOMMERNACHTS<br />
TRAUM WAR<br />
SCHON DAMALS EIN<br />
NOSTALGISCHER<br />
BLICK AUF EINE VON<br />
DEN MENSCHEN<br />
UNBERÜHRTE NATUR.<br />
Athen ist <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong> die Flucht und den Traum überhaupt<br />
erst auslöst. Das Stück beginnt mit <strong>der</strong> Todesdrohung<br />
eines Vaters gegen seine Tochter Hermia.<br />
Shakespeare braucht nur ein paar Zeilen, um deutlich<br />
zu machen, wie rigide dieses System ist. Er führt ein<br />
patriarchales Muster ein, in dem Theseus, <strong>der</strong> Herrscher<br />
Athens, sagt, die Väter können die Töchter wie<br />
Wachs formen und auch verformen. Der Vater ist ein<br />
Gott, <strong>der</strong> erschaffen, aber auch zerstören darf. Dieses<br />
System wird gespiegelt, indem Theseus in <strong>der</strong> Vorgeschichte<br />
die Amazonenkönigin Hippolyta unterwirft.<br />
Wenn man sich den Mythos <strong>der</strong> Amazonen genauer<br />
anschaut, sieht man aber, dass in diesem Matriarchat<br />
wie<strong>der</strong>um die jungen Söhne, wie auch <strong>der</strong>en Väter,<br />
umgebracht wurden. Kein nachhaltiges Zukunftsmodell<br />
also, son<strong>der</strong>n einfach das invertierte bestehende<br />
Modell als männliche Angstfantasie. Die Frage ist, ob<br />
uns die Wald- und Feenwelt eine Alternative bietet,<br />
einen dritten Raum. Schon allein die Tatsache, dass<br />
die Feen sich geschlechtlich nicht einordnen lassen,<br />
ist etwas, das über die konventionelle Klassifikation<br />
und Machtverteilung hinausgehen und somit tatsächlich<br />
eine Gegenwelt bieten könnte.<br />
178
Welches Verhältnis hatte Shakespeare zur Natur? Er lebte<br />
damals ja auch in Zeiten, in denen beispielsweise die<br />
Wäl<strong>der</strong> verschwanden.<br />
Es handelte sich nicht um Waldsterben im Sinne von<br />
Erkrankung, son<strong>der</strong>n um Abholzung, weil das Holz<br />
gebraucht wurde. Die Gegenwelt war also schon zu<br />
Shakespeares Zeit bedroht. Der Wald war nicht mehr<br />
ganz so dicht, nicht mehr ganz so groß, nicht mehr<br />
ganz so weit von <strong>der</strong> Zivilisation entfernt und fiel <strong>der</strong><br />
Ausbeutung zum Opfer. Ein Sommernachtstraum war<br />
schon damals ein nostalgischer Blick auf eine von den<br />
Menschen unberührte Natur.<br />
Titania spricht von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung des Klimas. Was sagt<br />
sie uns da?<br />
Das Klima ist aus den Fugen geraten, weil Titania und<br />
Oberon im Streit sind. Das kann man heute als ein<br />
Klimawandel-Horrorszenario lesen. Titania spricht von<br />
»contagious fogs«, die die Menschen heimsuchen,<br />
Flüsse über ihre Ufer treten lassen und die Ernte<br />
ruinieren. Die Menschen leiden auch an gestörten<br />
Jahreszeiten mit unvorhersehbarer Hitze und Frost.<br />
Vielleicht hätte man diese Zeilen vor 50 Jahren in einer<br />
Inszenierung eher gestrichen. Für uns machen sie den<br />
Sommernachtstraum heute beson<strong>der</strong>s interessant.<br />
Gab es damals schon ein kritisches Verhältnis zum Kolonialismus,<br />
<strong>der</strong> im Stück thematisiert wird und dessen<br />
Folgen <strong>der</strong> Ausbeutung heute aufgearbeitet werden?<br />
Das ist eine ganz generelle Frage bei den Shakespeare-Dramen.<br />
Sind sie misogyn o<strong>der</strong> kritisieren sie<br />
Misogynie? Sind sie antisemitisch und rassistisch<br />
o<strong>der</strong> kritisieren sie Antisemitismus und Rassismus?<br />
Die gleiche Frage betrifft auch den Kolonialismus.<br />
Hier wird er angesprochen, im Sturm ist er eine zentrale<br />
Frage. Was wir sagen können ist, dass es zu <strong>der</strong><br />
Zeit durchaus schon kritische Stimmen gab. Aphra<br />
Behn verfasste im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t zum Beispiel die<br />
Geschichte Oroonoko, in <strong>der</strong> sie eine afrikanische<br />
Identifikationsfigur zeigt, die versklavt wird. Dagegen<br />
stand natürlich immer das wirtschaftliche Interesse.<br />
Der Hauptdiskurs war, dass es um Land ging, von<br />
dem man meinte, dass es einem zustünde und man<br />
es daher unterwerfen dürfe. Auch hier sind die Feen<br />
wie<strong>der</strong> interessant. Sie sind wie wir heute. Sie können<br />
ganz schnell die Welt umrunden und Dinge von überall<br />
auf <strong>der</strong> Welt konsumieren und mitbringen. Die<br />
Feen sind globale Figuren. Zu Shakespeares Zeit war<br />
das noch ein utopisches Zukunftsszenario. Inzwischen<br />
haben wir so gelebt und müssen nun wie<strong>der</strong><br />
zurückschrauben.<br />
Im Ruhrgebiet könnte man das als Referenz auf ein postindustrielles<br />
Zeitalter lesen.<br />
Vielleicht wirft das sogar ein postapokalyptisches Szenario<br />
auf. Der Roman und die Fernsehserie Station 11<br />
spielen in einer Postapokalypse, ausgelöst durch eine<br />
Pandemie, die 99 % aller Menschen getötet hat. Interessanterweise<br />
formiert sich dort eine Theatergruppe,<br />
die Shakespeare-Dramen aufführt und die feststellt,<br />
sie muss die Komödien spielen, um den Menschen ein<br />
positiveres Bild zu vermitteln, also zeigt sie Sommernachtstraum.<br />
Wir wenden uns heute wie<strong>der</strong> den präindustriellen<br />
Dramen zu, die zu einer Zeit entstanden, als<br />
man manche Ängste, zum Beispiel aufgrund <strong>der</strong> Abholzung,<br />
bereits kannte. Aus unserer Post-Perspektive<br />
schauen wir zurück und fragen, was kann uns diese Prä-<br />
Perspektive erzählen? Nicht nur über unsere Vergangenheit,<br />
son<strong>der</strong>n vielleicht auch über unsere Zukunft?<br />
Nach dem Nie<strong>der</strong>gang entsteht etwas Neues, das mit<br />
Spiel zu tun hat.<br />
Das Theater ist ja auch die Kunst des Recyclings.<br />
Stücke werden immer wie<strong>der</strong> neu inszeniert, Kostüme<br />
werden teilweise aus dem Fundus genommen,<br />
Schauspieler:innen, die in demselben Stück schon<br />
gespielt haben, lassen dieses in einer an<strong>der</strong>en Rolle<br />
neu auferstehen. Das passt auch sehr zu unserem<br />
heutigen Nachhaltigkeitsgedanken. So gesehen ist<br />
Theater eine ökologische Kunstform!<br />
CHRISTINA WALD ist Professorin für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft und Direktorin des<br />
Zentrums für kulturwissenschaftliche Forschung an <strong>der</strong> Universität Konstanz. Zuvor lehrte sie an den<br />
Universitäten Köln und Augsburg, an <strong>der</strong> Humboldt-Universität Berlin und an <strong>der</strong> Harvard University. Ihre<br />
Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische Dramen, Performances, Filme und Fernsehserien sowie<br />
Shakespeares Dramen und frühneuzeitliche Prosaerzählungen mit beson<strong>der</strong>em Interesse an Fragen <strong>der</strong><br />
Adaption, Intertextualität und transkulturellen Formenwan<strong>der</strong>ung. Sie forscht <strong>der</strong>zeit als Mitglied des<br />
NOMIS-Forschungsprojekts Traveling Forms zu postkolonialen Tragödienadaptionen.<br />
Sie ist die Autorin von Hysteria, Trauma and Melancholia: Performative Maladies in Contemporary<br />
Anglophone Drama (2007), The Reformation of Romance: The Eucharist, Disguise and Foreign<br />
Fashion in Early Mo<strong>der</strong>n Prose Fiction (2014) und Shakespeare’s Serial Returns in Complex TV (2020).<br />
In Vorbereitung auf die Sommernachtstraum-Inszenierung von Barbara Frey sprach sie mit<br />
ANDREAS KARLAGANIS, dem leitenden Dramaturgen des Burgtheater Wien, das diese Arbeit koproduziert.<br />
Foto: Angelika Kessler<br />
179
DIE UTOPE<br />
EINES GARTENS<br />
FÜR HEUTE<br />
UND MORGEN<br />
ERIC VAUTRIN IM GESPRÄCH MIT<br />
PHILIPPE QUESNE ÜBER<br />
LE JARDIN DES DÉLICES – TOUR D’HORIZON<br />
SEINER THEATERARBEITEN<br />
DER LETZTEN 20 JAHRE<br />
LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE<br />
Schauspiel<br />
ab 7. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/lust<br />
180
Hieronymus Bosch Garten <strong>der</strong> Lüste (Mitteltafel des Triptychons)<br />
Frühjahr <strong>2023</strong><br />
Eric Vautrin Philippe Quesne, Ihr neues Werk übernimmt<br />
den Titel des berühmten Bildes von Hieronymus Bosch<br />
vom Beginn des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Nun haben Titel in<br />
Ihrem Schaffensprozess eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung.<br />
Was bringt Sie zu dem nie<strong>der</strong>ländischen Maler aus dem<br />
15. Jahrhun<strong>der</strong>t?<br />
Philippe Quesne Stimmt, es ist das erste Mal, dass ich<br />
den Titel eines bereits existierenden Werkes übernehme.<br />
Allerdings geht Le Jardin des délices (Der Garten<br />
<strong>der</strong> Lüste) als Titel gar nicht auf Bosch selbst zurück.<br />
Er wurde nur verwendet und hat sich so durchgesetzt.<br />
Kunstgeschichte ist in meinen Stücken immer wie<strong>der</strong><br />
präsent. Häufige Inspirationen sind zum Beispiel Maler<br />
wie Brueghel, Dürer o<strong>der</strong> Caspar David Friedrich,<br />
aber auch zeitgenössischer Film und Bildende Kunst.<br />
Angeblich wurde Bosch außerdem von Wan<strong>der</strong>theatern<br />
seiner Zeit inspiriert. Die Verflechtung zwischen<br />
den Künsten ist nicht neu. Aber abgesehen vom Titel:<br />
Es hat etwas Schwindel erregendes, sich mit diesem<br />
faszinierenden Triptychon zu befassen.<br />
Es ist Frühling, die Proben starten demnächst, unsere<br />
Erkundung beginnt. Das Vorgehen ist nicht viel<br />
an<strong>der</strong>s, als wenn wir Hamlet proben würden o<strong>der</strong><br />
ein leeres Blatt Papier als Ausgangspunkt hätten:<br />
Vieles ist möglich. Die Interpretationen des Bildes<br />
haben sich seit 500 Jahren immerfort geän<strong>der</strong>t, bis<br />
zum Surrealismus, Philip K. Dick o<strong>der</strong> zur Flower-<br />
Power-Bewegung <strong>der</strong> 1970er Jahre. Noch heute besteht<br />
keine Einigkeit über den Entstehungskontext<br />
und die Bedeutungen des Werkes.<br />
181
Für die Vorarbeiten haben wir verschiedene Spezialist:innen<br />
und Liebhaber:innen des Werkes getroffen,<br />
etwa die Verantwortlichen im Prado in Madrid, wo<br />
das Bild ausgestellt wird, Historiker:innen mit Fokus<br />
auf das Mittelalter wie Pierre-Olivier Dittmar o<strong>der</strong> große<br />
Bosch-Kenner:innen wie José Luis Alcaine, Kameramann<br />
von Pedro Almodóvar, o<strong>der</strong> die französische<br />
Lyrikerin Laura Vazquez. Wir nehmen das Gemälde<br />
lediglich als Ausgangspunkt, als ein inspirierendes<br />
Rätsel, versuchen aber nicht, es zu imitieren o<strong>der</strong> zu<br />
kommentieren.<br />
Auf welche Weise steht Ihre Theaterarbeit im Dialog mit<br />
dem Werk?<br />
Dieses Werk ist sehr inspirierend, denn es ermöglicht<br />
uns, ein weites, unter an<strong>der</strong>em historisches,<br />
ästhetisches, intellektuelles, spirituelles und psychoanalytisches<br />
Feld zu bearbeiten. Hier gibt es<br />
Ähnlichkeiten zu dem Arbeitsprozess, den wir seit<br />
20 Jahren mit Vivarium Studio entwickeln: Wir knüpfen<br />
Netze aus Verbindungspunkten und Annäherungen,<br />
die von einem Titel o<strong>der</strong> von gemeinsamen Erinnerungen<br />
ausgehen. Dabei greifen wir gleichermaßen<br />
auf Kunstgeschichte, Geisteswissenschaften, Popkultur,<br />
soziopolitische Fragen, die uns beschäftigen,<br />
das Absurde und die Reflexivität zurück. Hieronymus<br />
Bosch bündelt seine Fragen in Verweisen auf das von<br />
ihm Erlebte und Projizierte und lädt dadurch die<br />
Betrachter:innen ein, sich dieselben Fragen über<br />
sich selbst zu stellen. Und heute gehe ich dieser<br />
Frage mit einem Team aus Schauspieler:innen und<br />
Künstler:innen nach. Wir streifen durch das Bild<br />
und kon zentrieren uns dabei auf Spuren, die zu uns<br />
selbst und unserer Epoche führen, wie in einem<br />
Science-Fiction-Film.<br />
Eine kleine Gemeinschaft, die sich organisiert, eine spezifische<br />
Logik, wie sich ein Gebiet auf alternative Weise<br />
bewohnen lässt, eine Katastrophe in <strong>der</strong> Ferne, die Natur,<br />
die in unerwarteter Form wie<strong>der</strong> sichtbar wird und das<br />
Verhältnis von Natur und Kultur durcheinan<strong>der</strong>bringt –<br />
das sind in <strong>der</strong> Tat Aspekte, die ihre bisherigen Stücke<br />
und das Gemälde miteinan<strong>der</strong> verbinden, trotz <strong>der</strong> Unterschiede<br />
zwischen den Epochen.<br />
Das Gemälde eignet sich gut für völlige Neudeutungen.<br />
Jedes Detail eröffnet unerwartete Möglichkeiten, die es<br />
zu erforschen gilt. Wir werden teilhaben am Schicksal<br />
einer menschlichen Gemeinschaft, die sich auf<br />
die Suche nach einer möglichen, erträumten, poetischen<br />
Welt macht und diese zu konstruieren versucht<br />
in einer bedrohten Wirklichkeit. Wie sollen wir<br />
das Triptychon interpretieren? Ist die Mitteltafel ein<br />
Versprechen o<strong>der</strong> stellt sie längst Vergangenes dar?<br />
Stellt die Hölle eine albtraumhafte Zukunft o<strong>der</strong>, im<br />
Gegenteil, die Gegenwart dar? Können wir überhaupt<br />
darauf hoffen, dies beantworten zu können? Das<br />
alles ist <strong>der</strong> Stoff für einen guten Western. Wir begeben<br />
uns ins Gemälde und plötzlich öffnen sich viele<br />
Türen. Wir werden einen eigenen Weg finden, es zu<br />
bewohnen und mit dem umzugehen, was wir in ihm<br />
vorfinden.<br />
Da ist noch eine an<strong>der</strong>e, etwas persönlichere Sache:<br />
Dieses Jahr feiert meine Compagnie Vivarium Studio<br />
20-jähriges Bestehen. Einige Darsteller:innen in dieser<br />
Arbeit waren bereits 2003 in La Démangeaison<br />
des ailes dabei. Wenn ich an all unsere Stücke im<br />
Laufe <strong>der</strong> Zeit zurückdenke, erkenne ich einen Fundus<br />
voller Muster und Typen, außerdem das Gehege<br />
mit menschengroßen Maulwürfen, Vogelscheuchen,<br />
Hunden, Vögeln, fliegenden Skeletten … und<br />
dann noch Höhlen, Fahrzeuge, Asteroiden, Pianolas,<br />
künstliche Inseln … alles Erinnerungen, die mir rückblickend<br />
so vielgestaltig wie logisch und sinnfällig erscheinen<br />
– ein Eindruck, den ich in ähnlicher Form<br />
auch habe, wenn ich vor Boschs Gemälde stehe: Sein<br />
Aussehen ist vielfältig und voller unerwarteter Details,<br />
die beinahe unabhängig voneinan<strong>der</strong> sind. Dennoch<br />
ist es eine Komposition, die geordnet und fluide ist.<br />
Hieronymus Bosch beschreibt eine Epoche des Wandels<br />
zwischen Mittelalter und Renaissance. Wie auch Albrecht<br />
Dürer, dessen Melencolia Sie 2008 zu La Mélancolie des<br />
dragons inspiriert hat.<br />
Ja, auch bei dem Kupferstich von Dürer ist diese Spannung<br />
zwischen Vergangenheit und Zukunft zu spüren:<br />
<strong>der</strong> nachdenkliche Engel vor den Möglichkeiten des<br />
Religiösen und <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />
Wenn man Boschs Triptychon öffnet, ist auf <strong>der</strong> linken<br />
Seite <strong>der</strong> Garten Eden o<strong>der</strong> das Paradies zu sehen: ein<br />
nacktes Pärchen in adretter Natur mit schönen und<br />
friedlichen Tieren. Im Mittelteil lebt eine kleine Menschenmenge<br />
zusammen mit seltsamen Tieren (riesengroßen<br />
Vögeln), Pflanzen und Früchten (menschengroßen<br />
Erdbeeren) und Elementen wie Wasser und Glas.<br />
Auch dort sind die Menschen noch nackt. Sie tanzen,<br />
rennen, lassen es sich gut gehen. Es ist schwer zu sagen,<br />
ob sie irgendwo angekommen sind o<strong>der</strong> aber ob<br />
man sie dort eingepfercht und unter Beobachtung gestellt<br />
hat, wie es die graue Eintönigkeit des geschlossenen<br />
Triptychons vermuten lässt. Auf <strong>der</strong> rechten Tafel ist<br />
das Gemälde dunkel, die Wesen sind starr und werden<br />
von seltsamen Kreaturen festgehalten. Der Raum ist<br />
voller menschlicher Erfindungen: Häuser (in Flammen),<br />
Bücher (auf dem Kopf), Musikinstrumente, Schlittschuhe,<br />
Verträge, Partituren … Man muss sich fragen, ob es<br />
nicht die im Werden begriffene Gesellschaft ist, die hier<br />
als furchteinflößend dargestellt wird. Eine Art Angst vor<br />
dem technischen Fortschritt? Wie Melencolia ist Boschs<br />
Gemälde Teil einer Epoche voller Unsicherheiten, auf<br />
dem Kipppunkt zwischen Mittelalter und Renaissance,<br />
in <strong>der</strong> alle traditionellen, technischen, politischen und<br />
spirituellen Orientierungspunkte durcheinan<strong>der</strong>gewirbelt<br />
wurden. Die Parallelen zu den Transitionsprozessen,<br />
die wir heute erfahren, sind frappierend: eine ungewisse<br />
Zukunft, von <strong>der</strong> wir nur sicher wissen, dass sie zu einem<br />
radikalen Strukturwandel führen wird, <strong>der</strong> Kulturen, Wissenschaften,<br />
Künste und politische Organisationen neu<br />
aufstellen wird. Guillaume Logé zeigt das in seinem Buch<br />
La Renaissance sauvage. Um es anachronistisch zu<br />
formulieren: Bosch malt ein »offenes Kunstwerk«, das<br />
einem freien Geist entspringt.<br />
182
Der dieses Jahr verstorbene deutsche Kunsthistoriker<br />
Hans Belting hielt es für sicher, dass Bosch eine Utopie<br />
malte, eine Vision <strong>der</strong> Menschheit ohne Sündenfall und<br />
