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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2023

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Liebe Festivalbesucher:innen!<br />

Der Mensch ist ein seltsames, ein erschreckendes Tier. Es scheint sich gleichermaßen<br />

vorwärts wie im Krebsgang zu bewegen. Es ist das erzählende Tier, und seit Jahrtausenden<br />

sucht es nach seiner wahren Natur, scheint sie zwischenzeitlich entdeckt zu haben,<br />

nur um im nächsten Augenblick sich selbst nicht mehr zu trauen und sich zu wun<strong>der</strong>n über<br />

die immense Zerstörung, die es anzurichten imstande ist. Es verschläft und verträumt ein<br />

Drittel seines ganzen Lebens und weiß bis heute nicht genau, was das zu bedeuten hat.<br />

Wenn es sich nun dieser Tage umschaut, muss es feststellen, dass es offenbar bisher<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage war, die Verantwortung zu übernehmen für den gesamten Planeten –<br />

den es ja nicht allein bevölkert. Nicht nur den Wissenschaften, auch den Künsten kam<br />

und kommt die Erforschung <strong>der</strong> eigenen Natur des Menschen zu, ebenso <strong>der</strong> Natur, die<br />

ihn umgibt. Aber Wissenschaft und Kunst haben nicht den gleichen Begriff von Wahrheit.<br />

Und sie arbeiten nicht nur einhellig nebeneinan<strong>der</strong> her. Wer mit offenen Augen und Ohren<br />

durch die Welt geht, wird von Schwindel erfasst. In den Krisen unserer Zeit ist es schwer<br />

auszumachen, worin genau das Projekt bestehen könnte, die Menschheit friedfertiger,<br />

gerechter, mitfühlen<strong>der</strong> zu machen. Offen zuzugeben, man sei überfor<strong>der</strong>t angesichts<br />

<strong>der</strong> täglichen Meldungen über Krieg, Verwüstung, schwindende Ressourcen und soziale<br />

Ungleichheit, gleicht einem Eingeständnis von Schwäche. Die aber gehört sich nicht; man<br />

muss stark sein, die Übersicht behalten, das Richtige tun – und vor allem beständig und<br />

mit Überzeugung jene zurechtweisen, die sich auf dem falschen Pfad befinden. Der Tonfall<br />

verschärft sich überall; Rede und Gegenrede folgen einan<strong>der</strong> in Sekundenschnelle; man<br />

spricht von notwendigen Debatten, zettelt aber Polemiken und Kampagnen an, zelebriert<br />

öffentliche Schuldzuweisungen, klagt über die angebliche Inkompetenz des Gegenübers,<br />

das rasch und unaufwendig zum Gegner wird – den man dann wie<strong>der</strong>um schnellstens<br />

zum Feind hochstilisiert, damit die Dramatik stimmt. Eine wichtige Rolle spielt die Scham,<br />

denn womöglich kann man nicht mithalten in dem überbordenden, misstönenden Konzert<br />

von gegenwärtigen Stimmen, Stimmungen, Meinungen, Haltungen, Überzeugungen –<br />

o<strong>der</strong> wie immer man das nennen will, was einem zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort<br />

zu Gebote stehen sollte. Wo aber ist <strong>der</strong> richtige Ort? Was ist <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt? Was<br />

passiert mit uns, wenn wir zu langsam sind, womöglich zu furchtsam, zu zögernd, zu zweifelnd,<br />

»im Stockfinstern herumtappend«, wie Dostojewski es formulierte? Vielleicht kann<br />

das Stockfinstere erhellend sein. Die Künste haben alle großen Entwicklungsprozesse<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft mitgemacht, oftmals haben sie sie vorausgesehen; hinterfragt haben sie<br />

sie immer – und sich stets in gebührendem Abstand zur Politik bewegt. Letztere kann die<br />

Künste betrachten, einen offenen Dialog mit ihnen führen o<strong>der</strong> sie notfalls beargwöhnen.<br />

Instrumentalisieren, sie zur Parteinahme zwingen kann sie sie nicht. Um frei zu bleiben,<br />

muss die Kunst auf ihrem Recht bestehen, auch im Dunkeln tappen zu dürfen, die Suche<br />

fortzusetzen, Evidenzen zu hinterfragen und sich ihre eigene Zeit zu nehmen. Diese kann<br />

nicht übereinstimmen mit dem pragmatischen Tempo <strong>der</strong> politischen Alltagsgeschäfte, in<br />

denen es um rasche Erfolge geht, um Erledigung, um die – durchschaubaren – Mechanismen<br />

des Machterhalts. Die Künste müssen listig bleiben; beweglich und verletzlich, beharrlich<br />

und for<strong>der</strong>nd, einfühlsam und wi<strong>der</strong>spenstig.<br />

2


We are all Detroit heißt <strong>der</strong> Film von Ulrike Franke und Michael Loeken (bekannt als filmproduktion<br />

loekenfranke), <strong>der</strong> Menschen in Detroit und Bochum porträtiert, sie erzählen<br />

lässt über den brutalen Wandel <strong>der</strong> Zeit. Der Verlust von Arbeit und <strong>der</strong> Verfall ganzer<br />

Stadtgebiete durch den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> industriellen Großproduktion werden zu Beginn<br />

des Films nicht durch eine Statistik veranschaulicht, son<strong>der</strong>n mit einem kleinen prophetischen<br />

Gedicht in Verbindung gebracht: 1637, mitten in den Verheerungen des Dreißigjährigen<br />

Krieges, verfasste <strong>der</strong> deutsche Barockdichter Andreas Gryphius das Sonett Es<br />

ist alles eitel. Die Zeilen, die von <strong>der</strong> Hybris und Verletzlichkeit <strong>der</strong> Menschen und von <strong>der</strong><br />

Vergänglichkeit ihrer Errungenschaften und aller Materie künden, werden abwechselnd<br />

von Bewohner:innen von Detroit und Bochum lakonisch vom Blatt gelesen, ohne Pathos,<br />

ohne Pose. »Sounds like he got it« (»Klingt, als hätte er’s kapiert«), sagt ein Detroiter,<br />

leicht ungläubig grinsend über den Umstand, dass das Gedicht ein paar Jahrhun<strong>der</strong>te alt<br />

ist und auf einem fernen Kontinent entstand. Über <strong>der</strong> ganzen Eingangssequenz des Films<br />

liegt eine merkwürdige Zärtlichkeit und Heiterkeit. Es ist eine schöne und wichtige Botschaft<br />

des Duos loekenfranke, dass <strong>der</strong> längst entschwundene Poet Gryphius wohl ein<br />

Bru<strong>der</strong> im Geiste jener Menschen ist, die quer über den Globus am heutigen Tag damit<br />

kämpfen, von <strong>der</strong> großen Ökonomie vergessen und schlicht dem Lauf <strong>der</strong> Zeit überlassen<br />

worden zu sein. Es geht hier nicht um abstraktes dokumentarisches Material, son<strong>der</strong>n um<br />

eine äußerst sensible Betrachtung von Menschen und um die Frage nach Verantwortung<br />

und den Möglichkeiten des Glücks. Das Individuum müsste mehr sein dürfen »als eine<br />

Wiesenblum’, die man nicht wie<strong>der</strong> find’t«, wie es im erwähnten Sonett heißt. Wir freuen<br />

uns, dass loekenfranke in dieser Saison ihre Filme bei uns zeigen und unsere Bildstrecke<br />

gestalten. In unserer letzten Festivalausgabe möchten wir weiter nach <strong>der</strong> Natur des Menschen<br />

forschen. In <strong>der</strong> über drei Jahre laufenden Diskurs- und Literaturreihe von und mit<br />

Lukas Bärfuss sind Sie diesem Thema, in seinem doppelten Sinne, bereits begegnet.<br />

Die Suche nach den Geistern, nach <strong>der</strong> Erinnerung, <strong>der</strong> Präsenz und dem Dialog mit den<br />

Toten (in <strong>der</strong> Spielzeit 2021) führte uns 2022 zu Fragestellungen nach unseren gesellschaftlichen<br />

Formen des Zusammenlebens – und <strong>2023</strong> nun zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

<strong>der</strong> offenbar noch immer unergründlichen Wesenheit des Menschen, des Individuums,<br />

des sich selbst fremden, Geschichten erzählenden Tiers, jenseits aller Theorien, Modelle<br />

und Imperative diverser politischer Systeme. Die Künste fragen weiter, suchen weiter,<br />

bringen uns zusammen und machen uns Mut! Wir sind froh, diesen Sommer mit Ihnen zusammen<br />

und mit all den eingeladenen Künstler:innen, von denen viele uns über drei Jahre<br />

die Treue halten, Musiktheater, Tanz, Schauspiel, Konzert, Film, Performance, Bildende<br />

Kunst und Spartenübergreifendes feiern zu können! Die drängenden Fragen zu stellen mit<br />

Neugier und Freude, mit Nachdenklichkeit und Gelächter, in freundschaftlicher Nähe und<br />

Komplizenschaft.<br />

Ihre<br />

Barbara Frey und das Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

3


Dear festival visitors!<br />

The human is a strange and terrifying animal! It seems to move sideways as much as it<br />

progresses forwards. It is the storytelling animal, and for millennia it has been searching<br />

for its true nature, at times appearing to have discovered it only to lose faith in itself the<br />

next moment and be amazed at the immense destruction it is capable of causing. It sleeps<br />

and dreams away a third of its entire life and to this day still does not know what this<br />

means. If it looks around right now, it must conclude that it is clearly not in a position to<br />

assume responsibility for the whole planet – which it does not inhabit alone. Not only the<br />

sciences but also the arts can be used to examine its own human nature, as well as the<br />

nature that surrounds it. But science and nature do not un<strong>der</strong>stand truth in the same way.<br />

And they do not operate alongside each other in unanimity. Anyone who walks through the<br />

world with their eyes and ears open, will find their head spinning. Among the crises of our<br />

time, it is difficult to tell exactly what the project might consist of that will make humanity<br />

more peaceful, more just, more empathetic. To openly admit being unable to cope in the<br />

face of daily news reports of war, destruction, dwindling resources and social injustice, is<br />

tantamount to a confession of weakness. However, that is wrong: we have to be strong,<br />

retain an overview, do the right thing – and above all constantly and convincingly correct<br />

those who are taking the wrong course. Everywhere the tone of discourse is becoming<br />

harsher; claims and counterclaims follow one another within seconds; people talk about<br />

necessary debate, but they instigate polemics and campaigns, delight in attributing public<br />

blame, complain about the apparent incompetence of their opposite numbers, turning<br />

them rapidly and easily into opponents – who can then be talked up as enemies to make<br />

things really dramatic. Shame plays an important role because we might not be able to<br />

withstand this overwhelming dissonant concert of current voices, moods, opinions, attitudes,<br />

convictions – or whatever we want to call what we have at our disposal at the right<br />

time in the right place. But where is the right place? And what is the right time? What will<br />

happen to us if we are too slow, maybe too afraid, too hesitant, too dubious, »tapping<br />

around in the dark« as Dostoyevsky put it? Perhaps the dark can be illuminating. The arts<br />

have participated in all the major developments of society. They have often foreseen them<br />

and they have always questioned them – and they have always operated at a suitable remove<br />

from politicians. The latter can observe the arts, take part in an open dialogue with<br />

them or, if necessary, be suspicious of them. But they cannot manipulate them or force<br />

them to take sides. In or<strong>der</strong> to remain free, art must insist on its right to be allowed to also<br />

tap around in the dark, to continue searching, challenge evidence and to take its own time.<br />

This cannot coincide with the pragmatic tempo of everyday politics, which is about quick<br />

successes, about getting things done, about the – transparent – mechanics of staying in<br />

power. The arts have to remain cunning; agile and vulnerable, tenacious and demanding,<br />

perceptive and rebellious.<br />

4


We are all Detroit is the name of the film by Ulrike Franke and Michael Loeken (known as<br />

the film company loekenfranke) that portrays people in Detroit and Bochum and allows<br />

them to tell of the brutal changes wrought by time. At the beginning of the film, job losses<br />

and the collapse of whole districts of the city due to the decline of large-scale industrial<br />

production are not illustrated with statistics, instead they are linked to a small prophetic<br />

poem: in 1637, in the midst of the devastation of the Thirty Years War, the German Baroque<br />

poet Andreas Gryphius composed the sonnet All is vanity. His lines proclaiming the<br />

hubris and vulnerability of human beings, of the transience of their achievements and of<br />

everything material are read out loud by inhabitants of Detroit and Bochum, taking turns,<br />

laconically, without pathos, without posing. »Sounds like he got it«, says one man from<br />

Detroit, grinning in faint disbelief that the poem is several centuries old and was written on<br />

a continent far away. The film’s entire opening sequence of the film is overlaid with a mysterious<br />

ten<strong>der</strong>ness and cheerfulness. It is a beautiful and important message from the duo<br />

loekenfranke, that the long-gone poet Gryphius is indeed a brother in spirit of the people<br />

who are struggling today right across the globe, forgotten by the economy at large and<br />

simply abandoned to let time take its course. This is not abstract documentary material,<br />

but a highly sensitive observation of human beings and the question of responsibility and<br />

the possibility of happiness. The individual has to be allowed to be more »than a meadow<br />

flower one cannot find again«, as the sonnet I have mentioned says. We are delighted that<br />

loekenfranke will present their films with us this season and design our picture series.<br />

In our last edition of the festival, we wish to probe further into the nature of human beings.<br />

In the three-year series of discussions and readings by and with Lukas Bärfuss you have<br />

already encountered this theme – in more ways than one. The search for ghosts, for the<br />

memory, presence and dialogue with the dead (in the 2021 season) led us in 2022 to questions<br />

about our society’s forms of living together – and now in <strong>2023</strong>, to an examination of<br />

the evidently still unfathomable essence of humanity, the individual, the story-telling animal,<br />

a stranger to itself, defying all the theories, models and imperatives of diverse political<br />

systems. The arts will keep on asking, keep on searching, will bring us together and give us<br />

courage! We are glad that this summer, together with you and all the invited artists, many<br />

of whom have been loyal to us for three years, we can celebrate music theatre, dance,<br />

theatre, concerts, films, performance, the visual arts and interdisciplinary work! That we<br />

can ask urgent questions, with curiosity and delight, with thoughtfulness and laughter, in<br />

friendly intimacy and complicity.<br />

Yours<br />

Barbara Frey and the <strong>Ruhrtriennale</strong> team<br />

5


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Musiktheater<br />

14 DIE ERDFABRIK<br />

Georges Aperghis / Jean-Christophe Bailly<br />

42 AUS EINEM TOTENHAUS<br />

Leoš Janáček / Dmitri Tcherniakov / Dennis Russell Davies /<br />

Bochumer Symphoniker / Chor <strong>der</strong> Janáček-Oper des<br />

Nationaltheaters Brno<br />

141 Eine Reise ins Innere<br />

Andri Hardmeier im Gespräch<br />

mit Georges Aperghis<br />

145 Alle sollten zu zehn Stunden Handarbeit<br />

pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />

Lukas Bärfuss im Gespräch<br />

mit Jean-Christophe Bailly<br />

150 Möglichkeitsformen des Menschseins<br />

Barbara Eckle im Gespräch<br />

mit Nahlah Saimeh<br />

Schauspiel<br />

12 EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />

William Shakespeare / Barbara Frey / Martin Zehetgruber /<br />

Burgtheater Wien<br />

48 LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE<br />

Philippe Quesne / Vivarium Studio<br />

52 LA POSIBILIDAD DE LA TERNURA /<br />

DIE MÖGLICHKEIT VON ZÄRTLICHKEIT<br />

Marco Layera / Teatro La Re-sentida<br />

Für alle ab 14 Jahren<br />

58 AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KELLERLOCH<br />

Fjodor Dostojewski / Barbara Frey / Bettina Meyer /<br />

Nina Hoss / Alex Silva<br />

176 Theater ist ja auch die Kunst<br />

des Recyclings!<br />

Andreas Karlaganis im Gespräch<br />

mit Christina Wald<br />

180 Die Utopie eines Gartens<br />

für Heute und Morgen<br />

Eric Vautrin im Gespräch<br />

mit Philippe Quesne<br />

160 Hombre Modelo<br />

Reflexionen aus den Proben<br />

156 Der Blick in die eigene Fratze<br />

Judith Gerstenberg im Gespräch<br />

mit Barbara Frey und Nina Hoss<br />

Objekttheater<br />

46 IM GARTEN DER POTINIERS / AU JARDIN DE POTINIERS<br />

Compagnie Ersatz / Création Dans la Chambre<br />

Für Kin<strong>der</strong> ab 7 Jahren und Familien


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Tanz / Performance<br />

24 SKATEPARK<br />

Mette Ingvartsen<br />

Für alle ab 12 Jahren<br />

26 EXTRA LIFE<br />

Gisèle Vienne<br />

188 Skateboarden strukturiert die<br />

Weltanschauung <strong>der</strong>er, die es praktizieren<br />

Von Bojana Cvejić<br />

164 Nacht und Licht<br />

Von Sandra Lucbert<br />

44 EXÓTICA<br />

Amanda Piña<br />

172 Jenseits <strong>der</strong> Verfestigung von Identitäten<br />

Von Amanda Piña und Sara Abbasi<br />

50 THE VISITORS<br />

Constanza Macras / Dorky Park<br />

Für alle ab 14 Jahren<br />

54 MONUMENT 0.10: THE LIVING MONUMENT<br />

Eszter Salamon / Carte Blanche<br />

56 THE THIRD ROOM X FLORENTINA HOLZINGER<br />

168 Slashing Anticipations<br />

Von Tamara Saphir<br />

184 Lebendige Monumente,<br />

monochrome Rituale<br />

Von Maja Zimmermann<br />

Konzert<br />

32 ABENDLOB UND MORGENGLANZ<br />

Sergej Rachmaninow / Chorwerk Ruhr / Florian Helgath<br />

192 Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />

Sprache, Spiel und Schlagfertigkeit im<br />

Musikprogramm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong><br />

Von Barbara Eckle<br />

34 ANNA CALVI<br />

30 MASCHINENHAUSMUSIK<br />

Gustafsson / Guy / Millà / Eve Risser / Kee Avil /<br />

Mopcut Feat. Farida Amadou / Ensemble of Nomads<br />

38 SCHLAGZEUGMARATHON<br />

Marilyn Mazur / Billy Cobham / Mohammad Reza Mortazavi<br />

und viele an<strong>der</strong>e<br />

60 PLAY BIG!<br />

Sofia Gubaidulina / Michael Wertmüller / Simon Steen-An<strong>der</strong>sen /<br />

Titus Engel / Basel Sinfonietta / NDR Bigband / Chorwerk Ruhr<br />

62 QUID CHAOS<br />

Huelgas Ensemble / Paul Van Nevel


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Installation<br />

16 JETZT & JETZT<br />

Mats Staub<br />

136 Über das Verschwinden, Erinnern<br />

und den magischen Moment<br />

Barbara Frey im Gespräch<br />

mit loekenfranke und Mats Staub<br />

198 Jetzt!<br />

Von Nina Bade<br />

36 MY BODY IS NOT AN ISLAND<br />

Eva Koťátková<br />

Für alle Altersgruppen<br />

Junge Triennale<br />

68 JUNGE TRIENNALE / SCHULEN<br />

69 TEENS IN THE HOUSE III — EINE JUNGE RESIDENZ<br />

Jugendliche und junge Erwachsene ab 16 Jahren<br />

Dialog / Literatur<br />

64 DIE NATUR DES MENSCHEN<br />

Lukas Bärfuss / Bibiana Beglau / Philipp Blom / Anna Drexler /<br />

Matthias Glaubrecht / Sachiko Hara / Theo Nabicht /<br />

Carl Oesterhelt / Pollyester / Wiebke Puls / Jutta Weber<br />

67 FESTIVALBIBLIOTHEK<br />

70 PAPPELWALDKANTINE<br />

71 FESTIVALCAMPUS<br />

145 Alle sollten zu zehn Stunden<br />

Handarbeit pro Woche verpflichtet<br />

sein. Alle!<br />

Lukas Bärfuss im Gespräch<br />

mit Jean-Christophe Bailly<br />

Film<br />

22 FILMRETROSPEKTIVE LOEKENFRANKE<br />

28 SI C’ÉTAIT DE L’AMOUR<br />

Patric Chiha / Gisèle Vienne<br />

29 JERK<br />

Gisèle Vienne<br />

136 Über das Verschwinden, Erinnern<br />

und den magischen Moment<br />

Barbara Frey im Gespräch<br />

mit loekenfranke und Mats Staub


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Wege<br />

20 RAUBBAUFOLGELYRIK BOCHUM<br />

Stefan Wartenberg<br />

21 AK KU KU<br />

San Keller<br />

21 ¿DÓNDE ESTAMOS?<br />

Gaby Blanco<br />

134 Kohlenstraße<br />

Von Stefan Wartenberg<br />

BILDSTRECKE<br />

73 FOTOGRAFIEN VON LOEKENFRANKE<br />

SERVICE<br />

204 Spielstätten<br />

209 Ihr Besuch<br />

208 Tickets<br />

212 Freundeskreis & Club.Ruhr<br />

214 Team<br />

215 Dank<br />

222 Impressum


Maschinenhalle Zweckel<br />

Shuttlebus verfügbar<br />

Bottrop<br />

Gebläsehalle<br />

Gebläsehalle Gießhalle<br />

Schalthaus Kraftzentrale Ost<br />

Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Oberhausen<br />

Kulturkirche<br />

Liebfrauen Duisburg<br />

Duisburg Duisburg<br />

Duisburg<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Hauptbahnhof<br />

Mülheim<br />

SPIELSTÄTTEN<br />

SPIELSTÄTTEN<br />

Gebläsehalle/Schalthaus Kulturkirche<br />

Ost<br />

Landschaftspark<br />

Liebfrauen Duisburg<br />

Duisburg-Nord<br />

König-Heinrich-Platz 3<br />

Emscherstraße 47051 Duisburg 71<br />

47137 Duisburg<br />

Gebläsehalle Maschinenhalle / Gießhalle Zweckel/<br />

Kraftzentrale<br />

Frentroper Straße 74<br />

Landschaftspark<br />

45966 Gladbeck<br />

Duisburg-Nord<br />

Emscherstraße 71<br />

47137 Duisburg<br />

Mehr Informationen zu Spielorten, unseren Spielorten, Anfahrt zu Anfahrt<br />

und Parkmöglichkeiten: Siehe siehe ab Seite 204 226<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />

45326 Essen<br />

Salzlager<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein<br />

Areal C<br />

Heinrich-Imig-Straße 11<br />

45141 Essen<br />

Mischanlage<br />

Salzlager<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein<br />

Areal C<br />

Arendahls Wiese<br />

/<br />

45141 Ecke Fritz-Schupp-Allee<br />

Essen<br />

45141 Essen<br />

Kettwig<br />

10<br />

10


Gladbeck<br />

Herne<br />

Gelsenkirchen<br />

Maschinenhaus<br />

Essen<br />

PACT Zollverein<br />

Mischanlage<br />

Salzlager<br />

Zeche Zollverein<br />

Bahnhof<br />

Zollverein<br />

Nord<br />

Hospital zum<br />

Heiligen Geist<br />

Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Turbinenhalle<br />

Pappelwaldkantine<br />

Festivalbibliothek<br />

Bochum Innenstadt<br />

Bochum<br />

Hauptbahnhof<br />

Maschinenhalle<br />

Metropolis Kino<br />

Bochum<br />

Zeche Zollern<br />

Dortmund<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

Essen<br />

KGV Bergmannsheil<br />

PACT Zollverein<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein<br />

Areal B<br />

Bullmannaue 20a<br />

45327 Essen<br />

Halle Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

5<br />

UNESCO-Welterbe Bochum / Turbinenhalle Zollverein /<br />

Areal Pappelwaldkantine A<br />

/<br />

Gelsenkirchener Festivalbibliothek Str. 181<br />

45309 An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Essen 1<br />

44793 Bochum<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Metropolis Kino<br />

Bochum Hauptbahnhof<br />

/ Turbinenhalle /<br />

Pappelwaldkantine/<br />

Kurt-Schumacher-Platz 13<br />

Festivalbibliothek<br />

44787 Bochum<br />

An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />

44793 Maschinenhalle Bochum<br />

Zeche Zollern<br />

Grubenweg 5<br />

44388 Dortmund<br />

Wege STÜH33 <strong>2023</strong><br />

Stühmeyerstraße Zu Fuß 33 / By foot<br />

44787 Bochum<br />

Wege 2021 + 2022<br />

Fahrrad / Bike<br />

Straßenbahn / Tram<br />

Zug / Train<br />

11<br />

11


EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />

WILLIAM SHAKESPEARE<br />

BARBARA FREY<br />

MARTIN ZEHETGRUBER<br />

BURGTHEATER WIEN<br />

Schauspiel<br />

Theater ist ja auch die Kunst des Recyclings!<br />

→ Magazin, Seite 176<br />

12


Als »das Stück <strong>der</strong> Stunde« bezeichnet Barbara Frey, die inszenierende Intendantin<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, Shakespeares geniales und abgründiges Meisterwerk Ein Sommernachtstraum,<br />

das seit mehr als 400 Jahren das Publikum verzaubert und verwirrt. Bei<br />

diesem dichterischen Naturereignis versagen alle Gattungsbegriffe. Der Text wechselt<br />

seine Gestalt, mäan<strong>der</strong>t durch die verschiedenen Genres von höfischem Spiel zum <strong>der</strong>ben<br />

Schwank, vom Traumspiel zum philosophischen Exkurs, von Komödie zu Tragödie.<br />

Nichts in diesem Text behält seine anfängliche Gestalt. Das ist zutiefst beunruhigend.<br />

Wir werden konfrontiert mit <strong>der</strong> Zumutung <strong>der</strong> Unberechenbarkeit. Wir wohnen dem<br />

Kontrollverlust <strong>der</strong> Figuren bei, erleben ihn selbst, erkennen die Brutalität <strong>der</strong> unverlässlichen<br />