Schuld, und er damit ein Vorbote von Erasmus von Rotterdam<br />
und Thomas Morus war. Aus demselben Grund<br />
beruht Boschs Vision ihm zufolge auf Relationen und<br />
Annäherungen und nicht so sehr auf einer bestimmten<br />
visuellen Perspektive. Erkennen Sie sich in diesen ästhetischen<br />
und sozialen Fragestellungen wie<strong>der</strong>?<br />
Es ist rückblickend interessant festzustellen, dass<br />
die meisten meiner Stücke mit einem Problem, einer<br />
Panne o<strong>der</strong> einem Unfall beginnen. Das zwingt die<br />
Anwesenden zu einer Planän<strong>der</strong>ung –, zumindest<br />
könnte man das annehmen – um vor Ort mit dem<br />
zurechtzukommen, was sie vorfinden: Ja, eine Utopie<br />
umzusetzen, das Wort gefällt mir gut, und sei sie<br />
nur temporär. Meine Bühnenbil<strong>der</strong> sind Orte eines<br />
Endes und eines Anfangs, einer Art Initiation. In La<br />
Nuit des taupes schienen Maulwürfe einen unterirdischen<br />
Raum freizuräumen und zu beschützen, damit<br />
Artgenoss:innen dort ein Konzert veranstalten. Das in<br />
München entwickelte Caspar Western Friedrich zeigte<br />
ein Museum, das umstrukturiert und selbst zum<br />
Kunstwerk wird. In Farm Fatale gründeten nach dem<br />
Verschwinden <strong>der</strong> Vögel arbeitslos gewordene Vogelscheuchen<br />
einen Piratensen<strong>der</strong>, um den Vogelgesang<br />
in Erinnerung zu behalten und mit an<strong>der</strong>en in Kontakt<br />
zu treten. Später beschützten sie mysteriöse Eier. In<br />
Crash Park werden Überlebende eines Luftunglücks<br />
zu mo<strong>der</strong>nen Robinsons und erfinden die Insel ihrer<br />
Träume, so künstlich sie auch sein mag. Die Ausgangssituation<br />
meiner Stücke wird tatsächlich wie<strong>der</strong>holt<br />
durch eine Fahrzeugpanne verursacht. Sie kann auch<br />
als Landung verstanden werden, an dem Ort, wo wir<br />
uns befinden: in einem theatralen Raum. Während<br />
meiner Zeit als Leiter des Théâtre des Amandiers in<br />
Nanterre hatte ich den Philosophen Bruno Latour eingeladen,<br />
mit uns zu arbeiten. Über unsere Epoche sagte<br />
er lächelnd, dass es nicht mehr viel Diesel gäbe und<br />
dass »<strong>der</strong> Kapitän Sie lei<strong>der</strong> informieren muss, dass<br />
<strong>der</strong> geplante Ankunftsort nicht mehr existiert«.<br />
Man muss sich entscheiden, an irgendeinem Ort anzulanden<br />
und dort ins Handeln zu kommen, wo wir<br />
stehen. Sie können dies als Beschreibung einer angesichts<br />
<strong>der</strong> Klimakatastrophe besorgten Gesellschaft<br />
lesen. Meine Figuren gestalten eine Fiktion mit, eine<br />
noch zu erfindende Welt, an <strong>der</strong> sie hängen, weil diese<br />
sie miteinan<strong>der</strong> verbindet. Aber sie landen in einem<br />
szenischen Raum und entdecken unter <strong>der</strong> Oberfläche<br />
<strong>der</strong> Fiktion technische Bühnenelemente, die in einem<br />
Theater üblich sind. Letztere ermutigen sie und helfen<br />
ihnen, in ihrem Projekt, das ja genau darin besteht, eine<br />
Art Schauspiel, einen »home-made« Vergnügungspark<br />
o<strong>der</strong> ein Konzert zu organisieren. So können sie frei<br />
von <strong>der</strong> Herstellung zur Fiktion, vom Theater zur Illusion<br />
wechseln und umgekehrt. Wichtig für sie ist, wie<br />
sich alles – sei es Werkzeug, Bild, Erinnerung – positiv<br />
auf die menschliche und nicht-menschliche Gruppe<br />
auswirkt.<br />
Ihre Situation ist prekär, fiktional und theatral. Die<br />
Gruppe for<strong>der</strong>t uns auf, für die Dauer <strong>der</strong> Aufführung<br />
an die von ihr entworfene Utopie zu glauben, damit<br />
sie sich – wir uns? – zusammenschließen können.<br />
Sie zeigt gleichzeitig aber, wie diese hergestellt wird,<br />
wie sich diese Utopie zusammensetzt – in meinem<br />
Theater geschieht das durch das Spiel, durch Montage<br />
und neue Verknüpfungen. Die erahnte Utopie ist<br />
nämlich auch genau das.<br />
Eine Industriehalle im Ruhrgebiet, <strong>der</strong> Steinbruch von<br />
Boulbon in Avignon, das Amphitheater am Fuße <strong>der</strong><br />
Akropolis in Athen, das Ufer des Genfer Sees in Vidy-<br />
Lausanne, das Centro Dramático Nacional in Madrid in<br />
<strong>der</strong> Nähe des Prado … Die Aufführungsorte ihrer Arbeiten<br />
zeichnen eine Landkarte <strong>der</strong> Kultur des europäischen<br />
Theaters. Auf welche Art ist das in Ihrer Arbeit präsent?<br />
Ich bin nicht sicher: Findet sich in <strong>der</strong> Kultur das<br />
Gedächtnis Europas, das uns für die ungewisse Zukunft<br />
wappnet? O<strong>der</strong> erinnert uns die Kultur an die<br />
Notwendigkeit eines Ankommens? Ich weiß nicht, ob<br />
die Lüste dieses Gartens unsere Vergangenheit o<strong>der</strong><br />
unsere Zukunft sind … Wir werden sehen.<br />
Philippe Quesne<br />
PHILIPPE QUESNE geboren 1970, studierte Bildende Kunst, visuelle Gestaltung und Bühnenbild in Paris.<br />
Er gehört zu den international bekanntesten Theatermachern Frankreichs. Seine 2003 gegründete Performancegruppe<br />
Vivarium Studio besteht aus Schauspieler:innen, Bildenden Künstler:innen, Musiker:innen<br />
und Tänzer:innen. Über die Jahre entstand ein weltweit tourendes Repertoire. 2020 widmete das Pariser<br />
Centre Pompidou Philippe Quesne einen Künstlerschwerpunkt. Von 2014 bis 2020 war er Intendant des<br />
Théâtre Nanterre-Amandiers bei Paris. Dort arbeitete er regelmäßig mit dem Studiengang des Soziologen<br />
Bruno Latour zu Fragen von künstlerischer Praxis und Klimawandel zusammen. Das Interview wurde im März<br />
<strong>2023</strong> in Lausanne mit ERIC VAUTRIN, Dramaturg am Théâtre Vidy-Lausanne, geführt.<br />
Aus dem Französischen von Anna Johanssen und Maria Wünsche<br />
Foto: Christian Knoerr<br />
183
LEBENDIGE MONUMENTE,<br />
MONOCHROME RITUALE<br />
VON MAJA ZIMMERMANN<br />
Eszter Salamon<br />
MONUMENT 0.10: THE LIVING MONUMENT<br />
Tanz<br />
ab 15. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 54 _______________ www.ruhr3.com/monument<br />
184
Nachtwache<br />
Bevor die Industrialisierung und elektrifizierte Beleuchtung<br />
in Häusern und Straßen die Menschen in Europa<br />
in einen neu regulierten Rhythmus zwängten, waren die<br />
heute empfohlenen acht Stunden Schlaf eher selten. Es<br />
wurde vielmehr in zwei Abschnitten geschlafen, vom Einbruch<br />
<strong>der</strong> Nacht bis Mitternacht und nach einer kurzen<br />
Wachphase erneut bis zum Morgengrauen. Während des<br />
Schreibens dieses Textes daran erinnert, lese ich nochmal<br />
genauer nach. 1 Jener Moment des Wachseins mitten in<br />
<strong>der</strong> Dunkelheit <strong>der</strong> Nacht, ›watch‹ o<strong>der</strong> ›Nachtwache‹ genannt,<br />
wurde mit allerlei Aktivitäten gefüllt, vor allem aber<br />
damit verbracht, soeben Geträumtem nachzuhängen.<br />
Nicht notwendig zusammenhängende Gedanken, traumähnliche<br />
Erzählungen und halluzinierte Ereignisse ließen<br />
eine Nähe zu an<strong>der</strong>en Realitäten zu. So war es eine gewisse<br />
Form <strong>der</strong> Luzidität, die diesen Zustand des Wachens<br />
ohne Aufgabe begleitete.<br />
EINE SCHEINBARE<br />
UNENDLICHKEIT<br />
IN DIESEM<br />
MONOCHROMEN RELIEF<br />
DER LANDSCHAFT.<br />
Vorbeiziehende Landschaften<br />
Im Oktober 2022 sitze ich im Zug von Oslo nach Bergen,<br />
um mir The Living Monument im Studio Bergen, <strong>der</strong> Produktionsstätte<br />
und Bühne <strong>der</strong> 1989 gegründeten norwegischen<br />
Tanzkompanie Carte Blanche, anzuschauen. Von<br />
den Neubausiedlungen <strong>der</strong> Osloer Vorstädte verän<strong>der</strong>t sich<br />
die Landschaft langsam von dunkel durchtränkten Grüntönen<br />
zu grauschwarzen, felsigen Zerklüftungen, bis die Bahn<br />
schließlich ihre langgezogenen Kurven entlang <strong>der</strong> schneebedeckten<br />
Hochebene zieht. Mein Blick gleitet über die an<br />
mir vorbeiziehende Landschaft. Unterschiedliche Weißtöne<br />
wechseln sich in einem beständigen, sich nie identisch<br />
wie<strong>der</strong>holenden Rhythmus ab. Eine scheinbare Unendlichkeit<br />
in diesem monochromen Relief <strong>der</strong> Landschaft.<br />
Dunkelheit<br />
Aus <strong>der</strong> schwarzen Tiefe des Bühnenraumes tauchen<br />
langsam Umrisse von Gestalten auf. Mein Gehirn strengt<br />
sich an, aus den spärlichen visuellen Informationen ein<br />
schlüssiges Bild zu generieren. Allmählich zeichnet sich<br />
eine Szenerie mit Figuren ab, alle in schwarz gekleidet,<br />
schwarz maskiert vor schwarzem Hintergrund. Sie erinnern<br />
mich an die Pest, ohne dass ich ein konkretes Bild<br />
dieser Krankheit hätte, nur weiß, dass sie Schwarzer Tod<br />
genannt wurde und gefürchtet war. Ganze Landstriche<br />
verloren ihre menschlichen Bewohner:innen an diese<br />
Pandemie, die über Jahrhun<strong>der</strong>te immer wie<strong>der</strong> irgendwo<br />
ausbrach und abebbte. Das vor mir auf <strong>der</strong> Bühne ausgebreitete<br />
Tableau verän<strong>der</strong>t sich kontinuierlich, aber so<br />
langsam, dass mir lange Zeit bleibt, diesen historischen<br />
Ereignissen nachzuhängen, bevor sich neue Assoziationen<br />
in meinen Gedankenfluss schieben.<br />
Monumente <strong>der</strong> Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft<br />
Im Gespräch erzählt mir die in Berlin lebende Choreografin<br />
Eszter Salamon von ihrer mittlerweile bereits mehrere<br />
Jahre umfassenden künstlerischen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Vergangenheit. Einer intuitiven Herangehensweise<br />
folgend und nicht zuletzt von ihrer eigenen Biografie<br />
geprägt, sucht Salamon nach alternativen Erzählungen<br />
zur vorherrschenden Perspektive auf (Tanz-)Geschichte.<br />
Aufgewachsen in Osteuropa, in <strong>der</strong> realsozialistischen<br />
Volksrepublik Ungarn, lernte sie sowohl Volkstanz als<br />
später auch klassisches Ballett, bevor sie sich schließlich<br />
dem zeitgenössischen Tanz zuwandte.<br />
Auf meine Fragen antwortet sie mäan<strong>der</strong>nd, indem sie in<br />
die Vorgeschichte ihres eigenen Oeuvres ausholend Verbindungslinien<br />
zieht. Ausgehend von <strong>der</strong> Idee eines performativen<br />
Monuments, o<strong>der</strong> besser: Anti-Monuments,<br />
entwickelte Salamon eine Serie von Choreografien, <strong>der</strong>en<br />
zehnter Teil The Living Monument bildet. Die Kritik,<br />
die diese Arbeiten begleitet, gilt sowohl dem dominanten<br />
westlichen Narrativ, welches an<strong>der</strong>e Perspektiven<br />
und Lebensrealitäten immer wie<strong>der</strong> marginalisiert und<br />
übergangen hat, als auch <strong>der</strong> Kanonisierung einer bestimmten<br />
Kunsttradition, für <strong>der</strong>en Erhalt nicht-westliche<br />
Ästhetiken, Körper und Ausdrucksweisen zwangsläufig<br />
negiert werden mussten.<br />
1 Roger Ekirch: In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Nacht, https://monde-diplomatique.de/artikel/!5761920#fn2<br />
185
MEINE ERINNERUNG<br />
FÜLLT ANGEDEUTETES<br />
AUS, WÄHREND MEINE<br />
SINNE KONKRETES<br />
HALLUZINIEREN.<br />
Die MONUMENT-Serie beginnt mit MONUMENT 0:<br />
Haunted by Wars (1913–2013), eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> kolonialen Vergangenheit Europas. Während<br />
die Choreografie unterschiedliche, von westlichen Interessen<br />
geleitete Kriege <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t Jahre in den<br />
Blick nimmt, wird darin auch verschiedenen Volks tänzen<br />
nachgespürt, welche in den Regionen <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Kriegsschauplätze praktiziert wurden. Mit MONUMENT<br />
0.3: The Valeska Gert Museum (2017) und <strong>der</strong> bis heute<br />
andauernden intensiven Beschäftigung mit dem Leben<br />
und Werk <strong>der</strong> deutschen Tänzerin, Kabarettistin und<br />
Schauspielerin Valeska Gert (1892–1978), verschob sich<br />
<strong>der</strong> Fokus auf Momente, Personen und Erfahrungen, die<br />
vor dem Vergessen bewahrt, in Erinnerung gerufen und<br />
gefeiert werden sollten. MONUMENT 0.7: M/OTHERS<br />
(2019), ein intimes Duett mit ihrer eigenen Mutter, wirkt<br />
normativen Zuschreibungen und Repräsentationen weiblich<br />
sozialisierter Körper entgegen und führt auf ganz<br />
an<strong>der</strong>e Weise eine feministische, transgenerationelle Beziehungsarbeit<br />
weiter.<br />
Gestaltete Halluzinationen<br />
Die aktuelle Arbeit MONUMENT 0.10: The Living Monument<br />
verweist auf keinen bestimmten Moment in <strong>der</strong> Geschichte.<br />
In elf monochromen Tableaus, von schwarz über<br />
blau, rot, orange bis weiß, tauchen unspezifische, opake<br />
Momente einer möglichen Vergangenheit auf, die in ihrer<br />
Lesbarkeit undeutlich bleiben. In <strong>der</strong> beständigen Transformation<br />
von Stoffen und Farben tauchen mal kohärentere,<br />
mal weniger greifbare Figuren auf. Einer an<strong>der</strong>en Welt<br />
entstiegen, erhalten sie ein Eigenleben. Aus zahlreichen,<br />
in Theaterfundi zusammengesuchten und recycelten Kostümteilen<br />
wurden aufwändige Materialcollagen arrangiert,<br />
unter denen die 14 Tänzer:innen von Carte Blanche beinah<br />
verschwinden. Dafür werden ihre Stimmen hörbar,<br />
mal ganz klar, mal zur Klanglandschaft transformiert. Die<br />
Komponistin Carmen Villain hat eine nur aus menschlichen<br />
Stimmen bestehende elektronisch verfremdete<br />
Klangebene geschaffen, welche die einzelnen Bil<strong>der</strong> mit<br />
weiteren Assoziationen überlagert. Meine Erinnerung füllt<br />
Angedeutetes aus, während meine Sinne Konkretes halluzinieren.<br />
Das Geschehen folgt keiner Narration, son<strong>der</strong>n<br />
fließt wie Schwemmholz auf einem Fluss. Manchmal ordnen<br />
sie sich durch Strömungen zu ornamentalen Gebilden,<br />
um nach einiger Zeit wie<strong>der</strong> davongetragen zu werden,<br />
langsam und unaufhaltsam.<br />
Landschaften sich überlagern<strong>der</strong> Zeiten<br />
Unsere Körper transformieren sich unaufhörlich, sie altern,<br />
sterben und werden irgendwann zersetzt. Eszter<br />
Salamon erinnert uns mit ihren Choreografien an diesen<br />
Prozess, an die Verwandlung, <strong>der</strong> wir unterworfen sind.<br />
Viele ihrer Arbeiten erinnern an Totentänze, für welche sie<br />
somatische Praktiken entwirft. Salamon bezieht sich dabei<br />
auch auf die Zeitphilosophie Henri Bergsons und dessen<br />
Konzept <strong>der</strong> Dauer, in welcher Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft simultan existieren. Denn »[v]om Gegenwärtigen<br />
darf man sagen, dass es in jedem Augenblick ›war‹,<br />
und vom Vergangenen, dass es ›ist‹, dass es ewig ist, zu<br />
allen Zeiten.« 2 . Eine Zeit, die sich nicht in einem Nacheinan<strong>der</strong><br />
von Momenten, son<strong>der</strong>n vielmehr in ihrer Gleichzeitigkeit<br />
von erinnertem Vergangenen, erlebtem Gegenwärtigen<br />
und imaginiertem Zukünftigen erfährt.<br />
In extrem verlangsamten Bewegungen werden bei Salamon<br />
Grenzen und Kategorisierungen aufgelöst, um über<br />
den menschlichen Körper hinauszugelangen und zum<br />
Ding, zur Landschaft zu werden. Bis hin zur faktischen<br />
Mumifizierung spielt Salamon mit Langsamkeit und<br />
sich überlagernden Zeitebenen, mit <strong>der</strong> Lebendigkeit<br />
des Toten, dem gegenwärtigen Vergangenen. Es wirkt,<br />
als könne sie die Zeit selbst manipulieren.<br />
IN EXTREM<br />
VERLANGSAMTEN<br />
BEWEGUNGEN<br />
WERDEN BEI SALAMON<br />
GRENZEN UND<br />
KATEGORISIERUNGEN<br />
AUFGELÖST,<br />
UM ÜBER DEN<br />
MENSCHLICHEN KÖRPER<br />
HINAUSZUGELANGEN<br />
UND ZUM DING,<br />
ZUR LANDSCHAFT<br />
ZU WERDEN.<br />
2 Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2007, S. 74<br />
186
Zwischen schlafen und wachen<br />
Eszter Salamon versteht ihre Rolle als Choreografin<br />
mittlerweile vor allem darin, Verbindungen zwischen<br />
Menschen, Orten, Zeiten und Erinnerungen herzustellen,<br />
erzählt sie abschließend. The Living Monument ist<br />
ein solcher Versuch, ein monochromes Ritual, das Vergangenheit<br />
mit vorüberziehen<strong>der</strong> Gegenwart verknüpft.<br />
Die Aufführung fällt aus <strong>der</strong> gewohnten Umgebungszeit,<br />
breitet sich aus als diffuse Zeit zwischen hier und irgendwo<br />
an<strong>der</strong>s. Es ist das Gefühl des verschwommenen<br />
Schauens durch halb geöffnete Li<strong>der</strong>, an das ich mich<br />
nach <strong>der</strong> Aufführung erinnere. Wie im Halbschlaf wahrgenommene<br />
Momente, die ineinan<strong>der</strong>fließen und sich<br />
durchdringen, während die Bil<strong>der</strong> vor allem vor dem inneren<br />
Auge vorbeiziehen und weit Entferntes zum Vorschein<br />
bringen. Ein hellwacher Moment mitten im Schlaf.<br />
WIE IM HALBSCHLAF WAHRGENOMMENE<br />
MOMENTE, DIE INEINANDERFLIESSEN UND<br />
SICH DURCHDRINGEN, WÄHREND DIE<br />
BILDER VOR ALLEM VOR DEM INNEREN AUGE<br />
VORBEIZIEHEN UND WEIT ENTFERNTES<br />
ZUM VORSCHEIN BRINGEN. EIN HELLWACHER<br />
MOMENT MITTEN IM SCHLAF.<br />
MAJA ZIMMERMANN arbeitet als Dramaturgin und Kuratorin für zeitgenössischen Tanz und<br />
Performance. Seit Sommer 2021 ist sie Teil des Teams von PACT Zollverein und dort<br />
verantwortlich für Programm und Projektentwicklung.<br />
Foto: Bea Borgers<br />
187
SKATEBOARDING<br />
STRUKTURIERT<br />
DIE WELTANSCHAUUNG<br />
DERER, DIE<br />
ES PRAKTIZIEREN<br />
VON BOJANA CVEJIĆ<br />
SKATEPARK<br />
Tanz<br />
ab 12. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 24 _______________ www.ruhr3.com/skatepark<br />
188
189
Man könnte mehrere Geschichten über das Skateboarden<br />
als soziale Praxis erzählen. In diesem kurzen Bericht<br />
möchte ich einige Motive hervorheben, die nach wie vor<br />
eine starke Anziehungskraft ausüben. Ich werde nicht<br />
nur aus <strong>der</strong> Perspektive eines Diskurses sprechen, <strong>der</strong><br />
sich aus <strong>der</strong> reichhaltigen soziologischen Literatur über<br />
diesen Action- o<strong>der</strong> Lifestyle-Sport speist. Ich werde<br />
auch die soziokulturellen, performativen und kinetischen<br />
Aspekte des Skatens in Betracht ziehen, die eine<br />
soziale Choreografie formen könnten – ein Artefakt, das<br />
sich aus <strong>der</strong> Beobachtung des Skateboardens als einer<br />
räumlichen und gemeinschaftlichen Aktivität ableitet.<br />
Es beginnt mit <strong>der</strong> Geschichte, die in den meisten Studien<br />
als Legende erzählt wird: Das Skaten wurde an einem<br />
Tag geboren, als <strong>der</strong> Ozean ruhig und die Wellen niedrig<br />
waren, und ermöglichte es den Surfer:innen, weiterhin<br />
das Gleiten zu üben, wenn auch auf den Bürgersteigen<br />
von Los Angeles. Das eigentümliche Arrangement, den<br />
Körper mit einem Werkzeug zu koppeln, das gleichzeitig<br />
ein Fortbewegungsmittel ist, verdankt seine Erfindung<br />
einer Kreuzung aus dem Scooter mit abgerissenem<br />
T-Griff und dem Surfbrett. Sobald das dritte Element in<br />
<strong>der</strong> Assemblage Board-Körper-Meer zu einer festen Oberfläche<br />
wurde, wurden die Möglichkeiten, die das Skaten<br />
bot, unvorhersehbar und fragmentiert, und <strong>der</strong> materielle<br />
Wi<strong>der</strong>stand seiner Oberfläche war vielfältiger und uneindeutiger<br />
als die Meeresbrandung. Die Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
wurde sogar umgekehrt: Anstatt sich mit einer Welle zu<br />
vereinen und daraus Wildheit zu kreieren, erzeugt <strong>der</strong>:die<br />
Skater:in eine Welle, während seine:ihre Bewegung den<br />
urbanen Raum voller unregelmäßiger und skurriler Hin<strong>der</strong>nisse,<br />
aber auch gefährlicher Details glättet.<br />
Darüber hinaus folgt die Kulturgeschichte des Skateboards<br />
über vier bis fünf Jahrzehnte mehreren Wellen<br />
von Aufstieg und Fall. In den 1960er Jahren, als Skateboards<br />
noch Surfbrettern mit Rä<strong>der</strong>n glichen, war es<br />
zunächst bei Surfer:innen beliebt. In den 1970er Jahren<br />
trennte sich das Skaten vom Surfen und hielt Einzug in<br />
die Stadt. Mehrere Innovationen trugen zu seiner Verbreitung<br />
bei. Insbeson<strong>der</strong>e die Entwicklung des schnelleren<br />
und wendigeren Polyurethan-Rads und die Einführung<br />
des hochgezogenen hinteren Endes des Bretts, das<br />
Kickturns ermöglicht. Nachdem die Skater:innen an Geschwindigkeit<br />
und Sicherheit gewonnen hatten, nutzten<br />
sie verlassene Schwimmbä<strong>der</strong>, Entwässerungskanäle<br />
und Schulhöfe für das Skateboarden. Die Skater:innen<br />
dieser Zeit stammten überwiegend aus dem Arbeitermilieu.<br />
O<strong>der</strong> wie einer <strong>der</strong> Z-Boys aus dem berühmten<br />
Zephyr-Team in Dogtown, einem heruntergekommenen<br />
Viertel in Venice, sagte: »Wir kamen aus zerrütteten<br />
Familien.« Als Teil des Mainstream-Repertoires an<br />
Sport- und Freizeitaktivitäten von Jugendlichen trägt das<br />
Skateboarden heute nicht mehr das Zeichen <strong>der</strong> sozialen<br />
Unterschicht. Es verspricht nach wie vor eine zeitweilige<br />
Flucht und ein Gefühl <strong>der</strong> Ermächtigung durch Bewegung<br />
und Geschwindigkeit, wobei die Leidenschaft <strong>der</strong> Einzelnen<br />
auch eine Flucht aus <strong>der</strong> jeweiligen Situation ermöglicht,<br />
sei es zu Hause, in <strong>der</strong> Schule, in seinem Alter, im<br />
Ghetto festzustecken.<br />
Das Eindringen des Skatens in das Privateigentum <strong>der</strong><br />
reichen Bewohner:innen von L.A. führte zu Beschwerden<br />
<strong>der</strong> Bürger:innen und zum Bau von Skateparks, die das<br />
Skateboarden als Freizeitsport in den USA und später in<br />
Europa eindämmen und isolieren sollten. Dies markiert<br />
den Punkt, an dem sich das Skateboarden als soziale Praxis<br />
in das Skaten auf <strong>der</strong> Straße und in Skateparks aufspaltet<br />
– die beiden Praktiken, die heute nebeneinan<strong>der</strong><br />
existieren, sich aber früher in einem Katz-und-Maus-Spiel<br />
zwischen unerlaubtem Betreten und Überwachung abwechselten.<br />
Als Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre die Eintrittspreise<br />
für Skateparks aufgrund <strong>der</strong> Kosten für die aufwendige<br />
Landschaftsarchitektur und die hohen Versicherungsgebühren<br />
stiegen, ging das Skateboarden zurück, aber nur,<br />
um im Untergrund wie<strong>der</strong> aufzuerstehen und die Straße<br />
unter dem Punk-Slogan »Skate and Destroy« (»Skaten<br />
und Zerstören«), <strong>der</strong> sich zum Beispiel im Street-Skateboarding-Magazin<br />
Thrasher (1981) wie<strong>der</strong>fand, heftiger<br />
zurückzuerobern.<br />
WENN SIE DURCH DIE<br />
STRASSEN FAHREN,<br />
SUCHEN SKATER:INNEN<br />
DEN WIDERSTAND<br />
VON OBERFLÄCHEN<br />
UND OBJEKTEN,<br />
UND DIE FREUDE LIEGT<br />
ZWISCHEN<br />
ENTDECKUNG UND<br />
ANPASSUNG.<br />
Der Unterschied zwischen dem Skaten in <strong>der</strong> Stadt und<br />
dem Skaten in einem für Skateboards konzipierten und<br />
ausgewiesenen Park spiegelt mindestens zwei verschiedene<br />
Arten <strong>der</strong> sozialen Produktion des Raums wi<strong>der</strong>.<br />
Wenn sie durch die Straßen fahren, suchen Skater:innen<br />
den Wi<strong>der</strong>stand von Oberflächen und Objekten, und die<br />
Freude liegt zwischen Entdeckung und Anpassung. Indem<br />
sie Gelän<strong>der</strong>, Bänke, Gehwege o<strong>der</strong> Treppen umfunktionieren<br />
o<strong>der</strong> die Plätze von Unternehmen durchqueren,<br />
dringen sie in die Territorien ein und brechen die Regeln<br />
des öffentlichen o<strong>der</strong> durch Eigentum geschützten<br />
Raums. Auch wenn dies nicht immer ein Zeichen bewussten<br />
Wi<strong>der</strong>stands gegen die öffentliche Ordnung ist, wird<br />
es von <strong>der</strong> öffentlichen Meinung als »asoziales Verhalten«<br />
und »rücksichtsloses Handeln« (in den Worten des<br />
republikanischen New Yorker Bürgermeisters Rudolph<br />
Giuliani) verurteilt, das verboten werden muss. Aus <strong>der</strong><br />
Sicht <strong>der</strong> Skater:innen hingegen geht es beim Streetskaten<br />
um das sinnliche Vergnügen, die Stadt durch Gleiten,<br />
190
Springen und Kicken mit dem eigenen Körper zu erleben,<br />
während die Spuren <strong>der</strong> Beschädigung und <strong>der</strong> Lärm nur<br />
Kollateralschäden sind.<br />
Die Stadt in einen riesigen Spielplatz zu verwandeln, ist<br />
eine Art Nomad:innentum und Deterritorialisierung, eine<br />
durch Geschwindigkeit verstärkte Flânerie; denn <strong>der</strong>:die<br />
Skater:in scannt die Stadt durch die Details, die an<strong>der</strong>e<br />
vielleicht nicht sehen. Ihre Bewegungen sagen: »I can skate<br />
that, if I hit it like that, I can get the buzz out.« (»Das kann<br />
ich skaten. Wenn ich so erwische, gibt es mir den Kick.«)<br />
Wenn man so schnell durch die Stadt fährt, gibt es Momente<br />
<strong>der</strong> aufregenden Orientierungslosigkeit: »Es ist, als<br />
ob man sich in seinem eigenen Song verliert. Wenn ich mit<br />
meinem Skateboard durch die Gegend fahre, brauche ich<br />
nicht einmal Musik; ich kann mit einem Cheeseburger-Lächeln<br />
im Gesicht die Straße entlang schlen<strong>der</strong>n. Du fährst<br />
einfach weiter; ich muss keine Tricks machen. Ich fahre auf<br />
<strong>der</strong> Straße hin und her, und es macht einfach Spaß.« 1<br />
Ursprünglich wurden Skateparks eingerichtet, um Skater:innen<br />
als »eine Kraft, mit <strong>der</strong> man auf <strong>der</strong> Straße rechnen<br />
muss«, an den Rand zu drängen und ihre Macht, die<br />
Regeln für die Nutzung des öffentlichen Raums zu untergraben,<br />
zu bändigen. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, das<br />
Skateboarden als subversiven, regelbrechenden Lebensstil<br />
in eine regelgebundene Aktivität, d. h. in einen Sport<br />
zu verwandeln. In einem begrenzten Bereich wie einem<br />
Skatepark konzentrieren sich die Skater:innen mehr auf<br />
Tricks und kontrollierte Stunts. Seit den 1990er Jahren und<br />
erst recht heute, wo Technologie so zugänglich ist, ist das<br />
Filmen und Teilen von Videos »part of the game«. Während<br />
sie als Individuen kommen und gehen, um ihre eigene<br />
Fähigkeit und Performance zu verbessern, bindet die<br />
Nachahmung sie in eine Gemeinschaft ein. Üben bedeutet,<br />
allein zusammen zu sein und an<strong>der</strong>e zu beobachten,<br />
um sich inspirieren zu lassen und das eigene Können auf<br />
eine immer etwas höhere Stufe <strong>der</strong> Virtuosität zu bringen.<br />
Wie auf einem Punk-Konzert, wo das Moshen einem Außenstehenden<br />
als aggressive und gefährliche Anarchie erscheinen<br />
mag, gehen die Skater:innen auch im Skatepark<br />
Risiken ein, koordinieren sich aber auch und schützen sich<br />
gegenseitig vor Verletzungen.<br />
Der Individualismus im Skatepark wird durch die sozialen<br />
Regeln des Ortes gemil<strong>der</strong>t. Ein hervorstechendes Merkmal<br />
des Skateparks ist, dass er einer <strong>der</strong> wenigen städtischen<br />
Orte ist, die Jugendlichen vorbehalten sind. Die<br />
westliche Gesellschaft duldet es nicht, dass sich Jugendliche<br />
im öffentlichen Raum aufhalten, es sei denn, sie treiben<br />
einen Mannschaftssport wie Basketball. Es spricht<br />
also für die beson<strong>der</strong>e Anziehungskraft von Skateparks,<br />
dass es ihnen gelungen ist, ein Pendeln zwischen Ordnung<br />
und Unordnung, Beherrschung und Exzess, Wettbewerb<br />
und Spaß am Leben zu erhalten. In einem Übergangsalter,<br />
das von Konflikten mit Autoritäten und Schamgefühlen<br />
geprägt ist, ist <strong>der</strong> Skatepark eine seltene Oase für die<br />
Selbstdarstellung eines Teenagers, ein Schlachtfeld für<br />
das Erwerben von Selbstvertrauen und sozialem Kapital.<br />
Der Künstler und Skater Raphaël Zarka schrieb, dass<br />
»Skateboarding die Weltanschauung <strong>der</strong>jenigen strukturiert,<br />
die es praktizieren«. 2 Seine Aussage vergleicht<br />
das Skaten stillschweigend mit dem Habitus, <strong>der</strong> nach<br />
<strong>der</strong> Definition von Pierre Bourdieu eine körperliche Disposition<br />
ist, die durch eine Praxis <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung und<br />
Nach ahmung erworben wird, und eine Beziehung zwischen<br />
individuellem Handeln und sozialer Struktur darstellt.<br />
Der Habitus strukturiert die Wahrnehmung, die mit<br />
einer sozialen Struktur verwoben ist. Die bewegte Verbindung<br />
von Körper-Board-Oberfläche erzeugt Schwindel,<br />
den Nervenkitzel <strong>der</strong> vorübergehenden Loslösung des<br />
Körpers vom Brett, die mit kontrollierter Anstrengung erfolgen<br />
muss. Mette Ingvartsen beobachtet die kinetische<br />
Kraft und die performativen Stile des Skatens in einem<br />
städtischen Gebiet und nähert sich dem Skatepark als<br />
einem Ort <strong>der</strong> sozialen Choreografie aus <strong>der</strong> Sicht einer<br />
Künstlerin. Die Choreografie hebt hier die kinästhetischen<br />
und akustischen Ausdrucksformen des Skatens<br />
als soziale Formen in <strong>der</strong> Probe hervor und unterstreicht<br />
das kollektive Potenzial von Individuen, die sich in Versuchen<br />
und Fehlern zusammenschließen. Und für die<br />
Zuschauer:innen könnte dies eine Gelegenheit für eine<br />
stellvertretende Erfahrung von Schwindel und sozialer<br />
Ermächtigung sein.<br />
1 Aus einem Interview mit einem Skater, zitiert nach Chihsin Chiu Contestation and Conformity: Street and Park Skateboarding in New York City<br />
Public Space. Raum und Kultur, 2009.<br />
2 Raphaël Zarka. The Forbidden Conjunction. Editions B42 & Raphaël Zarka, 2011.<br />
BOJANA CVEJIĆ’S Forschung umfasst Performance-Theorie, Philosophie und Tanzwissenschaft.<br />
Unter an<strong>der</strong>em ist sie Autorin von Choreographing Problems (2015) und Toward a<br />
Transindividual Self: A Study in Social Dramaturgy (gemeinsam mit Ana Vujanović 2022).<br />
Als Dramaturgin hat sie mit vielen Choreograf:innen und Kollektiven an Performances<br />
und unabhängigen, selbstorganisierten Plattformen für künstlerische Produktion, Theorie<br />
und Bildung in Europa und im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet. Sie lebt in<br />
Brüssel, wo sie an <strong>der</strong> P.A.R.T.S. unterrichtet (seit 2002), und Oslo, wo sie Professorin an<br />
<strong>der</strong> National Academy of the Arts ist. Sie ist die Dramaturgin von Skatepark.<br />
Aus dem Englischen von Berno Odo Polzer und Daniela Bershan.<br />
Foto: Bea Borgers<br />
191
KLANG DER<br />
KOMMUNIKATION<br />
SPRACHE, SPIEL UND SCHLAGFERTIGKEIT<br />
IM MUSIKPROGRAMM DER RUHRTRIENNALE <strong>2023</strong><br />
VON BARBARA ECKLE<br />
SCHLAGZEUGMARATHON<br />
Konzert<br />
am 26. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 38_______________ www.ruhr3.com/marathon<br />
PLAY BIG!<br />
Konzert<br />
ab 21. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 60 _______________ www.ruhr3.com/playbig<br />
DIE ERDFABRIK<br />
Musiktheater<br />
ab 11. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />
AUS EINEM TOTENHAUS<br />
Musiktheater<br />
ab 31. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/totenhaus<br />
QUID CHAOS<br />
Konzert<br />
am 23. September <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 62 _______________ www.ruhr3.com/chaos<br />
192
Musik als Kommunikationsmittel reicht in prähistorische<br />
Zeiten zurück. Dabei ist die menschliche Stimme das<br />
älteste aller »Instrumente«, das einzige, das ohne Hilfsmittel<br />
auskommt. In ihr vereint sich das primäre Kommunikationsmittel<br />
des Sprechens und das sekundäre<br />
des Singens – mit o<strong>der</strong> ohne Worte. Obschon mit dem<br />
gesprochenen Wort eine enorme Präzision möglich ist,<br />
gibt es Dimensionen von Vermittelbarem, zu denen keine<br />
Sprache vordringt und die vokal o<strong>der</strong> instrumental erst<br />
vollständig ausleuchtbar sind.<br />
Die ersten Musikinstrumente, die sich <strong>der</strong> Mensch gebaut<br />
hat, sind Trommeln und Flöten. Dazu bedurfte es wenig:<br />
Erste Flöten wurden in <strong>der</strong> Steinzeit aus Vogelknochen<br />
o<strong>der</strong> Mammutelfenbein gefertigt; die erste Trommel, die<br />
sogenannte Erdtrommel, bestand aus einer über eine<br />
Grube gespannten Tierhaut. Mit <strong>der</strong> Zeit tauchte die<br />
Trommel in allen denkbaren Kontexten und Funktionen<br />
auf, vom Warnsignal bis hin zur rituellen Ahnenbeschwörung,<br />
bei <strong>der</strong> mit den Toten kommuniziert wird. Ihr<br />
Spektrum wurde so breit, dass auch die schärfsten Gegensätze<br />
des menschlichen Lebens darin Platz fanden:<br />
<strong>der</strong> wilde Tanz wie das militärische Marschieren.<br />
Schlagzeugmarathon – ein Rundumschlag<br />
Der mo<strong>der</strong>ne Schlagzeugapparat ist uferlos, und seine<br />
Einzelinstrumente entstammen <strong>der</strong> afrikanischen, <strong>der</strong><br />
arabischen, <strong>der</strong> osmanischen, <strong>der</strong> fernöstlichen, <strong>der</strong> südostasiatischen,<br />
<strong>der</strong> mittel- und südamerikanischen und<br />
nur zu einem geringen Anteil auch <strong>der</strong> europäischen Kultur<br />
– eine Tatsache, die in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik die<br />
längste Zeit unreflektiert geblieben ist. Die längste Zeit<br />
fristete das Schlagzeug im Orchester auch eine auf rhythmus-<br />
und akzentgebende Begleitfunktion beschränkte<br />
Existenz. In <strong>der</strong> Kammermusik war es gänzlich inexistent.<br />
Erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde nach und nach <strong>der</strong><br />
unerhörte Reichtum seiner Möglichkeiten erkannt. Neue<br />
klangästhetische Visionen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne involvierten immer<br />
mehr assoziative, geräuschhafte, außermusikalische<br />
Klänge, angefangen mit Kuhglocken, Peitsche und Hammer<br />
in Gustaf Mahlers 6. Sinfonie (1904). Wie sich eine<br />
Atmosphäre klanglich nicht nur vermittelt, son<strong>der</strong>n einen<br />
ganz umhüllen kann, erlebt man auch in Leoš Janáčeks<br />