Gefühle, sehen, wie Liebe sich entfärbt und zur Verachtung wird und wie<br />

umgekehrt Ignoranz abgelöst wird durch plötzlich aufflammende Leidenschaft. Wir verirren<br />

uns mit den einan<strong>der</strong> Jagenden im nächtlichen Wald, <strong>der</strong> unser Sehvermögen einschränkt<br />

und die klaren Konturen verschwimmen lässt: die klare Trennbarkeit von Wahn<br />

und Realität. Wir werden vor die Frage gestellt, ob <strong>der</strong> Wach- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Traumzustand<br />

wirkmächtiger ist, ja, wie diese beiden Zustände überhaupt zu unterscheiden sind und<br />

wer uns warum und zu welchem Zwecke die Träume eingibt, denen wir nachstreben o<strong>der</strong><br />

die uns heimsuchen. Hat <strong>der</strong> Mensch, haben wir einen eigenen Willen o<strong>der</strong> werden wir<br />

gesteuert – durch was und durch wen? Barbara Frey wird gemeinsam mit dem Ensemble<br />

des Burgtheater Wien das famose spielerische Potential dieses Stückes ausschöpfen<br />

und sich mit ihm fragen, ob die entfernte Vergangenheit uns nicht Wesentliches über<br />

unsere krisengeschüttelte Gegenwart mitzuteilen hat – ist die Renaissance doch nicht<br />

nur die Wiege unseres Selbstverständnisses, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Ursprung des Paradoxons,<br />

in und mit dem wir seither leben.<br />

»The play of the hour« is how its director, the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s Artistic Director Barbara<br />

Frey, describes Shakespeare’s brilliant and profound masterpiece A Midsummer Night’s<br />

Dream, which has been enchanting and baffling audiences for over 400 years. This poetic<br />

force of nature defies every category of genre. The text shifts in shape, mean<strong>der</strong>ing<br />

through a range of forms from court drama to broad farce, from a dream play to a philosophical<br />

treatise, from comedy to tragedy. Nothing here retains its original appearance.<br />

This is deeply unsettling. We are confronted with the shock of unpredictability. We watch<br />

as the characters lose control and experience it ourselves, recognising the brutality of<br />

unreliable emotions. We see how love fades and turns into contempt and conversely how<br />

ignorance gives way to sudden outbursts of passion, we get lost along with the young<br />

lovers chasing each other through the forest at night, that restricts our vision and blurs<br />

clear distinctions such as that between madness and reality. We are presented with the<br />

question of whether our waking or dreaming state is more powerful, or indeed whether<br />

we can even distinguish between the two, and who, why and to what purpose we are<br />

introduced to the dreams that we aspire to or that haunt us. Do humans, do we have a<br />

will of our own – or are we being controlled – by what, or by whom?<br />

Together with the Burgtheater Vienna’s resident ensemble, Barbara Frey will not only<br />

unleash the famous dramatic potential of this brilliant text, but also ask whether the<br />

distant past might have something important to tell us about our current crisis-ridden<br />

present – might the Renaissance not only be the cradle of our identity, but also the origin<br />

of the paradox that we have lived in and with ever since?<br />

Regie<br />

Barbara Frey<br />

Bühne<br />

Martin Zehetgruber<br />

Mitarbeit Bühne<br />

Stephanie Wagner<br />

Kostüme<br />

Esther Geremus<br />

Musik<br />

Josh Sneesby<br />

Barbara Frey<br />

Sound Design<br />

Thomas Wegner<br />

Licht Design<br />

Rainer Küng<br />

Dramaturgie<br />

Andreas Karlaganis<br />

Regieassistenz<br />

Verena Holztrattner<br />

Kostümassistenz<br />

Leni Poindl<br />

Inspizienz<br />

Veronika Hofene<strong>der</strong><br />

Souffleuse<br />

Bernie Knoll<br />

Theseus / Titania<br />

Markus Scheumann<br />

Hippolyta / Oberon<br />

Sylvie Rohrer<br />

Egeus / Elfe / Squenz<br />

Gunther Eckes<br />

Lysan<strong>der</strong> / Schnock<br />

Marie-Luise Stockinger<br />

Demetrius / Schnauz<br />

Langston Uibel<br />

Helena / Schlucker<br />

Lili Win<strong>der</strong>lich<br />

Hermia<br />

Meike Droste<br />

Puck<br />

Dorothee Hartinger<br />

Flaut / Elfe<br />

Sabine Haupt<br />

Zettel<br />

Oliver Nägele<br />

Live-Musik<br />

Josh Sneesby<br />

Kraftzentrale, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Do 10. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 11. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 12. August _________________ 20.00 Uhr<br />

So 13. August ___________________ 18.00 Uhr<br />

Mi 16. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Do 17. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />

ermäßigt ab 12 €<br />

Deutsch mit englischen<br />

Übertiteln<br />

Eine Koproduktion von<br />

Burgtheater Wien und <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />

Brost-Stiftung<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

des Vereins <strong>der</strong> Freunde und<br />

För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> e. V.<br />

www.ruhr3.com/traum<br />

13


DIE ERDFABRIK<br />

GEORGES APERGHIS<br />

JEAN-CHRISTOPHE<br />

BAILLY<br />

Musiktheater<br />

Eine Reise ins Innere<br />

→ Magazin, Seite 141<br />

Alle sollten zu zehn Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />

→ Magazin, Seite 145<br />

14


Tief im Inneren <strong>der</strong> Erde ruht ihr Gedächtnis. Der Komponist Georges Aperghis und <strong>der</strong><br />

Schriftsteller Jean-Christophe Bailly suchen es auf. Es beginnt eine imaginäre Reise hinab<br />

durch die geschichtete Zeit. Ständiger Begleiter ist die nachtschwarze Dunkelheit,<br />

Urmutter <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> Schlaflosigkeit, aber auch <strong>der</strong> ältesten Spiele und skurrilsten<br />

Fantasiegeburten. Im Zusammenspiel mit flüchtig-wandelbaren animierten Zeichnungen<br />

lassen fünf Musiker:innen die Szenerie durch Klang, Wort und Körper erstehen:<br />

Gemeinsam graben sie sich durch verschiedene Materialien hindurch ins Dunkel, tasten<br />

sich durch Hohlräume, begegnen kindlichen Angstfantasien und ergeben sich verzerrten<br />

Gedankenbil<strong>der</strong>n, die einen beim nächtlichen Wachliegen ereilen. Die Mine wird<br />

zu einem poetischen Ort, dessen Reichtum an Assoziationen Aperghis und Bailly zu<br />

Tage för<strong>der</strong>n. Je tiefer wir steigen, desto näher kommen wir dem Himmel. 300 Millionen<br />

Jahre tief treffen wir auf Kohle. Bailly, <strong>der</strong> mit Dichtung von Annette von Droste-<br />

Hülshoff und eigenen Gedichten <strong>der</strong> Erdfabrik Sprache verleiht, nennt sie ein »Kind des<br />

Lichts«; schließlich war <strong>der</strong> schwarze Stoff aus <strong>der</strong> Tiefe vor Urzeiten einmal lebendige<br />

Vegetation, die sich von Sonnenlicht ernährte. Dieses Licht des Himmels findet er<br />

im eigenartig kühlen Glanz <strong>der</strong> Kohle wie<strong>der</strong>. Dunkel und Licht, Ernst und Spiel, Mut<br />

und Angst, Großes und Kleines – <strong>der</strong> Verbund <strong>der</strong> extremen Pole, das Zusammenwirken<br />

innerer Wi<strong>der</strong>sprüche und universaler Gegensätze sind auch Motor von Aperghis’<br />

»théâtre musical«, seiner eigenen poetisch-abstrakten Form von Musiktheater, bei <strong>der</strong><br />

nicht Figuren Geschichten erzählen, son<strong>der</strong>n das Publikum mit den Produkten seiner<br />

eigenen Vorstellung selbst zur Geschichte wird. Mit <strong>der</strong> Erdfabrik hat Ernst von Siemens<br />

Musikpreisträger Georges Aperghis, ein Magier <strong>der</strong> minimalen Mittel, für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ein universal-intimes Kammermusiktheater <strong>der</strong> Sinne, Urgefühle und Gedanken<br />

geschaffen, eine spielerisch-ernste Hommage an die menschliche Imaginationskraft.<br />

Deep inside the earth lies its memory. The composer Georges Aperghis and the writer<br />

Jean-Christophe Bailly go in search of this, setting off on an imaginary journey down<br />

through the layers of time. Their constant companion is a darkness as black as night:<br />

the primordial mother of fear and insomnia as well as the oldest of games and the most<br />

outlandish fantasies. Through interplay with fleeting and mutating animated drawings, five<br />

musicians conjure up the scene with sounds, words and bodies: together they dig through<br />

various materials into the darkness, feel their way through cavities, encounter childlike<br />

fears and images that creep up while we lie awake at night. The mine becomes a poetic<br />

location whose wealth of associations are unearthed by Aperghis and Bailly. The deeper<br />

we go, the closer we get to the universe. 300 million years down, we hit coal. Bailly, who<br />

uses a poem of Annette von Droste-Hülshoff and his own writings to lend Die Erdfabrik<br />

a language, calls coal the »child of light«. After all, this black stuff from the depths of<br />

primeval time was once living vegetation that fed on sunlight. He rediscovers this heavenly<br />

light in the unique and cool glow of coal. Darkness and light, seriousness and play,<br />

courage and fear, vast expanses and tiny details – the combination of extreme opposites,<br />

the interaction of internal contradictions and universal oppositions are also the drivers of<br />

Aperghis’s »théâtre musical«, his own poetic and abstract form of music theatre in which<br />

characters do not tell stories, but the audience themselves become the story, along with<br />

the products of their own imagination. With his Die Erdfabrik, the Ernst von Siemens<br />

Music Prize-winner Georges Aperghis, a magician of minimalist means, has created for<br />

the <strong>Ruhrtriennale</strong> a universal and intimate chamber opera of the senses, primal emotions<br />

and ideas, a playful and serious homage to the power of human imagination.<br />

Komposition, Regie<br />

Georges Aperghis<br />

Text<br />

Jean-Christophe Bailly<br />

Koordination Künstlerische<br />

Produktion<br />

Émilie Morin<br />

Bühne, Requisite<br />

Nina Bonardi<br />

Kostüme<br />

Julie Scobeltzine<br />

Licht Design<br />

Daniel Lévy<br />

Sound Design<br />

Thomas Wegner<br />

Co-Sounddesign<br />

Sebastian Schottke<br />

Video Design, Animation<br />

Jeanne Apergis<br />

Video Installation, Technik<br />

Jérôme Tuncer<br />

Musikalische Studienleitung<br />

Uli Fussenegger<br />

Dramaturgie<br />

Andri Hardmeier<br />

Barbara Eckle<br />

Stimme<br />

Donatienne Michel-Dansac<br />

Perkussion<br />

Christian Dierstein<br />

Dirk Rothbrust<br />

Trompete<br />

Marco Blaauw<br />

Kontrabass<br />

Sophie Lücke<br />

Gebläsehalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Uraufführung<br />

Fr 11. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

Sa 12. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

So 13. August ___________________ 18.00 Uhr<br />

Do 17. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

Fr 18. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

Sa 19. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

So 20. August ___________________ 18.00 Uhr<br />

Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />

ermäßigt ab 12 €<br />

Deutsch mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

Produziert von <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

in Kooperation mit La Muse en<br />

Circuit Centre National de<br />

Création Musicale<br />

Aufführungsrechte Musik<br />

© Editions Durand, Paris<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

durch die RAG-Stiftung<br />

Kompositionsauftrag von<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong>, finanziert durch die<br />

Ernst von Siemens Musikstiftung<br />

Dauer: ca. 70min<br />

www.ruhr3.com/erdfabrik<br />

15


MY BODY IS NOT<br />

AN ISLAND<br />

EVA KOŤÁTKOVÁ<br />

Installation<br />

Für alle Altersgruppen<br />

16


Ein dekonstruierter, gigantischer Körper – teils Tier, teils Mensch – aus einem Metallgerüst<br />

geschweißt, überdimensionale Kleidungsstücke, bunte Kostüme, Transportkisten<br />

und Materialcollagen entfalten sich in <strong>der</strong> weitläufigen Installation My Body Is Not An<br />

Island <strong>der</strong> tschechischen Künstlerin und Filmemacherin Eva Koťátková (*1982 in Prag)<br />

zu einer immersiven Landschaft. Fiktive und reale Geschichten, die von physischer<br />

o<strong>der</strong> psychischer Unterdrückung erzählen, sind <strong>der</strong> Arbeit eingeschrieben. Die Erzählungen<br />

aus menschlicher, tierischer und pflanzlicher Perspektive werden wöchentlich<br />

von Performer:innen innerhalb <strong>der</strong> Kulturkirche Liebfrauen und im umliegenden Duisburger<br />

Stadtraum aktiviert und können vom Publikum durch eigene Erfahrungen ergänzt<br />

werden.<br />

Ausgehend von ihrem Interesse an gesellschaftlichen Strukturen – wie Familie, Schule<br />

o<strong>der</strong> Arbeit – geht Eva Koťátková in ihrer Arbeit <strong>der</strong> Frage nach, wie Normierungsprozesse<br />

unser Alltagsleben prägen und Formen von übertriebener (Selbst-)kontrolle, Gewalt<br />

und Angst hervorrufen können.<br />

Beeinflusst von surrealistischer Poesie und theatralen Szenografien entwirft die Künstlerin<br />

einen inklusiven Ort, an dem wir uns unseren Träumen, unserem Unbewussten zuwenden<br />

dürfen. My Body Is Not An Island ist eine Einladung an Kin<strong>der</strong>, Jugendliche und<br />

Erwachsene, sich in an<strong>der</strong>e hineinzufühlen und Emotionalität als Zugang zur Welt zu<br />

erlernen: Bring your emotions and your jackets too, ruft die Künstlerin auf.<br />

Urbane Künste Ruhr zeigt zu je<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> einen eigenen künstlerischen Beitrag.<br />

Im Anschluss an das Ruhr Ding: Schlaf, das sich als städteübergreifendes Ausstellungsprojekt<br />

im Frühsommer dieses Jahres unserem Verhältnis zu Körper und Zeit im postindustriellen<br />

Kontext widmete, erfolgt die Einladung an Eva Koťátková, nach Stationen<br />

in Bordeaux und Prag eine ortsspezifische Version von My Body Is Not An Island für die<br />

Kulturkirche Liebfrauen in Duisburg zu entwickeln.<br />

Künstlerin<br />

Eva Koťátková<br />

Assistenz <strong>der</strong> Künstlerin<br />

Karolina Liberová<br />

Komposition<br />

Marie Čtveráčková<br />

Martin Hůla<br />

Ursula Sereghy<br />

Künstlerische Leitung, Kuratorin<br />

Britta Peters<br />

Assistenzkuratorin<br />

Alisha Danscher<br />

Projektmanagement<br />

Larissa Koch<br />

Technische Leitung<br />

Stefan Göbel<br />

Technische Projektleitung<br />

Sebastian Rietz<br />

Marketing<br />

Kerstin Finkel<br />

Presse<br />

Hannes Klug<br />

Kunstvermittlung<br />

Kim Lempelius<br />

İpek Gençtürk<br />

Josephine Hofmann<br />

A giant, deconstructed body – part animal, part human – welded from a metal frame,<br />

transport crates and collages of material, unfolds to create an immersive landscape in<br />

the extensive installation My Body Is Not An Island by the Czech artist and film-maker<br />

Eva Koťátková. Stories both factual and fictional telling of physical and mental oppression<br />

are written into the work. Tales from the perspectives of humans, animals and plants are<br />

activated every week by the performer and can be supplemented with the public’s own<br />

experiences.<br />

Originating from her own interest in social structures – such as the family, schools, or<br />

work – in this art work, Eva Koťátková explores the question of how normalisation processes<br />

shape our everyday lives and can give rise to forms of excessive (self-)control,<br />

violence and fear.<br />

Influenced by the poetics of surrealism and theatrical stage designs, the artist has created<br />

an inclusive place in which we can face our dreams and our unconscious. My Body<br />

Is Not An Island invites children, young people and adults alike to empathise with others<br />

and to learn how to use emotions as a way in to the world: Bring your emotions and your<br />

jackets too, the artist tells us.<br />

Urbane Künste Ruhr makes its own artistic contribution to each <strong>Ruhrtriennale</strong>. Following<br />

up on Ruhr Ding: Schlaf, an exhibition project across several cities early this summer that<br />

addressed our relationship with the body and time in a post-industrial context, it has<br />

invited Eva Koťátková to create a site-specific version of My Body Is Not An Island at Liebfrauenkirche<br />

Duisburg after the work had previously been seen in Bordeaux and Prague.<br />

Kulturkirche Liebfrauen,<br />

Duisburg<br />

Eröffnung<br />

Sa 12. August ___________________ 14.00 Uhr<br />

Eine Produktion von<br />

Urbane Künste Ruhr<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Laufzeit<br />

12.August – 23. September<br />

Mi-So 12-19 Uhr<br />

Eintritt frei<br />

www.ruhr3.com/kotatkova<br />

17


WEGE<br />

ALJOSCHA BEGRICH<br />

Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

ALTES ZU NEUEM<br />

LEBEN ERWECKEN<br />

STEFAN SCHNEIDER<br />

EL EXTRANJERO<br />

LISANDRO RODRIGUEZ<br />

UNEARTH<br />

AZADEH GANJEH<br />

DURCHSAGE<br />

PENG! KOLLEKTIV<br />

AK KU KU<br />

SAN KELLER<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Kohlenstraße<br />

→ Magazin, Seite 134<br />

Künstler:innen präsentieren die<br />

Welt außerhalb <strong>der</strong> Spielstätten<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Dieses Jahr<br />

als gemeinsame Ausflüge.<br />

Begrenzte Teilnehmer:innenzahl /<br />

Anmeldung erfor<strong>der</strong>lich unter:<br />

www.ruhr3.com/wege<br />

Die Eintrittskarten kosten 2 Euro<br />

und gelten am Tag <strong>der</strong> Ver anstalt<br />

ung als Fahrkarte für die<br />

Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />

im gesamten Verkehrsverbund<br />

Rhein-Ruhr (VRR).<br />

Kettwig


¿DÓNDE<br />

ESTAMOS?<br />

GABY<br />

BLANCO<br />

Zeche<br />

Zollverein<br />

Bahnhof<br />

Zollverein<br />

Nord<br />

ACHTMAL BLINZELN<br />

ANNA KPOK<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

NATURBÜRO 1—7<br />

LOEKENFRANKE<br />

Hospital zum<br />

Heiligen Geist<br />

Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

ZWISCHENTAGE<br />

RUHRORTER<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

RAUBBAUFOLGELYRIK BOCHUM<br />

STEFAN WARTENBERG<br />

INSIDE OUT<br />

TEHERAN RE:PUBLIC<br />

Bochum<br />

Hauptbahnhof<br />

KGV Bergmannsheil<br />

LOS VIENTOS<br />

LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />

Auch im dritten Jahr <strong>der</strong> Intendanz von Barbara Frey wird das Projekt WEGE fortgeführt,<br />

um die Strecken zwischen den weit verteilten Spielstätten <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> zu bespielen.<br />

Drei Performancekünstler:innen wurden eingeladen, aus unterschiedlichen Perspektiven<br />

Projekte für unterwegs zu entwickeln, die einen Blick auf den Raum des Dazwischen und in<br />

ihm das Verhältnis zwischen Natur und Energie aufzuzeigen. Doch an<strong>der</strong>s als in den Jahren<br />

zuvor wird in diesem Jahr das Publikum gemeinsam mit den Künstler:innen die WEGE als<br />

Gruppe zurücklegen, um in Austausch und direkte Begegnung zu kommen – in Bochum,<br />

Essen und Duisburg.<br />

In our third year we also continue our project WEGE, creating works for the routes between<br />

the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s disparate venues. Three performance artists have been invited to devise<br />

projects to be experienced on the move from a variety of perspectives, each of which<br />

presents a view of these intermediate spaces and what they reveal about the relationship<br />

between nature and energy. However, in contrast to previous years, this year audiences will<br />

experience the WEGE projects in groups together with the artists, so that they can meet<br />

and exchange reactions – in between Bochum, Essen and Duisburg.<br />

Konzept<br />

Aljoscha Begrich<br />

Eine Auftragsarbeit <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Wege <strong>2023</strong><br />

Wege 2021 + 2022<br />

Zu Fuß / By foot<br />

Fahrrad / Bike<br />

Straßenbahn / Tram<br />

Zug / Train<br />

www.ruhr3.com/wege


Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

KGV Bergmannsheil<br />

RAUBBAUFOLGELYRIK<br />

BOCHUM<br />

STEFAN WARTENBERG<br />

Konzept, Performance Stefan Wartenberg Beratung Fabian Kaufung,<br />

Maja Zimmermann Mit Stefan Wartenberg, Lena Dorn<br />

Dichter:innen des Bochumer Dichter:innentreffens: Michael Barthel,<br />

Lena Dorn, Sascha Kokott, Lütfiye Güzel, Lars Banhold, Christoph<br />

Kleinhubbert und Thomas Anzenhofer, Hannes Fuhrmann und<br />

Sybille Lengauer<br />

Der Flaneur und Lyriker Stefan Wartenberg aus Leipzig<br />

lädt zu einem literarischen Spaziergang durch Bochum.<br />

Im Zentrum des Walks stehen alte und neue Gedichte, die<br />

im allerweitesten Sinne die Themen Arbeit und Energie<br />

verhandeln und damit die omnipräsente Geschichte auf<br />

allen Wegen dieser Stadt zeigen. Orte werden mit Texten<br />

konfrontiert – und umgekehrt: praktizierte Literatur im<br />

öffentlichen Raum.<br />

Leipzig flaneur and poet, urbanologist and phenomenologist<br />

Stefan Wartenberg invites you on a literary walk from<br />

the centre of Bochum to its outskirts. At the heart of the<br />

walk, poems old and new engage with the topics of nature<br />

and energy in the broadest sense and illuminate the history<br />

that is omnipresent on all routes within the city. Places<br />

are confronted with texts – and vice versa: this is literature<br />

being practiced in public space.<br />

Treffpunkt: Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Anmeldung unter: www.ruhr3.com/lyrik<br />

Endpunkt: KGV Bergmannsheil<br />

Dauer: ca. 90 min<br />

Sa 12. August _____________________________ 16.00 Uhr<br />

So 13. August _____________________________ 16.00 Uhr<br />

Fr 1. September____________________ 17.00 Uhr<br />

Sa 2. September___________________ 16.00 Uhr<br />

So 3. September___________________ 16.00 Uhr<br />

Specials: _Dichter:innentreffen im Anschluss an die<br />

Performances am 12.8. und 2.9.<br />

Haus <strong>der</strong> Geschichte des Ruhrgebiets,<br />

Clemensstraße 17, 44789 Bochum<br />

20


Bahnhof<br />

Zollverein Nord<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Hospital zum<br />

Heiligen Geist<br />

AK KU KU<br />

SAN KELLER<br />

¿DÓNDE ESTAMOS?<br />

GABY BLANCO<br />

Konzept San Keller Sound XAV-06 Y Mit San Keller<br />

Der Konzept- und Spaziergangskünstler San Keller bittet<br />

zum Tanz durch Duisburg. Die verklungenen Sounds <strong>der</strong><br />

ehemaligen Industrie werden mit einem Techno-Set verwoben,<br />

welches San Keller gemeinsam mit dem Publikum<br />

durch die Straßen tragend zur Aufführung bringt. AK KU KU<br />

verbindet die Akkus <strong>der</strong> Lautsprecher, die die Dauer <strong>der</strong><br />

Performance bestimmen, und den das Territorium markierenden<br />

Kuckuck, um gemeinsam zu rufen: »Schau her, ich<br />

habe noch Power!«<br />

The Swiss conceptual and promenade artist San Keller<br />

invites you to dance through Duisburg. The faded sounds<br />

of former industries are combined with a techno set that<br />

will carry San Keller and the audience through the streets<br />

together to create a performance. AK KU KU links the<br />

batteries of the loudspeakers that determine the duration<br />

of the performance and the cuckoo marking its territory,<br />

both of them calling out: »Look here, I’ve still got power!«<br />

Treffpunkt: Duisburg Hauptbahnhof, Bahnhofsvorplatz<br />

Anmeldung unter: www.ruhr3.com/akkuku<br />

Endpunkt: offen<br />

Dauer: solange die Akkus halten<br />

Mi 23. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

Do 24. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

Fr 25. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

Sa 26. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

So 27. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

Mi 30. August _____________________________ 18.00 Uhr<br />

Idee, Regie, Text, Performance Gaby Blanco Mit Udo Schwammborn,<br />

Women of the Puna Beratung Manuel Iglesias Grafikdesign Alejandra<br />

Stefani<br />

Die argentinische Stadterforscherin Gaby Blanco wird bei<br />

ihrer Tour durch Essen Minen arbeit zwischen Südamerika<br />

und Deutschland miteinan<strong>der</strong> abgleichen. In den Unterschieden<br />

und Gemeinsamkeiten befragt sie den grundsätzlichen<br />

Zugang zur Natur: Kann <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mensch<br />

etwas an<strong>der</strong>es sehen als Gebiete <strong>der</strong> Eroberung und Ausnutzung?<br />

Es ist Zeit, uns durch Rituale selbst als Teil <strong>der</strong><br />

Natur zu verstehen, um zu fragen, wo wir stehen und wohin<br />

wir gehen.<br />

In her tour around Essen, Argentinian urbanologist Gaby<br />

Blanco will compare mine working in South America and<br />

Germany. On the basis of these differences and similarities<br />

she will question our fundamental approach to nature: Can<br />

mo<strong>der</strong>n humans see anything other than territory for conquest<br />

and exploitation? It is time for us to employ rituals to<br />

see ourselves as part of nature in or<strong>der</strong> to ask where we<br />

stand and where we are heading.<br />

Treffpunkt: Essen Zollverein Nord<br />

Anmeldung unter: www.ruhr3.com/woher<br />

Endpunkt: Hospital zum Heiligen Geist, Essen Stoppenberg<br />

Dauer: ca. 150 min<br />

Sa 16. September____________________ 17.00 Uhr<br />

So 17. September___________________ 16.00 Uhr<br />

Do 21. September___________________ 18.00 Uhr<br />

Fr 22. September___________________ 18.00 Uhr<br />

Sa 23. September___________________ 18.00 Uhr<br />

Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia<br />

www.ruhr3.com/wege<br />

21


FILMRETROSPEKTIVE<br />

LOEKENFRANKE<br />

Zu einem Festival <strong>der</strong> Künste gehört auch die Filmkunst.<br />

In Kooperation mit dem letzten verbliebenen Bahnhofskino<br />

Deutschlands, dem Metropolis im Bochumer<br />

Hauptbahnhof, zeigen wir eine Retrospektive des in Witten<br />

beheimateten Filmkollektivs loekenfranke, das wie<br />

kein an<strong>der</strong>es den Blick auf das Ruhrgebiet geprägt hat.<br />

Ihre preisgekrönten Langzeitdokumentationen erzählen<br />

von großen gesellschaftlichen Umbruchprozessen,<br />

vom Trösten und Durchhalten, vom Verschwinden und<br />

Bleiben, von Arbeit und Heimat, von einer Stadt, die<br />

sich neu erfindet, und dem Kampf um den Erhalt einer<br />

großen Liebe.<br />

Any arts festival should also include the art of film. In<br />

co-operation with Germany’s last remaining station cinema,<br />

the Metropolis in Bochum Hauptbahnhof, we present<br />

a retrospective from the Witten-based film collective<br />

loekenfranke, which has had an unparalleled impact<br />

on how the Ruhr region is perceived. We will also be<br />

screening two feature films presenting the work of choreographer<br />

Gisèle Vienne, whose latest production will<br />

receive its world premiere at this year’s <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Über das Verschwinden,<br />

Erinnern und den magischen Moment<br />

→ Magazin, Seite 136<br />

Metropolis Kino,<br />

Bochumer Hauptbahnhof<br />

Jeden Samstag vom 12. August<br />

<strong>2023</strong> bis 23. September <strong>2023</strong><br />

(außer am 9.9.<strong>2023</strong>) – mit<br />

Einführungen und anschließenden<br />

Filmgesprächen mit den<br />

anwesenden Künstler:innen<br />

www.ruhr3.com/loekenfranke<br />

UND VOR MIR DIE STERNE … –<br />

DAS LEBEN DER SCHLAGERSÄNGERIN<br />

RENATE KERN<br />

Ein Stück bundesrepublikanischer Wirklichkeit und <strong>der</strong>en<br />

Trostszenarien im deutschen Schlager. Roter Faden für<br />

den Dokumentarfilm über Deutschland zwischen 1965<br />

und 1997 ist das Leben <strong>der</strong> Renate Kern: ihre ewige Suche<br />

nach Identität, ihre Karriere und ihr Scheitern als Schlagersternchen<br />

und schließlich ihr Selbstmord 1991.<br />

A slice of German reality and the solace offered by popular<br />

songs.<br />

Einführung: Judith Gerstenberg<br />

Sa 12. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />

D 1998, Dauer: 90 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

HERR SCHMIDT UND HERR<br />

FRIEDRICH<br />

Eine Beziehung. Eine Reise in die deutsche Vergangenheit<br />

und ins deutsche Provinzleben. Die Liebe zwischen<br />

Herrn Schmidt und Herrn Friedrich begann viele Jahre vor<br />

dem Mauerfall, als <strong>der</strong> eine im Westen kaufmännischer<br />

Angestellter war und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in Ostberlin kellnerte. Als<br />

Langzeitarbeitslose mussten die beiden Mittfünfziger die<br />

Sinnfrage Tag für Tags aufs Neue beantworten.<br />

A relationship, a journey into Germany’s past and life in<br />

the German provinces.<br />

Einführung: Barbara Frey<br />

Sa 19. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />

D 2001, Dauer: 72 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

22


LOSERS AND WINNERS –<br />

ARBEIT GEHÖRT ZUM LEBEN<br />

Eine Geschichte aus <strong>der</strong> globalisierten Wirtschaft. 400<br />

chinesische Arbeiter:innen zerlegen die Dortmun<strong>der</strong><br />

Kokerei Kaiserstuhl in ihre Einzelteile und verschiffen<br />

sie in ihre Heimat.<br />

A story of economic globalisation. 400 Chinese workers<br />

dismantle the Kaiserstuhl coking works in Dortmund<br />

into parts and ship them to their homeland.<br />

Einführung: Mischa Leinkauf<br />

Sa 26. August ______________________________ 17.00 Uhr<br />

D 2006, Dauer: 100 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

ARBEIT HEIMAT OPEL<br />

Porträt von sechs Auszubildenden im Opel-Werk Bochum<br />

und von Lebensträumen und Sorgen am Anfang eines<br />

Arbeitslebens, dessen Zukunft ungewiss ist.<br />

A portrait of six apprentices at the Opel works in Bochum,<br />

the lives they dream of and their worries at the beginning<br />

of a working life whose future is uncertain.<br />

Einführung: Mats Staub<br />

Sa 2. September____________________ 17.00 Uhr<br />

D 2012, Dauer: 90 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

GÖTTLICHE LAGE –<br />

EINE STADT ERFINDET SICH NEU<br />

Ein Film über den Wandel <strong>der</strong> Industriegesellschaft zur<br />

Freizeitgesellschaft. Auf einem ehemaligen Stahlwerksgelände<br />

in Dortmund wird über viele Jahre ein neuer<br />

Stadtteil gebaut. Den Mittelpunkt bildet ein künstlicher<br />

See, an dessen Ufern luxuriöse Wohnungen entstehen.<br />

Planer und Anwohner, Visionäre und Zweifler werden zu<br />

Gewinnern und Verlierern dessen, was man gesellschaftlichen<br />

Fortschritt nennt.<br />

A new suburb is being built on the site of a former steelworks<br />

in Dortmund. Its centrepiece is an artificial lake –<br />

the Phönixsee. About the transformation from an industrial<br />

society to one based on leisure.<br />

Einführung: Aljoscha Begrich<br />

Sa 16. September____________________ 17.00 Uhr<br />

D 2014, Dauer: 104 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

WE ARE ALL DETROIT<br />

Die Suche nach einer neuen Identität nach dem Ende des<br />

Industriezeitalters. Ein Blick auf zwei weit entfernte Städte,<br />

Bochum und Detroit, vor denen nach dem Weggang <strong>der</strong><br />

Autoindustrie gigantische Herausfor<strong>der</strong>ungen liegen. Die<br />

Industrie verschwindet, was bleibt, sind die Menschen.<br />

The search for a new identity after the industrial age has<br />

ended.<br />

Im Anschluss Gespräch mit loekenfranke<br />

Sa 23. September____________________ 17.00 Uhr<br />

D 2021, Dauer: 119 min<br />

Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken<br />

Verleih: realfiction<br />

23


SKATEPARK<br />

METTE<br />

INGVARTSEN<br />

Tanz<br />

Für alle ab 12 Jahren<br />

Skateboarden strukturiert die<br />

Weltanschauung <strong>der</strong>er, die es praktizieren<br />

→ Magazin, Seite 188<br />

24


Legenden zufolge zwangen niedrige Wellen die Surfer:innen von Los Angeles eines Tages<br />

aus dem Wasser auf den Asphalt. Durch die Straßen gleitend und jedes neue Hin<strong>der</strong>nis<br />

überwindend ist Skaten inzwischen zu einer einzigartigen Choreografie geworden,<br />

die sich den öffentlichen Raum erobert hat, Hin<strong>der</strong>nisse mit waghalsigen Bewegungen<br />

überwindet und eine eigene Subkultur initiiert hat.<br />

In ihrer neuen Arbeit verwandelt die dänische Choreografin Mette Ingvartsen die Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

in einen Skatepark. Hin<strong>der</strong>nisse, Kanten und Gelän<strong>der</strong> werden vom Skatepark<br />

im öffentlichen Raum zum Bühnensetting und machen das Skaten zu einem Teil<br />

des Tanzvokabulars. Eine große Gruppe bestehend aus Tänzer:innen und Skater:innen<br />

sucht den Nervenkitzel des Tempos und die beson<strong>der</strong>e Energie <strong>der</strong> Bewegung auf Rollen<br />

– eine physische Erinnerung aus Mette Ingvartsens eigener Jugend. Statt virtuoser<br />

Kunststücke zeigt Skatepark vielmehr eine Gemeinschaft, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> sich unermüdlich<br />

ausprobieren, scheitern und immer wie<strong>der</strong> die Grenzen des Möglichen neu<br />

ausloten, aber auch ihr gemeinsames Abhängen, Musikhören, Lachen und Tanzen.<br />

Während Mette Ingvartsen mit einer festen Gruppe von Tänzer:innen und Skater:innen<br />

zusammenarbeitet, sucht sie für jeden Aufführungsort junge lokale Skater:innen, um<br />

Begegnungen zu stiften und das Gefühl für diese beson<strong>der</strong>e Subkultur des Skatens<br />

zu vermitteln. Wie alle ihre Arbeiten zeichnet sich auch diese durch die Suche nach<br />

Berührungspunkten zwischen Tanz und erweiterten choreografischen Praktiken außerhalb<br />

des Bühnenraums aus. Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> zeigt jedes Jahr eine Arbeit<br />

von Mette Ingvartsen. Skatepark ist als Deutschlandpremiere in <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum zu erleben.<br />

According to legend, low waves forced Los Angeles’s surfers out of the water one day<br />

and onto the tarmac. Gliding through the streets and overcoming every new obstacle,<br />

skateboarding has now evolved into a unique form of choreography that has reclaimed<br />

open spaces, overcome obstacles with daredevil manoeuvres and developed its own<br />

subculture.<br />

In her new work the Danish choreographer Mette Ingvartsen transforms the Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

into a skate park. Obstructions, kerbs and railings turn a public skate park into<br />

a stage setting and make skateboarding part of the vocabulary of dance. Here a big<br />

group of dancers and skaters go looking for the thrill of speed and the special energy of<br />

movement on wheels – a physical memory from Mette Ingvartsen’s own youth. Instead<br />

of virtuoso artistic tricks, Skatepark focusses far more on a community whose members<br />

are tirelessly trying things out, failing and re-assessing the limits of what is possible, also<br />

showing them hanging out together, listening to music, laughing and dancing.<br />

While Mette Ingvartsen works together with a regular group of dancers and skaters, she<br />

also looks for young local skaters in each venue in or<strong>der</strong> to generate encounters and<br />

communicate a sense of this specific skateboarding subculture. As is the case here, her<br />

works are characterised by searching for points of contact between dance and choreographic<br />

practices that extend beyond the stage. <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> has so far<br />

presented one work by Mette Ingvartsen each year. Skatepark will receive its German<br />

premiere at the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum.<br />

Konzept, Choreografie<br />

Mette Ingvartsen<br />

Assistenz Choreografie<br />

Michaël Pomero<br />

Kostüme<br />

Jennifer Defays<br />

Sound Design<br />

Anne van de Star<br />

Peter Lenaerts<br />

Licht Design<br />

Minna Tiikkainen<br />

Szenografie<br />

Pierre Jambé/Antidote<br />

Technisches Bühnendesign<br />

Stéphane Thonnard<br />

Bühnenkonstruktion<br />

Construction Workshop des<br />

Théâtre National Bruxelles:<br />

Joachim Pochet, Joachim<br />

Hesse, Pierre Jardon, Yves<br />

Philippaerts, Andrea Messana,<br />

Boyd Gates<br />

Dramaturgie<br />

Bojana Cvejić<br />

Technische Leitung<br />

Hans Meijer<br />

Tontechnik<br />

Milan Van Doren, Yrjänä<br />

Rankka, Filip Vilhelmsson<br />

Lichttechnik<br />

Bennert Vancottem, Jan-Simon<br />

De Lille<br />

Musik<br />

Felix Kubin, Mord Records, Why<br />

the eye, sonaBLAST! Records,<br />

Rrose, The Fanny Pads, Restive<br />

Plaggona<br />

Mit<br />

Damien Delsaux, Manuel Faust,<br />

Aline Boas, Mary-Isabelle<br />

Laroche, Sam Gelis,<br />

Fouad Nafili, Júlia Rúbies<br />

Subirós, Thomas Bîrzan,<br />

Briek Neuckermans, Indreas<br />

Kifleyesus, Arthur Vannes,<br />

Camille Gecchele<br />

Lokale Skater:innen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Sa 12. August _________________ 20.00 Uhr<br />

So 13. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 19. August _________________ 20.00 Uhr<br />

So 20. August ___________________ 16.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 75 min<br />

Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />

ermäßigt ab 12 €<br />

Great Investments wird<br />

unterstützt von Fondation<br />

d’entreprise Hermès,<br />

Wilhelm Hansen Fonden,<br />

The Flemish Authorities, VGC,<br />

Tax Shelter of the Belgian<br />

Fe<strong>der</strong>al Government & The<br />

Danish Arts Council<br />

Produktion: Great Investment vzw<br />

Koproduktion: La Danse en<br />

grande forme (CNDC – Angers,<br />

Malandain Ballet Biarritz, La<br />

Manufacture CDCN Nouvelle-<br />

Aquitaine Bordeaux · La Rochelle,<br />

CCN de Caen en Normandie,<br />

L’échangeur – CDCN Hautsde-France,<br />

CCN2 – Grenoble,<br />

La Briqueterie – CDCN du Val<br />

de Marne, CCN – Ballet national<br />

de Marseille, CCN de Nantes,<br />

CCN d’Orléans, Atelier de Paris /<br />

CDCN, Le Gymnase CDCN<br />

Roubaix – Hauts-de-France,<br />

La Place de La Danse – CDCN<br />

Toulouse – Occitanie, La MC2<br />

– Grenoble), <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />

Wiener Festwochen und Tanz -<br />

quartier Wien, La Villette<br />

und Théâtre Chaillot, deSingel,<br />

Kaaitheater und Théâtre<br />

National, Kunstencentrum VIER-<br />

NULVIER, Next Festival,<br />

Charleroi danse centre chorégraphique<br />

de Wallonie –<br />

Bruxelles, International Theatre<br />

Rotterdam, Perpodium<br />

www.ruhr3.com/skatepark<br />

25


EXTRA LIFE<br />

GISÈLE VIENNE<br />

Schauspiel / Tanz<br />

Nacht und Licht<br />

→ Magazin, Seite 164<br />

26


Am Ende einer durchfeierten Nacht erleben zwei Geschwister, <strong>der</strong>en enges Verhältnis<br />

in <strong>der</strong> Kindheit durch ein Drama jäh zerstört worden war, einen beson<strong>der</strong>en Moment<br />

<strong>der</strong> Nähe. Nach zwanzig Jahren sind sie fähig, den Zusammenbruch des Systems zu<br />

verstehen, das dieses traumatische Ereignis ermöglicht hat. Jetzt entwerfen die beiden<br />

Erwachsenen mit neuer Empfindungs- und Analysefähigkeit einen möglichen Handlungsspielraum<br />

und damit eine Zukunft.<br />

Die Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne setzt mit dieser neuen Arbeit ihre<br />

ebenso bewegende wie rigorose Dekonstruktion des Wahrnehmungssystems in seinen<br />

gesellschaftlich geprägten narrativen und psychischen Strukturen fort. Hierfür erforscht<br />

sie gemeinsamen mit den Spieler:innen und Tänzer:innen Katia Petrowick, Adèle Haenel<br />

und Theo Livesey die Archäologie eines Moments <strong>der</strong> ganz beson<strong>der</strong>en Empfindung.<br />

Sie erfindet eine künstlerische Sprache, die es ermöglicht, perzeptive Schichten <strong>der</strong><br />

Erfahrung <strong>der</strong> Gegenwart auseinan<strong>der</strong>zufalten: Vergangenheit, Gegenwart, antizipierte<br />

Zukunft, Erinnerung und Wunschvorstellung.<br />

Das extrem dichte choreografische Stück folgt einer feinverästelten Partitur, bestehend<br />

aus dem Spiel <strong>der</strong> Darsteller:innen, <strong>der</strong> Musik Caterina Barbieris, dem Sound Design von<br />

Adrien Michel und dem Licht von Yves Godin.<br />

Entstanden ist eine einzigartige Bühnensprache, in <strong>der</strong> sinnliche Erfahrungen Möglichkeitsräume<br />

für Gedanken und Worte schaffen.<br />

Director and choreographer Gisèle Vienne continues her moving and exacting deconstruction<br />

of perceptual frameworks and narrative and psychological structures.<br />

At the end of a night partying, a sister and brother find each other again. Twenty years<br />

before, when they were children, they were united by a close bond, only to be torn apart<br />

by a tragedy. Now that they are capable of un<strong>der</strong>standing the collapse of the system that<br />

made this traumatic experience possible and acting on a new sensitivity and capacity<br />

for analysis, the two adults can imagine a sphere of action as well as a possible future.<br />

With EXTRA LIFE, Gisèle Vienne pursues her exploration of systems of perception. By<br />

developing and unfolding the layers of the experience of this moment, this sensitive<br />

openness, the choreographer invents a form in which different strata of what constitutes<br />

the present experience coexist: past, present, anticipated future, construction of memory,<br />

imagination. This intense choreographic work follows a sophisticated and unique<br />

artistic language made up of the actors’ and dancers’ performances, Caterina Barbieri’s<br />

music, Adrien Michel’s sound design and Yves Godin’s lighting.<br />

Gisèle Vienne’s reflection on perceptual hierarchies takes the form of a heterogeneous<br />

collage, created in collaboration with and performed by Katia Petrowick, Adèle Haenel<br />

and Theo Livesey. The result is a distinctive theatrical and choregraphic language in<br />

which sensory experiences make thoughts and words possible.<br />

Konzept, Choreografie, Regie,<br />

Szenografie<br />

Gisèle Vienne<br />

Kreiert mit und performt von<br />

Adèle Haenel<br />

Theo Livesey<br />

Katia Petrowick<br />

Originalmusik<br />

Caterina Barbieri<br />

Sound Design<br />

Adrien Michel<br />

Licht<br />

Yves Godin<br />

Text<br />

Adèle Haenel<br />

Theo Livesey<br />

Katia Petrowick<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Dennis Cooper<br />

Kostüme<br />

Gisèle Vienne, Camille Queval<br />

Inspizienz<br />

Antoine Hordé<br />

Toninspizienz<br />

Adrien Michel<br />

Lichtinspizienz<br />

Samuel Dosière<br />

Iannis Japiot<br />

Technische Direktion<br />

Erik Houllier<br />

Produktion und Distribution<br />

Alma Office:<br />

Anne-Lise Gobin<br />

Camille Queval<br />

Andrea Kerr<br />

Administration<br />

Cloé Haas<br />

Giovanna Rua<br />

Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />

Essen<br />

Uraufführung<br />

Mi 16. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Do 17. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />

So 20. August ___________________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 110 min<br />

Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />

ermäßigt 12 €<br />

Französisch mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

DACM / Company Gisèle Vienne<br />

wird vom Ministère de la culture<br />

et de la Communication - DRAC<br />

Grand Est, <strong>der</strong> Région Grand Est,<br />

<strong>der</strong> Ville de Strasbourg, vom<br />

Institut Français für internationale<br />

Tourneen und von Dance<br />

Reflections by Van Cleef &<br />

Arpels unterstützt.<br />

Produktion: DACM / Company<br />

Gisèle Vienne<br />

Koproduktion: <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />

Théâtre National de Bretagne –<br />

Centre Européen Théâtral<br />

et Chorégraphique, MC93 –<br />

Bobigny, MC2 – Grenoble,<br />

Théâtre national de Chaillot,<br />

Maillon – Théâtre de Strasbourg,<br />

Tandem – Scène<br />

nationale de Douai, Points<br />

Communs – Nouvelle Scène<br />

nationale de Cergy Pontoise,<br />

CND Centre national de la<br />

danse, Le Volcan – Scène<br />

nationale du Havre, Centre<br />

Culturel André Malraux- Scène<br />

nationale de Vandoeuvre lès<br />

Nancy, NTGent, Cité du Théâtre<br />

Domaine d’O Montpe llier,<br />

Festival d’Automne à Paris,<br />

La Filature, Scène nationale<br />

de Mulhouse, Comédie de<br />

Clermont, Internationales<br />

Sommerfestival Kampnagel –<br />

Hamburg, Tanzquartier Wien,<br />

Triennale – Mailand, Comédie de<br />

Genève<br />

www.ruhr3.com/life<br />

27


SI C’ÉTAIT DE L’AMOUR<br />

PATRIC CHIHA / GISÈLE VIENNE<br />

Film<br />

»Dem Film entkommen zu wollen, ist zwecklos, besser man verliert sich in ihm bis zum<br />

Schwindel« (Débordements). Der Dokumentarfilm über Gisèle Viennes Rave-Tanzstück<br />

Crowd ist selbst eine Techno-Party – mit repetitiven Bewegungen, kathartischen Momenten<br />

und 15 Körpern voll geballter sexueller Energie, die physisch und emotional aufeinan<strong>der</strong>treffen.<br />

Zugleich erlebt man die Choreografin bei den Proben ihrer intensiven,<br />

genauen Arbeit am Körper.<br />

»Trying to escape this film is pointless: it is better to lose yourself in it until you’re dizzy«.<br />

(Débordements) The documentary film about Gisèle Vienne’s rave dance piece Crowd<br />

is itself a techno party – featuring repetitive movement, moments of catharsis and 15<br />

bodies bursting with sexual energy colliding physically and emotionally. At the same time,<br />

we also see the choreographer in rehearsal and her intense, precise work on the body.<br />

Di 15. August _________________ 20.00 Uhr<br />

FR 2020, 82 min. OmdtU<br />

Regie: Patric Chiha<br />

mit: Gisèle Vienne<br />

Verleih: ImmerGuteFilme<br />

www.ruhr3.com/amour<br />

Metropolis Kino,<br />

Bochumer Hauptbahnhof<br />

28


JERK<br />

GISÈLE VIENNE<br />

Film<br />

Nach mehr als zwölf Jahren internationaler Tourneen hat die Choreografin Gisèle Vienne<br />

beschlossen, ihr Kultstück Jerk zu verfilmen – als eigenständiges Werk. Jerk basiert auf<br />

<strong>der</strong> Geschichte um den amerikanischen Serienmör<strong>der</strong> Dean Corll, <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> 1970er-<br />

Jahre mithilfe zweier Teenager in Texas mehr als 20 Jungen tötete. In <strong>der</strong> Tradition des<br />

Genre- und Horrorfilms erforscht Vienne die Mechanismen <strong>der</strong> Gewalt.<br />

After touring internationally for over twelve years, the choreographer Gisèle Vienne finally<br />

decided to film her cult piece Jerk as a work in its own right. Jerk is based on the story<br />

of the American serial killer Dean Corll, who, aided by two teenagers, killed more than 20<br />

young boys in Texas in the mid-1970s. Vienne uses the tradition of genre and horror films<br />

to analyse the mechanisms of violence.<br />

Di 22. August _________________ 20.00 Uhr<br />

FR 2021, 72 min. OmU<br />

Regie: Gisèle Vienne<br />

Verleih: Shellac<br />

www.ruhr3.com/jerk<br />

Metropolis Kino,<br />

Bochumer Hauptbahnhof<br />

29


MASCHINENHAUSMUSIK<br />

EVE RISSER // KEE AVIL<br />

Après un Rêve / Zehn Jahre erforschte Eve Risser die<br />

Eingeweide des Konzertflügels. Dann entdeckte sie ihre<br />

Faszination für die perkussive und rhythmische Magie, die<br />

im Körper des ganz gewöhnlichen Klaviers schlummert.<br />

Après un Rêve – nach <strong>der</strong> berühmten elegischen Komposition<br />

von Gabriel Fauré benannt – ist eine poetisch-mechanische<br />

Performance, die von <strong>der</strong> unmittelbaren Nähe<br />

zwischen Publikum und Instrument lebt. Die als Rhythmusbox<br />

organisierten Hämmer setzen die Walze zukünftiger<br />

Erinnerungen in Bewegung. Man entsteigt ihnen, wie<br />

man aus einem Traum erwacht. »O Nacht, gib mir deine<br />

Lügen zurück« (Romain Bussine). Eine Hand für den Groove,<br />

die an<strong>der</strong>e für die Seele. Und die Füße? Für die Party!<br />

Après un Rêve / Eve Risser spent ten years exploring the<br />

innards of the concert grand. Then she discovered her fascination<br />

for the percussive and rhythmic magic dormant<br />

within the body of the upright piano. Après un Rêve – a<br />

title taken from the famous elegiac composition by Gabriel<br />

Fauré – is a poetic and mechanical performance sustained<br />

by the direct proximity between the audience and the instrument.<br />

The hammers organised as a rhythm box set<br />

waves of future memories in motion. Emerging from these<br />

is like awakening from a dream. »Oh Night, give me back<br />

your lies« (Romain Bussine). One hand is for the groove,<br />

the other is for the soul. And the feet? They’re for the party!<br />

Präpariertes Klavier, Kick Drum Eve Risser<br />

Crease / Musik ist für Kee Avil kein rein akustisches<br />

Phänomen. Die Lie<strong>der</strong>, die sie schreibt, begreift sie als<br />

Skulpturen: »Es beginnt mit einem ersten Wort, Gefühl<br />

o<strong>der</strong> Klang, die ich zu einer definierten Form weitermodelliere<br />

und in einer imaginären Struktur befestige. Manchmal<br />

ist meine Rolle aber auch, an dessen äußerer Hülle<br />

zu schaben, um ihre wahre Gestalt freizulegen und ihren<br />

Platz im großen Ganzen sichtbar zu machen.« Mit Gitarre,<br />

Electronics und ihrer Stimme tastet sie diese Prozesse auf<br />

unkonventionellste Weise langsam ab, verknetet Klänge<br />

mit Geräuschen, entwirrt sie wie<strong>der</strong> und durchläuft auf<br />

diesem sinnlichen Weg die aufregendsten Transitstadien.<br />

Crease / For Kee Avil, music is more than a purely acoustic<br />

phenomenon. She thinks of the songs she writes as sculptures:<br />

»It stems from an initial word, emotion or sound,<br />

which I then build on, moulding it into a more refined<br />

shape, glued into an artificial structure. Other times, my<br />

role is to peel it, scrape at its exterior, to reveal its natural<br />

state and its part within the whole.« She uses the guitar,<br />

electronics and her voice to tease out these processes<br />

slowly in the most unconventional ways, kneading together<br />

sounds and noises, then disentangling them again and<br />

passing through the most exciting transitional states along<br />

this sensory route.<br />

GUSTAFSSON / GUY / MILLÀ<br />

Sie zählen zu den spannendsten und charakterstärksten<br />

Stimmen <strong>der</strong> internationalen Improvisationsszene in drei<br />

Generationen: Als Urgewalt am Saxofon ist Mats Gustafsson<br />

in Jazz- wie in Hardcore-Kreisen berüchtigt. Ein<br />

breites Spektrum vereint auch Barry Guy: Für den Kontrabassisten<br />

umfasst es Barockmusik genauso wie Jazz und<br />

Neue Musik. Er gründete und leitete das legendäre London<br />

Jazz Composers Orchestra und spielte u. a. in Christopher<br />

Hogwoods Academy of Ancient Music. Jordina<br />

Millàs Weg durch verschiedene multidisziplinäre Bereiche<br />

als Pianistin und Improvisatorin ist indessen von einem<br />

steten Forschungstrieb begleitet, <strong>der</strong> hauptsächlich ihrem<br />

Instrument gilt – und die schwarzweißen Tasten sind nur<br />

<strong>der</strong> Beginn dieses Kosmos. In verschiedenen Duoformationen<br />

sind die drei Musiker:innen jahrelang zusammen<br />

durch die Welt getourt. Als Trio stehen sie im Maschinenhaus<br />

nun zum ersten Mal gemeinsam auf <strong>der</strong> Bühne!<br />

Diese überfällige Weltpremiere ist <strong>der</strong> Kulminationspunkt<br />

eines Abends, an dem die drei so eigenständigen Künstler:innen<br />

zuerst solo und in allen möglichen Duokonstellationen<br />

zu erleben sind, bevor sie mit geballter Energie im<br />

Trio zusammenwachsen.<br />

They are among the most exciting voices and strongest<br />

characters on the international improvisation scene and<br />

span three generations: Mats Gustafsson is a legend in<br />

both jazz and hardcore circles as a primal force on the<br />

saxophone. Barry Guy also covers a very broad spectrum,<br />

with the double bassist playing Baroque music as well as<br />

jazz and new music. He has performed amongst others<br />

with Christopher Hogwood’s Academy of Ancient Music<br />

and is the foun<strong>der</strong> and director of the legendary London<br />

Jazz Composers Orchestra. Jordina Millà’s route across<br />

various multidisciplinary fields as a pianist and improviser<br />

has been accompanied by a constant urge for exploration<br />

that is mainly applied to her own instrument – whose<br />

black and white keys simply represent the start of this<br />

universe. The three musicians have already spent years<br />

touring the world together in various duos. Their concert<br />

at the Maschinenhaus will be the first time they all appear<br />

together on stage! This overdue world premiere will be the<br />

culminating point of an evening on which these three very<br />

individual artists will first be heard solo and then in every<br />

possible combination as duos before they pool all their<br />

energies together as a trio.<br />

Mi 30. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Saxofon Mats Gustafsson<br />