letzter Oper Aus einem Totenhaus (1927/28). Mit alltäglichen<br />
Werkzeugklängen wie Ketten, Amboss, Axt o<strong>der</strong><br />
Säge definiert Janáček schon in <strong>der</strong> Ouvertüre das von<br />
unablässig harter körperlicher Arbeit geprägte Umfeld<br />
des sibirischen Straflagers. Wie diese Werkzeuge landete<br />
je<strong>der</strong> neue Klangerzeuger, <strong>der</strong> ins Orchester getragen<br />
wurde, bei den Perkussionist:innen. Hier entstand eine<br />
Nahtstelle zwischen Musik und Alltagswelt, ein komplett<br />
heterogener Organismus, <strong>der</strong> alle Musikstile und die ganze<br />
Welt in sich gespeichert hält. Und je mehr das Schlagzeug<br />
ins Licht rückte, umso schneller wuchs das Instrument<br />
und das Repertoire dafür. Mit Fug und Recht spricht<br />
man daher vom »Jahrhun<strong>der</strong>t des Schlagzeugs« – und die<br />
Entwicklung ist nicht abgeschlossen.<br />
Der ungarische Komponist Béla Bartók gehört zu den<br />
ersten, die das Schlagzeug in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik<br />
emanzipieren wollten. In seiner Sonate für zwei Klaviere<br />
und Schlagzeug (1938) setzt er das Schlagzeug mit<br />
dem Klavier auf Augenhöhe, indem er ihre herkömmlichen<br />
Rollen quasi vertauscht: Das Klavier behandelt<br />
er aufgrund seiner Hammertechnik wie ein Schlagzeug,<br />
während er beim Schlagzeug mithilfe von Xylophon und<br />
Pedalpauken das melodische Potenzial hervorhebt,<br />
sodass Klavier und Schlagwerk ebenbürtige melodie-,<br />
klang- und rhythmusgebende Kammermusikpartner sind.<br />
Die Sololiteratur ließ länger auf sich warten. Als man bei<br />
den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1959 den<br />
Instrumentalwettbewerb für Schlagzeug auszuschreiben<br />
plante und dann feststellte, dass es dafür gar keine Solostücke<br />
gab, schrieb Karlheinz Stockhausen kurzerhand<br />
seinen epochalen Zyklus für einen Schlagzeuger Nr. 9 –<br />
ein Titel, <strong>der</strong> wörtlich und bildlich zu verstehen ist: Er<br />
gruppierte die Instrumente nach Material – Holz, Fell,<br />
Metall – und ordnete die Aufstellung <strong>der</strong> Instrumente im<br />
Kreis an, um nahtlose klangliche Abstufungen im Übergang<br />
von einer Gruppe zur an<strong>der</strong>en zu ermöglichen. Zyklus<br />
inspirierte sofort eine Reihe an<strong>der</strong>er Komponist:innen,<br />
Solostücke für Schlagzeug zu schreiben. Der Befreiungsschlag<br />
aus <strong>der</strong> Begleitfunktion war gelungen!<br />
Inzwischen ist das Schlagzeug mehr als nur emanzipiert.<br />
Neben <strong>der</strong> fabelhaften Virtuosität, die Jazz- und<br />
Rockgrößen wie Billy Cobham zu Legenden am Drumset<br />
o<strong>der</strong> einen Musiker wie Mohammad Reza Mortazavi zu<br />
einem Meister <strong>der</strong> persischen Schlaginstrumente Tombak<br />
und Daf gemacht hat, bietet das variable Instrument<br />
allein schon szenisches Potenzial genug für Performances<br />
mit visuellem und choreografischem Wert<br />
(Marilyn Mazur, Camille Emaille u. a.) – manchmal sogar<br />
193
mit musik theatralem Charakter, wie es sich das Ensemble<br />
This I Ensemble That zur Eigenschaft gemacht hat,<br />
o<strong>der</strong> wie es auch in Georges Aperghis’ neuem Musiktheater<br />
Die Erdfabrik zum Einsatz kommt.<br />
WAHRE KUNST GIBT<br />
DIE MÖGLICHKEIT, DIE<br />
GEISTIGE DIMENSION<br />
ZU ÖFFNEN:<br />
DIESE MÖGLICHKEIT<br />
VERLIEREN DIE<br />
MENSCHEN, DENN SIE<br />
WOLLEN NUR NOCH<br />
LEICHTES LEBEN,<br />
LEICHTE MUSIK,<br />
LEICHTE KUNST.<br />
Wil<strong>der</strong> Ernst, großes Spiel – Michael Wertmüller,<br />
Sofia Gubaidulina, Simon Steen-An<strong>der</strong>sen<br />
Kein Instrument vereint in sich den Kern so vieler eigenständiger<br />
musikalischer Stile und Kulturen, wie es das<br />
Schlagzeug tut. So ist es auch nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass<br />
gerade ein Komponist wie Michael Wertmüller, <strong>der</strong> als<br />
Jazzschlagzeuger wie als Orchesterperkussionist Karriere<br />
gemacht hat, die scheinbar unvereinbaren Welten von<br />
Klassik und Jazz als EINE Welt begreift und behandelt.<br />
In seinem experimentellen Opernraum D•I•E (UA <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
2021) hatte er das mit fünf Bands und Ensembles<br />
völlig unterschiedlicher Stile unter Beweis gestellt.<br />
In seinem neuen Stück für die <strong>Ruhrtriennale</strong> lässt er nun<br />
zwei gegensätzliche Orchester – Sinfonieorchester und<br />
Bigband – zu einem großen heterogenen Klangkörper<br />
zusammenwachsen. Dass sich die beiden nicht ganz<br />
ohne Weiteres in Einklang bringen lassen und mit unterschiedlichen<br />
Rhythmen, Metren und Tempi immer wie<strong>der</strong><br />
genüsslich gegeneinan<strong>der</strong>laufen, verrät schon <strong>der</strong><br />
Titel Shlimazl.<br />
Bigband steht für Spaß und Unterhaltung. Solche Leichtfüßigkeit<br />
ist jedoch das letzte, womit man die tatarischrussische<br />
Komponistin Sofia Gubaidulina assoziieren<br />
würde. Tatsächlich sieht die 91-Jährige in <strong>der</strong> heutigen<br />
»Spaßgesellschaft« die bedenkliche Tendenz, dass jede<br />
geistige Aktivität abhandenkommt und das Leben nur<br />
noch horizontal und eindimensional verläuft. »Wahre<br />
Kunst gibt die Möglichkeit, die geistige Dimension zu öffnen:<br />
die Vertikale«, sagt sie 2002 in einem Interview mit<br />
Janica Draisma. »Diese Möglichkeit verlieren die Menschen,<br />
denn sie wollen nur noch leichtes Leben, leichte<br />
Musik, leichte Kunst. Und alles nur zum Spaß. Das ist eine<br />
sehr große Gefahr. Es ist <strong>der</strong> Weg zum Tod. Zum geistigen<br />
Tod. Aber sie bemerken es nicht.« Spaß und Leichtigkeit<br />
hält Gubaidulina dennoch für wichtig, nur sollten sie mit<br />
geistiger Aktivität und Tiefe in einer Balance stehen, da<br />
man sonst die »geistige Muskulatur« verliere, die »Verbindung<br />
zum Himmel« – o<strong>der</strong> wie sie es an an<strong>der</strong>er Stelle<br />
ausdrückt: die »Wurzeln im Himmel«. Gern verwendet sie<br />
die Metapher des Kreuzes, um diese Balance zu verdeutlichen.<br />
Auf den ersten Blick erstaunt vielleicht, dass diese<br />
hochgeistige und tiefreligiöse Frau, <strong>der</strong>en Kreativität<br />
einst aus Armut, Angst und Trostlosigkeit geboren wurde,<br />
ein frivolitätsverdächtiges Stück wie Revuemusik für Sinfonieorchester<br />
und Jazzband schreibt. Aber eben nur auf<br />
den ersten Blick. Auf den zweiten fällt auf, dass sie ihre<br />
zwei konträren Klangkörper genau in diesen Dienst stellt:<br />
ein Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte herzustellen. An Expertise,<br />
für Bigband zu komponieren, fehlt es ihr dabei keineswegs,<br />
schrieb sie doch in jungen Jahren zum Broterwerb<br />
in Moskau oft Filmmusik – eine Qualität, die in dieser<br />
vollends unfrivolen, fantastisch-skurrilen Komposition<br />
immer wie<strong>der</strong> zum Tragen kommt.<br />
ÜBER DEN HUMOR<br />
UND DAS SPIEL DRINGT<br />
STEEN-ANDERSEN<br />
ZU EINER NEUEN<br />
MUSIK, EINER ART<br />
META-MUSIK VOR,<br />
DIE SICH AUS DIESEM<br />
TRÜMMERHAUFEN<br />
VON AUDIOVISUELLEM<br />
MATERIALSCHOTTER<br />
HERAUSSCHÄLT<br />
UND SICH WIE EIN<br />
KLINGENDER PHOENIX<br />
AUS DER ASCHE<br />
ERHEBT.<br />
Dass Spaß und Humor nicht mit grundsätzlicher Oberflächlichkeit<br />
gleichzusetzen sind, son<strong>der</strong>n auch ein<br />
Schlüssel zu Tiefe, Zweifel o<strong>der</strong> etwas Unbekanntem<br />
sein können, legt <strong>der</strong> dänische Komponist Simon Steen-<br />
An<strong>der</strong>sen nahe. Sein Interessensfeld ist <strong>der</strong> Aufführungsprozess<br />
von Musik, die Konzertsituation und ihre<br />
194
Insignien, mit denen er als Material spielt – und zwar die<br />
aberwitzigsten, absurdesten Spiele. Das Material seines<br />
audiovisuell angelegten Klavierkonzerts (Piano Concerto)<br />
gewinnt er etwa aus dem Video eines Flügels, <strong>der</strong><br />
aus einiger Höhe auf einen Betonboden kracht und zerschellt.<br />
In seiner Black Box Music für Soloschlagzeug,<br />
Video und Ensemble untersucht und dekonstruiert er die<br />
performativen Qualitäten des Puppen theaters und des<br />
Dirigierens zugleich. In seinem TRIO für Orchester, Chor,<br />
Bigband und Video betritt er die monumentale Skala: Auf<br />
einer großen Leinwand über den Klangkörpern spielen<br />
sich Sequenzen von kleinstfragmentiertem, gelooptem<br />
o<strong>der</strong> in schneller Abfolge collagiertem Videomaterial von<br />
Konzert- und Probensituationen <strong>der</strong> drei Klangkörper ab.<br />
Das historische Material stammt aus dem Archiv des Südwestrundfunks.<br />
Und die Live-Musiker:innen, die diesem<br />
Hakenschlagen zu folgen haben, liefern den atemlosen<br />
Soundtrack dazu. Der irre Ritt unterhält, begeistert, belustigt,<br />
fasziniert – wirft in voller Fahrt aber auch Zweifel<br />
auf: Macht sich <strong>der</strong> Komponist lustig über die »Dirigentengötter«<br />
und den verstaubten, pathetischen Gestus<br />
des Musikmachens von damals? O<strong>der</strong> zielt er auf etwas<br />
ganz an<strong>der</strong>es ab? Steen-An<strong>der</strong>sen, so viel wird klar, befragt<br />
den heiligen Ernst, mit dem seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
westliche Kunstmusik aufgeführt wird. Doch hinter dem<br />
ikonoklastischen Trieb scheint auch ein Bedürfnis zu stehen,<br />
Musik in ihrer Wahrhaftigkeit von dem verdeckenden<br />
Gewand des bürgerlichen Performance-Habitus zu<br />
befreien. Über den Humor und das Spiel dringt Steen-<br />
An<strong>der</strong>sen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor,<br />
die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem<br />
Materialschotter herausschält und sich aus <strong>der</strong> Hektik<br />
des Springens, Schneidens und Montierens wie ein klingen<strong>der</strong><br />
Phoenix aus <strong>der</strong> Asche erhebt.<br />
Die kommunikative Welt von Georges Aperghis<br />
Auch <strong>der</strong> griechisch-französische Komponist Georges<br />
Aperghis hatte als junger Künstler große Zweifel am<br />
konventionellen Musik- und Theaterbetrieb. Anfang<br />
<strong>der</strong> 70er-Jahre feierte er vielbeachtete Erfolge bei allen<br />
berühmten Musiktheaterfestivals in Frankreich, aber<br />
er hatte das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, seine<br />
Arbeit am falschen Ort zu leisten. Daher stieg er für<br />
etliche Jahre aus diesem Geschäft aus und gründete in<br />
einem von Armut und sozialer Not gezeichneten Pariser<br />
Vorort eine Gruppe für experimentelles Musiktheater,<br />
die sich zum Ziel machte, eine neue künstlerische<br />
Ausdrucksform zu entwickeln, die vom Alltag inspirierte,<br />
soziale Ereignisse in die Welt <strong>der</strong> Poesie überträgt. Die<br />
ersten Bewohner des Vororts, die sich für die Neuankömmlinge<br />
aus Paris interessierten, waren Kin<strong>der</strong>. Und<br />
so begann seine Arbeit mit ihnen. Sie machten spielerische<br />
Improvisationsübungen, erkundeten, wie Sprache,<br />
Klang und Gestik sich zueinan<strong>der</strong> verhalten. Das<br />
Material, mit dem sie spielten, waren die Geschichten<br />
dieser Kin<strong>der</strong>, die größtenteils aus Nordafrika eingewan<strong>der</strong>t<br />
waren, und die von Nachbarschaft und Autolärm<br />
erzählten, von ihrer Heimat und <strong>der</strong> Überfahrt<br />
übers Mittelmeer. Aus Elementen dieser Workshops<br />
generierte Aperghis seine Musiktheatersprache, die er<br />
auch heute noch von dieser Basis aus weiterentwickelt.<br />
IN MEINER MUSIK<br />
GIBT ES ETWAS, DAS MIT<br />
DEM PUBLIKUM,<br />
MIT DEN MUSIKERN<br />
UND AUCH MIT MIR<br />
SPRECHEN WILL.<br />
Obwohl sich Georges Aperghis als Einzelgänger und<br />
Außenseiter bezeichnet, hat er ein so umfassendes<br />
Interesse am Menschen, dass er ihn über sein Werk stellt –<br />
und zugleich in dessen Zentrum. Und dieser Mensch will<br />
kommunizieren: »In meiner Musik gibt es etwas, das mit<br />
dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen<br />
will«, erklärt Aperghis. »Es ist keine Musik, die aus<br />
himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf <strong>der</strong> Erde gemacht,<br />
für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen,<br />
von <strong>der</strong> Liebe, von <strong>der</strong> Sprache, vom Körper.«<br />
Auch Instrumente nimmt er wie mitteilsame Menschen<br />
wahr, die mit ihm zu kommunizieren versuchen: »Bei einem<br />
Klavierkonzert von Mozart hat man das Gefühl, das<br />
Klavier spreche mit einem. Jedes Mal sagt es einem etwas<br />
an<strong>der</strong>es, nichts Genaues, aber es ist klar, dass es einem<br />
etwas sagen will, und man versteht es beinahe. Das liebe<br />
ich! Und das würde ich gerne schaffen, aber das schafft<br />
meiner Meinung nach nur Mozart.«<br />
Georges Aperghis behandelt Sprache als reinen Klang,<br />
als musikalisches Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts.<br />
Ihn interessiert weniger, was konkret gesagt wird, als wie<br />
es gesagt wird. Es sind die schwer beschreibbaren Nuancen,<br />
die Bände sprechen über einen Menschen und sein<br />
Verhältnis zum Gesagten. Sie verraten etwas über Selbstsicherheit<br />
o<strong>der</strong> Irritierbarkeit, über innere Ruhe, Anspannung<br />
o<strong>der</strong> Zerrissenheit, auch über Charakter, Wahrhaftigkeit<br />
und Leidenschaft. Meist verlässt er die textliche<br />
Logik und zerlegt die Sprache in Silben und Phoneme,<br />
die er wie Töne handhabt. Er bildet daraus sogar eine Art<br />
Melodien, ohne dass zwangsläufig gesungen wird.<br />
Nähe durch Sprache – Leoš Janáček<br />
In Georges Aperghis träfe Leoš Janáček einen geistigen<br />
Verwandten, wenn <strong>der</strong> tschechische Komponist nicht fast<br />
ein Jahrhun<strong>der</strong>t vor Aperghis geboren wäre. Zwar lässt ihre<br />
Musik nicht unmittelbar auf Ähnlichkeit schließen, aber<br />
<strong>der</strong> sprachnahe Gestus ist bei beiden unüberhörbar. Wie<br />
kein an<strong>der</strong>er ist Janáček dafür bekannt, sich in einer einzigartigen<br />
Präzision an <strong>der</strong> menschlichen Sprache – in seinem<br />
Fall <strong>der</strong> tschechischen – zu orientieren; wie Aperghis<br />
geht es ihm dabei weniger um die spezifischen Aussagen<br />
als um die Art und Weise, wie jedes Individuum den Worten<br />
mit seiner Stimme und Verfasstheit klanglich, melodisch,<br />
rhythmisch beim Sprechen Ausdruck verleiht. Zeit seines<br />
Lebens war Janáček geradezu versessen auf die sogenannte<br />
195
Notizbuch von Leoš Janáček: Letzte Worte seiner sterbenden Tochter Olga in Noten festgehalten.<br />
»Sprechmelodik« <strong>der</strong> Menschen, die ihn umgaben, seien<br />
sie bekannt o<strong>der</strong> fremd, bedeutend o<strong>der</strong> gewöhnlich.<br />
Er horchte ihrer Sprache, als sei sie Musik, und übertrug<br />
kleine melodisch-rhythmische Motive mit den dazugehörigen<br />
Silben in Notenschrift und notierte sie in einer beständig<br />
wachsenden Sammlung. Dieses an Charakteren reiche<br />
Sprechmelodienarchiv bildete die Basis seiner Kompositionen,<br />
und zwar <strong>der</strong> vokalen wie <strong>der</strong> rein instrumentalen.<br />
Manchmal schienen ihm diese Notate auch als eine Art<br />
Speichermedium zu dienen, um ihm wichtige Erinnerungen<br />
am Leben zu halten – etwa die letzten Worte seiner mit<br />
nur 20 Jahren verstorbenen Tochter Olga: »Já nechci umřít,<br />
já chci žít!« – Ich will nicht sterben, ich will leben!<br />
Janáčeks Methode zeugt von einem unbedingten Interesse<br />
am Menschen und daran, wie sich dessen hochkomplexe<br />
Psyche in Klang wi<strong>der</strong>spiegelt. Sein egalitärer Blick auf die<br />
Menschen bestimmte auch seine ungewöhnlichen Opernsujets:<br />
Seine bekanntesten Opern Jenůfa, Katja Kabanova und<br />
Das schlaue Füchslein handeln nicht von tragischen Held:innen,<br />
son<strong>der</strong>n von Geschöpfen, die im Schatten stehen, vom<br />
geraden Weg abgekommen sind, die nicht nur keine Rechte<br />
haben, son<strong>der</strong>n auch Unrecht begangen haben. Ob nun<br />
fehltretende Frauenfiguren o<strong>der</strong> die weitgehend ausgelieferte<br />
Tierwelt – Janáček for<strong>der</strong>te mit seiner Musik Mitgefühl,<br />
wo es in einer männlich dominierten Gesellschaft rar gesät<br />
war. Ausschließlich Männer sind wie<strong>der</strong>um das Sujet seiner<br />
letzten Oper Aus einem Totenhaus – doch nicht operntaugliche<br />
Heldenfiguren, son<strong>der</strong>n Verbrecher und Versager,<br />
die in <strong>der</strong> Gleichgültigkeit des Lagerlebens untergehen.<br />
OB NUN<br />
FEHLTRETENDE<br />
FRAUENFIGUREN<br />
ODER DIE WEITGEHEND<br />
AUSGELIEFERTE<br />
TIERWELT – JANÁČEK<br />
FORDERTE MIT SEINER<br />
MUSIK MITGEFÜHL,<br />
WO ES IN<br />
EINER MÄNNLICH<br />
DOMINIERTEN<br />
GESELLSCHAFT RAR<br />
GESÄT WAR.<br />
196
WENN DIE UNSCHULDIG GESTORBENE AKULINA<br />
NUN DURCH ŠIŠKOVS STIMME HINDURCH SPRICHT,<br />
WERDEN NICHT NUR ŠIŠKOVS TRAGISCHE LIEBE,<br />
SEIN SCHMERZ UND SEINE REUE LEBENDIG,<br />
AKULINA SELBST SCHEINT WIE EINE ENGELHAFTE,<br />
METAPHYSISCHE PRÄSENZ DAS DÜSTERE<br />
GEFÄNGNIS EINEN MOMENT LANG ZU ERHELLEN.<br />
Nur manchmal geht ein kleines Fenster auf. Wenn ein Gefangener<br />
von seinem Schicksal erzählt, bahnt sich das<br />
typisch janáčeksche Individuum den Weg ans Licht. Nicht<br />
nur seine Stimme, son<strong>der</strong>n auch die Stimmen jener, die in<br />
seiner Geschichte vorkommen, werden lebendig – kleine<br />
Binnendramen, in denen sich diese Sträflinge in die verhängnisvolle<br />
Situation ihrer Straftat zurückversetzen, dabei<br />
immer wie<strong>der</strong> die Rollen wechseln, um auch ihren Opfern<br />
o<strong>der</strong> Peinigern Stimme zu verleihen. Beson<strong>der</strong>s eindringliche<br />
Formen nimmt das im Fall des Sträflings Šiškov an:<br />
Er erinnert den Mord, den er an seiner geliebten Braut Akulina<br />
begangen hatte, weil er seinem infamen Rivalen glaubte,<br />
sie sei bei <strong>der</strong> Heirat keine Jungfrau mehr gewesen. Wenn<br />
die unschuldig gestorbene Akulina nun durch Šiškovs Stimme<br />
hindurch spricht, werden nicht nur Šiškovs tragische<br />
Liebe, sein Schmerz und seine Reue lebendig, Akulina<br />
selbst scheint wie eine engelhafte, metaphysische Präsenz<br />
das düstere Gefängnis einen Moment lang zu erhellen.<br />
Letzte Stimmen – Huelgas Ensemble<br />
Derselbe nächtliche Raum, <strong>der</strong> Janáčeks Totenhaus-<br />
Sträflinge gefangen hält, wird zum Abschluss <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
<strong>2023</strong> noch einmal von <strong>der</strong> menschlichen Stimme<br />
erhellt. Diesmal ist sie wie<strong>der</strong> alleine, ohne jedes<br />
Hilfsmittel. Das Vokalensemble Huelgas bewegt sich<br />
durch die Welt <strong>der</strong> frühen Vokalpolyphonie, die sich<br />
einst auch aus mensch licher Sprache heraus entwickelt<br />
hat, als im Frühmittelalter die Liturgie, das Gebet, das<br />
Gespräch des Menschen mit Gott zu Musik wurde. Und<br />
die Wirkmacht <strong>der</strong> menschlichen Stimme ist gewachsen:<br />
Sie hat gelernt, ein schwindelerregendes 24-stimmiges<br />
Gefüge wie Josquin Desprez’ Qui habitat durch<br />
die Kraft und Klarheit je<strong>der</strong> einzelnen Stimme schweben<br />
zu lassen. Und sie hat gelernt, mit Antoine Brumels<br />
Erdbebenmesse Et ecce terrae motus die Erde zum Beben<br />
zu bringen: Steine zu bewegen, Welten zu bewegen,<br />
Menschen zu bewegen.<br />
BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
2021–23. Als Autorin und Mo<strong>der</strong>atorin im Bereich Neuer Musik ist sie seit vielen Jahren<br />
für den Deutschlandfunk und die verschiedenen Programme des ARD-Hörfunks tätig.<br />
2018–2020 war sie Dramaturgin für Oper und Konzert an <strong>der</strong> Staatsoper Suttgart.<br />
Foto: Moravské zemské muzeum, Filozofická fakulta Masarykovy univerzity – Ústav hudební vědy 2013<br />
197
JETZT!<br />
VON NINA BADE<br />
Nina Bade 2021<br />
Nina Bade <strong>2023</strong><br />
JETZT & JETZT<br />
Installation<br />
ab 24. August <strong>2023</strong><br />
Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/jetzt<br />
198
Als Zeitstempel bezeichnet man eine spezielle Form von Signatur, die einem Ereignis einen<br />
exakten Zeitpunkt zuordnet. Wenn man einen Brief verschickt, dient <strong>der</strong> Poststempel <strong>der</strong><br />
Zuordnung zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Verschickung. Es gibt auch digitale Zeitstempel, zum Beispiel<br />
jene, die in <strong>der</strong> Fotogalerie den exakten Zeitpunkt <strong>der</strong> Aufnahme angeben.<br />
Zeitstempel haben in gewisser Weise einen objektiven und urteilsfreien Anspruch, sie sind<br />
ein pragmatisches Hilfsmittel. In einer persönlichen Auswahl und Aneinan<strong>der</strong>reihung<br />
ergeben sie jedoch eine Erzählung, die aus einem subjektiven Blickwinkel heraus entsteht.<br />
Der Blickwinkel, aus dem dieser Text entsteht, ist <strong>der</strong> einer Produktionsleiterin und später<br />
Dramaturgin von Jetzt & Jetzt. In meiner persönlichen Auswahl von Zeitstempeln <strong>der</strong><br />
vergangenen zwei Jahre möchte ich ein Bild skizzieren, das von Jetzt & Jetzt erzählt, von<br />
Mats Staub und mehr als hun<strong>der</strong>t Menschen, von Prozessen, von Wachstum und von meinem<br />
eigenen Zeitgefühl.<br />
21/04/02<br />
Meine persönliche Zeitrechnung von Jetzt & Jetzt beginnt<br />
mit einem Anruf von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Es gehe um eine<br />
neue Arbeit von Mats Staub, für die sie eine Produktionsleitung<br />
suchen. Den Namen hatte ich schon mal gehört,<br />
von den Arbeiten dieses Künstlers auch. Arbeiten, die<br />
über viele Jahre entstehen, die aus Gesprächen und<br />
Portraits mit Menschen allerorts bestehen und die sich<br />
in keine Sparte einordnen lassen. Auch in seiner neuen<br />
Arbeit möchte er ins Gespräch mit Menschen kommen.<br />
Er möchte hun<strong>der</strong>t Menschen im Abstand von zwei Jahren<br />
treffen, mit ihnen über ihre Verän<strong>der</strong>ungen und ihr<br />
Wachstum reden und eine Begegnung von zwei Jetzt-<br />
Zuständen schaffen. Meine Aufgabe würde es sein, hun<strong>der</strong>t<br />
Menschen zu finden, einen für jeden Jahrgang zwischen<br />
8 und 80 Jahren, hun<strong>der</strong>t Termine zu vereinbaren, hun<strong>der</strong>t<br />
Begegnungen im Sommer 2021 stattfinden zu lassen.<br />
21/05/15<br />
Die ersten Testaufnahmen finden in <strong>der</strong> Turbinenhalle<br />
statt und ich fahre zum ersten Mal nach Bochum. Da ich<br />
niemanden kenne, schlafe ich über Airbnb bei einer<br />
Person. Sie wird später die erste Teilnehmerin des Projektes<br />
werden.<br />
Bei den Aufnahmen lerne ich Mats Staub persönlich kennen.<br />
Nach ein paar Telefonaten und Zooms treffen wir uns<br />
in <strong>der</strong> Turbinenhalle. Er ist herzlich und warm, nach kurzer<br />
Zeit habe ich das Gefühl, nicht mehr so nervös sein zu<br />
müssen. Die Turbinenhalle ist wie<strong>der</strong>um kalt und rau. Seit<br />
einer Weile scheint sich die Natur die Halle zurückerobern<br />
zu wollen. Ein paar Tauben haben sich in das Gewölbe <strong>der</strong><br />
Halle eingenistet. Von Zeit zu Zeit hören wir sie flattern und<br />
weichen immer mal wie<strong>der</strong> herunterfallendem Kot aus.<br />
21/06/06<br />
Wir haben einen Open Call erstellt, <strong>der</strong> interessierte Menschen<br />
zwischen 8–80 Jahren einlädt, sich für die Teilnahme<br />
am Projekt anzumelden und auf eine intensive Selbstreflexion<br />
einzulassen. Von Woche zu Woche verschicke<br />
ich unseren Teilnahmeaufruf durch verschiedene Verteiler,<br />
telefoniere, vereinbare Termine und recherchiere, wo<br />
ich noch mehr Menschen erreichen kann. Zur Anmeldung<br />
schicken sie per Mail ein zwei Jahre altes Foto von sich<br />
und eine kurze Beschreibung darüber, wie sie sich seitdem<br />
verän<strong>der</strong>t haben.<br />
21/07/12<br />
Es ist nur noch einen Monat hin bis zum Beginn unserer<br />
Aufnahmen. Von hun<strong>der</strong>t Menschen haben sich erst etwa<br />
die Hälfte gemeldet. Plötzlich ist unser Vorhaben so nah<br />
gerückt, nur fehlen all die Leute, die das Ruhrgebiet zu<br />
dem machen, was es ist.<br />
21/08/01<br />
Ich fahre im vollen Zug ohne Klimaanlage und einem großen<br />
Reiserucksack nach Bochum. Dieses Mal bleibe ich<br />
zwei Monate. Den Sommer über werden alle meine Erwartungen<br />
nach und nach mit Erinnerungen gefüllt werden.<br />
21/08/09<br />
Während <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>e Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle für die<br />
Insta llation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden<br />
tech nisch eingerichtet wird, beziehen wir den Teil hinter<br />
den Turbinen. Unser Technikteam baut kleine schwarze<br />
Kabäuschen auf, in denen die Videos gedreht, Gespräche<br />
geführt und Briefe geschrieben werden. Die Schaltzentrale<br />
wird zum Gewächshaus umfunktioniert, darin hun<strong>der</strong>t<br />
Pflanzen, die von unserer Pressereferentin Stefanie Matjeka<br />
in monatelanger Arbeit in ihrem Garten herangezüchtet<br />
wurden. In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> hinteren Turbinenhalle steht ein<br />
großer Holztisch, an dem das Team Platz findet. Weiter<br />
rechts unsere Küchenzeile bestehend aus einem Kühlschrank<br />
und einer Kaffeemaschine.<br />
21/08/15<br />
Mats' künstlerisches Team reist für die Eröffnung von<br />
21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden an. Der vor<strong>der</strong>e<br />
Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle ist nun mit Bildschirmen gefüllt,<br />
die vom 21. Lebensjahr unterschiedlichster Menschen erzählen.<br />
Die Aufnahmen für Jetzt & Jetzt werden zwei Tage<br />
später beginnen und Aufregung und Vorfreude liegen in<br />
<strong>der</strong> Luft. Mats zeigt seinem Team den Aufnahmebereich,<br />
als wäre es seine erste eigene Wohnung, die er gerade<br />
frisch bezogen hat.<br />
199
21/08/17<br />
Unsere Aufnahmen für Jetzt & Jetzt beginnen. Uns steht<br />
ein ganzer Monat voller Begegnungen bevor. Nach <strong>der</strong><br />
kurzzeitigen Anmeldeflaute haben sich viele Teilnehmer:innen<br />
gemeldet, die den Aufruf auf den verschiedenen<br />
Kanälen gefunden haben, die von an<strong>der</strong>en Menschen davon<br />
gehört haben und die die Installation 21 inspiriert hat.<br />
Unser gesamter Sommer ist durchgetaktet. Wir haben die<br />
Abläufe geprobt, aber Proben sind in diesem Fall an<strong>der</strong>s<br />
als am Theater. Vieles bringen erst die Teilnehmer:innen<br />
mit. Die erste Teilnehmerin kommt nicht. Ich erreiche sie<br />
telefonisch nicht. Ich bin verantwortlich für hun<strong>der</strong>t<br />
Menschen, und dass alles nach Plan läuft. Was ist, wenn<br />
niemand kommt?<br />
Alle an<strong>der</strong>en Teilnehmer:innen werden kommen.<br />
Alle tragen eine Maske.<br />
Alle füllen einen Fragebogen über ihre Wünsche und Fragen aus.<br />
Alle führen ein Gespräch mit Mats.<br />
Alle wählen ein aktuelles Lieblingslied und werden beim Blick in den Spiegel gefilmt.<br />
Alle stellen sich dabei vor, dass sie auf ihr zukünftiges Ich treffen.<br />
Alle schreiben einen Brief an ihr zukünftiges Ich.<br />
Alle nehmen eine Pflanze und einen Termin für den März <strong>2023</strong> mit.<br />
Alle machen das Gleiche, aber alle machen es auf ihre Weise.<br />
21/08/26<br />
Auch ich bin eine Teilnehmerin. Eine Woche lang habe<br />
ich die an<strong>der</strong>en Teilnehmer:innen empfangen, ihnen den<br />
Ablauf erklärt, ihre Aufnahmen live miterlebt und dabei<br />
ihre Nervosität gespürt. Nun bin ich an ihrer Stelle. Ich<br />
finde keine Antworten für den Fragebogen und weiß<br />
nicht, was ich in den Brief schreiben soll. Die Videokabine<br />
kommt mir plötzlich sehr eng vor und mein eigener<br />
Blick im Spiegel überfor<strong>der</strong>t mich. Es ist einfacher,<br />
den Kopf bei hun<strong>der</strong>t an<strong>der</strong>en Menschen zu haben, als<br />
mich für eine Stunde mit mir selbst zu beschäftigen.<br />
21/09/02<br />
Während das Festivalpublikum tagsüber 21 – Erinnerungen<br />
ans Erwachsenwerden im vor<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle<br />
besucht, nehmen wir hinter <strong>der</strong> Turbine auf. Wir,<br />
das sind Mats Staub, Fre<strong>der</strong>ieke Tambaur (unsere Dramaturgin),<br />
Benno Seidel (unser Videodesigner) und ich.<br />
Die Turbinenhalle ist unsere Oase. Gemeinsam sitzen wir<br />
um den großen Holztisch und arbeiten, liegen in kurzen,<br />
sonnigen Pausen in Liegestühlen vor <strong>der</strong> Turbinenhalle und<br />
unterhalten uns über das, was uns beschäftigt. Wir essen<br />
selten Salat und fast täglich Schokobrötchen von Schmidtmeier.<br />
Nach den Aufnahmen fahren wir zusammen zu den<br />
Vorstellungen und trinken ein Glas Weißburgun<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Pappelwaldkantine. Es ist Sommer und vom Festivalgefühl<br />
beflügelt rauschen die Tage wie im Flug vorbei. Nach<br />
6 Wochen haben wir 108 Menschen aufgenommen und<br />
fast alle Produktionen <strong>der</strong> Ruhr triennale angeschaut.<br />
200
21/09/26<br />
Es ist unser letzter Aufnahmetag. Das Festival ist vorbei<br />
und <strong>der</strong> Sommer auch. Wir packen unsere Dinge zusammen.<br />
Die Briefe verwahren wir an einem sicheren<br />
Ort, wo sie alle zusammen eineinhalb Jahre ruhen werden.<br />
Ich verlasse Bochum.<br />
22/08/11<br />
Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2022 beginnt und mit ihr ein warmer<br />
Sommer. Ich sitze schwitzend in <strong>der</strong> Turbinenhalle, wo das<br />
Festival unter an<strong>der</strong>em eröffnet wird. Ich spüre die Geister<br />
von unseren Aufnahmen und Gesprächen immer noch in<br />
<strong>der</strong> Halle. In den kommenden Tagen werde ich beginnen,<br />
alle Teilnehmer:innen ein Jahr nach ihrer Aufnahme zu<br />
kontaktieren und an ihre Teilnahme zu erinnern. Manche<br />
schicken mir neue Lieblingslie<strong>der</strong> und schreiben mir, wie<br />
sehr ihre Pflanze inzwischen gewachsen ist. Ab und zu<br />
laufe ich einzelnen Teilnehmer:innen über den Weg.<br />
22/09/09<br />
Mats Staub und ich machen zusammen Dramaturgieklausur.<br />
Was vorher als grobe Idee im Raum stand, wird nun<br />
konkret. Mit dabei bei den Treffen ist Hanno Sons, unser<br />
technischer Leiter. Dieses Mal bin ich die Dramaturgin <strong>der</strong><br />
Produktion und Bochum ist inzwischen mein Zuhause.<br />
23/01/09<br />
Wir treffen uns zur Dimensionsprobe in <strong>der</strong> Turbinenhalle,<br />
probieren Raumentwürfe unserer Szenografin Louisa<br />
Robin aus, diskutieren über Monitore, Polsterfarben und<br />
Anordnungen im Raum.<br />
Der März und damit die zweite Aufnahmephase rückt<br />
näher. Wie werden sich die Menschen verän<strong>der</strong>t haben?<br />
Was werden sie erzählen?<br />
23/03/03<br />
Jetzt kommt mein Text zum Ende, denn es ist Redaktionsschluss und unsere Aufnahmen beginnen.<br />
Jetzt werden hun<strong>der</strong>t Menschen für eine zweite Begegnung zu uns kommen.<br />
Jetzt werden sie ihren Fragebogen und ihren Brief wie<strong>der</strong>bekommen und lesen.<br />
Jetzt werden sie ein zweites Mal in den Spiegel schauen.<br />
Jetzt werden sie von ihrer Verän<strong>der</strong>ung und ihrem Wachstum erzählen.<br />
Jetzt werden wir wie<strong>der</strong> um den großen Holztisch sitzen und jeden Mittag gemeinsam essen.<br />
Jetzt geht es endlich weiter!<br />
Dann werde auch ich als Teilnehmerin wie<strong>der</strong>kommen.<br />
Ich werde meinen Brief lesen, mich im Spiegel anschauen,<br />
runter auf die Fußspitzen und beim Aufblicken direkt in<br />
meine erste Momentaufnahme hinein. Jetzt ist die Zeit zur<br />
Reflexion gekommen!<br />
NINA BADE begann 2021 als künstlerische Produktionsleiterin für die beiden Produktionen<br />
von Mats Staub, 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden und Jetzt & Jetzt, bei <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> zu arbeiten. <strong>2023</strong> ist sie Dramaturgieassistentin des Festivals und<br />
Dramaturgin für Jetzt & Jetzt.<br />
Foto: Jetzt&Jetzt<br />
201
202
203SERVICE
SPIELSTÄTTEN / VENUES<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle und<br />
Turbinenhalle, Bochum<br />
Die Geschichte <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum beginnt im Jahr 1902, als<br />
die Halle dem Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation<br />
auf einer Industrie- und Gewerbeschau in Düsseldorf, <strong>der</strong> sogenannten<br />
»kleinen Weltausstellung«, als Ausstellungshalle diente. Über den Winter<br />
1902/1903 wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die<br />
Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als<br />
Gaskraftzentrale auf. Die Gaskraftzentrale verarbeitete das in den Hochöfen<br />
anfallende Gichtgas und versorgte über 60 Jahre lang das Werk und<br />
umliegende Siedlungen mit Energie. 100 Jahre nach ihrer Errichtung in<br />
Bochum – am 30. April 2003 – wurde die durch einen funktionalen Vorbau<br />
erweiterte und nunmehr denkmalgeschützte Jahrhun<strong>der</strong>thalle im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> zweiten Saison <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> ihrer neuen Bestimmung<br />
als »Montagehalle für die Kunst« (Gerard Mortier) übergeben.<br />
The story of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum begins in 1902, when the hall<br />
served as an exhibition hall for the Bochumer Verein für Bergbau und<br />
Gußstahlfabrikation (Bochum Association for Mining and Steel Casting)<br />
at an industrial and trade show in Düsseldorf, the »small world exhibition«.<br />
The monumental steel construction was transported from the Rhine<br />
to the Ruhr over the winter of 1902/1903 and assumed its function as a<br />
gas power station in the heart of the steelworks. The gas power station<br />