Kontrabass Barry Guy<br />

Klavier Jordina Millà<br />

Mi 23. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Stimme, E-Gitarre Kee Avil<br />

30


DIE KONZERTREIHE <strong>2023</strong><br />

Die Konzertreihe für Neugierige und Abenteuerlustige geht weiter – diesmal mit gleich zwei<br />

Weltpremieren: Erstmals treffen Mats Gustafsson, Barry Guy und Jordina Millà, drei Größen<br />

<strong>der</strong> internationalen Jazz- und Improvisationsszene, als Trio aufeinan<strong>der</strong>. Aus Freund:innen<br />

im Leben werden Freund:innen auf <strong>der</strong> Bühne, wenn die einzigartige Bassistin Farida<br />

Amadou zur Wiener Band Mopcut stößt. Mit <strong>der</strong> Gitarristin und Sängerin Kee Avil und<br />

<strong>der</strong> Pianistin Eve Risser stehen sich an einem Abend zwei einzigartige Solokünstlerinnen<br />

gegenüber. Und fernab von je<strong>der</strong> stilistischen Sesshaftigkeit erwan<strong>der</strong>t das Ensemble of<br />

Nomads, ein junges Band-Hybrid zwischen zeitgenössischer Musik und Rock, multimediale,<br />

performative und virtuose Kontinente.<br />

Our concert series for curious and adventurous listeners continues – this time with two<br />

world premieres: first up, Mats Gustafsson, Barry Guy and Jordina Milà, three greats of the<br />

international jazz and improvisation scene, will meet and perform as a trio for the first time.<br />

Friends off stage turn into friends on stage when the unique bassist Farida Amadou is joined<br />

by the Viennese band Mopcut. Two singular solo artists face off on the same evening<br />

with the guitarist and singer Kee Avil and the pianist Eve Risser. And far removed from any<br />

settled style, a young hybrid band, Ensemble of Nomads, roams the continents between<br />

contemporary music and rock in its own multimedia, performative and virtuoso style.<br />

www.ruhr3.com/mhm<br />

Maschinenhaus Essen<br />

17 / 27 €, ermäßigt 12 €<br />

Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />

Kulturstiftung Pro Helvetia<br />

MOPCUT FEAT. FARIDA AMADOU<br />

Die junge Wiener Band Mopcut ist ein Phänomen <strong>der</strong> Extreme.<br />

Ihre Improvisationssprache gehört zu den originellsten<br />

und experimentellsten, die zur Zeit nachwachsen. Die<br />

Schlüsselzutaten, mit denen die Vokalistin Audrey Chen,<br />

<strong>der</strong> Gitarrist Julien Desprez und <strong>der</strong> Schlagzeuger Lukas<br />

König hantieren, heißen Noise, Beats und Lo-Fi Electronics.<br />

Spielerisch und finster, asketisch und ausufernd –<br />

die schärfsten Gegensätze sind wie die Pole einer Batterie,<br />

die sie mit einer unablässig hochintensiven Energie<br />

versorgt. Ob sie den Weg in Richtung Maximalismus o<strong>der</strong><br />

Minimalismus einschlagen – jede Bewegung, jede Entwicklung<br />

wird aus ihren alles umhüllenden Soundscapes<br />

geboren. Auf <strong>der</strong> Bühne des Maschinenhauses stößt die<br />

außergewöhnliche Bassistin Farida Amadou erstmals zu<br />

ihren Freund:innen von Mopcut. Verwurzelt in Blues, Jazz<br />

und Hiphop fügt Farida Amadou dem Kräftefeld <strong>der</strong> Band<br />

eine neue, unberechenbare Dimension hinzu.<br />

The young Viennese band Mopcut is a phenomenon of<br />

extremes. Its language of improvisation is among the most<br />

original and innovative currently evolving. The key ingredients<br />

that vocalist Audrey Chen, guitarist Julien Desprez<br />

and percussionist Lukas König deploy are noise, beats<br />

and lo-fi electronics. Playful and dark, ascetic and expansive<br />

– their sharpest oppositions are like the terminals of a<br />

battery providing them with a constant stream of intense<br />

energy. Whether they move in the direction of maximalism<br />

or minimalism, every move and every development is born<br />

out of their all-encompassing soundscapes. At the Maschinenhaus<br />

the remarkable bassist Farida Amadou will join<br />

her friends from Mopcut on stage for the first time. With<br />

roots in blues, jazz and hip-hop, Farida Amadou will add<br />

an unpredictable new dimension to the band’s force field.<br />

Mi 6. September ______ 20.00 Uhr<br />

Mopcut<br />

Stimme, Analogue electronics Audrey Chen<br />

E-Gitarre Julien Desprez<br />

Schlagzeug, Synthesizer Lukas König<br />

E-Bass Farida Amadou<br />

ENSEMBLE OF NOMADS<br />

Alchemia / E-Gitarre und Schlagzeug suggerieren eine<br />

Jazz-/Rockwelt, Cello und Klavier einen klassischen Kontext.<br />

Keines von beiden trifft zu, wenn das Ensemble of Nomads<br />

auf <strong>der</strong> Bühne steht. Die vier jungen Musiker:innen, die<br />

sich aus vier verschiedenen Erdteilen zusammengefunden<br />

haben, fühlen sich als Nomad:innen im Leben wie in<br />

<strong>der</strong> Musik. Zu Hause sind sie dann, wenn sie zwischen<br />

eindeutigen Stilrichtungen wan<strong>der</strong>n und die Geheimnisse<br />

und Schönheiten des Dazwischen erkunden. Ihre Konzerte<br />

bestehen aus eigens für sie komponierten zeitgenössischen<br />

Werken und sind zugleich sorgfältig inszenierte Shows mit<br />

Video, Live-Electronics und Lichtdesign, die immer wie<strong>der</strong> die<br />

Grenze zum Musiktheater passieren. Für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

haben sie einen panoptischen Abend aus Werken von Lucia<br />

Kilger, Heinz Holliger, Alexey Nadzharov, Gary Berger, Sam<br />

Pluta, Kevin Juillerat und Emilio Guim »komponiert«, <strong>der</strong> sie<br />

als Performer:innen ebenso for<strong>der</strong>t wie als Virtuos:innen<br />

ihrer Instrumente.<br />

Alchemia / Electric guitar and drums suggest a world<br />

of jazz or rock, cello and piano indicate a more classical<br />

context. Neither of these is the case when Ensemble of<br />

Nomads is on stage. The four young musicians, who have<br />

come together from four different parts of the globe, feel<br />

like nomads in life as well as in music. They feel at home<br />

roaming between specific styles and exploring the secrets<br />

and beauties of what lies in between. Their concerts<br />

consist of contemporary works composed specially for<br />

them and are also carefully staged shows with video, live<br />

electronics and lighting design which repeatedly cross the<br />

boundaries to music theatre. For the <strong>Ruhrtriennale</strong> they<br />

have »composed« a panoptic evening from works by Lucia<br />

Kilger, Heinz Holliger, Alexey Nadzharov, Gary Berger, Sam<br />

Pluta, Kevin Juillerat and Emilio Guim, which challenges<br />

their performing as well as their instrumental skills.<br />

Mi 13. September ______ 20.00 Uhr<br />

E-Gitarre Emilio Guim<br />

Violoncello Charlotte Lorenz<br />

Klavier Talvi Hunt<br />

Perkussion, Schlagzeug João Pacheco<br />

31


ABENDLOB UND<br />

MORGENGLANZ<br />

SERGEJ RACHMANINOW<br />

CHORWERK RUHR<br />

FLORIAN HELGATH<br />

Konzert<br />

SERGEJ RACHMANINOW<br />

Das große Abend- und Morgenlob op. 37 (1915)<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Musikalische Leitung<br />

Florian Helgath<br />

Trompete<br />

Tom Arthurs<br />

32


Mit <strong>der</strong> ganzen Klangpracht und Strahlkraft eines <strong>der</strong> großen Werke <strong>der</strong> Chorliteratur<br />

bringt das Chorwerk Ruhr unter <strong>der</strong> Leitung von Florian Helgath die sakral anmutende<br />

Jugendstil-Maschinenhalle <strong>der</strong> Zeche Zollern zum Erklingen. Wo bis in die Mitte des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die För<strong>der</strong>maschinen dröhnten, weiten sich die Klangräume. Sergej<br />

Rachmaninow, dessen Geburtstag sich <strong>2023</strong> zum 150. Mal jährt, knüpft mit seinem<br />

zuweilen kraftvollen, dann wie<strong>der</strong>um filigranen Großen Abend- und Morgenlob für gemischten<br />

Chor a-cappella an die russisch-orthodoxe Kirchenmusiktradition an. Zentrales<br />

Thema <strong>der</strong> fünfzehn altslawischen Kirchentexte, die er aus <strong>der</strong> Ganznächtlichen<br />

Vigil vertont hat, ist das Mysterium <strong>der</strong> Auferstehung, das große Geheimnis des christlich-abendländischen<br />

Glaubens. Die Vigil, eine gemeinschaftlich gefeierte Nachtwache<br />

im Aufgang des Tages, ist aus den Gebeten <strong>der</strong> Asket:innen und frühen Christ:innen<br />

entstanden, die sich in Vorbereitung auf die großen kirchlichen Feste wie Ostern und<br />

Weihnachten versammelt haben. Sie wachten in <strong>der</strong> Nacht, um Jesus Christus als das<br />

aufstrahlende Licht, das neue Leben, den Morgenglanz zu erwarten. Rachmaninow verwendet<br />

alte russische, griechische und ukrainische Melodien und verbindet diese mit<br />

seiner eigenen spätromantischen Klangsprache. Ein zeitloses Ganzes, das sich von einstimmigen<br />

Gesängen bis hin zu sechsstimmigen Jubelchören erstreckt. Ein vokales Ereignis<br />

in <strong>der</strong> Dortmun<strong>der</strong> »Kathedrale <strong>der</strong> Industriekultur«.<br />

With one of the greatest works of the choral repertoire Chorwerk Ruhr conducted by<br />

Florian Helgath will bring the Jugendstil machine hall at Zeche Zollern to resounding life.<br />

Where generators used to hum until the middle of the 20th century, there is now space<br />

for sound. With his at times powerful and then again delicate All-Night Vigil for mixed<br />

a cappella choir, Sergej Rachmaninow, whose 150th anniversary is celebrated in <strong>2023</strong>,<br />

recalls traditional Russian Orthodox church music. The central theme of the fifteen ancient<br />

Slavic sacred texts that he set in the All-Night Vigil is the Resurrection, the great<br />

mystery of Christian faith. The vigil, celebrated communally at the break of day, is taken<br />

from ascetic and early Christian prayers that were collected in preparation for major<br />

church feasts such as Easter and Christmas. These worshippers would remain awake all<br />

night in anticipation of Jesus Christ’s arrival in the form of beams of light, the new life,<br />

the morning glory. Rachmaninow drew on old Russian, Greek and Ukrainian melodies<br />

and combined them with his own late Romantic sound language. A timeless whole that<br />

stretches from monophonic chants to six-part choruses of jubilation, a vocal happening<br />

in Dortmund’s »cathedral of industrial culture«.<br />

Maschinenhalle Zeche Zollern,<br />

Dortmund<br />

Fr 18. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Sa 19. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

So 20. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />

ermäßigt 12 €<br />

Eine Chorwerk Ruhr Produktion<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong><br />

www.ruhr3.com/abendlob<br />

33


ANNA CALVI<br />

Popkonzert<br />

34


Die Explosivität <strong>der</strong> britischen Singer-Songwriterin und Gitarristin Anna Calvi macht<br />

vor Genregrenzen ebenso wenig Halt wie vor heteronormativen Geschlechterzuschreibungen<br />

und Rollenklischees. Ihre Musik verhandelt persönliche Themen wie Verlangen,<br />

Angst, Intimität und Lust; zugleich übt sie Gesellschaftskritik und thematisiert patriarchale<br />

Dominanz und die Unterdrückung von Min<strong>der</strong>heiten. Bei ihr trifft feministisches<br />

Empowerment auf humorvolle Nonchalance und große Experimentierfreude, vorgetragen<br />

mit <strong>der</strong> Lust am großen Auftritt, bekannt für die Qualität ihrer Live-Performances.<br />

In ihrem 2018 erschienenen und international gefeierten Album Hunter reist sie tief hinab<br />

in die eigenen seelischen Abgründe und schöpft daraus einen kraftvollen wie zarten,<br />

brutalen wie schönen Klang voller Pathos und Theatralik. Zwei Jahre darauf erschien das<br />

Spin-Off-Album Hunted, für das sie sieben Songs unter Mitwirkung von Künstler:innen<br />

wie Courtney Barnett, Julia Holter o<strong>der</strong> Charlotte Gainsbourg neu einspielte, um den teils<br />

opulent ausgestatteten Songs wie<strong>der</strong> einen reduzierten und intimen Klang zu verleihen.<br />

Zuletzt erschien ihre EP Tommy – <strong>der</strong> Soundtrack zur sechsten Staffel <strong>der</strong> britischen<br />

Erfolgsserie Peaky Blin<strong>der</strong>s und eine Hommage an die schillernde Titelfigur.<br />

The explosive power of British singer-songwriter and guitar player Anna Calvi has as little<br />

respect for genre boundaries as for hetero normative gen<strong>der</strong> boundaries and stereotypes.<br />

Her music deals with personal themes such as desire, fear, intimacy and lust. At<br />

the same time, she is critical of society, attacking patriarchal dominance and the oppression<br />

of minorities. She combines feminist empowerment with humorous nonchalance<br />

and a great delight in experimentation, and she is famous for the quality of her live<br />

performances.<br />

In her internationally acclaimed album Hunter, released in 2018, she dives deep down<br />

into her own soul and creates a powerful yet gentle, brutal yet beautiful sound, full of pathos<br />

and theatricality. Two years later the spin-off album Hunted was released, for which<br />

she made new recordings of seven songs featuring artists such as Courtney Barnett,<br />

Julia Holter and Charlotte Gainsbourg, giving these at times opulently arranged tracks a<br />

reduced and intimate sound.<br />

Her most recent release was the EP Tommy – the soundtrack to the sixth season of the<br />

successful British TV series Peaky Blin<strong>der</strong>s and a homage to its remarkable title character.<br />

Gießhalle,<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />

Fr 25. August _________________ 20.00 Uhr<br />

www.ruhr3.com/calvi<br />

35


JETZT<br />

& JETZT<br />

MATS<br />

STAUB<br />

Installation<br />

Über das Verschwinden,<br />

Erinnern und den magischen Moment<br />

→ Magazin, Seite 136<br />

Jetzt!<br />

→ Magazin, Seite 198<br />

36


Was war ich (und bin es nicht mehr)? Wer bin ich jetzt? Was möchte ich noch werden?<br />

Hun<strong>der</strong>t Menschen aus dem Ruhrgebiet haben sich zusammen mit dem Künstler Mats<br />

Staub auf eine intensive Selbstreflexion eingelassen: Im Spätsommer 2021 und im Frühjahr<br />

<strong>2023</strong> wurden sie beim Blick in den Spiegel gefilmt. Sie schauten auf zwei Momente<br />

in ihrem Leben und den Wachstumsprozess dazwischen. Der jüngste Teilnehmer war damals<br />

9, die älteste Teilnehmerin ist nun 82 Jahre alt – alle denken auf ihre Weise über die<br />

Suche nach ihrem Platz in <strong>der</strong> Welt nach, schauen mit Sorge auf den Beginn eines neuen<br />

Lebensabschnittes o<strong>der</strong> blicken voller Stolz auf Erreichtes. Aus den einzelnen Realitäten<br />

entsteht in diesem Langzeitprojekt ein menschliches Panorama, das als Installation in<br />

<strong>der</strong> Bochumer Turbinenhalle präsentiert wird. Dort sind während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021<br />

die ersten Aufnahmen für Jetzt & Jetzt entstanden, während im vor<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> Halle<br />

die Installation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden zu sehen war. Damals trugen<br />

alle eine Maske, es war unentschieden, wer Bundeskanzler:in werden würde, und Kyiv<br />

war kein Kriegsschauplatz. Während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> wird die Turbinenhalle zum<br />

Raum <strong>der</strong> Reflexion, in dem alle Besucher:innen eingeladen sind, den Gesprächsaufnahmen<br />

und lebensgroßen Videoportraits in ihrem eigenen Tempo zu begegnen. Jetzt & Jetzt<br />

ist eine einzigartige Momentaufnahme, die es ermöglicht, zwei Gegenwarten eines Menschen<br />

im Dialog zu erleben und dabei sich selbst und unsere Gesellschaft zu befragen.<br />

Die Arbeiten von Mats Staub zeichnen sich durch einen geduldigen und zugewandten<br />

Blick auf Menschen aus, sie verhandeln elementare Themen des Lebens in einem Kontext<br />

des Gemeinsamen. Jetzt & Jetzt ist seine dritte Arbeit bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> und<br />

rahmt auf beson<strong>der</strong>e Weise Anfang und Ende <strong>der</strong> Intendanzzeit Barbara Freys.<br />

What was I (that I no longer am)? Who am I now? What do I still want to become?<br />

One hundred people from the Ruhr region have agreed to take part in an intense process<br />

of self-reflection together with the artist: in late summer 2021 and again in early <strong>2023</strong> they<br />

were filmed looking into a mirror. They looked at two moments in their lives and how they<br />

had grown in between. The youngest participant was 9 when the project started and the<br />

oldest is now 82 – all of them think in their own way about trying to find their place in the<br />

world, eyeing the start of a new chapter in their lives with concern or looking back with<br />

pride on what they have achieved. From the individual realities in this long-term project,<br />

a human panorama is created that will be presented as an installation in the Turbinenhalle<br />

in Bochum. This is where the initial recordings for Jetzt & Jetzt were made during<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, while the installation 21 – Memories of Growing Up could be seen in<br />

the front section of the hall. Back then, everyone wore masks, it had not been decided who<br />

Germany’s new Chancellor would be and Kyiv was not a war zone. During <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

<strong>2023</strong> the Turbinenhalle will become a space for reflection, where all visitors are invited to<br />

encounter the recorded conversations and life-size video portraits in their own time. Jetzt<br />

& Jetzt is a unique snapshot that enables us to see the same person in two different presents<br />

in dialogue with each other, and questioning both themselves and society.<br />

The works of Mats Staub are distinguished by the patient and caring attention they pay<br />

to people. They are concerned with life’s fundamental issues in a communal context.<br />

Jetzt & Jetzt is his third work for the <strong>Ruhrtriennale</strong> and frames the beginning and end of<br />

Barbara Frey’s Artistic Directorship in a unique way.<br />

Idee, Konzept, Leitung<br />

Mats Staub<br />

Video Design<br />

Benno Seidel<br />

Szenografie<br />

Louisa Robin<br />

Technische Leitung<br />

Hanno Sons<br />

Projektentwicklung<br />

Elisabeth Schack<br />

Matthias Stickel<br />

Dramaturgie<br />

Simone von Büren<br />

Fre<strong>der</strong>ieke Tambaur (2021)<br />

Nina Bade (<strong>2023</strong>)<br />

Gespräche<br />

Nina Bade (<strong>2023</strong>)<br />

Mats Staub<br />

Kamera<br />

Benno Seidel<br />

Stephan Komitsch (<strong>2023</strong>)<br />

Postproduktion<br />

Benno Seidel<br />

Mats Staub<br />

Tonbearbeitung<br />

Leonardo Nerini<br />

Produktionsleitung<br />

Nina Bade (2021)<br />

Katharina Rückl (<strong>2023</strong>)<br />

Barbara Simsa<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Uraufführung<br />

Eröffnung am 24. August<br />

Laufzeit: 25. August –<br />

23. September<br />

Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />

Mit deutscher Tonspur<br />

Beim Erwerb eines Tickets<br />

können Sie dieses für die<br />

gesamte Ausstellungsdauer<br />

vom 25.8. bis 23.9. nutzen.<br />

Das Ticket, welches Sie im<br />

Ticketshop erwerben, gewährt<br />

Ihnen erstmalig Eintritt. Beim<br />

erstmaligen Besuch erhalten<br />

Sie vor Ort eine Dauerkarte.<br />

Wir laden Sie herzlich dazu ein,<br />

mehrmals zu kommen und<br />

die Installation im eigenen<br />

Tempo zu besuchen.<br />

Eine Produktion <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> in Koproduktion<br />

mit zwischen_produktionen<br />

www.ruhr3.com/jetzt<br />

37


SCHLAGZEUG-<br />

MARATHON<br />

Konzerte<br />

Die Faszination für perkussive Klangerzeugung ist so<br />

alt wie die Menschheit. Die Bedeutung aber, die dem<br />

Schlagzeug insbeson<strong>der</strong>e für die Entwicklung <strong>der</strong> Jazz-,<br />

Rock- und Popmusik zukommt, kann gar nicht überschätzt<br />

werden. PACT Zollverein steht während eines über zwölfstündigen<br />

musikalischen »Marathons« ganz im Bann des<br />

Schlagzeugs. Raum für Raum erwan<strong>der</strong>t sich das Publikum<br />

den reichen Schlagzeugkosmos, es lässt sich treiben<br />

durch 15 unterschiedlichste Performances. Von ikonischen<br />

Werken <strong>der</strong> zeitgenössischen Musik bis hin zu legendären<br />

Jazz-Größen wie Marilyn Mazur und Billy Cobham,<br />

von Improvisationen bis zu Klanginstallationen: Über ein<br />

Dutzend Musiker:innen werden die Mauern <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Waschkaue in Vibration versetzen. Ein einmaliges<br />

Aufeinan<strong>der</strong>treffen verschiedenster Ausdrucksformen,<br />

ein einzigartiger Parcours durch die Welt <strong>der</strong> Schlaginstrumente,<br />

zuweilen funkensprühend, zuweilen ganz fein<br />

die Obertonspektren erkundend. In jedem Fall variantenreich,<br />

pulsierend, packend.<br />

The fascination of producing percussive sound is as old<br />

as humanity itself. However, the importance that percussion<br />

has had, particularly in the development of jazz, rock<br />

and pop music, cannot be overestimated. For the duration<br />

of this twelve-hour musical marathon, PACT Zollverein is<br />

thoroughly enthralled by percussion. The audience can<br />

wan<strong>der</strong> through room after room of the rich percussive<br />

universe, exploring 15 intensely different performances.<br />

From iconic works of contemporary music to legendary<br />

jazz greats such as Marilyn Mazur and Billy Cobham, from<br />

improvisations to sound installations: Over a dozen musicians<br />

will set the walls of the former washroom vibrating.<br />

A once-only meeting between the most diverse forms<br />

of expression, a unique promenade through the world of<br />

percussion instruments, at times producing fireworks, at<br />

times subtly probing the overtone spectrum, in any event<br />

varied, pulsating and gripping.<br />

Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />

→ Magazin, Seite 192<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Sa 26. August ____ 13.00–1.45 Uhr<br />