processed the blast furnace gas and supplied the plant and surrounding<br />
settlements with energy for over 60 years. 100 years after its construction<br />
in Bochum – on 30 April 2003 – the Jahrhun<strong>der</strong>thalle, which was extended<br />
by a functional porch and is now a listed building, was given a new<br />
purpose as an »assembly hall for art« (Gerard Mortier) during the opening<br />
of the second season of the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />
44793 Bochum<br />
www.ruhr3.com/jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 302, 305 o<strong>der</strong> 310 bis<br />
Haltestelle Bochumer Verein /<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />
Tram 302, 305 or 310 to Bochumer Verein /<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Approx. 5 min. walk.<br />
Leihfahrrad / Rental Bike<br />
Auf dem Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle befindet<br />
sich die Radstation 7188 von Metropolradruhr.<br />
The Metropolradruhr bike station 7188 is located<br />
on the forecourt of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle.<br />
PKW / By Car<br />
Navigation: An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle, 44793 Bochum<br />
Parkhaus Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Im Parkhaus stehen zwei Parkplätze mit Ladestation<br />
für E-Fahrzeuge sowie fünf Behin<strong>der</strong>tenparkplätze<br />
zur Verfügung.<br />
Car park Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
The multi-storey car park has two parking spaces<br />
with charging stations for e-vehicles and five<br />
disabled parking spaces.<br />
Gastronomie / Catering<br />
Die Pappelwaldkantine vor <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum lädt mit veganen Gerichten und<br />
Getränken zum Verweilen ein.<br />
Öffnungszeiten 11. August – 23. September<br />
Mi–Fr ab 15 Uhr / Sa–So ab 12 Uhr<br />
The Pappelwaldkantine in front of the<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum invites you to<br />
linger with vegan dishes and drinks.<br />
Opening hours 11 August – 23 September<br />
Wed–Fri from 3pm / Sat–Sun from 12pm<br />
Metropolis Kino, Bochum<br />
Das Metropolis Kino öffnete 1957 unter dem Namen »Bahnhofslichtspiele«<br />
(kurz: BALI) seine Türen und war damals das 43. Kino in Bochum.<br />
Es ist neben dem CASABLANCA eines <strong>der</strong> großen Bochumer Filmtheater<br />
für anspruchsvolle Kinounterhaltung. Direkt gelegen im Bochumer<br />
Hauptbahnhof (im linken Seitentrakt des Haupteingangs), bietet das<br />
METROPOLIS in seinem weiträumigen, mit mo<strong>der</strong>nster Technik versehenen<br />
Kinosaal ein abwechslungsreiches Filmangebot, das von Erstaufführungen<br />
in englischer Sprache bis zu beson<strong>der</strong>en Reihen und Premierenveranstaltungen<br />
reicht.<br />
The multi-award-winning METROPOLIS opened its doors in 1957 and,<br />
along with the CASABLANCA cinema, is one of Bochum's major film<br />
theatres for sophisticated cinema entertainment. Located directly in<br />
Bochum's main railway station (in the left side wing of the main entrance),<br />
the METROPOLIS offers a varied range of films in its spacious cinema<br />
auditorium, which is equipped with the latest technology, from first<br />
screenings in English to special series and premiere events.<br />
Hauptbahnhof Bochum<br />
Kurt-Schuhmacher-Platz 13<br />
44787 Bochum<br />
www.ruhr3.com/metropolis<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Der Bochumer Hauptbahnhof ist mit zahlreichen<br />
Verbindungen im Fern- und Nahverkehr erreichbar.<br />
Bochum's main railway station can be reached by<br />
numerous long-distance and local transport<br />
connections.<br />
Leihfahrrad / Rental Bike<br />
Am Hauptbahnhof Bochum befindet sich die<br />
Radstation 7105 von Metropolradruhr.<br />
The Metropolradruhr bike station 7105 is located<br />
at Bochum Main Station.<br />
PKW / By Car<br />
Parkplatz Klever Weg P1 mit 89 Stellplätzen.<br />
Fußweg zum Hauptbahnhof ca. 200 Meter.<br />
Klever Weg P1 car park with 89 parking spaces.<br />
Walking distance to the Bochum Main Station<br />
approx. 200 metres.<br />
204
Zeche Zollern, Dortmund<br />
Die Zeche Zollern war bei ihrer Einweihung im Jahr 1898 die Musterzeche<br />
<strong>der</strong> Gelsenkirchener Bergwerks AG. Prunkvolle Backsteinfassaden und<br />
opulente Giebel mit Zinnenkranz und Ecktürmchen rund um den grünen<br />
Ehrenhof erinnern eher an eine Adelsresidenz als an eine Schachtanlage.<br />
Die Architektur dokumentiert den Übergang vom Historismus zum<br />
Jugendstil, <strong>der</strong> u. a. seinen Ausdruck in den Marmorschalttafeln und<br />
dem eindrucksvollen Portal <strong>der</strong> Maschinenhalle fand. Das ›Schloss<br />
<strong>der</strong> Arbeit‹ im Westen Dortmunds ist zweifellos eines <strong>der</strong> schönsten<br />
und außergewöhnlichsten Zeugnisse <strong>der</strong> industriellen Vergangenheit in<br />
Deutschland. Bereits 1969, drei Jahre nach Stilllegung <strong>der</strong> Zeche, wird<br />
das Gebäudeensemble unter Denkmalschutz gestellt und beherbergt<br />
heute die Zentrale des Westfälischen Industriemuseums des Landschaftsverbandes<br />
Westfalen-Lippe. Der Erhalt <strong>der</strong> Zeche Zollern markiert<br />
den Beginn <strong>der</strong> Industriedenkmalpflege in Deutschland.<br />
Upon its opening in 1898, Zeche Zollern was the pride of the mining company<br />
Gelsenkirchener Bergwerk AG. Elaborate brick façades combined<br />
with opulent parapets and corner towers framing the green entrance<br />
courtyard are more reminis cent of an aristocratic palace than a mining<br />
pit. The architecture represents the transition from historicism to Jugendstil,<br />
which can be seen in the marble control panels and the impressive<br />
entrance to the machine hall. This ›castle of labor‹ in the western part of<br />
Dortmund is undoubtedly one of the most beau tiful and unusual testimonies<br />
to Germany’s industrial past. The ensemble of buildings was already<br />
declared a historical site in 1969, just three years after closing, and today<br />
houses the Westfälisches Industriemuseum of the Landschaftsverband<br />
Westfalen-Lippe. It was the first industrial landmark in Germany.<br />
Zeche Zollern<br />
Grubenweg 5<br />
44388 Dortmund<br />
www.ruhr3.com/zollern<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Bus 462 bis Haltestelle Industriemuseum Zollern<br />
o<strong>der</strong> 378 bis Haltestelle Bövinghauser Straße<br />
RB 43 bis Bahnhof Dortmund Bövinghausen<br />
Bus 462 to Industriemuseum Zollern stop or<br />
378 to Bövinghauser Straße stop<br />
RB 43 to Dortmund Bövinghausen station<br />
Shuttle Service<br />
Ein kostenloser Shuttleservice bringt Sie von<br />
Bochum Hbf o<strong>der</strong> Dortmund Hbf zur Zeche Zollern<br />
und zurück. Weitere Informationen und Buchungsmöglichkeiten<br />
unter www.ruhr3.com/shuttle<br />
A free shuttle service will take you from Bochum<br />
main station or Dortmund main station to Zeche<br />
Zollern and back. Further information and booking<br />
options at www.ruhr3.com/shuttle<br />
PKW / By Car<br />
Für die Navigation geben Sie bitte »Rha<strong>der</strong><br />
Weg 5« (Parkplatz) ein.<br />
For navigation, please enter »Rha<strong>der</strong> Weg 5«<br />
(car park).<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord,<br />
Gebläsehalle, Gießhalle und<br />
Kraftzentrale<br />
Das Stahlwerk im Duisburger Norden wurde 1902 von August Thyssen<br />
als Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb gegründet. Bis zum Jahr 1908<br />
wurden fünf Hochöfen in Betrieb genommen. Außer dem Hüttenwerk<br />
gab es auf dem 200 Hektar großen Gelände noch eine Schachtanlage,<br />
eine Sinterei, eine Kokerei und eine Gießerei. Die Kraftzentrale entstand<br />
zwischen 1906 und 1911, als das Hüttenwerk von drei auf fünf<br />
Öfen erweitert wurde. Im Jahr 1965 hat man die Maschinen zur Stromerzeugung<br />
stillgesetzt und anschließend verschrottet; 1997 schließlich<br />
konnte die Kraftzentrale als multifunktionaler Veranstaltungsort eröffnet<br />
werden. Die Gebläsehalle ist Teil des Dampfgebläsehauses, einem<br />
Gebäudekomplex aus <strong>der</strong> Gründungsphase des Werkes. Noch heute<br />
befinden sich hier vier Elektroturbogebläse, mit denen Hochofenwind<br />
erzeugt wurde, <strong>der</strong> zur Erschmelzung des Roheisens notwendig war.<br />
Die halb offene Gießhalle ist Teil des Gesamtensembles Hochofen 1.<br />
The steelworks in the north of Duisburg was founded in 1902 by August<br />
Thyssen as a joint stock company for metallurgical operations. Five blast<br />
furnaces were put into operation by 1908. In addition to the iron and steelworks,<br />
the 200 hectare site also included a pit, a sintering plant, a coking<br />
plant and a foundry. The Gebläsehalle (blower hall) is part of the steam<br />
blower house, a building complex from the founding period of the plant.<br />
Today, four electric turbo blowers still remain, which were used to generate<br />
the blast furnace wind needed to smelt the pig iron. The Kraftzentrale,<br />
Gebläsehalle and Gießhalle have been restored and reused for cultural events.<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Emscherstraße 71<br />
47137 Duisburg-Mei<strong>der</strong>ich<br />
www.ruhr3.com/landschaftspark<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 903 bis Landschaftspark Nord.<br />
Fußweg ca. 12 Minuten. Achtung: <strong>2023</strong> finden<br />
Bauarbeiten an <strong>der</strong> Haltestelle statt. Bitte<br />
informieren Sie sich vorab über die genauen<br />
Gegebenheiten.<br />
Tram 903 to Landschaftspark Nord stop.<br />
Approx. 12 min. walk. Attention: <strong>2023</strong> construction<br />
work will take place at the stop. Please inform<br />
yourself about the exact conditions in advance.<br />
Leihfahrrad / Rental Bike<br />
metropolradruhr<br />
Radstation 7417 Eingang Landschaftspark.<br />
Fußweg ca. 4 Minuten.<br />
Bike station 7417 main entrance Landschaftspark<br />
Approx. 4 min. walk.<br />
PKW / By Car<br />
Navigation: Emscherstraße 71, 47137 Duisburg<br />
(Mei<strong>der</strong>ich)<br />
Auf dem Parkplatz stehen zwei Ladepunkte für<br />
E-Fahrzeuge zur Verfügung.<br />
There are two charging points for e-vehicles in<br />
the car park.<br />
205
Kulturkirche Liebfrauen, Duisburg<br />
1895/1896 wurde die Liebfrauenkirche im historischen Zentrum Duisburgs<br />
erbaut. Nachdem die Liebfrauenkirche im Zweiten Weltkrieg<br />
größtenteils zerstört wurde, fiel in den Jahren 1953 bis 1955 die Entscheidung<br />
für eine Kirche <strong>der</strong> Gemeinde im Wasserviertel. Nachdem die Stadt<br />
<strong>der</strong> Gemeinde das Grundstück am Friedrich-Albert-Lange-Platz neben<br />
dem Landgericht zugesprochen hatte, begann <strong>der</strong> Bau nunmehr am<br />
König-Heinrich-Platz nach Plänen des Architekten Dr. Toni Hermanns<br />
aus Kleve. Im Zuge <strong>der</strong> Verhandlungen über die Kirche und ihre Nutzung<br />
Anfang <strong>der</strong> 2000er Jahre wurden verschiedenste Modelle diskutiert.<br />
Der Denkmalschutz, die endgültige Unterschutzstellung <strong>der</strong> Kirche am<br />
31. Mai 2005, half dem zwei Jahre zuvor einberufenen »Runden Tisch«,<br />
die Debatte in Richtung <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ung in eine neu zu gründende<br />
Stiftung zu lenken. Am 12. September 2013 erfolgte die Wie<strong>der</strong>eröffnung<br />
<strong>der</strong> zur Kulturkirche umgewidmeten Kirche.<br />
The Liebfrauenkirche was built in the historic centre of Duisburg in<br />
1895/1896. After the Liebfrauenkirche was largely destroyed in the<br />
Second World War, the decision was made between 1953 and 1955 to<br />
build a church for the congregation in the »water district«. After the city<br />
had granted the congregation the plot of land on Friedrich-Albert-Lange-<br />
Platz next to the district court, construction began on König-Heinrich-<br />
Platz according to plans by the architect Dr Toni Hermanns from Kleve.<br />
In the course of negotiations about the church and its use in the early<br />
2000s, a wide variety of models were discussed. The protection of<br />
monuments, the final declaration of the church as a protected building<br />
on 31 May 2005, helped the »Round Table« convened two years earlier<br />
to steer the debate towards incorporation into a new foundation to be<br />
established. On 12 September 2013, the church, which had been rededicated<br />
as a cultural church, was reopened.<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Mit <strong>der</strong> 1907 fertiggestellten Waschkaue <strong>der</strong> größten Zeche des Ruhrgebietes<br />
wurde Schacht 1/2/8 zum Dreh- und Angelpunkt <strong>der</strong> Bergleute <strong>der</strong><br />
Zeche Zollverein. Die Kaue ist ein Umklei<strong>der</strong>aum mit Duschen, ausgelegt<br />
für 3.000 Bergleute. In <strong>der</strong> Weißkaue legten die Bergleute ihre Straßenkleidung<br />
und in <strong>der</strong> Schwarzkaue ihre Arbeitskleidung in Körben ab, die<br />
sie dann unter die Decke zogen. Im Jahr 1964 mo<strong>der</strong>nisiert, war die Kaue<br />
bis zur Einstellung <strong>der</strong> Kohleför<strong>der</strong>ung 1986 in Betrieb.<br />
Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre entdeckten Choreograf:innen <strong>der</strong> Region die<br />
Kaue als Aufführungsort für den Tanz. In den Folgejahren wurde die Verwandlung<br />
in ein Haus für den zeitgenössischen Tanz auf Zollverein vorangetrieben,<br />
die Anfang 2002 im Zusammenschluss des Choreographischen<br />
Zentrums NRW und <strong>der</strong> Tanzlandschaft Ruhr zu PACT Zollverein<br />
ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss fand.<br />
Completed in 1907, the washhouse of the largest colliery in the Ruhr region<br />
made shaft 1/2/8 the linchpin of the miners at the Kokerei Zollverein<br />
(Zollverein colliery). The baths are a changing room with showers designed<br />
for 3,000 miners. The white bath is where miners put their street clothes<br />
and the black bath is where they put their work clothes in baskets, which<br />
they then pulled un<strong>der</strong> the ceiling. Mo<strong>der</strong>nised in 1964, the bath was in<br />
operation until coal mining ceased in 1986.<br />
In the early 1990s, choreographers from the region started using the pithead<br />
as a performance space for dance. In the following years, its transformation<br />
into a house for contemporary dance at Zollverein was driven<br />
forward, which reached its temporary climax and conclusion at the beginning<br />
of 2002 with the merger of the Choreographisches Zentrum NRW<br />
and the Tanzlandschaft Ruhr to form PACT Zollverein.<br />
Kulturkirche Liebfrauen<br />
König-Heinrich-Platz 3<br />
47051 Duisburg<br />
www.ruhr3.com/liebfrauen<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
U79 o<strong>der</strong> Straßenbahnen 901 und 903 bis<br />
Haltestelle König-Heinrich-Platz.<br />
Fußweg von Duisburg Hbf: ca. 13 Minuten<br />
U79 or trams 901 and 903 to König-Heinrich-Platz<br />
stop.Walking distance from Duisburg main station:<br />
approx. 13 minutes<br />
Leihfahrrad / Rental Bike<br />
metropolradruhr<br />
Auf dem König-Heinrich-Platz befindet sich die<br />
Leihstation 7411.<br />
On König-Heinrich-Platz you will find therental<br />
station 7411.<br />
PKW / By Car<br />
Folgen Sie den Wegweisern Richtung Zentrum<br />
und Stadttheater / Mercatorhalle. Die<br />
Tiefgaragen »König-Heinrich-Platz« und<br />
»City Palais« liegen in<br />
unmittelbarer Nähe und bieten pauschale<br />
Abend-/ Veranstaltungstarife an.<br />
Follow the signs to the city centre and Stadttheater /<br />
Mercatorhalle. The un<strong>der</strong>ground car parks<br />
"König-Heinrich-Platz" and "City Palais" are in the<br />
immediate vicinity and offer flat evening/event rates.<br />
Welterbe Zollverein, Areal B<br />
Bullmannaue 20a, 45327 Essen<br />
www.ruhr3.com/pact<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 107 bis Haltestelle Abzweig<br />
Katernberg. Fußweg ca. 6 Minuten<br />
RB 32/35 bis Bahnhof Essen Zollverein Nord.<br />
Fußweg ca. 7 Minuten.<br />
Tram 107 to Katernberg stop. Approx. 6 min. walk.<br />
RB 32/35 to Essen Zollverein Nord station.<br />
Approx. 7 min. walk<br />
Leihfarrad / Rental Bike<br />
metropolradruhr<br />
Auf dem Gelände des Welterbes Zollverein befindet<br />
sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />
Fußweg ca. 7 Minuten.<br />
Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />
behind the Ruhr Museum. Approx. 7 minutes walk.<br />
PKW / By Car<br />
Bitte nutzen Sie den Parkplatz B, Zufahrt über die<br />
Bullmannaue. Es stehen keine Ladepunkte für<br />
E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />
Please use car park B, access via Bullmannaue.<br />
There are no charging points available for<br />
e-vehicles in the immediate vicinity.<br />
206
Salzlager und Mischanlage,<br />
Welterbe Zollverein, Essen<br />
Mit einer För<strong>der</strong>leistung von mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle täglich<br />
war die Zeche Zollverein einst die leistungsfähigste Zeche <strong>der</strong> Welt. Die<br />
Zentralschachtanlage XII, von 1928–1932 nach Plänen von Fritz Schupp<br />
und Martin Kremmer gebaut, gilt als technisches und ästhetisches Meisterwerk<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Im Jahr 2001 wurde das Areal offiziell als Industriekomplex<br />
Zeche Zollverein in die Welterbeliste <strong>der</strong> UNESCO aufgenommen.<br />
Die Kokerei Zollverein entstand 1957–1961 in Anbindung an die Zeche<br />
Zollverein. Aus rund 10.000 Tonnen Kohle konnten hier täglich circa<br />
7.500 Tonnen Koks gewonnen werden. Auf diesem Areal liegt das Salzlager,<br />
in dem bis in die 1980er Jahre Dünger hergestellt wurde – gewonnen<br />
aus Ammoniak und Schwefelsäure. Die Kokerei wurde 1993 stillgelegt. Seit<br />
2001 befindet sich hier die begehbare Rauminstallation Palast <strong>der</strong> Projekte<br />
<strong>der</strong> Künstler Ilya und Emilia Kabakov.<br />
With an output of more than 23,000 tonnes of raw coal per day, the Kokerei<br />
Zollverein (Zollverein colliery) was once the most efficient colliery in the<br />
world. The central shaft XII, built between 1928 and 1932 according to plans<br />
by Fritz Schupp and Martin Kremmer, is consi<strong>der</strong>ed a mo<strong>der</strong>n technical and<br />
aesthetic masterpiece. In 2001, the site was officially listed as Zollverein<br />
Coal Mine Industrial Complex on the UNESCO World Heritage List.<br />
The Kokerei Zollverein (Zollverein coking plant) was built between 1957 and<br />
1961 in connection with the Zollverein colliery. Approximately 7,500 tonnes<br />
of coke could be produced here daily from around 10,000 tonnes of coal.<br />
The Salzlager (salt warehouse) where fertiliser– made from ammonia and<br />
sulphuric acid – was produced until the 1980s is located on this site. The<br />
coking plant was shut down in 1993. Since 2001, it has housed the walk-in<br />
installation Palace of Projects by the artists Ilya and Emilia Kabakov.<br />
Salzlager, Welterbe Zollverein<br />
Heinrich-Imig-Straße 11<br />
45141 Essen<br />
Mischanlage, Welterbe Zollverein<br />
Kokereiallee 71<br />
45141 Essen<br />
www.ruhr3.com/zollverein<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 107 bis Haltestelle Zollverein. Fußweg<br />
zu beiden Spielstätten ca. 15 Min.<br />
Bus 183 bis Haltestelle Kokerei Zollverein<br />
Tram 107 to Zollverein stop. Approx. 15 minutes’<br />
walk to both venues.<br />
Bus 183 to Kokerei Zollverein stop.<br />
Leihfarrad / Rental Bike<br />
metropolradruhr<br />
Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />
sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />
Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />
behind the Ruhr Museum.<br />
PKW / By Car<br />
Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz C zur<br />
Verfügung, Zufahrt über Arendahls Wiese. Ca.<br />
5 Minuten Fußweg zu beiden Spielstätten.<br />
Free parking is available in Area C (Kokerei), car<br />
park C: approach via Arendahls Wiese. Approx.<br />
5 minutes’ walk to both venues<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Das Maschinenhaus Essen ist Teil <strong>der</strong> ehemaligen Schachtanlage Carl,<br />
die ab 1855 errichtet wurde. Erbaut wurde das Backsteingebäude im Jahr<br />
1900 als Standort für die Dampfmaschine, die den För<strong>der</strong>korb bewegte.<br />
1929 wurde die Kohleför<strong>der</strong>ung eingestellt. Bis 1970 war Schacht Carl<br />
noch für Seilfahrt, Materialför<strong>der</strong>ung und Bewetterung in Betrieb, und die<br />
oberirdischen Gebäude wie das Maschinenhaus wurden als Werkstätten<br />
genutzt. Seit 1985 wird das Maschinenhaus als Produktions- und Veranstaltungshaus<br />
von dem Kunstverein Carl Stipendium e. V. getragen.<br />
The Maschinenhaus Essen (Essen engine house) is part of the former Zeche<br />
Carl (Carl pit), which was built from 1855 onwards. The brick building<br />
was built in 1900 to house the steam engine that moved the pit cage. Coal<br />
production ceased in 1929. Until 1970, Carl shaft was still in operation for<br />
rope haulage, material handling and ventilation, and the buildings above<br />
ground, such as the engine house, were used as workshops. Since 1985,<br />
the Maschinenhaus has been used as a production and event centre by<br />
the Carl Stipendium e.V. art association.<br />
Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />
45326 Essen<br />
www.ruhr3.com/maschinenhaus<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
U17 o<strong>der</strong> U11 bis Haltestelle Altenessen Mitte,<br />
Ausgang in Richtung Zeche Carl, Beschil<strong>der</strong>ung<br />
Zeche Carl folgen. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />
U17 or U11 to Altenessen Mitte stop, exit in the<br />
direction of Zeche Carl, follow signs to Zeche Carl.<br />
Approx. 5 min. walk.<br />
Leihfarrad / Rental Bike<br />
metropolradruhr<br />
Radstation 7554 Altenessen Mitte Fußweg ca.<br />
5 Minuten.<br />
Bike station 7597 Altenenssen Mitte<br />
Approx. 5 min. walk.<br />
PKW / By Car<br />
Navigation: Wilhelm-Nieswandt-Allee 100,<br />
45326 Essen.<br />
Der Besucherparkplatz befindet sich direkt am<br />
Eingang zum Gelände. Es stehen keine Ladepunkte<br />
für E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />
The car park is located directly at the entrance<br />
to the grounds. There are no charging points<br />
available for e-vehicles in the immediate vicinity.<br />
207
IHR BESUCH / YOUR VISIT<br />
Audioeinführungen<br />
Auch in diesem Jahr werden Einführungen zu vielen Produktionen<br />
vorab als Audioeinführungen bereitgestellt. Über den<br />
gesamten Festivalzeitraum liefert das künstlerische Team<br />
des Festivals spannende Hintergrundinformationen, spricht<br />
mit Künstler:innen und Beteiligten und gewährt Einblicke in<br />
berauschende Musikstücke. Alle Audioeinführungen unter<br />
ruhr3.com/audio<br />
Rollstuhlplätze<br />
In fast allen Veranstaltungen stehen Rollstuhlplätze zur<br />
Verfügung. Die Eintrittskarte für eine Begleitperson ist frei.<br />
Buchung und weitere Informationen über die Tickethotline<br />
+49 (0) 221 280-210.<br />
Nacheinlass<br />
Bitte beachten Sie: Je nach Produktion ist ein Einlass nach<br />
Vorstellungsbeginn nicht immer möglich.<br />
Übernachtung<br />
Besucher:innen, die für ihren Aufenthalt während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ein Hotel buchen möchten, empfehlen wir eine<br />
Nacht in einem <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-Partnerhotels zu exklusiven<br />
Konditionen. Alle Partnerhotels und Informationen zu<br />
den Konditionen und zur Buchung unter ruhr3.com/reisen<br />
Metropole Ruhr<br />
Kostenfreies Informationsmaterial rund um die Metropole<br />
Ruhr, weitere Hotelangebote und Unterkünfte erhalten Sie<br />
auch bei unserer Partnerin, <strong>der</strong> Ruhr Tourismus GmbH, unter<br />
ruhr-tourismus.de. Infohotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0,20 €<br />
pro Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunkpreise<br />
max. 0,60 € pro Anruf)<br />
Audio introductions<br />
Once again this year, audio introductions to many productions<br />
will be made available in advance. Throughout the<br />
festival, the artistic team of the festival will provide exciting<br />
background information, talk to artists and participants and<br />
offer insights into exhilarating pieces of music.<br />
All audio introductions are available at<br />
ruhr3.com/audio<br />
Wheelchair spaces<br />
Wheelchair spaces are available at almost all events. The<br />
ticket for an accompanying person is free.<br />
Booking and further information via the ticket hotline<br />
+49 (0) 221 280-210.<br />
Late admission<br />
Please note: depending on the production, admission after<br />
the start of the performance may not always be possible.<br />
Accommodation<br />
Visitors who would like to book a hotel for their stay during<br />
the <strong>Ruhrtriennale</strong> are recommended to spend the night in<br />
one of the <strong>Ruhrtriennale</strong> partner hotels at special rates. All<br />
partner hotels and information on rates and booking are<br />
available at ruhr3.com/reisen<br />
Metropole Ruhr<br />
Free information material about the Metropole Ruhr, further<br />
hotel offers and accommodation is also available from<br />
our partner, Ruhr Tourismus GmbH at ruhr-tourismus.de.<br />
Information hotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0.20 € per call<br />
from the German fixed network; mobile phone prices max.<br />
€ 0.60 per call)<br />
208
TICKETS<br />
Online<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
Beim Online-Ticketkauf können Sie zwischen zwei Versandoptionen<br />
wählen:<br />
print@home: Drucken Sie Ihre Tickets bequem zu Hause<br />
aus. Die Buchung ist bis drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn<br />
möglich.<br />
Tickets per Post: Erhalten Sie Tickets per Post an Ihre<br />
Wunschadresse. Eine Buchung ist bis vier Tage vor Veranstaltung<br />
möglich, für den Versand wird eine Gebühr von<br />
4,50 € pro Sendung erhoben.<br />
Zahlungsmethoden: Online steht Ihnen die Zahlung<br />
per PayPal, Kreditkarte o<strong>der</strong> Lastschrift zur Verfügung.<br />
Handyticket: Zeigen Sie Ihr Ticket beim Einlass digital auf<br />
Ihrem mobilen Endgerät.<br />
Telefonisch<br />
Lassen Sie sich durch die Mitarbeiter:innen <strong>der</strong> Telefonhotline<br />
beraten o<strong>der</strong> buchen Sie hier Ihre Tickets. Der<br />
Postversand kostet 4,50 € pro Sendung, die Zahlung<br />
erfolgt per Lastschrift o<strong>der</strong> Kreditkarte.<br />
+49 (0)221 280-210<br />
Mo–Fr 8–20 Uhr / Sa 9–18 Uhr / So 10–16 Uhr<br />
Allgemeine Vorverkaufsstellen<br />
An über 2.500 Vorverkaufsstellen erhalten Sie deutschlandweit<br />
Tickets für die Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Bitte erkundigen Sie sich online über die Erreichbarkeit<br />
und die Öffnungszeiten Ihrer Vorverkaufsstelle:<br />
www.eventim.de<br />
Abendkasse<br />
Die Abendkassen an den Spielorten öffnen jeweils eine<br />
Stunde vor Vorstellungsbeginn. Unsere Tickethotline informiert<br />
Sie unter +49 (0)221 280-210 gerne vorab über<br />
verfügbare Karten. An den Abendkassen können Sie bar<br />
o<strong>der</strong> per EC-Karte zahlen.<br />
KombiTicket<br />
Die Eintrittskarten zur <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> gelten am Tag <strong>der</strong><br />
Veranstaltung im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />
(VRR) in allen Bussen und Nahverkehrszügen (2. Klasse) für<br />
Hin- und Rückfahrt zum bzw. vom Veranstaltungsort. Die<br />
Tickets gelten am Besuchstag bis 3 Uhr des Folgetages.<br />
Die Tickets sind nicht übertragbar.<br />
Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />
Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen <strong>der</strong> Kultur Ruhr können<br />
Sie unter folgendem Link finden: www.ruhr3.com/agb<br />
Online<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
You can choose between two delivery options when purchasing<br />
tickets online:<br />
print@home: Print your tickets in the comfort of your own<br />
home. Booking is possible up to three hours before the<br />
start of the event.<br />
Tickets by post: Receive tickets by post to your preferred<br />
address. Bookings can be made up to four days before the<br />
event. A fee of €4.50 per item will be charged for postage.<br />
Payment: You can pay online by PayPal, credit card or direct<br />
debit.<br />
Mobile ticket: Show your ticket digitally on your mobile device<br />
at the entrance.<br />
By phone<br />
Let the staff on the telephone hotline advise you or book<br />
your tickets here. Shipping costs € 4.50 per shipment, payment<br />
is done by direct debit or credit card.<br />
+49 (0)221 280-210<br />
Mon–Fri 8am–8pm / Sat 9am–6pm / Sun 10am–4pm<br />
General advance booking offices<br />
Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events are available at over 2,500<br />
advance booking offices throughout Germany. Please<br />
enquire online about the availability and opening hours of<br />
your advance booking office: www.eventim.de<br />
Box office<br />
The box offices at the performance venues open one hour<br />
before the performance begins. Our ticket hotline will be<br />
happy to inform you in advance about available tickets on<br />
+49 (0)221 280-210. You can pay cash or by EC card at<br />
the box office.<br />
KombiTicket<br />
Tickets for the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> are valid on the day<br />
of the event in the entire Rhine-Ruhr transport network<br />
(VRR) on all buses and local trains (2nd class) for the outward<br />
and return journey to and from the venue. The tickets<br />
are valid on the day of the visit until 3am the following<br />
day. The tickets are not transferable.<br />
General Terms and Conditions<br />
The General Terms and Conditions of Kultur Ruhr GmbH<br />
can be found at www.ruhr3.com/agb<br />
209
Ermäßigungen<br />
Schüler:innen, Auszubildende, Studierende (bis<br />
30 Jahre), Bundesfreiwilligendienstleistende und<br />
Erwerbslose<br />
Für alle Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> werden für<br />
Schüler:innen, Auszubildende, Studierende, Bundesfreiwilligendienstleistende<br />
(bis 30 Jahre) und Erwerbslose<br />
ermäßigte Tickets in Höhe von 12 € angeboten. Bei Einheitspreisen<br />
kann es abweichende Ermäßigungen geben.<br />
Bitte halten Sie Ihren Ermäßigungsnachweis beim Einlass<br />
bereit.<br />
Familienticket<br />
Familien erhalten bei Produktionen für junges Publikum<br />
vergünstigten Eintritt. Eine Familie besteht aus zwei bis<br />
fünf Mitglie<strong>der</strong>n und mindestens einem Kind in Ausbildung<br />
und einer erwachsenen Person. Das Familienticket<br />
kann direkt im Webshop ausgewählt werden.<br />
Schulklassen<br />
Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />
für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei<br />
pro Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen. Nach Verfügbarkeit<br />
können Tickets für Schulklassen und -kurse bis<br />
nach den Sommerferien (spätestens 14 Tage vor <strong>der</strong><br />
Vorstellung) reserviert werden. Bei direkter Buchung<br />
ohne vorherige Reservierung müssen Karten mindestens<br />
sieben Werktage vor <strong>der</strong> Veranstaltung gebucht<br />
werden. Schulen reservieren und bestellen Tickets unter<br />
jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Begleitpersonen (Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis B)<br />
Personen mit Schwerbehin<strong>der</strong>ung mit Ausweisvermerk B<br />
erhalten zusammen mit ihrer Begleitperson zwei Karten<br />
zum vollen Preis einer Eintrittskarte. Tickets können über<br />
die Tickethotline unter +49 (0) 221 280-210 o<strong>der</strong> an <strong>der</strong><br />
Abendkasse gebucht werden. Bitte halten Sie Ihren Nachweis<br />
bei <strong>der</strong> Veranstaltung bereit.<br />
Ticketpatenschaften für geflüchtete Menschen<br />
Die <strong>Ruhrtriennale</strong> möchte Menschen helfen, die vom<br />
Krieg betroffen sind und fliehen mussten. Der Verein <strong>der</strong><br />
Freunde und För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet hierfür Unterstützung<br />
an. Geflüchtete Menschen erhalten somit die<br />
Gelegenheit, Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bei freiem<br />
Eintritt zu besuchen. Bei Ticketwünschen wenden Sie<br />
sich bitte an service@ruhrtriennale.de<br />
Ehrenamtskarte NRW<br />
Bürgerschaftliches Engagement verdient Anerkennung.<br />
Deshalb hat die nordrhein-westfälische Landesregierung<br />
zusammen mit Städten, Kreisen und Gemeinden<br />
des Landes eine landesweit gültige Ehrenamtskarte<br />
eingeführt. Die <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet Inhaber:innen <strong>der</strong><br />
Karte eine Ermäßigung in Höhe von 30 %. Tickets können<br />
an Vorverkaufsstellen o<strong>der</strong> vor Ort an <strong>der</strong> Abendkasse erworben<br />
werden. Eine Online-Bestellung ist nicht möglich,<br />
da die Ehrenamtskarte beim Kauf vorgezeigt werden muss.<br />
Mehr Informationen unter https://www.engagiert-in-nrw.de/<br />
Professional Tickets<br />
Professionals erhalten nach Verfügbarkeit 50 % Ermäßigung<br />
auf zwei Tickets pro Produktion. Die Buchung <strong>der</strong><br />
Professional Tickets ist ab dem 5. Juni <strong>2023</strong> möglich.<br />
Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Akkreditierung<br />
finden Sie unter www.ruhr3.com/professionals<br />
RuhrKultur.Card<br />
Inhaber:innen <strong>der</strong> RuhrKultur.Card erhalten bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ein Veranstaltungsticket nach Wahl zum halben<br />
Preis. Diese Regelung gilt nicht für Premierenveranstaltungen.<br />
Einlösbar über die Tickethotline, an den Vorverkaufsstellen<br />
und an <strong>der</strong> Abendkasse.<br />