Marathon-Ticket:<br />

52 €, ermäßigt 36 €<br />

Einzelticket:<br />

27 €, ermäßigt 12 €<br />

Tickets sind erhältlich für<br />

einzelne Konzerte sowie für<br />

den gesamten Marathon.<br />

Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />

Kulturstiftung Pro Helvetia<br />

Perkussion<br />

Brian Archinal<br />

Billy Cobham<br />

Peter Eisold<br />

Camille Emaille<br />

Aly Keïta<br />

Marilyn Mazur<br />

Mohammad Reza Mortazavi<br />

Lucas Niggli<br />

Etienne Nillesen<br />

Dirk Rothbrust<br />

Julian Sartorius<br />

Pol Small<br />

Gabriel Valtchev<br />

Ensemble This | Ensemble That<br />

Brian Archinal<br />

Victor Barceló<br />

Miguel Angel Garcia Martin<br />

Bastian Pfefferli<br />

Klavier<br />

Matthieu Cognet<br />

Virginie Déjos<br />

Klanginstallation<br />

Olli Holland<br />

38


INTRO MIT JULIAN SARTORIUS<br />

Julian Sartorius wan<strong>der</strong>te von Basel nach Genf und trommelte<br />

auf so ziemlich allem, was er am Wegrand fand, von<br />

<strong>der</strong> Tankzapfsäule über Weidezäune bis hin zu morschen<br />

Baumstämmen. Zur Eröffnung des Schlagzeugmarathons<br />

erkundet er mit seinen Schlägeln das Gebäude von PACT<br />

Zollverein, wo sich überraschende Sounds aller Art finden<br />

lassen.<br />

Julian Sartorius hiked from Basel to Geneva, drumming on<br />

more or less everything he could find along the way, from<br />

petrol pumps to fences to rotten tree trunks. To open the<br />

percussion marathon, he explores PACT Zollverein with his<br />

sticks, finding all kinds of surprising sounds.<br />

KLANGSKULPTUREN VON THOMAS<br />

ROTHER, BESPIELT VON PETER EISOLD<br />

Der Schriftsteller und Künstler Thomas Rother hat sich<br />

in seinem Kunstschacht während Jahrzehnten <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

<strong>der</strong> Zeche Zollverein gewidmet. Dabei sind<br />

archaische Klangskulpturen entstanden, die im Garten<br />

von PACT Zollverein vom improvisierenden Schlagwerker<br />

Peter Eisold bespielt werden.<br />

The writer and artist Thomas Rother has dedicated his<br />

work over decades to Zollverein’s past. It consists of archaic<br />

sound sculptures, which will be played on in the garden<br />

of PACT Zollverein by Peter Eisold.<br />

Ganzes Gebäude<br />

13 Uhr<br />

BÉLA BARTÓK: SONATE FÜR ZWEI<br />

KLAVIERE UND SCHLAGZEUG<br />

Mit <strong>der</strong> 1938 uraufgeführten Sonate für zwei Klaviere<br />

und Schlagzeug von Béla Bartók erklingt eines <strong>der</strong> ersten<br />

klassischen Werke, das dem Schlagzeug eine Rolle als<br />

Soloinstrument einräumte. Mit den Schlagzeugern Dirk<br />

Rothbrust und Brian Archinal sowie <strong>der</strong> Pianistin Virginie<br />

Déjos und dem Pianisten Matthieu Cognet.<br />

With the Sonata for Two Pianos and Percussion by<br />

Béla Bartók, premiered in 1938, we can hear one of the<br />

first classical compositions to feature percussion as a<br />

solo instrument. With the percussionists Dirk Rothbrust<br />

and Brian Archinal and the pianists Virginie Déjos and<br />

Matthieu Cognet.<br />

Große Bühne<br />

13.30 Uhr<br />

14.15 Uhr<br />

SOLOWERKE VON K. STOCKHAUSEN,<br />

M. FELDMAN UND I. XENAKIS<br />

Dirk Rothbrust und Brian Archinal, zwei Virtuosen des<br />

zeitgenössischen Schlagzeugs, führen drei einzigartige<br />

Pionierwerke <strong>der</strong> Schlagzeugliteratur auf, die zu Klassikern<br />

geworden sind: Karlheinz Stockhausens 1959<br />

entstandene Komposition Zyklus No. 9, Morton Feldmans<br />

The King of Denmark von 1964 sowie Psapha von Iannis<br />

Xenakis aus dem Jahr 1975.<br />

Dirk Rothbrust and Brian Archinal, two contemporary<br />

percussion virtuosos will perform three unique, pioneering<br />

works of the percussion repertoire that have since<br />

become classics: Karlheinz Stockhausen’s composition<br />

Zyklus No. 9, written in 1959, Morton Feldman’s The King<br />

of Denmark from 1964 and Psapha by Iannis Xenakis from<br />

the year 1975.<br />

Große Bühne<br />

14.50 Uhr<br />

www.ruhr3.com/marathon<br />

39


ETIENNE NILLESEN:<br />

SNARE DRUM SOLO<br />

Etienne Nillesen versteht es, aus einer einzigen kleinen<br />

Trommel komplexe und subtile Klänge zu locken. Mit einem<br />

minimalistischen Ansatz und erweiterten Spieltechniken<br />

verschiebt er die Grenzen <strong>der</strong> natürlichen Akustik.<br />

Etienne Nillesen un<strong>der</strong>stands how to coax complex and<br />

subtle sounds out of one little drum. With a minimalist<br />

approach and an extended playing technique, he pushes<br />

back the limits of natural acoustics.<br />

Studio 2<br />

15.40 Uhr<br />

JULIAN SARTORIUS:<br />

RLLRLRLRLLRRLRLRLRLRLRLRR<br />

Eine Performance, die sich auf <strong>der</strong> Grenze zwischen Minimalismus,<br />

Groove und Spektralklängen bewegt: Julian<br />

Sartorius präpariert die Instrumente des Ensemble This |<br />

Ensemble That mit einer Vielfalt an alltäglichen Objekten.<br />

Das Ergebnis ist eine Reise durch eine Flut von Klängen<br />

und Klangfarben.<br />

A performance that moves along the bor<strong>der</strong> between<br />

minimalism, groove and spectral sounds: Julian Sartorius<br />

will prepare the instruments of Ensemble This | Ensemble<br />

That with a wide range of everyday objects. The result is a<br />

journey through a flood of sounds and tone colours.<br />

Studio 3<br />

16.20 Uhr<br />

MOHAMMAD REZA<br />

MORTAZAVI: TOMBAK UND DAF<br />

Der aus dem Iran stammende Musiker Mohammad Reza<br />

Mortazavi ist einer <strong>der</strong> virtuosesten Handtrommler <strong>der</strong><br />

Welt. Aus den traditionellen persischen Instrumenten<br />

Tombak und Daf zaubert er mit seinen ganz eigenen<br />

Techniken ein atemberaubendes Geflecht aus tanzbaren<br />

Rhythmen, schnellen Beats und tranceartigen Strukturen.<br />

The Iranian musician Mohammad Reza Mortazavi is<br />

one of the world’s most skilful hand drummers. Using<br />

his own personal technique on the traditional Persian<br />

instruments tombak and daf, he is able to magic up a<br />

breath-taking texture of danceable rhythms, fast beats<br />

and trance-like structures.<br />

Große Bühne<br />

17.20 Uhr<br />

CAMILLE EMAILLE: IMPROVISATION<br />

Je<strong>der</strong> »Unfall« ist ein Vorschlag für eine Idee. Camille<br />

Emaille präpariert ihr Drum-Set mit Dosen, Gitarrensaiten,<br />

Steinen und an<strong>der</strong>en Gegenständen und entwickelt<br />

dadurch ein sich selbst modulierendes Instrumentarium<br />

voll von unerwarteten Sounds.<br />

Every »accident« suggests an idea. Camille Emaille uses<br />

tin cans, guitar strings, stones and other objects to prepare<br />

her drum kit, developing a self-modulated collection of<br />

instruments full of unexpected sounds.<br />

Studio 2<br />

18.20 Uhr<br />

KLANGSKULPTUREN VON THOMAS<br />

ROTHER, BESPIELT VON PETER EISOLD<br />

19 Uhr<br />

MARILYN MAZUR: DRUM SOLO<br />

Die dänische Musikerin und Komponistin Marilyn Mazur<br />

ist eine Ikone des Jazz-Schlagzeugs. In ihrer beeindruckenden<br />

Laufbahn hat sie sich als meisterhafte Perkussionistin<br />

und musikalische Visionärin etabliert. Unvergessen<br />

sind bis heute ihre Konzerte und Aufnahmen mit<br />

dem Trompetengott Miles Davis. Bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ist sie mit einem großbesetzten Solo zu Gast.<br />

The Danish musician and composer Marilyn Mazur is<br />

an icon of jazz percussion. During her impressive career,<br />

she has established herself as a masterful percussionist<br />

and musical visionary. Her concerts and recordings with<br />

the trumpet god Miles Davis remain unforgotten to this<br />

day. She makes a guest appearance at the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

with an extensive solo.<br />

Große Bühne<br />

19.30 Uhr<br />

CAMILLE EMAILLE: OTTO<br />

Ein Trio bestehend aus Camille Emaille, Gabriel Valtchev<br />

und Pol Small. Jede:r spielt ein Tapan, eine zweifellige<br />

bulgarische Zylin<strong>der</strong>trommel. OTTO ist eine Musik, die<br />

in ihrem Vokabular minimalistisch, in ihrer Energie aber<br />

umso intensiver ist: komplexe Polyrhythmen und Variationen<br />

von Klangfarben.<br />

A trio made up of Camille Emaille, Gabriel Valtchev and Pol<br />

Small. Each of them plays a tapan, a double-headed cylindrical<br />

drum from Bulgaria. OTTO is a music with a minimalist<br />

vocabulary, but whose energy is all the more intense: with<br />

complex polyrhythms and variations of timbres.<br />

Studio 3<br />

20.30 Uhr<br />

40


ALY KEÏTA & LUCAS NIGGLI:<br />

BALAFON & DRUMS<br />

Der ivorische Musiker Aly Keïta ist ein Großmeister des<br />

Balafons. Zusammen mit dem in Kamerun geborenen<br />

Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli mischt Keïta das<br />

traditionelle afrikanische Repertoire mit westlichem Jazz<br />

und Improvisation: »brotherhood of vibes and grooves«.<br />

The Ivorian musician Aly Keïta is a master of the balafon.<br />

Together with the Cameroon-born Swiss percussionist<br />

Lucas Niggli, Keïta blends the traditional African repertoire<br />

with Western jazz and improvisation in a »brotherhood<br />

of vibes and grooves«.<br />

Große Bühne<br />

21.30 Uhr<br />

ETIENNE NILLESEN:<br />

SNARE DRUM SOLO<br />

Studio 2<br />

22.30 Uhr<br />

BILLY COBHAM: DRUM SOLO<br />

Mit seinem kraftvollen und komplexen Spiel beeinflusst<br />

<strong>der</strong> panamaisch-US-amerikanische Drummer seit einem<br />

halben Jahrhun<strong>der</strong>t wie kaum ein an<strong>der</strong>er die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Jazz- und Fusion-Szene. Er schrieb Jazz-Rock-<br />

Geschichte mit seiner ersten Soloplatte Spectrum und<br />

arbeitete im Lauf seiner Karriere mit Größen wie George<br />

Duke, Micheal Brecker o<strong>der</strong> Peter Gabriel. Nun ist die<br />

trommelnde Legende zu Gast bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

With his powerful and complex playing, the US-Panamanian<br />

drummer has had an almost unparalleled influence<br />

on the development of the jazz and fusion scene for half<br />

a century. He created jazz rock history with his first solo<br />

record Spectrum and over the course of his career has<br />

worked with greats such as George Duke, Michael Brecker<br />

and Peter Gabriel. Now this drum legend is a guest of the<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

OLGA NEUWIRTH: CORONATION IV<br />

Als Antwort auf die Konzertverbote während <strong>der</strong> Corona-<br />

Pandemie komponierte die österreichische Komponistin<br />

und Ernst von Siemens Musikpreisträgerin Olga Neuwirth,<br />

<strong>der</strong>en Musiktheater Bählamms Fest bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

2021 zu erleben war, ihren vielstündigen Zyklus coronAtion,<br />

eine immersive, hypnotische Raummusik. Zum nächtlichen<br />

Ausklang des Schlagzeugmarathons im Foyer spielt Lucas<br />

Niggli aus dem vierten Teil des Zyklus.<br />

As a response to the concert ban during the coronavirus<br />

pandemic, the Austrian composer and Siemens<br />

Music Prize-winner Olga Neuwirth, whose opera Bählamms<br />

Fest was presented at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, created with<br />

coronAtion a cycle of several hours, an immersive, hypnotic<br />

spatial music. As a late-night finale to the percussion<br />

marathon, Lucas Niggli will play sections from Part<br />

Four of the cycle in the foyer.<br />

Foyer<br />

0.15 Uhr<br />

OLLI HOLLAND: N.E.W.S. // N.O.W.S.<br />

Während des gesamten Marathons ist auf PACT Zollverein<br />

eine Klanginstallation von Olli Holland zu erleben: Der<br />

Rhythmus von Schlagzeilen weltweiter Radionachrichten<br />

überträgt sich in N.E.W.S. // N.O.W.S. synchron auf vier<br />

alte Marschtrommeln und setzt damit das Schlagzeug in<br />

direkten Bezug zum gesprochenen Wort.<br />

During the entire marathon, a sound installation by Olli<br />

Holland can be experienced, in which the rhythm of headlines<br />

from worldwide radio news is directly transferred to<br />

four marching drums and thus places the percussion in<br />

direct relation to the spoken word<br />

Große Bühne<br />

23.15 Uhr<br />

www.ruhr3.com/marathon<br />

41


AUS EINEM TOTENHAUS<br />

LEOŠ JANÁČEK<br />

DMITRI TCHERNIAKOV<br />

DENNIS RUSSELL DAVIES<br />

BOCHUMER SYMPHONIKER<br />

CHOR DER JANÁČEK-OPER<br />

DES NATIONALTHEATERS BRNO<br />

Musiktheater<br />

Möglichkeitsformen<br />

des Menschseins<br />

→ Magazin, Seite 150<br />

Hinweise<br />

Bei dieser Produktion handelt es sich um eine immersive Inszenierung, bei <strong>der</strong> sich<br />

Publikum und Darsteller:innen im Bereich des Gefängnishofes in unmittelbarer Nähe<br />

zueinan<strong>der</strong> bewegen werden. Wenn Sie das Geschehen lieber aus <strong>der</strong> Distanz verfolgen<br />

möchten, empfehlen wir Ihnen, sich beim Ticketkauf für Plätze in den Bereichen<br />

Seitenhof, Galerie 1 o<strong>der</strong> Galerie 2 zu entscheiden. Die Galerie 1 hat eine Höhe von<br />

ca. 3,5 Metern, die Galerie 2 eine Höhe von ca. 6 Metern.<br />

Für die Produktion bieten wir ausschließlich Stehplätze an, da sich Publikum und<br />

Darsteller:innen während <strong>der</strong> Vorstellung von einem Ort zum an<strong>der</strong>en bewegen werden.<br />

Während <strong>der</strong> Vorstellung kommt es zu Kampfszenen zwischen Darsteller:innen<br />

und professionellen Stuntkünstler:innen. Für Besucher:innen unter 14 Jahren wird <strong>der</strong><br />

Besuch nicht empfohlen.<br />

42


Im sibirischen Gefangenenlager gibt es keine Helden. Ob arm o<strong>der</strong> reich, gebildet o<strong>der</strong><br />

ungebildet, adelig o<strong>der</strong> nicht – hier sind alle gleich und im Grauen ohne Ende vereint.<br />

Fjodor Dostojewski hat es erlebt und in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />

minutiös beschrieben. Sie dienten Leoš Janáček als Vorlage zu seiner letzten Oper<br />

(1927/28), die unter dem Motto »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« an unser Mitgefühl<br />

appelliert. Janáček, <strong>der</strong> seine Musik <strong>der</strong> individuellen Sprache <strong>der</strong> Menschen abhorchte,<br />

gibt jedem Insassen seine eigene Stimme, um sie in <strong>der</strong> vielstimmigen Anonymität und<br />

Gleichgültigkeit untergehen zu lassen. Rohe Klänge und beharrliche Rhythmen machen<br />

die Härte <strong>der</strong> Lagerrealität geradezu körperlich spürbar. In den gewaltigen Dimensionen<br />

<strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle setzt Starregisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov diese<br />

Idee fort: In einer riesigen begehbaren Bühneninstallation löst er die schützende Trennung<br />

zwischen Künstler:innen und Publikum auf. Wir bewohnen eine erbarmungslose<br />

Gefängniswelt, sind unentrinnbar mitverhaftet mit all den »Schicksallosen«, die hier<br />

eine Existenz als lebendige Tote fristen. Mit ihnen bewegen wir uns durch einen von<br />

würdelosen Raufereien und Saufereien gezeichneten Alltag. Uns, seinen Mitgefangenen,<br />

schil<strong>der</strong>t Luka aus nächster Nähe, wie er aus Rache für dessen Willkür den Major<br />

erstach. Uns erzählt Skuratov, wie er den reicheren Rivalen um die geliebte Luisa erschoss.<br />

Šiškov erzählt uns, wie er aus Eifersucht seiner unschuldigen Braut Akulina die<br />

Kehle durchschnitt. Interessiert uns ihr Leid, ihre Wut, ihre Reue? O<strong>der</strong> kehren wir uns<br />

ab, suchen Distanz zu diesen glücklosen Gescheiterten, beobachten sie aus <strong>der</strong> Ferne?<br />

Wir sind unter ihnen nachts, wenn sie weinen, sind mit ihnen im Lazarett, wenn sie im<br />

Fieber sprechen, wenn sie sterben. Wir schauen uns sogar ihre frivolen Theateraufführungen<br />

an, um den zermürbenden Lagertrott zu unterbrechen. Fühlen wir mit ihnen?<br />

In a Siberian prison camp, there are no heroes. Whether rich or poor, educated or uneducated,<br />

nobles or commoners – everyone is equal here, united in a horror that never<br />

ends. Fyodor Dostoyevsky experienced this himself and described it in precise detail in<br />

his Notes from the House of the Dead. These provided the material for Janáček’s final<br />

opera (1927/28) which appeals to our sympathy on the basis that there is »a spark of God<br />

in every creature.« Janáček, whose music was inspired by listening to individual human<br />

speech, gives each inmate his own voice, only for them to sink into polyphonic anonymity<br />

and indifference. Raw sounds and insistent rhythms make the harsh reality of life in<br />

the camp almost physically tangible. Star director and stage designer Dmitri Tcherniakov<br />

realises this idea in the vast dimensions of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle: dissolving the protective<br />

separation between the artists and the audience in a giant, walk-through stage<br />

installation. We inhabit a merciless prison world, inseparably incarcerated with those<br />

whom fate has abandoned, who now mark out an existence as the living dead. Together<br />

with them, we move through daily life that is occupied with undignified brawling and<br />

drinking. Luka tells us, his fellow prisoners, how he stabbed his commanding officer as<br />

revenge for his despotism. Skuratov tells us how he shot a wealthier rival for his beloved<br />

Luisa. Šiškov tells us how he slit his innocent bride Akulina’s throat out of jealousy. Are<br />

we interested in their sorrow, their anger, their regrets? Or do we turn our backs, distance<br />

ourselves from these unfortunate failures, and observe them from afar? We are with<br />

them at night, when they are crying, we are with them in the infirmary when they talk in<br />

a fever, when they are dying. We even watch their frivolous theatre productions to break<br />

up the grinding camp routine. Do we feel empathy for them?<br />

Oper in drei Akten (1927/28)<br />

Libretto<br />

Leoš Janáček nach F. M.<br />

Dostojewskis Aufzeichnungen<br />

aus einem Totenhaus<br />

Musikalische Leitung<br />

Dennis Russell Davies<br />

Regie, Bühne<br />

Dmitri Tcherniakov<br />

Kostüme<br />

Elena Zaytseva<br />

Licht Design<br />

Gleb Filshtinsky<br />

Live Action Director<br />

Ran Arthur Braun<br />

Sound Design<br />

Thomas Wegner<br />

Associate Set Design<br />

Danila Travin<br />

Regieassistenz<br />

Joël Lauwers<br />

Musikalische Studienleitung<br />

Daniel Linton-France<br />

Casting Manager<br />

Boris Ignatov<br />

Dramaturgie<br />

Barbara Eckle<br />

Alexandr Petrovič Gorjančikov<br />

Johan Reuter<br />

Aljeja, ein junger Tatar<br />

Bekhzod Davronov<br />

Šiškov<br />

Leigh Melrose<br />

Luka (Filka Morozov)<br />

Stephan Rügamer<br />

Skuratov<br />

John Daszak<br />

Šapkin<br />

Alexey Dolgov<br />

Der Alte<br />

Neil Shicoff<br />

Čerevin, Fröhlicher Sträfling<br />

Elmar Gilbertsson<br />

Čekunov, Sträfling 1<br />

Stephan Bootz<br />

Bochumer Symphoniker<br />

Chor <strong>der</strong> Janáček-Oper des<br />

Nationaltheaters Brno<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Do 31. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Sa 2. September_________ 21.00 Uhr<br />

So 3. September_________ 21.00 Uhr<br />

Mi 6. September_________ 21.00 Uhr<br />

Fr 8. September_________ 21.00 Uhr<br />

Sa 9. September_________ 21.00 Uhr<br />

Tickets: 42 €, ermäßigt 12 €<br />

Tschechisch mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

Eine Produktion <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

© Mit freundlicher Genehmigung<br />

von Universal Edition AG Wien<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die<br />

Kunststiftung NRW<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die Alfried<br />

Krupp von Bohlen und<br />

Halbach-Stiftung<br />

Dauer: ca. 90 min<br />

www.ruhr3.com/totenhaus<br />

43


EXÓTICA<br />

AMANDA PIÑA<br />

Tanz<br />

Jenseits <strong>der</strong> Verfestigung von Identitäten<br />

→ Magazin, Seite 172<br />

44


Bereits im Titel spiegelt sich die Praxis <strong>der</strong> Zuschreibung <strong>der</strong> als »fremd« gelesenen<br />

und sexuell aufgeladenen Kunstformen, die bis heute andauert. Um dieses Phänomen<br />

und seine gegenwärtigen Resonanzen sichtbar zu machen, reist Amanda Piña in ihrer<br />

neuen Tanzperformance mit ihrem Ensemble in die Vergangenheit und erweckt in einer<br />

Beschwörung <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Art die exotisierten und teils queeren Bühnenkünstler:innen<br />

La Sarabia, Nyota Inyoka, François »Féral« Benga und Leïla Be<strong>der</strong>khan, die in den<br />

1920er-Jahren mit großem Erfolg in Europa lebten und arbeiteten und weltweit tourten,<br />

wie<strong>der</strong> zum Leben. Dabei entlarvt sie nicht nur den exotisierenden White Gaze,<br />

<strong>der</strong> den künstlerischen Gestaltungsraum durch vorherrschende Vorstellungen dessen,<br />

was als orientalisch o<strong>der</strong> afrikanisch galt, eingrenzte. Amanda Piña zeigt zugleich, mit<br />

welcher Vehemenz die genannten Künstler:innen diesen limitierten Raum zu nutzen verstanden,<br />

um darin künstlerisch herausragende Choreografien zu kreieren, die anhand<br />

von Zeichnungen und Bilddokumenten teils noch heute zugänglich sind. Exótica widmet<br />

sich diesen Tänzen und versteht sich zugleich als Hommage an alle vergessenen<br />

Performer:innen of Colour, die keinen Platz im Kanon <strong>der</strong> Tanzgeschichte fanden und<br />

erst langsam wie<strong>der</strong>entdeckt werden. Denn obwohl die Archive mit zahlreichen Zeitungsartikeln<br />

bestückt sind, die von ihrer großen Popularität zeugen, verschwanden diese<br />

Tänzer:innen nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend von den Bühnen Europas und<br />

aus dem kulturellen Gedächtnis. Amanda Piña, die im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits<br />

2021 ihre Arbeit Danza y Frontera zeigte, widmet sich diesem Akt des Vergessens und<br />

fragt, welchen Gesetzmäßigkeiten er unterliegt.<br />

The title reflects the practice of categorising art forms that are sexually charged and<br />

read as »foreign« which still goes on today. In or<strong>der</strong> to make this phenomenon and<br />

its contemporary resonances visible, Amanda Piña and her ensemble travel back into<br />

the past in her new dance performance, where she revives the eroticised and, in some<br />

cases, queer stage artists La Sarabia, Nyota Inyoka, François »Féral« Benga and Leila<br />

Be<strong>der</strong>khan, who toured Europe with great success in the 1920s, in a very special form<br />

of séance. Here she not only reveals the exoticising white gaze whose prevailing preconceptions<br />

about what was »Oriental enough« or »African enough« restricted artists’<br />

room for manoeuvre. At the same time, Amanda Piña demonstrates the force with<br />

which the artists named were able to use this limited space to create choreographies<br />

of outstanding artistic quality that can still be viewed now in the form of drawings<br />

and visual documentation. Exótica is dedicated to these dances and sees itself as<br />

a homage to all those forgotten performers of colour, who did not find a place in the<br />

canon of dance history and are only now slowly being rediscovered. For, even though<br />

the archives contain numerous newspaper articles attesting to their great popularity,<br />

after the Second World War these dancers increasingly disappeared from European<br />

stages and popular memory. Amanda Piña, who previously presented her work Danza<br />

y Frontera at the <strong>Ruhrtriennale</strong> in 2021, addresses this act of forgetting and questions<br />

the rules on which it is based.<br />

Künstlerische Leitung<br />

Amanda Piña<br />

Performance von und mit<br />

Ángela Muñoz Martínez<br />

Kabangu Bakambay André<br />

Juan Carlos Palma<br />

Venuri Perera<br />

Amanda Piña<br />

iSaAc Espinoza Hidrobo<br />

Dramaturgie<br />

Nicole Haitzinger<br />

Integral Design<br />

Michiel Jimenez<br />

Bühne, Szenografie<br />

Forêt Asiatique (1921) von Albert<br />

Dubosq, reproduziert von<br />

Decoratelier Jozef Wouters als<br />

Teil von Infini #18 (2022)<br />

Technische Leitung<br />

Santiago Doljanin<br />

Musik<br />

Ángela Muñoz Martínez, Zevra<br />

Sound Design<br />

Dominik Traun<br />

Kostüme<br />

Fe<strong>der</strong>ico Protto<br />

Regieassistenz<br />

Pierre-Louis Kerbart<br />

Produktion, Distribution<br />

neon lobster / Giulia Messia<br />

Katharina Wallisch<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Fr 1. September_______ 20.00 Uhr<br />

Sa 2. September_______ 20.00 Uhr<br />

So 3. September_________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 90 min<br />

Tickets: 17 / 27 €,<br />

ermäßigt ab 12 €<br />

Sprache: Englisch<br />

Veranstaltet von PACT Zollverein<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Produktion:<br />

Amanda Piña/Fortuna<br />

Koproduktion:<br />

Kunstenfestivaldesarts, Holland<br />

Festival, Festival d’Automne,<br />

Tanzquartier Wien, PACT<br />

Zollverein, DDD – Festival Dias<br />

da Dança, La Bâtie-Festival de<br />

Genève, NEXT Festival<br />

Amanda Piña/Fortuna wird<br />

geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Stadt Wien,<br />

Abteilung Kunst und Kultur<br />

des Bundeskanzleramtes<br />

Österreich<br />

www.ruhr3.com/exotica<br />

45


IM GARTEN DER<br />

POTINIERS /<br />

AU JARDIN DES<br />

POTINIERS<br />

COMPAGNIE ERSATZ<br />

CRÉATION DANS LA<br />

CHAMBRE<br />

Objekttheater<br />

Für Kin<strong>der</strong> ab 7 Jahren und Familien<br />

46


Blumen öffnen sich, Donner kracht, Vögel zwitschern und das Publikum sitzt mittendrin,<br />

steckt den Kopf in einen Garten, <strong>der</strong> lauter kleine und große Überraschungen bereithält.<br />

Aus <strong>der</strong> Perspektive eines Berges in dieser liebevoll gestalteten Pop-up-Landschaft erlebt<br />

jede:r die Naturspektakel aus einem eigenen Blickwinkel, aber immer direkt vor <strong>der</strong><br />

Nase. Wie von Geisterhand erwachen die fiktiven Pflanzen in diesem Mikrokosmos zum<br />

Leben, sie wachsen, vermehren sich, verblühen. Und die Zuschauenden tauchen ein in<br />

diese lebendige Installation, diese Welt zwischen Illusion und Realität, die sie den natürlichen<br />

Lauf <strong>der</strong> Dinge und die Schönheit <strong>der</strong> Natur intensiv erfahren lässt im unnatürlichen<br />

Setting <strong>der</strong> kunterbunten Bühnenlandschaft.<br />

Die französisch-belgische Compagnie Ersatz ist ein multidisziplinär arbeitendes<br />

Kollektiv, das sich in den Bereichen Darstellende Kunst, Installation und Illustration verortet.<br />

Ihr künstlerischer Ansatz ergibt sich aus <strong>der</strong> Schnittstelle <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />

Professionen ihrer Mitglie<strong>der</strong>: dem Illustrator Pierre Mercier, dem Sounddesigner Noam<br />

Rzewski, dem Lichtdesigner Léonard Cornevin und <strong>der</strong> Theaterregisseurin und Dramaturgin<br />

Camille Panza. In Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Quebecer Theatergruppe Création<br />

Dans la Chambre, <strong>der</strong>en Arbeit sich auf die Erforschung des Intimen in ungewöhnlichen<br />

Umgebungen konzentriert, haben sie mit Au jardin des Potiniers ein fantastisches Universum<br />

geschaffen, das die Schönheit <strong>der</strong> Welt in ihrer Zerbrechlichkeit und Poesie<br />

greifbar vorführt. Momente voller Wun<strong>der</strong> und Witz rufen uns die Fragilität unseres Planeten<br />

in Erinnerung. Ein Spektakel, das Kin<strong>der</strong> verspielt für die Umwelt sensibilisieren<br />

und Erwachsene nachdenklich machen kann.<br />

Mit<br />

Camille Panza<br />

Léonard Cornevin<br />

Adrien Drummel<br />

Pierre Mercier<br />

Aurélien Dubreuil Lachaud<br />

Giuseppe Della Trumba<br />

Kreation<br />

Compagnie Ersatz and<br />

Création Dans la Chambre<br />

Flowers open, thun<strong>der</strong> booms, birds sing and the audience sits right in the middle of the<br />

action, with their heads in the middle of a garden full of surprises both large and small.<br />

They each experience the world from the perspective of a rock inside this lovingly detailed<br />

pop-up landscape – right in front of their noses. As if guided by ghostly hands, the<br />

fictional plants in this microcosm come to life, they grow, reproduce and fade. And the<br />

audience immerse themselves in this living installation, this world between illusion and<br />

reality that offers them an intense experience of the natural course of events and beauty<br />

of nature in the unnatural setting of a brightly-coloured stage landscape.<br />

The French-Belgian company Ersatz is an interdisciplinary collective that works in the<br />

visual arts, installation and illustrated books. The group’s artistic approach has evolved<br />

out of the common ground between the different professions of its members; illustrator<br />

Pierre Mercier, sound designer Noam Rzewski, lighting designer Léonard Cornevin and<br />

theatre director and dramaturg Camille Panza. Together with the Quebec theatre company<br />

Création Dans la Chambre, whose work focusses on exploring intimacy in unconventional<br />

surroundings, in Au jardin des Potiniers they have created a fantasy universe<br />

that presents the beauty of the world in all its vulnerability and poetry in tangible form.<br />

Moments filled with won<strong>der</strong> and humour remind us of our planet’s fragility. A performance<br />

that playfully makes children aware of the environment and offers adults food<br />

for thought.<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Do 7. September___________ 9.00 Uhr<br />

Do 7. September__________ 11.00 Uhr<br />

Fr 8. September___________ 9.00 Uhr<br />

Fr 8. September__________ 11.00 Uhr<br />

Sa 9. September__________ 11.00 Uhr<br />

Sa 9. September_________ 15.00 Uhr<br />

Sa 9. September__________ 17.00 Uhr<br />

So 10. September__________ 11.00 Uhr<br />

So 10. September_________ 15.00 Uhr<br />

So 10. September__________ 17.00 Uhr<br />

Mo 11. September___________ 9.00 Uhr<br />

Mo 11. September__________ 11.00 Uhr<br />

Di 12. September___________ 9.00 Uhr<br />

Di 12. September__________ 11.00 Uhr<br />

Mi 13. September___________ 9.00 Uhr<br />

Mi 13. September__________ 11.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 50 min<br />

Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />

Schulen für 5 € pro Person<br />

Informationen zu Tickets und<br />

Workshops für Schulen s. S. 68<br />

Keine Sprache<br />

Produktion:<br />

Compagnie Ersatz et Création<br />

Dans la Chambre<br />

Koproduktion:<br />

Théâtre Nouvelle Génération -<br />

CDN de Lyon<br />

Mit <strong>der</strong> Unterstützung von<br />

Théâtre Aux Écuries – Montréal,<br />

La Serre – Arts Vivants – Montréal,<br />

Montévidéo – Marseille,<br />

Centre Wallonie-Bruxelles –<br />

Paris, Le Carreau – Scène<br />

Nationale de Forbach et de<br />

l’Est mosellan<br />

Au jardin des Potiniers wird<br />

finanziell unterstützt von <strong>der</strong><br />

Fédération Wallonie-Bruxelles,<br />

Région Grand Est, Conseil des<br />

Arts du Canada (CAC), Institut<br />

Français, Wallonie-Bruxelles<br />

International (WBI), Bureau<br />

International de la Jeunesse<br />

(BIJ), Commission internationale<br />

du théâtre francophone (CITF),<br />

Conseil des arts et lettres du<br />

Québec (CALQ) und Conseil des<br />

arts de Montréal (CAM).<br />

www.ruhr3.com/garten<br />

47


LE JARDIN DES<br />

DÉLICES /<br />

DER GARTEN<br />

DER LÜSTE<br />

PHILIPPE QUESNE<br />

VIVARIUM STUDIO<br />

Schauspiel<br />

Die Utopie eines Gartens für Heute und Morgen<br />

→ Magazin, Seite 180<br />

48


Zum ersten Mal wird <strong>der</strong> gefeierte französische Künstler Philippe Quesne als Regisseur<br />

bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> zu sehen sein – mit einem neuen Projekt, das zugleich die großangelegte<br />

Retrospektive seiner bisherigen Theaterarbeit mit dem Vivarium Studio darstellt,<br />

das <strong>2023</strong> sein 20jähriges Bestehen feiert. Hierfür versammelt er die wichtigsten Protagonist:innen<br />

und Motive seiner bisherigen Arbeiten und verwebt sie zu einem großen<br />

theatralen Panoramabild. Gegenstand seiner künstlerischen Beschäftigung waren stets<br />

die essentiellen, drängenden Fragen unserer Zeit. Philippe Quesne und seiner Company<br />

ging und geht es immer ums Ganze. In immer wie<strong>der</strong> neuen Versuchen zeichnen sie die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte nach, ihre Höhenflüge und Abstürze, sie untersuchen<br />

ihre Träume, den Motor ihres Strebens, den Willen zur Macht und das Scheitern.<br />

Sie fragen nach den Regeln <strong>der</strong> Gemeinschaftsbildung und nach dem Umgang mit <strong>der</strong><br />

Umwelt. Woher rührt unser Krisenbewusstsein, woran misst die Menschheit die Realität?<br />

Auf hochpoetische, spielerische Weise lässt Quesne wissenschaftliche und ästhetische<br />

Fragestellungen ineinan<strong>der</strong>greifen. Die sich als künstlerische Forschung begreifende<br />

Arbeit verortet sich an <strong>der</strong> Schnittstelle von Kunst, Philosophie, Politik, Ökologie<br />

und kindlichem Spiel. Die Theaterproduktionen des Vivarium Studios sind humorvolle,<br />

luzide Feiern <strong>der</strong> Imaginationskraft als Antwort auf die Ängste unserer Zeit. Für sein<br />

großangelegtes Jubiläumsstück tritt Philippe Quesne in einen Dialog mit dem berühmten,<br />

bald 500 Jahre alten Gemälde Der Garten <strong>der</strong> Lüste von Hieronymus Bosch, einem<br />

Meisterwerk <strong>der</strong> Kunstgeschichte. Das Bild markiert den Übergang vom Mittelalter zur<br />

Renaissance. Quesne befragt mit ihm den Wesenskern des menschlichen Selbstverständnisses,<br />

die utopischen Visionen <strong>der</strong> Menschen, sein Verhältnis zu sich als Spezies<br />

und sein gebrochenes Verhältnis zur Natur.<br />

The acclaimed French artist Philippe Quesne makes his debut as a director at the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

– with a project that also represents a large-scale retrospective of his previous<br />

works with the Vivarium Studio which will celebrate its 20th anniversary in <strong>2023</strong>. Here he<br />

assembles leading protagonists and motifs from his earlier works and weaves them into<br />

a broad theatrical panorama. His artworks have consistently addressed the urgent and<br />

fundamental issues of our time. Philippe Quesne and his company are and have always<br />

been concerned with the big picture. They have repeatedly made fresh attempts to trace<br />

the course of human history, its high and low points, exploring its dreams, the motives<br />

for its endeavours, its will to power and its failures. They question the rules for how we<br />

form communities and our treatment of the environment. Where does our sense of crisis<br />

come from and how does humanity measure reality? Quesne intertwines processes of<br />

scientific and aesthetic enquiry in a highly poetic and playful manner. Work that regards<br />

itself as artistic research occupies a space where art, philosophy, politics and ecology<br />

intersect with childlike play. Vivarium Studios’ theatre productions are humorous and<br />

lucid celebrations of the power of the imagination as the answer to the fears of our time.<br />

For this large-scale anniversary performance, Philippe Quesne enters into a dialogue<br />

with the famous, almost 500-year-old painting The Garden of Earthly Delights by Hieronymus<br />

Bosch, a masterpiece of art history. The picture represents the transition from<br />

the Middle Ages to the Renaissance. Quesne joins it in questioning the core essence of<br />

human identity, humanity’s utopian visions, its relationship to itself as a species and its<br />

broken relationship to nature.<br />

Konzept, Bühne, Szenografie<br />

Philippe Quesne<br />

Mitarbeit Szenografie<br />

Elodie Dauguet<br />

Kostüme<br />

Karine Marques Ferreira<br />

Mitarbeit Dramaturgie<br />

Éric Vautrin<br />

Regieassistenz<br />

François-Xavier Rouyer<br />

Ton<br />

Janyves Coïc<br />

Licht<br />

Jean-Baptiste Boutte<br />

Requisite<br />

Mathieu Dorsaz<br />

Ankleide, Mitarbeit Kostüm<br />

Estelle Boul<br />

Technische Mitarbeit<br />

Marc Chevillon<br />

Inspizienz<br />

François Boulet, Martine Staerk<br />

Bühnentechnik<br />

Ewan Guichard<br />

Videotechnik<br />

Matthias Schny<strong>der</strong><br />

Lichttechnik<br />

Cassandre Colliard<br />

Bühnenbau<br />

Ateliers du Théâtre<br />

Vidy-Lausanne<br />

Produktion, Booking<br />

Judith Martin, Elizabeth Gay<br />

Produktion Vivarium Studio<br />

Charlotte Kaminski<br />

Mit<br />

Jean-Charles Dumay<br />

Léo Gobin<br />

Sébastien Jacobs<br />

Elina Löwensohn<br />

Nuno Lucas<br />

Isabelle Prim<br />

Thierry Raynaud<br />

Gaëtan Vourc’h<br />

Kraftzentrale,<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Do 7. September_______ 20.00 Uhr<br />

Fr 8. September_______ 20.00 Uhr<br />

Sa 9. September_______ 20.00 Uhr<br />

So 10. September_________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 120 min<br />

Tickets: 22 / 32 / 42 / 52 €,<br />

ermäßigt 12 €<br />

Französisch mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

Produktion:<br />

Vivarium Studio<br />

Théâtre Vidy-Lausanne<br />

Koproduktion:<br />

Festival d’Avignon, <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />

Tangente St. Pölten - Festival für<br />

Gegenwartskultur, Théâtre du<br />

Nord Centre Dramatique National<br />

Lille Tourcoing Hauts-de-France,<br />

Maison de la Culture d’Amiens<br />

Pôle européen de création et de<br />

production, Centro dramatico<br />

nacional, MC93 - Maison de la<br />

culture de Seine-Saint-Denis, Le<br />

Maillon - Théâtre de Strasbourg<br />

Scène européenne, Kampnagel,<br />

Festival NEXT, Scène nationale<br />

Carré-Colonnes Bordeaux-Métropole,<br />

Berliner Festspiele,<br />

National Theater and Concert<br />

Hall Taipei<br />

www.ruhr3.com/lust<br />

49


THE VISITORS<br />

CONSTANZA<br />

MACRAS<br />

DORKYPARK<br />

Tanz<br />

Für alle ab 14 Jahren<br />

Slashing Anticipations<br />

→ Magazin, Seite 168<br />

50


Die neue Arbeit von Constanza Macras setzt eine Zusammenarbeit zwischen DorkyPark<br />

und Menschen aus Johannesburg fort, die vor zehn Jahren im verarmten und gefährlichen<br />

Stadtteil Hillbrow als szenischer Workshop begann. Aus <strong>der</strong> Begegnung entstand<br />

Begeisterung, Beachtung, Bewun<strong>der</strong>ung – und Hillbrowfication, eine Show, die<br />

lachend die Fragen nach den Menschen in dem Viertel zwischen Depression und Ambition<br />

umtanzte. 2022 erlebte die weltweite Tournee dieses hochenergetischen Stückes<br />

in <strong>der</strong> Duisburger Gebläsehalle im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> einen ihrer Höhepunkte.<br />

Daher scheint es nur folgerichtig, wenn die argentinische Choreografin mit<br />

The Visitors genau dort den Faden wie<strong>der</strong> aufnimmt und mit ihrem südafrikanischen<br />

Team Bil<strong>der</strong> von Gewalt und Horror, aber auch <strong>der</strong> tanzenden Befreiung davon präsentiert.<br />

In The Visitors vertanzen 15 Tänzer:innen Bil<strong>der</strong> von Horror-Filmen zu kraftvollen<br />

Musikbeats. Denn Startpunkt des Projektes sind die beliebten Slasher-Horrorfilme, in<br />

denen Jugendliche in den von ihren Eltern verlassenen Häusern bedroht und getötet<br />

werden. Das Stück befragt die Konstruktion des An<strong>der</strong>en als Monster, die negativen<br />

Projektionen auf nigerianische Einwan<strong>der</strong>:innen und die grauenhaften Konsequenzen<br />

<strong>der</strong> Taten <strong>der</strong> Kolonialmächte, die bis heute gesellschaftspolitische Strukturen bestimmen.<br />

Doch ähnlich wie in Slasher-Filmen wird in <strong>der</strong> Tanzperformance <strong>der</strong> Horror durch<br />

humorvolle und absurde Exzesse in nichtlinearen Zusammenhängen kreativ bekämpft.<br />

The new piece by Constanza Macras continues a collaboration between DorkyPark and<br />

young dancers from Johannesburg, that began five years ago as a scenic workshop<br />

in the and dangerous suburb of Hillbrow. This encounter resulted in mutual enthusiasm,<br />

respect and admiration – and in Hillbrowfication, a futuristic show that laughingly<br />

danced around questions about the future ranging from depression to ambition. The<br />

global tour of this high-energy performance reached one of its highpoints in 2022 at<br />

the Gebläsehalle in Duisburg as part of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. For this reason, it only seems<br />

right that in The Visitors the Argentinian choreographer should pick up where she left<br />

off together with her South African team and present images of violence and horror but<br />

also of liberation from these through dance. In The Visitors 15 dancers express images<br />

of horror films to powerful musical beats. The project’s starting point is the popular<br />

genre of slasher movies, in which young people left alone at home by their parents are<br />

threatened and killed. The piece questions the construction of the other as a monster,<br />

the projections made onto Nigerian immigrants and the appalling consequences of the<br />

deeds committed by colonial interlopers, which continue to determine the structures of<br />

society and politics to this day. However, as in slasher movies, the horror in this dance<br />

performance is combatted creatively through humorous excess and absurd outcomes<br />

in non-linear contexts.<br />

Choreografie, Regie<br />

Constanza Macras<br />

Dramaturgie<br />

Tamara Saphir<br />

Kostüme<br />

Roman Handt<br />

Musik<br />

Spoek Mathambo<br />

Bühne<br />

Noluthando Lobese<br />

Produktion, Management<br />

Jimena Soria<br />

Regieassistenz<br />

Mica Heilmann<br />

Produktionsassistenz<br />

Leó Pflimlin<br />

Produktion<br />

Vicky Kouraraki<br />

Produzent Johannesburg<br />

Gerard Bester<br />

Sound Design<br />

Stephan Wöhrmann<br />

Licht Design<br />

Sergio Pessanha<br />

Performance<br />

Alexandra Bodí<br />

Emil Bordás<br />

Tshepang Josias Lebelo<br />

Brandon Magengelele<br />

Vusimuzi T Magoro<br />

Bongani Innocent Mangena<br />

Thulani Mgidi<br />

Nkalala Jackson Mogotlane<br />

Miki Shoji<br />

John Mbuso Sithol<br />

und viele mehr<br />

Gebläsehalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Europäische Erstaufführung<br />

Sa 9. September_________ 19.00 Uhr<br />

So 10. September__________ 17.00 Uhr<br />

Mi 13. September_________ 19.00 Uhr<br />

Do 14. September_________ 19.00 Uhr<br />

Tickets: 17 / 27 / 37 €,<br />

ermäßigt 12 €<br />

Englisch mit deutschen<br />

Übertiteln<br />

Eine Produktion von Constanza<br />

Macras | DorkyPark in<br />

Koproduktion mit<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong>, Kampnagel,<br />

The Windybrow Arts Centre<br />

and Market Theatre<br />

The Visitors wird geför<strong>der</strong>t vom<br />

Internationalen Koproduktionsfonds<br />

des Goethe-Instituts<br />

www.ruhr3.com/visitors<br />

51


LA POSIBILIDAD DE<br />

LA TERNURA /<br />

DIE MÖGLICHKEIT<br />

VON ZÄRTLICHKEIT<br />

MARCO LAYERA<br />

TEATRO LA RE-SENTIDA<br />

Schauspiel<br />

Für alle ab 14 Jahren<br />

Hombre Modelo<br />

→ Magazin, Seite 160<br />

52


In dem international beachteten Projekt Paisajes para no colorear brachte La Re-sentida<br />

mit unvermittelter Härte Geschichten von jungen Frauen aus Santiago de Chile auf die<br />

Bühne. 2021 wurden sie auch bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> für ihre leidvollen Geschichten und<br />

ihre Kraft <strong>der</strong> Darstellung umjubelt und beweint. Als Konsequenz und Weiterentwicklung<br />

wollen Marco Layera und sein Team nun die Konstruktion von Männlichkeit befragen.<br />

Nicht zuletzt <strong>der</strong> Krieg in <strong>der</strong> Ukraine macht weltweit die Vorstellungen von Männlichkeit<br />

in den Kategorien von Stärke, Kontrolle und Macht wie<strong>der</strong> populär und konfrontiert uns<br />

täglich mit den Bil<strong>der</strong>n davon, während <strong>der</strong> Kampf gegen den historischen Machismus<br />

und die Infragestellung von männlichen Selbstverständlichkeiten weiterhin notwendig<br />

und immer noch heftig umstritten ist. Doch wie verorten sich männlich gelesene junge<br />

Menschen zwischen Feminismus und Patriarchat? Sind sie selbst Opfer eines toxischen<br />

Systems o<strong>der</strong> mitverantwortlich dafür? Gibt es die Möglichkeit einer an<strong>der</strong>en Männlichkeit?<br />

La Re-sentida erarbeitet ein Projekt, in dem männlich gelesene junge Menschen<br />

ihre Lage schil<strong>der</strong>n und präsentieren können. Das Stück wird aus Geschichten <strong>der</strong> Realität<br />

entwickelt und bezieht die Jugendlichen nicht nur als Darstellende, son<strong>der</strong>n auch<br />

als Autor:innen ein, um sie zum Bestandteil eines sozialen und künstlerischen Prozesses<br />

zu machen. Ihre Energie, ihre Gefühle, ihre Fragen und Anklagen werden auf <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> erstmals mit dem Blick von Erwachsenen konfrontiert.<br />

In the internationally acclaimed project Paisajes para no colorear, La Re-sentida placed<br />

the stories of young women from Santiago de Chile on stage in a direct, raw and powerful<br />

manner. The performance was greeted with cheers and tears at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021<br />

for the performers’ suffering, anger and the power of their performances. As a consequence<br />

and extension of this work, Marco Layera and his team now want to question<br />

the construct of masculinity. One effect of the war in Ukraine has been to make notions<br />

of masculinity associated with strength, control and power popular once again, confronting<br />

us with images of this on a daily basis, while the struggle against historic machismo<br />

and questioning of male identities continue to be necessary and still produce intense<br />

reactions. But how do young people who are read as male position themselves between<br />

feminism and patriarchy? Are they also victims of a toxic system – or do they share<br />

responsibility for it? Is a different masculinity possible? La Re-sentida have produced a<br />

project in which young people who are read as male can describe and present their situation.<br />

The play has been developed from true stories and includes young people not only<br />

as performers but also as authors, making them an integral part of a social and artistic<br />

process. Their energy, their emotions, their questions and accusations will be presented<br />

to an audience and to adult eyes for the first time in Essen at the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Regie<br />

Marco Layera<br />

Mitarbeit Regie<br />

Carolina de la Maza<br />

Text<br />

Marco Layera<br />

Carolina de la Maza und<br />

Ensemble<br />

Bühne<br />

Teatro La Re-sentida<br />

Kostüme<br />

Daniel Bagnara<br />

Dramaturgie<br />

Aljoscha Begrich<br />

Produktion<br />

Victoria Iglesias Àlvarez<br />

de Araya<br />

Regieassistenz<br />

Katharine Maureira<br />

Humberto Espinoza<br />

Licht Design<br />

Karl Sateler<br />

Sound Design<br />

Andrés Quezada<br />

Technische Leitung<br />

Karl Sateler<br />

Psychologie<br />

Rodrigo Mardones<br />

Mitarbeit Theorie<br />

Ernesto Orellana<br />

Mit<br />

José Miguel Araya Moreno<br />

Leftrarü Valdivia Castro<br />

Camilo Bugueño Espejo<br />

Efraín Chaparro Pérez<br />

Matías Mendez González<br />

Dimitri Bueno Ferrer<br />

Marcos Cruz Andulce<br />

Salzlager,<br />

Welterbe Zollverein, Essen<br />

Uraufführung<br />

Do 14. September_________ 18.00 Uhr<br />

Fr 15. September_________ 18.00 Uhr<br />

So 17. September_________ 18.00 Uhr<br />

Di 19. September__________ 11.00 Uhr<br />

Do 21. September_________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 70 min<br />

Tickets: 12 €, ermäßigt 7 €<br />

Schulen für 5 € pro Person<br />

Informationen zu Tickets und<br />

Workshops für Schulen s. S. 68<br />

Spanisch mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

Eine Produktion von GAM<br />

Cultural Center und <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Koproduziert mit Münchner<br />

Kammerspiele<br />

www.ruhr3.com/ternura<br />

53


MONUMENT 0.10:<br />

THE LIVING<br />

MONUMENT<br />

ESZTER SALAMON<br />

CARTE BLANCHE<br />

Tanz<br />

Lebendige Monumente, monochrome Rituale<br />

→ Magazin, Seite 184<br />

54


The Living Monument lässt eine monochrome Welt intensiver Farben entstehen, in<br />

<strong>der</strong> Zeit stillzustehen scheint. Die gemeinsam mit vierzehn Performer:innen von Carte<br />

Blanche entwickelte Choreografie formt traumartige Landschaften aus Körpern, Stoffen<br />

und Objekten, die sich beständig transformieren und neu zusammenfinden. Langsam<br />

sich verän<strong>der</strong>nde Szenerien, von auftauchenden und verschwindenden Figuren belebt,<br />

enthüllen vibrierende Bil<strong>der</strong>, fragmentarische Erzählungen und erinnerte Visionen. Ein<br />

fesselndes Spiel mit Langsamkeit und andauern<strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong> Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft simultan existieren.<br />

Eszter Salamons choreografische Arbeiten rufen sensorische Halluzinationen hervor,<br />