Informationen und Buchung <strong>der</strong> RuhrKultur.Card unter<br />
www.ruhrkulturcard.de<br />
KulturPott.Ruhr<br />
Die <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet in Kooperation mit<br />
KulturPott.Ruhr e. V. Menschen, die aus unterschiedlichen<br />
Gründen von kultureller Teilhabe ausgeschlossen<br />
sind, den Besuch ausgewählter Veranstaltungen bei kostenlosem<br />
Eintritt an. Anmeldung und Informationen: www.<br />
kulturpott.ruhr o<strong>der</strong> E-Mail info@kulturpott.ruhr.de<br />
210
Discounts<br />
Children, school pupils and students (up to 30 years of<br />
age), fe<strong>der</strong>al volunteers and unemployed<br />
For all performances of the <strong>Ruhrtriennale</strong>, reduced tickets<br />
of €12 are available for schoolchildren, trainees, students,<br />
people doing fe<strong>der</strong>al voluntary service (up to 30 years of<br />
age) and the unemployed. There may be different reductions<br />
for standard prices. Please have your proof of discount<br />
ready at the entrance.<br />
Family ticket<br />
Families receive discounted admission to productions for<br />
young audiences. A family consists of two to five members<br />
and at least one child in education and one adult.<br />
The family ticket can be selected directly in the webshop.<br />
School classes<br />
Classes and school courses of 10 or more receive tickets<br />
for €5 per pupil and per accompanying person (max.<br />
two per class/course) for all performances. Subject to<br />
availability, tickets for school classes and courses can be<br />
reserved until after the summer holidays (14 days before<br />
the performance at the latest). For direct booking without<br />
prior reservation, tickets must be booked at least seven<br />
working days before the performance. Schools reserve<br />
and or<strong>der</strong> tickets at jungetriennale@ruhrtriennale.de.<br />
Accompanying persons (severely disabled pass B)<br />
Persons with a severe disability with ID B will receive two<br />
tickets together with their accompanying person at the<br />
full price of one ticket. Tickets can be booked via the ticket<br />
hotline at +49 (0) 221 280-210, or at the box office.<br />
Please have your proof ready at the event.<br />
KulturPott.Ruhr<br />
In cooperation with KulturPott.Ruhr e. V., the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
offers people who are excluded from cultural participation<br />
for various reasons the opportunity to attend selected<br />
events with free admission. Registration and information:<br />
www.kulturpott.ruhr or email info@kulturpott.ruhr.de.<br />
Ticket sponsorships for refugees<br />
The <strong>Ruhrtriennale</strong> would like to help people who have<br />
been affected by war and have had to flee. The Association<br />
of Friends and Supporters of the <strong>Ruhrtriennale</strong> offers<br />
support for this. Refugees are thus given the opportunity<br />
to attend <strong>Ruhrtriennale</strong> events with free admission. For<br />
ticket requests, please contact service@ruhrtriennale.de<br />
Ehrenamtskarte NRW (Volunteer Card)<br />
Civic engagement deserves recognition. That is why the<br />
North Rhine-Westphalian state government, together<br />
with the state's cities, districts and municipalities, has introduced<br />
a state-wide Ehrenamtskarte (Volunteer Card).<br />
The <strong>Ruhrtriennale</strong> offers card hol<strong>der</strong>s a 30% discount.<br />
Tickets can be purchased at advance booking offices<br />
or on site at the box office. Online or<strong>der</strong>ing is not possible,<br />
as the Ehrenamtskarte must be presented at the<br />
time of purchase. More information: https://www.engagiert-in-nrw.de/<br />
Professional Tickets<br />
Professionals receive a 50% discount on two tickets per<br />
production, subject to availability. Professional tickets can<br />
be booked from 5 June <strong>2023</strong>. For further information and<br />
accreditation, please visit www.ruhr3.com/professionals<br />
RuhrKultur.Card<br />
RuhrKultur.Card hol<strong>der</strong>s receive an event ticket of their<br />
choice at half price at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. This rule does<br />
not apply to premiere events. Redeemable via the ticket<br />
hotline, at advance booking offices and at the box office.<br />
Information and booking of the RuhrKultur.Card at www.<br />
ruhrkulturcard.de.<br />
211
FREUNDESKREIS & CLUB.RUHR<br />
Der Freundeskreis ist näher dran!<br />
Der <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis ist eine Gemeinschaft<br />
von Kunstbegeisterten, die sich aktiv in das Festival einbringen<br />
und die Kulturlandschaft <strong>der</strong> Region gemeinsam<br />
erleben möchten. Als För<strong>der</strong>verein engagiert sich <strong>der</strong><br />
Freundeskreis für die <strong>Ruhrtriennale</strong> und ihre Künstler:innen<br />
und för<strong>der</strong>t die Realisierung von ausgewählten<br />
Festivalproduktionen. Durch Ticketpatenschaften setzt<br />
sich <strong>der</strong> Verein dafür ein, einem vielfältigen Publikum<br />
den Zugang zum Festival zu ermöglichen. Ein weiteres<br />
zentrales Anliegen ist die Vermittlung des Festivalprogramms<br />
an junge Menschen und Studierende.<br />
The Freundeskreis is up close and personal!<br />
The <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis is a community of art enthusiasts<br />
who want to be actively involved in the festival<br />
and would like to experience the cultural landscape of the<br />
region together. As a support association, the Freundeskreis<br />
is committed to the <strong>Ruhrtriennale</strong> and its artists and<br />
promotes the realisation of selected festival productions.<br />
The association is committed to providing access to the<br />
festival for a diverse audience through ticket sponsorships.<br />
Communicating the festival programme to young people<br />
and students is another core objective of the association.<br />
Club.Ruhr<br />
Kunstbegeisterte Menschen bis 35 Jahre können sich für<br />
eine Mitgliedschaft im jungen Freundeskreis entscheiden:<br />
Der Club.Ruhr erlebt nicht nur die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
jedes Jahr gemeinsam, son<strong>der</strong>n trifft sich auch außerhalb<br />
des Festivals, um gemeinsam die Kulturinstitutionen<br />
<strong>der</strong> Region zu erkunden.<br />
Möchten Sie Mitglied werden o<strong>der</strong> mehr erfahren? Weitere<br />
Informationen und das Antragsformular finden Sie unter:<br />
freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />
Art enthusiasts up to 35 years of age can choose to become<br />
members of the young Freundeskreis: The Club.<br />
Ruhr does more than just experience the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
together every year, it also meets outside the festival to<br />
explore the region’s cultural institutions together.<br />
Ihre Vorteile<br />
Exklusives Vorkaufsrecht<br />
Kaufen Sie Ihre Tickets für die <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits eine<br />
Woche vor dem offiziellen Vorverkaufsstart.<br />
Persönliche Vorstellung des Festivalprogramms<br />
Bei <strong>der</strong> jährlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlung erhalten Sie<br />
schon vor allen an<strong>der</strong>en Einblicke in das Programm <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> und haben die Gelegenheit, die Intendanz<br />
und das künstlerische Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> persönlich<br />
zu treffen.<br />
Einladung zum Prolog<br />
Für den Freundeskreis startet das Festival bereits früher:<br />
Beim Prolog erhalten Sie vor <strong>der</strong> Eröffnung einen beson<strong>der</strong>en<br />
Blick hinter die Kulissen des Festivals.<br />
Generalprobenbesuche<br />
Besuchen Sie gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n des Freundeskreises<br />
öffentliche Generalproben <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Mitglie<strong>der</strong>brief<br />
Mit dem Newsletter erhalten Sie alle Informationen rund<br />
um die <strong>Ruhrtriennale</strong> als Erste.<br />
Wir sagen Danke!<br />
Wir bedanken uns bei allen Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
und insbeson<strong>der</strong>e bei den För<strong>der</strong>:innen des Jahres <strong>2023</strong>,<br />
Ingeborg El Dib, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula<br />
Müller, N. N., Dr. phil. Bernard Wiebel für ihr Engagement!<br />
Freundeskreismitglie<strong>der</strong>n stehen verschiedene För<strong>der</strong>modelle<br />
zur Auswahl:<br />
Club.Ruhr: bis 35 Jahre, ab 20 € / Jahr<br />
Freund:in, Einzelperson: ab 95 € / Jahr<br />
für zwei Personen: ab 140 € / Jahr<br />
För<strong>der</strong>:in: ab 1.000 € / Jahr<br />
Partner:in: ab 5.000 € / Jahr<br />
Would you like to become a member or find out more? You<br />
can find more information and the application form at:<br />
freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />
212
213
TEAM<br />
Intendanz und Geschäftsführung /<br />
Artistic Direction and General Management<br />
Barbara Frey<br />
Geschäftsführerin / General Management<br />
Dr. Vera Battis-Reese<br />
Assistent <strong>der</strong> Intendantin /<br />
Assistant to the Artistic Director<br />
Maximilian Brands<br />
Mitarbeiterin <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
und Sponsoring / Assistant to the<br />
managing director and sponsoring<br />
Regina Weidmann<br />
Justiziariat / Legal Adviser’s Department<br />
Valentina Lori, Melina Schimmöller,<br />
Annika Trockel<br />
Controlling<br />
Helena Magel<br />
Künstlerisches Betriebsbüro / Produktionsbüro /<br />
Artistic Management / Production Office<br />
Lisa Katharina Holzberg, Christiane Biallas,<br />
Katharina Flick, Johanna Freytag, Alina Klöpper,<br />
Sarah Lorbeer, Katharina Rückl; Künstlerische<br />
Beratung Sound Design: Thomas Wegner<br />
Künstlerische Programmgestaltung /<br />
Artistic Curation<br />
Barbara Eckle, Judith Gerstenberg, Sara Abbasi,<br />
Nina Bade, Aljoscha Begrich, Mats Staub (Scouting),<br />
Andri Hardmeier (Autor / Lektor)<br />
Junge Triennale<br />
Anne Britting, Yannick Warkus, Ilka Hütte (FSJ Kultur)<br />
Konzept Internationaler Festivalcampus /<br />
Concept International Festival Campus<br />
Philipp Schulte, Carla Gesthuisen<br />
Presse / Press<br />
Angela Vucko, Stefanie Matjeka, Karla Koball<br />
Marketing und Vertrieb / Marketing and Sales<br />
Franca Lohmann, Daniel Eißing (in Elternzeit), Fabio<br />
Gorchs, Moritz Kappen, Marlen Stuka, Evelyn Walton<br />
Grafikdesign / Graphic Design<br />
Dominik Blase, Sophie Schäfer<br />
Ticketing<br />
Ulrike Graf, Nicole Hofmann, Anja Nole<br />
Technik und Ausstattung / Technical Department<br />
Max Schubert, Mirko Bartoš, Marie Gäthke,<br />
Harun Güngör, Levent Güngör, Georg Kolacki,<br />
Anne Prietzsch, Julia Reimann, Ioannis Siaminos,<br />
Saskia Tappe, Erik Trupin, Holger Vollmert,<br />
Anke Wolter<br />
Kostüm und Maske / Costumes and Make-up<br />
Anna Dressendörfer, Christina Hillinger, Pia Norberg<br />
Verwaltung / Administration Department<br />
Vanessa Sán Roman Domínguez, Janina Albrecht,<br />
Tanja Alstede, Anna Baumann, Joanne Budzier,<br />
Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger, Steffen Eckers,<br />
Katharina Heib, Nick Hosberg, Dominika Hourtz,<br />
Frie<strong>der</strong>ike Jacobi, Stefanie Kusenberg, Franz-Josef Lortz,<br />
Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel,<br />
Max Schomann, Julia Schmidt, Roland Sieberg,<br />
Michael Turrek, Johanna Vormann<br />
Veranstaltungsorganisation / Event Organisation<br />
Eileen Berger, Tanja Martin, Paula Packheiser<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Jürgen Wagner, Martina Ossoble, Marcus Fuchs,<br />
Anna Zirr, Gesa Eichhorn<br />
Urbane Künste Ruhr<br />
Künstlerische Leitung: Britta Peters; Projektleitung:<br />
Daniel Klemm; Projektkoordination / Assistenz-Kuratorin:<br />
Alisha Raissa Danscher; Leitungsassistenz:<br />
Tanja Borcherding; Technische Leitung: Stefan Göbel;<br />
Projektmanagement: Roy Huschenbeth, Larissa Koch,<br />
Nora Memmert; Produktionsleitung Healing Complex:<br />
Nicole Trzeja; Produktionsassistenz: Katrin Lohbeck,<br />
Erik Wittbusch; Kunstvermittlung: İpek Gençtürk,<br />
Josephine Hofmann, Kim Lempelius; Marketing:<br />
Kerstin Finkel; Presse: Hannes Klug; Emscherkunstweg<br />
Kuratorin: Marijke Lukowicz; Projektleitung: Elgin Wolf;<br />
Assistenz Projektleitung: Alicia Jütte;<br />
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Monika Ma<strong>der</strong>t;<br />
Assistenz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit / Social<br />
Media Managerin: Jana Luisa Auf<strong>der</strong>heide<br />
Auszubildende / Trainees<br />
Abdulrahman Alajati, Luisa Bergmann,<br />
Katharina Härtling, Joshua Reuter<br />
214
DANK / THANKS<br />
Unser beson<strong>der</strong>er Dank gilt den För<strong>der</strong>nden, Sponsor:innen<br />
und Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Ohne sie könnten wir<br />
so ein ambitioniertes Programm nicht realisieren. Mit ihrer<br />
Unterstützung ermöglichen sie uns die Freiheit, Ideen zu<br />
verwirklichen und Ort für außergewöhnliche künstlerische<br />
Produktionen und Erfahrungen zu sein.<br />
Our special thanks goes to the supporters, sponsors and<br />
partners of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. Without them, we could<br />
not realise such an ambitious programme. With their<br />
support, they give us the freedom to realise ideas and<br />
provide a place for extraordinary artistic productions and<br />
experiences.<br />
GESELLSCHAFTER UND ÖFFENTLICHE FÖRDERER / ASSOCIATES AND PUBLIC SECTOR SUPPORTERS<br />
PROJEKTFÖRDERUNG / PROJECT SUPPORTERS<br />
RUHRTRIENNALE<br />
FREUNDESKREIS<br />
KULTUR- UND MEDIENPARTNERSCHAFTEN / MEDIA PARTNERS<br />
KOOPERATIONSPARTNERSCHAFTEN / CO-OPERATION PARTNERS<br />
Bochum Marketing / Kultur.Pott Ruhr / Publicity Werbung GmbH /<br />
RuhrBühnen / Ruhr Tourismus GmbH / Stiftung Zollverein / Ströer Media GmbH<br />
215
In Zusammenarbeit mit<br />
Royal Concertgebouw Orchestra<br />
Iván Fischer<br />
Berlioz: Les Troyens<br />
Monteverdi Choir<br />
Orchestre Révolutionnaire<br />
et Romantique<br />
John Eliot Gardiner<br />
Boston Symphony Orchestra<br />
Andris Nelsons<br />
Münchner Philharmoniker<br />
Philharmonischer Chor München<br />
Mirga Gražinytė-Tyla<br />
26.8.<br />
18.9.<strong>2023</strong><br />
Berliner Philharmoniker<br />
Jörg Widmann / Kirill Petrenko<br />
und viele weitere Gastorchester,<br />
Ensembles und Solist*innen<br />
berlinerfestspiele.de<br />
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VON HERZEN UND VON HIER.<br />
217
Das Feuilleton<br />
im Radio.<br />
Deutschlandfunk Kultur berichtet<br />
von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Rang 1<br />
Das Theatermagazin<br />
Samstag, 14.05 Uhr<br />
Kompressor<br />
Das Popkulturmagazin<br />
Montag – Freitag, 14.05 Uhr<br />
Fazit<br />
Kultur vom Tage<br />
Montag – Sonntag, 23.05 Uhr<br />
bundesweit und werbefrei<br />
UKW, DAB+, Online und<br />
in <strong>der</strong> Dlf Audiothek App<br />
deutschlandfunkkultur.de
219
eiheit<br />
beginnt im Kopf.<br />
Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.<br />
Sie steht für die Vielfalt <strong>der</strong> Perspektiven. Für die Kraft<br />
<strong>der</strong> Fakten. Mit Tiefe und Intelligenz, mit sach lichem Blick<br />
und besonnenem Stil analysiert die Frankfurter Allgemeine<br />
das Geschehen und ordnet es ein. Demokratie beruht<br />
auf Freiheit. – Freiheit beginnt im Kopf.<br />
Freiheit hat viele Seiten –<br />
Mehr erfahren auf freiheitimkopf.de
IMPRESSUM / IMPRINT<br />
Herausgeberin<br />
Kultur Ruhr GmbH<br />
Gerard-Mortier-Platz 1<br />
44793 Bochum<br />
Geschäftsführung<br />
Barbara Frey, Dr. Vera Battis-Reese<br />
Kontakt<br />
Tel.: +49 (0)234 97483-300<br />
info@ruhrtriennale.de<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
Redaktion<br />
Dramaturgie, Junge Triennale,<br />
Künstlerisches Betriebsbüro,<br />
Marketing und Pressestelle<br />
Bildserie<br />
loekenfranke, Michael Loeken<br />
und Ulrike Franke<br />
Art Direction und Grafik Design<br />
María José Aquilanti &<br />
Ann Christin Sievers<br />
Satz<br />
María José Aquilanti, Dominik Blase,<br />
Sophie Schäfer, Ann Christin Sievers<br />
Druck und Herstellung<br />
Kunst- und Werbedruck GmbH & Co. KG,<br />
Bad Oeynhausen<br />
Redaktionsschluss<br />
30. Juni <strong>2023</strong><br />
Än<strong>der</strong>ungen vor be halten.<br />
Wir haben uns bemüht, alle Urheberrechte<br />
zu ermitteln. Sollten darüber hinaus<br />
Ansprüche bestehen, bitten wir, uns diese<br />
mitzuteilen.<br />
Übersetzungen<br />
David Tushingham, Bochert Translations,<br />
Tess Lewis, PANTHEA<br />
Korrektorat<br />
Supertext<br />
Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> ist Partnerin des Aktionsnetzwerkes Nachhaltigkeit in Kultur und Medien.<br />
Der Katalog wurde klimaneutral gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.<br />
222