Verschiebungen zwischen Sinn, Wahrnehmung und Erinnerung. The Living Monument<br />

ist Teil <strong>der</strong> MONUMENT-Serie, in welcher sich die Künstlerin seit fast zehn Jahren mit<br />

<strong>der</strong> Frage beschäftigt, was von <strong>der</strong> Vergangenheit bleibt und uns heute noch prägt.<br />

Eine intensive künstlerische Suche nach alternativen Geschichtsschreibungen und<br />

einem neuen Blick auf die Vergangenheit, um eine an<strong>der</strong>e Zukunft imaginieren zu<br />

können. Die erste Arbeit <strong>der</strong> Serie, MONUMENT 0: HAUNTED BY WARS (1913–2013),<br />

eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> gewaltvollen Kolonialgeschichte, war 2014 ebenfalls im<br />

Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bei PACT Zollverein zu sehen. In den folgenden MONUMENT-<br />

Arbeiten, von denen die meisten bei PACT zu erleben waren, richtete Salamon den<br />

Fokus auf Lebensgeschichten, die es vor dem Vergessen zu bewahren gilt. The Living<br />

Monument bezieht sich auf keine konkreten historischen Ereignisse, son<strong>der</strong>n folgt vielmehr<br />

<strong>der</strong> Idee des Traums, des konstanten Wandels und schafft so eine trance ähnliche<br />

Stimmung <strong>der</strong> Trugbil<strong>der</strong>, Assoziationen und Fiktionen, die vermeintlich längst Vergangenes<br />

mit Zukünftigem verknüpfen.<br />

The Living Monument creates a monochrome world of intense colours where time seems<br />

to stand still. The choreography devised together with 14 dancers from Carte Blanche<br />

creates dreamlike landscapes out of bodies, textiles and objects which constantly transform<br />

themselves to make new combinations. Slowly changing scenes, populated by<br />

emerging and disappearing figures, reveal vibrant images, fragmentary narratives and<br />

remembered visions. A compelling play on slowness and enduring time, in which past,<br />

present and future exist simultaneously.<br />

Eszter Salamon’s choreographic works summon up sensory hallucinations and shifts<br />

between meaning, perception and memory. The Living Monument is part of the MON-<br />

UMENT series, in which the artist has spent almost ten years exploring the question of<br />

what remains of the past and continues to shape us today: an intense artistic search for<br />

alternative writings of history and a new view of the past in or<strong>der</strong> to be able to imagine<br />

a different future. The first work in the series, MONUMENT 0: HAUNTED BY WARS<br />

(1913–2013), was a confrontation with violent colonial history that was also seen as part<br />

of the <strong>Ruhrtriennale</strong> at PACT Zollverein in 2014. In the MONUMENT works that followed,<br />

most of which were also seen at PACT, Salamon focused on preserving life stories from<br />

being forgotten. The Living Monument does not refer to specific historical events, instead<br />

it follows the idea of a dream, of constant change, thus creating a trance-like mood of<br />

illusions, associations and fictions linking what seemed to be long gone with the future.<br />

Konzept, Choreografie, Kostüme<br />

Eszter Salamon<br />

Szenografie<br />

James Brandily<br />

Licht Design<br />

Silje Grimstad<br />

Komposition<br />

Carmen Villain<br />

Choreografieassistenz<br />

Elodie Perrin<br />

Christine De Smedt<br />

Kostümassistenz<br />

Laura Garnier<br />

Sound Design<br />

Leif Herland<br />

Mit<br />

Caroline Eckly<br />

Noam Eidelman Shatil<br />

Nadege Kubwayo<br />

Timothy Bartlett<br />

Dawid Lorenc<br />

Adrian Bartczak<br />

Aslak Aune Nygård<br />

Ole Martin Meland<br />

Brecht Bovijn<br />

Gaspard Schmitt<br />

Mathias Stoltenberg<br />

Manon Campion<br />

Ihsaan de Banya<br />

Mai Lisa Guinoo<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Fr 15. September_______ 20.00 Uhr<br />

Sa 16. September_______ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 120 min<br />

Tickets: 17 / 27 €, ermäßigt 12 €<br />

Keine Sprache<br />

Veranstaltet von PACT<br />

Zollverein für die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Eine Produktion von<br />

Carte Blanche<br />

Monument 0.10: The Living<br />

Monument wird unterstützt<br />

durch Botschaft Gbr (Alexandra<br />

Wellensiek) / Studio E.S (Elodie<br />

Perrin) / Institute of Speculative<br />

Narration and Embodiment<br />

Eszter Salamon ist unterstützt<br />

durch Bureau Ritter/TANZPAKT<br />

RECONNECT, geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />

Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />

für Kultur und Medien im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Initiative NEU-<br />

START KULTUR. Hilfsprogramm<br />

Tanz.<br />

www.ruhr3.com/monument<br />

55


THE THIRD<br />

ROOM X<br />

FLORENTINA<br />

HOLZINGER<br />

Rave / Happening<br />

56


The Third Room X Florentina Holzinger ist ein Fest <strong>der</strong> elektronischen Musik in ihrer<br />

ganzen Bandbreite, von experimentellen Live Sets bis Contemporary Electronic Dance<br />

Music, verbunden mit einem musikalischen Action Happening von Florentina Holzinger,<br />

die mit ihrem Ensemble die Höhen <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>halle erobern wird.<br />

Wir wollen ein multidisziplinäres Festivalerlebnis schaffen, das von 23.00 Uhr bis in<br />

die Morgenstunden andauert und das Konzert, Rave und Performance miteinan<strong>der</strong><br />

verbindet. Die Namen <strong>der</strong> Künstler:innen werden wir zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen,<br />

doch so viel können wir schon verraten: Es wird ein diverses und internationales<br />

Line-up, das in Zusammenarbeit mit dem Essener Kollektiv The Third Room entstanden<br />

ist, und ein unvergesslicher Abend voll musikalischer Highlights. Nachdem die<br />

Ausnahmekünstlerin Florentina Holzinger 2021 in <strong>der</strong> Kraftzentrale einen großen Erfolg<br />

mit A Divine Comedy feierte, wird sie in diesem Jahr den Rave durch ihre künstlerische<br />

Intervention bereichern und den Abend mit <strong>der</strong> musikalischen Performance Étude for a<br />

Bell im wahrsten Sinne einläuten.<br />

While the rave in the last edition of the festival was an extension of the performance<br />

of Respublika, this year we focus on the broad spectrum of electronic music, ranging<br />

from experimental un<strong>der</strong>ground to contemporary electronic dance music.<br />

We want to create a special festival night by combining a concert, rave and performance.<br />

We will announce the names of the performers at a later date, but we can tell you that<br />

a diverse and international line-up awaits that has been assembled in collaboration with<br />

the Essen-based collective The Third Room and will provide an unforgettable evening of<br />

musical highlights. Following the remarkable artist Florentina Holzinger’s success in the<br />

Kraftzentrale in 2021 with A Divine Comedy, she will present an artistic intervention at<br />

this year’s rave. Together with her ensemble she will literally »ring in« the evening in the<br />

action happening Étude for a Bell.<br />

Musikalische Intervention<br />

Étude for a Bell<br />

Konzept, Künstlerische Leitung<br />

Florentina Holzinger<br />

Bühne<br />

Nikola Knežević<br />

Technische Produktion<br />

Stephan Werner<br />

Sound Design<br />

Stefan Schnei<strong>der</strong><br />

Licht Design<br />

Max Kraußmüller<br />

Produktion, Management<br />

neon lobster / Giulia Messia,<br />

Katharina Wallisch<br />

Mit<br />

Florentina Holzinger<br />

und Ensemble<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />

Sa 16. September________ 23.00 Uhr<br />

www.ruhr3.com/rave<br />

57


AUFZEICHNUNGEN<br />

AUS DEM KELLERLOCH<br />

FJODOR DOSTOJEWSKI<br />

BARBARA FREY<br />

BETTINA MEYER<br />

NINA HOSS<br />

ALEX SILVA<br />

Schauspiel<br />

Der Blick in die eigene Fratze<br />

→ Magazin, Seite 156<br />

58


Ein Mensch, verbittert und von höchster Intelligenz, erklärt seine Unabhängigkeit<br />

vom Lauf <strong>der</strong> Dinge. Sein übersteigertes, feinnerviges Bewusstsein vom Zustand <strong>der</strong><br />

Welt hat ihn zum Untätigen werden lassen. Verzweifelt, komisch, schmerzhaft und<br />

voller Wi<strong>der</strong>sprüche erkennen wir in ihm einen Repräsentanten unserer Zeit. Nina<br />

Hoss steigt in den Gedankenfluss von Dostojewskis psychologischem Meisterwerk<br />

ein und folgt den kreisenden und hakenschlagenden Sätzen in die Tiefen seines humanen<br />

Pessimismus. Wie kaum ein an<strong>der</strong>er Schriftsteller hat Fjodor Dostojewski<br />

die Not des Menschen, seine vergebliche Suche nach sich selbst beschrieben. Gleich<br />

zweimal begegnen wir diesem Autor im diesjährigen Festival: in <strong>der</strong> Vorlage für Leoš<br />

Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus und in dieser frühen Erzählung, die die Hauptphase<br />

seines Schaffens einläutet und in <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> ganze philosophische Problemhorizont<br />

seiner fünf großen Romane bereits ankündigt. Fjodor Dostojewskis Mo<strong>der</strong>nität<br />

findet sich in den wesentlichen Fragen, die er stellt: nach <strong>der</strong> Freiheit des Menschen,<br />

nach Erkenntnis, nach dem Leben, dem Tod, dem Wesen des Schönen, <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

des Glaubens, dem Vertrauen auf den Fortschritt, das sich mit <strong>der</strong> Hoffnung verbindet,<br />

<strong>der</strong> Mensch begänne gut zu handeln, wenn er über seine wahren Interessen aufgeklärt<br />

sei. Letzteres bezweifelt die erzählende Figur vehement, sie ringt um Wahrhaftigkeit,<br />

leuchtet hinein in unser Unbewusstes und beweist sich schließlich ihren freien Willen<br />

dadurch, dass sie sich für das Wi<strong>der</strong>sinnige, Unvernünftige, womöglich Zerstörerische<br />

entscheidet. Das Publikum ist eingeladen, sich in <strong>der</strong> Mischanlage Essen Schritt für<br />

Schritt den Weg in das »Kellerloch« zu bahnen, sich von <strong>der</strong> Soundcollage Alex Silvas<br />

führen zu lassen, um schließlich bei Tee und Wodka dem furiosen Monolog beizuwohnen.<br />

Ein moralisch-literarisches Intensitätserlebnis son<strong>der</strong>gleichen.<br />

Regie<br />

Barbara Frey<br />

Bühne, Kostüme<br />

Bettina Meyer<br />

Sound Design, Komposition<br />

Alex Silva<br />

Licht Design<br />

Ulrich Schnei<strong>der</strong><br />

Bühnenbildassistenz<br />

Samuel Herger<br />

Regieassistenz<br />

Mechthild Harnischmacher<br />

Mit<br />

Nina Hoss<br />

One person, seemingly embittered but highly intelligent, articulates their independence<br />

from the course of events. Their exaggerated and highly strung awareness of the<br />

state of the world has led them to become inactive. Desperate, comic, painful and full<br />

of contradictions, we can see them as representative of our time. Nina Hoss immerses<br />

herself in the stream of thought of this psychological masterpiece and follows its<br />

whirling and sidestepping sentences down into the depths of human pessimism.<br />

Fyodor Dostoyevsky described human misery and humanity’s vain search for itself like<br />

practically no other writer. We encounter this author twice at this year’s festival; in the<br />

novel on which Janáček based his opera From the House of the Dead and in this early<br />

short story which heralded the principal phase of his creative output and which touches<br />

upon the full spectrum of philosophical problems addressed in his five great novels.<br />

Fyodor Dostoyevsky’s mo<strong>der</strong>nity can be found in the essential questions he asks:<br />

about the possibility of human freedom, about knowledge, about life, death, the nature<br />

of beauty, the possibility of belief, faith in progress, which is connected to the hope<br />

that humans may act benevolently if they are enlightened as to their true interests.<br />

The latter is something the narrator severely doubts – they grapple for the truth, shed<br />

light on our unconscious and ultimately prove their own free will by choosing what is<br />

nonsensical, unreasonable and potentially destructive.<br />

The audience at the Mischanlage in Essen is invited to make its way step by step<br />

»un<strong>der</strong>ground« in or<strong>der</strong> to witness this bravura monologue over tea and vodka. A moral<br />

and literary experience of unparalleled intensity.<br />

Mischanlage,<br />

Welterbe Zollverein, Essen<br />

Mi 20. September_______ 20.00 Uhr<br />

Do 21. September_______ 20.00 Uhr<br />

Fr 22. September_______ 20.00 Uhr<br />

Sa 23. September_______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />

Deutsch mit englischen<br />

Übertiteln<br />

Eine Produktion <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

www.ruhr3.com/kellerloch<br />

59


PLAY BIG!<br />

BASEL SINFONIETTA<br />

NDR BIGBAND<br />

CHORWERK RUHR<br />

TITUS ENGEL<br />

Konzert<br />

SOFIA GUBAIDULINA<br />

Revuemusik für Sinfonieorchester und Jazzband (1976/1995/2002)<br />

MICHAEL WERTMÜLLER<br />

Shlimazl für Sinfonieorchester und Bigband (<strong>2023</strong>)<br />

Uraufführung<br />

SIMON STEEN-ANDERSEN<br />

TRIO für Orchester, Bigband, Chor und Video (2019)<br />

Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />

→ Magazin, Seite 192<br />

Musikalische Leitung<br />

Titus Engel<br />

Basel Sinfonietta<br />

NDR Bigband<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Dirigent NDR Bigband<br />

Thorsten Wollmann<br />

Dirigent Chorwerk Ruhr<br />

Michael Alber<br />

Schlagzeug<br />

Lucas Niggli<br />

E-Gitarre<br />

Kalle Kalima<br />

60


Bigband und Sinfonieorchester sind wie Pinguin und Eisbär – sie begegnen sich praktisch<br />

nie. Und das nicht ohne Grund: Die improvisatorische Freiheit des Jazz und die<br />

komplexe Bauweise klassischer Kompositionen stehen für zwei komplett gegensätzliche<br />

Ansätze des Musikmachens, die Komponist:innen selten in sich vereinen. Und<br />

wenn sie es doch tun?<br />

Dass musikalische Wesensfremdheit auch ein kreativer Motor sein kann, beweist Sofia<br />

Gubaidulina, <strong>der</strong>en Musik hauptsächlich mit religiös-spiritueller Tiefe assoziiert wird,<br />

nicht aber mit Jazz und Unterhaltungsmusik. Ihre geisterhaft ironische Revuemusik ist<br />

wie <strong>der</strong> Blick einer tatarischen Mystikerin auf die Ästhetik <strong>der</strong> Hollywood-Filmmusik <strong>der</strong><br />

1970er Jahre – mitten im Kalten Krieg. Ein selten gehörter Coup <strong>der</strong> bescheidenen Grande<br />

Dame <strong>der</strong> zeitgenössischen Musik, <strong>der</strong> ihr eine weitere mysteriöse Dimension verleiht.<br />

In beiden Welten gleichermaßen heimisch ist <strong>der</strong> Jazz-Schlagzeuger und Komponist<br />

Michael Wertmüller. Bereits in seinem experimentellen Opernraum D•I•E öffnete er bei <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021 die Schleusen <strong>der</strong> Stilgrenzen. In seinem neuen Werk Shlimazl greift<br />

er nun die Tradition <strong>der</strong> Bigband auf und lässt sie mit dem Sinfonieorchester als geschlossenen<br />

Klangapparat wie ein gigantisches Ufo abheben. Angetrieben von zwei fabelhaften<br />

Jazz-Virtuosen verwachsen dabei Komplexität und Coolness zu einem polymetrischen<br />

Kunststück, als hätte es nie ein lineares Zeitmaß gegeben.<br />

Irrwitzig und riesenhaft ist das Spektakel in Simon Steen-An<strong>der</strong>sens TRIO. Die drei Stimmen<br />

seines Trios heißen nicht etwa Violine, Cello und Klavier, son<strong>der</strong>n Chor, Orchester<br />

und Bigband. Sie sind Werkzeuge einer atemberaubenden audiovisuellen Zeitmaschine,<br />

bei <strong>der</strong> musikalische Geschichte und Gegenwart, Schnipsel archivierten Filmmaterials<br />

und Live-Musik einen verrückten metaphysischen Organismus bilden – gesteuert natürlich<br />

von Mastermind Steen-An<strong>der</strong>sen selbst: Spielversessen wie ein Marionettenspieler<br />

hält <strong>der</strong> dänische Komponist und Installationskünstler die Fäden in <strong>der</strong> Hand und lässt<br />

seine Figuren einen fantastisch-skurrilen Tanz tanzen.<br />

A big band and a symphony orchestra are like a penguin and a polar bear – two creatures<br />

that never meet. Well, hardly ever. The freedom to improvise in jazz and the complex construction<br />

of classical compositions represent two entirely different approaches to music-making<br />

which composers rarely combine.<br />

But what if they do? The fact that an alien musical language can also drive creativity forward<br />

is proven by Sofia Gubaidulina, whose music is primarily associated with religious<br />

and spiritual depth and not with jazz or entertainment. Her ghostly and ironic Revue Music<br />

is like a Tartar mystic’s perspective on the aesthetic of Hollywood film scores from the<br />

1970s – written in the middle of the Cold War. A rarely-heard coup from the modest grande<br />

dame of contemporary music, which lends her an additional dimension of mystery.<br />

Equally at home in both worlds is the jazz percussionist and composer Michael Wertmüller.<br />

He has already opened up the floodgates to stylistic crossover in his experimental opera<br />

space D•I•E at <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021. In his latest work Shlimazl, he now seizes on the big band<br />

tradition and, forming a closed sound machine together with a symphony orchestra, makes<br />

it take off like a gigantic UFO. Driven on by two won<strong>der</strong>ful jazz virtuosos, it combines complexity<br />

and coolness to create a polymetric tour de force as if linear time had never existed.<br />

The spectacle in Simon Steen-An<strong>der</strong>sen’s TRIO is both crazy and vast. The three parts in<br />

his trio are not a combination like violin, cello and piano, but choir, orchestra and big band.<br />

These are the tools of a breath-taking audio-visual time machine in which musical history<br />

and present, snippets of archive film material and live music form a crazy metaphysical<br />

organism – guided, of course, by the mastermind Steen-An<strong>der</strong>sen himself: intensely focussed<br />

on his performance like a puppeteer, the Danish composer and installation artist<br />

holds all the strings and makes his characters dance a fantastic and quirky dance.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Do 21. September_______ 20.00 Uhr<br />

Fr 22. September_______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 22 / 37 / 52 / 67 €,<br />

ermäßigt 12 €<br />

Shlimazl von Michael Wertmüller<br />

ist eine Auftragskomposition<br />

von Basel Sinfonietta und<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Eine Koproduktion von<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> und Basel<br />

Sinfonietta, in Kooperation mit<br />

dem Norddeutschen Rundfunk<br />

Die Veranstaltung wird von<br />

NDR und WDR für den Hörfunk<br />

aufgezeichnet und zu einem<br />

späteren Zeitpunkt in beiden<br />

Programmen gesendet.<br />

www.ruhr3.com/playbig<br />

61


QUID CHAOS<br />

HUELGAS<br />

ENSEMBLE<br />

PAUL VAN NEVEL<br />

Konzert<br />

JOSQUIN DESPREZ<br />

Qui habitat<br />

ANTOINE BRUMEL<br />

Missa Et ecce terræ motus<br />

PIETER MAESSINS<br />

Tota pulchra es<br />

ROBERTUS WYLKYNSON<br />

Salve Regina<br />

GIOVANNI PIERLUIGI DA PALESTRINA<br />

Missa Viri Galilei: Agnus Dei<br />

PIERRE DE MANCHICOURT<br />

Sustinuimus pacem<br />

LEONHARD LECHNER<br />

Quid, Chaos<br />

CLAUDIO MONTEVERDI<br />

Missa in illo tempore: Sanctus<br />

JOSQUIN DESPREZ<br />

Qui habitat<br />

Klang <strong>der</strong> Kommunikation<br />

→ Magazin, Seite 192<br />

Musikalische Leitung<br />

Paul Van Nevel<br />

Huelgas Ensemble<br />

62


»Warum, o Chaos, versuchst Du, die Welt in Unordnung zu bringen?,« fragt die Liebe in<br />

Leonhard Lechners hellsichtigem Hochzeitslied Quid, Chaos für 24 Stimmen. Wo immer<br />

das Huelgas Ensemble unter Paul Van Nevel auftritt, scheinen den Klangräumen keine<br />

Grenzen gesetzt, wird das Chaos in geordnete Bahnen geleitet. Den Auftakt zur Intendanz<br />

von Barbara Frey machte 2021 ein Konzert im Morgengrauen auf Zeche Zweckel.<br />

Drei Festivalausgaben später findet diese künstlerische Ära nun ihren Abschluss mit<br />

einem nächtlichen Konzert in <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>thalle, das allein <strong>der</strong> menschlichen<br />

Stimme gehört. Das gefeierte belgische Vokalensemble – nach 2021 erneut bei <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> zu Gast – öffnet dem Publikum nahezu überirdische Klangsphären. In<br />

fließenden, scheinbar nie enden wollenden harmonischen Entwicklungen zeigt sich die<br />

Kunst <strong>der</strong> Polyphonie in all ihren Facetten: von Josquin Desprez’ Qui habitat, einem Gipfelwerk<br />

kanonischer Kompositionskunst, in dem die 24 Stimmen einen magisch-schwebenden<br />

Raumklang erschaffen, über ein Perpetuum mobile von Pieter Maessins und die<br />

Klangpracht von Robertus Wylkynson bis hin zum meisterhaften Kontrapunkt Claudio<br />

Monteverdis. Den Kern dieser Reise durch die Vielstimmigkeit <strong>der</strong> Renaissance bildet<br />

Antoine Brumels spektakuläre Messe Et ecce terræ motus. Schon zur Entstehungszeit<br />

wurde das Werk seiner unerhörten Kühnheit wegen gerühmt. Europa erlebte um<br />

das Jahr 1500 einen ähnlich radikalen Umbruch <strong>der</strong> Werte wie in <strong>der</strong> heutigen Zeit. So<br />

schrieb Brumel mit seiner 12-stimmigen »Erdbebenmesse« eine Art Zukunftsmusik, die<br />

die Vision einer besseren Welt entwirft. Und schließlich wird auch die Liebe in Leonhard<br />

Lechners Quid, Chaos überzeugt, trotz aller Miseren, die die Welt erdulden muss, in ihr<br />

zu verweilen, da es für die Liebe doch immer einen Platz geben müsse.<br />

»Why, oh Chaos, do you try to bring the world into disor<strong>der</strong>?« asks Love in Leonhard<br />

Lechner’s prophetic 24-part wedding song Quid, Chaos. Wherever the Huelgas Ensemble<br />

performs un<strong>der</strong> Paul Van Nevel, acoustic spaces seem limitless and chaos is guided<br />

into or<strong>der</strong>ed lines. Barbara Frey’s term as Artistic Director of the <strong>Ruhrtriennale</strong> opened<br />

in 2021 with a concert at dawn in Zeche Zweckel. Three festival editions later, her<br />

artistic era reaches its conclusion with a nocturnal concert devoted purely to the human<br />

voice. The celebrated Belgian vocal ensemble – guests at the <strong>Ruhrtriennale</strong> once again<br />

after 2021 – opens almost otherworldly spheres of sound to the audience. In flowing,<br />

apparently never-ending harmonic developments, the art of polyphony is displayed in all<br />

its facets: ranging from Josquin Desprez’s Qui habitat, a supreme work of canonical composition,<br />

in which the 24 voices create a magical, hovering sound space, to a perpetuum<br />

mobile by Pieter Maessins and the sonic splendour of Robertus Wylkynson to the masterful<br />

counterpoint of Claudio Monteverdi. The centrepiece of this journey through<br />

Renaissance polyphony is Antoine Brumel’s spectacular mass Et ecce terræ motus.<br />

Even at the time it was written, this work was famed for its remarkable boldness. Around<br />

the year 1500 Europe experienced a similarly radical shift in values to the present day. In<br />

his 12-part »Earthquake Mass« Brumel wrote a type of music of the future that outlines<br />

the vision of a better world. And ultimately Love in Lechner’s Quid, Chaos is persuaded<br />

to remain on Earth despite all the miseries the world must endure because there must<br />

always be a place for Love.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Sa 23. September________ 22.30 Uhr<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 12 €<br />

Dauer: ca. 90 min<br />

www.ruhr3.com/chaos<br />

63


DIE NATUR DES MENSCHEN<br />

LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />

LUKAS BÄRFUSS<br />

BIBIANA BEGLAU<br />

PHILIPP BLOM<br />

ANNA DREXLER<br />

MATTHIAS GLAUBRECHT<br />

SACHIKO HARA<br />

THEO NABICHT<br />

CARL OESTERHELT<br />

POLLYESTER<br />

WIEBKE PULS<br />

JUTTA WEBER<br />

64


Auch im dritten Jahr setzen wir unsere Reihe über die<br />

Natur des Menschen fort und untersuchen ihren Titel<br />

in seiner doppelten Lesbarkeit: Was ist das Wesen<br />

des Menschen? Aber auch: Welchen Begriff macht <strong>der</strong><br />

Mensch sich von <strong>der</strong> Natur? Wann hat sich die konfliktbeladene<br />

Gegenüberstellung von Mensch und Natur in<br />

unserem Bewusstsein überhaupt verankert? Antworten<br />

finden sich im größten Wissens- und Erfahrungsspeicher<br />

<strong>der</strong> Menschheit: in <strong>der</strong> Literatur. Drei Abende, drei literarische<br />

Reisen durch die Jahrhun<strong>der</strong>te, durch Kontinente.<br />

Vorgetragen von Bibiana Beglau, Wiebke Puls und Anna<br />

Drexler, begleitet von den Musiker:innen Pollyester, Theo<br />

Nabicht, Carl Oesterhelt und Sachiko Hara. Zuvor wird<br />

<strong>der</strong> Schriftsteller Lukas Bärfuss sich im Gespräch mit herausragenden<br />

Wissenschaftler:innen drei Begriffspaaren<br />

nähern, die unsere Vergangenheit formen, die Gegenwart<br />

umtreiben und unsere Zukunft bestimmen: Natur und Luxus,<br />

Natur und Technik, Natur und Traurigkeit.<br />

Our series about »human nature« continues in Year<br />

Three and we examine its title in two senses: what is the<br />

nature of human beings? But what do humans un<strong>der</strong>stand<br />

»nature« to be? When did the idea of human beings<br />

and nature as conflicting opposites become rooted<br />

in our minds? Answers can be found in humanity’s greatest<br />

repository of knowledge and experience: in literature.<br />

Three evenings with three literary journeys through the<br />

centuries and across continents. Presented by Bibiana<br />

Beglau and Wiebke Puls, accompanied by the musicians<br />

Pollyester, Carl Oesterhelt and Sachiko Hara. These will<br />

be preceded by the writer Lukas Bärfuss in conversation<br />

with distinguished scientists, examining three pairs of<br />

concepts that have shaped our past, occupy our present<br />

and will determine our future: nature and luxury,<br />

nature and technology, and nature and sadness.<br />

NATUR UND LUXUS<br />

PHILIPP BLOM / BIBIANA BEGLAU /<br />

POLLYESTER<br />

Luxuria, die Wollust, ist für die christliche Morallehre eines<br />

<strong>der</strong> sieben Hauptlaster. Gleichzeitig gehört <strong>der</strong> Luxus<br />

zur Kunst, zu ihrem Festcharakter. Kunstwerke schmücken<br />

wie Gold, sie schaffen Status – doch jedes Werk<br />

von Rang kritisiert gleichzeitig den eigenen Glanz und<br />

seine Pracht. Diese Ambivalenz beunruhigt. Sie führt zu<br />

ethischen Fragen. Wie werden Perlen zum Protest, wie<br />

wird Luxus zu Kritik? Kann Ethik zum Genuss werden?<br />

Sind Stil und Moral vereinbar? O<strong>der</strong> erfreuen wir uns in<br />

<strong>der</strong> Kunst stets an <strong>der</strong> Unmoral? Reproduzieren wir damit<br />

die Laster? Welchen Schmuck, welchen Luxus braucht die<br />

Menschlichkeit?<br />

Luxuria, lust, is viewed by Christian moral teaching as one<br />

of the Seven Deadly Sins. At the same time, luxury is part<br />

of art and of its festive character. Like gold, art works are<br />

ornamental, they confer status – yet at the same time,<br />

every work of distinction criticises its own glory and splendour.<br />

This ambivalence is disturbing. It leads to ethical<br />

questions. How do pearls turn into protest, how does luxury<br />

turn into criticism? Can ethics become a pleasure?<br />

Are style and morals reconcilable? Or in art do we always<br />

delight in immorality? Does this mean we are reproducing<br />

vice? What ornament, what luxury does humanity require?<br />

So 27. August<br />

17.00 Uhr<br />

Dialog: Lukas Bärfuss im Gespräch mit dem Historiker und<br />

Schriftsteller Philipp Blom (Die Unterwerfung. Anfang und Ende<br />

<strong>der</strong> Herrschaft des Menschen über die Natur, München 2022)<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Bibiana Beglau<br />

Musik: Pollyester<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Konzept<br />

Lukas Bärfuss<br />

Judith Gerstenberg<br />

Die dreiteilige Dialogreihe zur<br />

Natur des Menschen wird in<br />

Zusammenarbeit mit dem<br />

Kulturradio WDR 3 im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Kulturpartnerschaft<br />

aufgezeichnet und zu einem<br />

späteren Zeitpunkt in WDR 3<br />

Forum gesendet.<br />

Alle sollten zu zehn Stunden<br />

Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />

→ Magazin, Seite 145<br />

www.ruhr3.com/natur<br />

65


NATUR UND TECHNIK<br />

JUTTA WEBER / ANNA DREXLER /<br />

THEO NABICHT<br />

Der Golem, jenes Wesen aus Lehm des Baal Schem Tov,<br />

diese »Masse ohne Form«, ist das Werkzeug, das sich<br />

von seinem Herrn emanzipiert. Und Mary Shelley hat mit<br />

Frankensteins Monster <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne einen Albtraum geschenkt.<br />

Er sucht den Menschen in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Technologie<br />

heim, als Cyborg, als Humanoid, als Roboter, als<br />

Künstliche Intelligenz. Gleichzeitig transportieren die<br />

Geräte die Sehnsucht nach <strong>der</strong> Erlösung von <strong>der</strong> Sterblichkeit<br />

und <strong>der</strong> Gewalt: Der Tod und das Patriarchat<br />

werden durch den künstlichen Menschen überwunden.<br />

Aber ist die Maschine wirklich künstlich o<strong>der</strong> gehört sie<br />

zu unserer Natur, zur Natur des Menschen? Gibt es eine<br />

Grenze zwischen <strong>der</strong> Humanität und dem Humanoiden?<br />

Steht das eine dem an<strong>der</strong>en feindlich gegenüber? Liegt<br />

die Menschlichkeit in <strong>der</strong> Überwindung des Menschen,<br />

in <strong>der</strong> Maschine?<br />

The golem, the creature made of clay by Baal Schem Tov,<br />

this »formless mass«, is the tool that liberates itself from<br />

its master. And Mary Shelley provided the Mo<strong>der</strong>n age with<br />

a nightmare in Frankenstein’s monster: The nightmare that<br />

haunts human beings in the form of technology, as a cyborg,<br />

as a humanoid, as a robot, as Artificial Intelligence.<br />

At the same time, devices convey a longing for redemption<br />

from mortality and violence: death and the patriarchy are<br />

being overcome by artificial humans. But is the machine<br />

really artificial – or is it part of our nature, human nature?<br />

Is there a bor<strong>der</strong>line between humanity and the humanoid?<br />

Is one the enemy of the other? Does humanity lie in<br />

overcoming humans – in the machine?<br />

So 3. September<br />

17.00 Uhr<br />

Lukas Bärfuss im Gespräch mit <strong>der</strong> Professorin für Technik forschung<br />

und Mediensoziologie Jutta Weber (Umkämpfte Bedeutungen:<br />

Naturkonzepte im Zeitalter <strong>der</strong> Technoscience)<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Anna Drexler<br />

Musik: Theo Nabicht<br />

NATUR UND TRAURIGKEIT<br />

MATTHIAS GLAUBRECHT / WIEBKE PULS /<br />

SACHIKO HARA / CARL OESTERHELT<br />

Der Mensch, so schreibt Robert Burton in seinem monumentalen<br />

Buch über die Melancholie, sei <strong>der</strong> souveräne<br />

Herr <strong>der</strong> Welt, und gleichzeitig lebe er im Elend, unter allen<br />

Tieren, zermartert von schwarzen Gedanken, vom Todesdrang.<br />

Man kann es mit George Steiner auch an<strong>der</strong>s<br />

sehen: Die Traurigkeit ist die Voraussetzung des Denkens<br />

und damit des Menschseins. Vernunft und Kritik bedürfen<br />

eines Bewusstseins, das die Trennung begreift und diese<br />

in einem Gedanken aufzuheben versucht. Als Metapher<br />

und Idee unerlässlich, endet Traurigkeit mitunter tödlich.<br />

Depression ist die Geißel <strong>der</strong> Menschheit, eine lebensgefährliche<br />

Volkskrankheit, beschrieben und beklagt von<br />

<strong>der</strong> Literatur aller Zeiten, aller Kontinente. Sie führt zur<br />

Individualität, zu Hamlet und zum Hilfsbuchhalter Bernardo<br />

Soares. Und manchmal, bei einer jungen Frau etwa,<br />

Antigone mit Namen, wird die Trauer politisch. Können wir<br />

die Traurigkeit teilen, organisieren, kann sie uns als Gesellschaft<br />

versammeln, vereinen?<br />

Mankind, Robert Burton writes in his monumental book<br />

on melancholy, is the sovereign master of the world, yet at<br />

the same time, he lives a life of misery, lower than all the<br />

animals, plagued by dark thoughts, by a death urge. One<br />

can also see this differently, as George Steiner did. Sadness<br />

is a pre-requisite of thinking and therefore also of<br />

humanity. Reason and critique require a consciousness<br />

that un<strong>der</strong>stands the distinction and attempts to remove<br />

them in a single thought. Indispensable as a metaphor<br />

and an idea, sadness sometimes ends fatally. Depression<br />

is the scourge of humanity, a life-threatening and widespread<br />

disease, described and lamented by the literature<br />

of all ages and all continents. It leads to individuality,<br />

to Hamlet, and to the assistant bookkeeper Bernardo<br />

Soares. And sometimes, for example in a young woman<br />

by the name of Antigone, sadness becomes political. Can<br />

they share and organize sadness, can it assemble and<br />

unite us as a society?<br />

So 10. September<br />

17.00 Uhr<br />

Dialog: Lukas Bärfuss im Gespräch mit dem Zoologen und Wissenschaftsjournalisten<br />

Matthias Glaubrecht (Das Ende <strong>der</strong> Evolution.<br />

Der Mensch und die Vernichtung <strong>der</strong> Arten)<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Wiebke Puls<br />

Musik: Sachiko Hara und Carl Oesterhelt<br />

66 www.ruhr3.com/natur


FESTIVALBIBLIOTHEK <strong>2023</strong><br />

Festivalzentrum<br />

Die Festivalbibliothek wächst! Die Gastgeschenke unserer<br />

Künstler:innen, mit denen sie uns Einblick geben in<br />

ihre Lektüren und Themen, die sie gegenwärtig beschäftigen,<br />

dokumentieren die an Ereignissen und Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

reichen Jahre 2021–<strong>2023</strong>. Gegen ein Pfand lassen<br />

sich die Bücher in <strong>der</strong> Pappelwaldkantine entleihen. Die<br />

Sammlung wird im Anschluss des Festivals an die Stadtbücherei<br />

Bochum übergeben.<br />

The Festival Library is growing! The gifts from our guest<br />

artists, which offer insights into their reading and the<br />

themes that currently concern them, document the eventful<br />

and challenging years 2021–<strong>2023</strong>. The books can be<br />

borrowed if you leave a deposit at the Pappelwaldkantine.<br />

After the festival, the collection will be donated to Bochum<br />

City Library.<br />

Mit Beiträgen von / With contributions by:<br />

Georges Aperghis, Brian Archinal, Lukas Bärfuss, Jean-Christophe Bailly, Bibiana Beglau,<br />

Gaby Blanco, Marco Blaauw, Aljoscha Begrich, Billy Cobham, Matthieu Cognet, Virginie<br />

Déjos, Christian Dierstein, Anna Drexler, Peter Eisold, Camille Emaille, Barbara Frey,<br />

Adèle Haenel, Florian Helgath, Olli Holland, Nina Hoss, Mette Ingvartsen, San Keller,<br />

Pollyester, Marco Layera, loekenfranke, Constanza Macras, Marilyn Mazur, Bettina<br />

Meyer, Mohammad Reza Mortazavi, Theo Nabicht, Paul Van Nevel, Lucas Niggli, Etienne<br />

Nillesen, Amanda Piña, Wiebke Puls, Philippe Quesne, Louisa Robin, Sylvie Rohrer,<br />

Eszter Salamon, Ulrich Schnei<strong>der</strong>, Benno Seidel, Alex Silva, Mats Staub, Simon Steen-<br />

An<strong>der</strong>sen, Gisèle Vienne, Angela Vucko, Stefan Wartenberg, Martin Zehetgruber u. v. m.<br />

/ and many more<br />

In <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />

11. August – 23. September<br />

Eintritt frei<br />

Öffnungszeiten unter<br />

www.ruhr3.com/bib<br />

www.ruhr3.com/bib<br />

67


JUNGE TRIENNALE<br />

Die Junge Triennale gibt Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen die<br />

Gelegenheit, Kunst und Kultur zu erleben und selbst zu<br />

machen. Sie bietet jungen Menschen begleitend zum Programm<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> künstlerische Projekte und an<br />

Produktionen anknüpfende Workshops an.<br />

In diesem Jahr erleben Grundschüler:innen und Familien<br />

Im Garten <strong>der</strong> Potiniers / Au jardin des Potiniers (S. 46)<br />

die Poesie <strong>der</strong> Natur aus <strong>der</strong> Sicht von Bergen in einer<br />

kunterbunten Pop-up-Landschaft. Jugendliche ab 14 Jahren<br />

und Erwachsene begegnen in gleich zwei Produktionen<br />

jungen Menschen von an<strong>der</strong>en Kontinenten und ihren<br />

Geschichten: Die chilenische Theaterproduktion La posibilidad<br />

de la ternura / Die Möglichkeit von Zärtlichkeit<br />

(S. 52) lädt dazu ein, sich mit Männlichkeitsbil<strong>der</strong>n und<br />

<strong>der</strong>en Auswirkungen zu beschäftigen. In The Visitors<br />

(S. 50) verbinden sich die alltäglichen Gewalterfahrungen<br />

junger Tänzer:innen aus dem südafrikanischen<br />

Johannesburg auf fantasievolle Weise mit <strong>der</strong> jugendlichen<br />

Faszination an Horrorfilmen.<br />

The productions in the programme that are particularly<br />

suited to young audiences are marked in the programme<br />

with recommended ages.<br />

SCHULEN<br />

Detaillierte Produktionsempfehlungen für Schulen finden<br />

Sie auf unserer Internetseite.<br />

Für Grundschulklassen ab dem 2. Schuljahr empfehlen wir<br />

anknüpfend an einen Vorstellungsbesuch von Im Garten<br />

<strong>der</strong> Potiniers / Au jardin des Potiniers (S. 46) einen Workshop,<br />

bei dem die Beschäftigung mit Natur nach dem Theaterbesuch<br />

im Freien weitergeht.<br />

Ab <strong>der</strong> 9. Klasse bieten wir zur Vor- o<strong>der</strong> Nachbereitung<br />

des Vorstellungsbesuchs von La posibilidad de la ternura /<br />

Die Möglichkeit von Zärtlichkeit (S. 52) einen begleitenden<br />

Theaterworkshop für Klassen an, in dem wir uns kreativ mit<br />

geschlechterspezifischer Sozialisation, Rollenbil<strong>der</strong>n und<br />

biografischen Theaterformen beschäftigen.<br />

Vorbereitend auf das Kunstvermittlungsprojekt TEENS<br />

IN THE HOUSE III – Eine junge Residenz veranstalten wir<br />

regelmäßig an Wochenenden Workshops für Jugendliche<br />

ab 16 Jahren. Für Schulen bieten wir künstlerische Interventionen<br />

und Infostände im Schulgebäude an, die Jugendliche<br />

neugierig auf das Projekt machen.<br />

Gerne beraten wir Lehrkräfte zum gesamten Programm<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> und organisieren Workshops o<strong>der</strong><br />

Gespräche zur Vor- bzw. Nachbereitung des Veranstaltungsbesuchs<br />

mit Schüler:innen o<strong>der</strong> dem Kollegium.<br />

Beratung und Tickets für Schulen unter<br />

jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />

für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei<br />

pro Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen nach Verfügbarkeit.<br />

Eine Reservierung ist ab sofort bis 14 Tage vor <strong>der</strong><br />

Veranstaltung möglich.<br />

Die Eintrittskarten gelten am Tag <strong>der</strong> Veranstaltung als<br />

Fahrkarte für die Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />

im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).<br />

SCHOOLS<br />

We also present morning performances of Au jardin des<br />

Potiniers and La posibilidad de la ternura / The Possibility<br />

of Ten<strong>der</strong>ness and offer accompanying workshops<br />

for school classes and courses. Events to accompany<br />

other <strong>Ruhrtriennale</strong> productions can also be organised<br />

on request.<br />

68<br />

www.jungetriennale.de


TEENS IN THE HOUSE III<br />

EINE JUNGE RESIDENZ<br />

Du möchtest die <strong>Ruhrtriennale</strong> mit an<strong>der</strong>en Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen erleben?<br />

Du bist kreativ und hast Lust, dich künstlerisch mit deinen<br />

eigenen Erfahrungen und Erlebnissen rund um Geschlechterrollen<br />

auseinan<strong>der</strong>zusetzen?<br />

Dann solltest du bei TEENS IN THE HOUSE III mitmachen!<br />

Eine Woche lang residieren junge Menschen ab 16 Jahren<br />

auf <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Wir besuchen Vorstellungen<br />

des internationalen Kunstfestivals und beschäftigen uns<br />

kreativ mit den eigenen gesellschaftlichen Ideen, Einstellungen,<br />

Haltungen, For<strong>der</strong>ungen zu den Themen <strong>der</strong><br />

Stücke. In den künstlerischen Workshops geht es dieses<br />

Jahr um die Bedeutung von Geschlechterrollen und<br />

Männlichkeit(en) in unserer Gesellschaft – anknüpfend an<br />

die chilenische Produktion La posibilidad de la ternura /<br />

Die Möglichkeit von Zärtlichkeit (S. 52). Mit professioneller<br />

Anleitung entsteht während <strong>der</strong> Residenz eine Präsentation,<br />

in <strong>der</strong> wir unsere Perspektiven mit dem Festivalpublikum<br />

teilen.<br />

TEENS IN THE HOUSE ist queer, inklusiv und solidarisch.<br />

Die Teilnehmenden haben unterschiedlichste Familiengeschichten<br />

und setzen sich für Vielfalt ein.<br />

Melde dich jetzt an und bring deine Ideen ins Festival ein!<br />

Die Residenz ist barrierearm – schreib uns gerne, was du<br />

für die Teilnahme benötigst.<br />

Do you want to experience the <strong>Ruhrtriennale</strong> together with<br />

other teenagers and young adults?<br />

Are you creative and keen to explore your encounters and<br />

experiences with gen<strong>der</strong> roles artistically?<br />

If so, then take part in TEENS IN THE HOUSE III!<br />

For a whole week young people aged 16 and over will be<br />

resident at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. We will attend performances<br />

at the international arts festival and engage creatively with<br />

our own ideas about society, attitudes, approaches and<br />

demands relating to issues in the plays. This year the artistic<br />

workshops will focus on the significance of gen<strong>der</strong> roles<br />

and masculinities in our society – linked to the Chilean<br />

production La posibilidad de la ternura / The Possibility<br />

of Ten<strong>der</strong>ness (see pp. 52). With professional guidance, a<br />

presentation will be created during the residency in which<br />

we can share our perspectives with the festival audience.<br />

TEENS IN THE HOUSE is queer, inclusive and solidary.<br />

Those taking part have the broadest range of family<br />

backgrounds and actively support diversity.<br />

Register now and contribute your own ideas to the festival!<br />

We aim to make the residency as accessible as possible –<br />

please write and let us know what you need to be able to<br />

take part.<br />

Essen, Bochum, Duisburg<br />

9.– 15. September<br />

Für Jugendliche und junge<br />

Erwachsene ab 16 Jahren<br />

Präsentation <strong>der</strong> jungen<br />

Residenz am 15. September im<br />

Anschluss an La posibilidad de<br />

la ternura / Die Möglichkeit von<br />

Zärtlichkeit vor dem Salzlager,<br />

Welterbe Zollverein, Essen<br />

Konzept und Projektleitung<br />

Anne Britting<br />

Projektmitarbeit<br />

Yannick Warkus<br />

FSJ Kultur<br />

Ilka Hütte<br />

Instagram: @jungetriennale<br />

Teilnahme kostenlos<br />

Anmeldung:<br />

jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die<br />

Stiftung Mercator<br />

www.ruhr3.com/teens<br />

69


PAPPELWALDKANTINE<br />

DEXTER RED<br />

Festivalzentrum<br />

Im Jahr 2006 ließ <strong>der</strong> kürzlich verstorbene Jürgen Flimm,<br />

damaliger Intendant <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, einen Pappelwald<br />

vor die Jahrhun<strong>der</strong>thalle in Bochum pflanzen. Als<br />

Barockgarten konzipiert, wurde er, begleitet von einem<br />

rauschenden Fest, an das Publikum übergeben. Warum<br />

ausgerechnet die Pappel? Pappel leitet sich von lateinisch<br />

populus ab, denn im alten Rom fühlten sich die Menschen<br />

durch das Rauschen <strong>der</strong> Bäume an das fröhliche Durcheinan<strong>der</strong>sprechen<br />

in Volksversammlungen erinnert.<br />

Die Pappeln waren in Kübeln in die Erde gepflanzt worden,<br />

sie waren nicht für die Ewigkeit bestimmt und doch sind<br />

sie uns bis heute erhalten geblieben. Ihre Wurzeln sprengten<br />

die Kübel, verankerten sich im Boden, mittlerweile<br />

ragen sie weit in die Höhe; sie spenden uns ihren kühlen<br />

Schatten und verwandeln den Vorplatz in einen ganz<br />

beson<strong>der</strong>en Ort. Was Sie im Rauschen <strong>der</strong> Blätter hören<br />

wollen, überlassen wir Ihnen. Wir kümmern uns nur darum,<br />

dass Sie dabei we<strong>der</strong> Hunger noch Durst leiden müssen,<br />

und versorgen Sie mit vegetarischen und regionalen<br />

Leckerbissen in unserer Pappelwaldkantine. Und vielleicht<br />

rauscht zuweilen auch <strong>der</strong> Geist von Jürgen Flimm durch<br />

die Blätter <strong>der</strong> Pappeln und prostet Ihnen fröhlich zu.<br />

In 2006, the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s Artistic Director at the time,<br />

Jürgen Flimm – who died recently – organised the planting<br />

of a »Pappelwald« (a copse of poplar trees) in front of the<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle in Bochum. He had chosen an exploration<br />

of the Romantic, Baroque and Medieval periods as<br />

the artistic line of enquiry for his years at the Triennale.<br />

This copse of poplars was originally conceived as a Baroque<br />

garden, and was handed over to the public in his<br />

second year at a raucous party. Why choose poplars? The<br />

name poplar is <strong>der</strong>ived from the Latin »populus«, because<br />

the rustle of these trees reminded the ancient Romans of<br />

the cheerful hubbub of crowds of people.<br />

In 2006 the poplars were planted in the earth inside pots<br />

as they were not intended to be permanent – however,<br />

they are still there today. They have outgrown their pots<br />

and have become much taller, providing us with cooling<br />

shade and making the square in front of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

a very special place. What you might hear in the<br />

rustle of their leaves, we will leave up to you. We will simply<br />

make sure that you will not have to suffer from hunger or<br />

thirst and provide you with vegetarian and regional delicacies<br />

in our Pappelwaldkantine. And maybe from time<br />

to time the ghost of Jürgen Flimm will rustle through the<br />

poplar leaves and cheerfully raise a glass to you.<br />

Pappelwald an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Konzept, Design<br />

Dexter Red<br />

11. August – 23. September<br />

Eintritt frei<br />

Öffnungszeiten unter<br />

www.ruhr3.com/pappelwald<br />

70<br />

www.ruhr3.com/pappelwald


FESTIVALCAMPUS<br />

Seit 2012 ist <strong>der</strong> Festivalcampus ein fester Bestandteil<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Auch in <strong>der</strong> zweiten Ausgabe von<br />

Barbara Frey kommen wie<strong>der</strong> internationale Studierende<br />

aus verschiedenen künstlerischen und kulturtheoretischen<br />

Disziplinen aus Polen, Kroatien, Norwegen, Schweiz, Irland,<br />

Deutschland, Dänemark zusammen. Das Campusprogramm<br />

wird von Carla Gesthuisen und Philipp Schulte in<br />

enger Zusammenarbeit mit den Lehrenden <strong>der</strong> Partnerhochschulen<br />

konzipiert und setzt sich im Rahmen eines<br />

viel seitigen Seminar- und Workshopprogramms mit dem<br />

Festival programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> auseinan<strong>der</strong>.<br />

An drei verschiedenen Wochenenden bekommen die<br />

Work shopgruppen die Möglichkeit, Einblicke in die<br />

Arbeits weisen <strong>der</strong> Festivalkünstler:innen zu gewinnen<br />

und in einen lebendigen Diskurs zu treten. Dabei entsteht<br />

ein enger Austausch mit den Künstler:innen, dem Team<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> sowie untereinan<strong>der</strong>. Die gemeinsamen<br />

Erfahrungen und die kritischen Reflexionen darüber bilden<br />

die Grundlage für eine lebendige und gesellschaftlich<br />

relevante künstlerische und kulturelle Arbeit, bei <strong>der</strong> die<br />

Teilnehmer:innen und »Künstler:innen von morgen« Impulse<br />

an ihre Hochschulen und in ihre künftige Arbeit<br />

mitnehmen. Gemeinsam mit dem Festivalcampus ist die<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> ein Ort, an dem Austausch, Kritik und Diskussion<br />

stattfinden.<br />

The Festival Campus has been a regular part of the<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> since 2012. In Barbara Frey’s second year<br />

as artistic director, international students from Poland,<br />

Croatia, Norway, Switzerland, Ireland, Germany and Denmark<br />

working in a range of disciplines in the arts and cultural<br />

theory will once again come together. The Campus<br />

programme is conceived by Carla Gethuisen and Philipp<br />

Schulte in close collaboration with the partner universities<br />

and explores the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s festival programme<br />

in a multi-faceted series of seminars and workshops.<br />

On three different weekends, workshop groups are given<br />

the opportunity to gain insights into the working methods<br />

of festival artists and take part in lively discussions. Here<br />

an exchange with the artists, the <strong>Ruhrtriennale</strong> team and<br />

within the group itself can take place. Their shared experiences<br />

and critical reflections form the basis for vivid<br />

and socially relevant artistic and cultural work, in which<br />

the participants and »artists of tomorrow« take ideas back<br />

to their universities and into their future projects. Alongside<br />

the Festival Campus, the <strong>Ruhrtriennale</strong> is a place for<br />

exchange, constructive criticism and discussion.<br />

Bochum<br />

Konzeption, Durchführung<br />

Carla Gesthuisen<br />

Dr. Philipp Schulte<br />

www.ruhr3.com/campus<br />

71


FOTOGRAFIEN<br />

VON LOEKENFRANKE<br />

73


In den Jahren 2021 bis <strong>2023</strong> haben wir Künstler:innen beauftragt, sich in Bildserien mit<br />

jener Region auseinan<strong>der</strong>zusetzen, aus <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Auftrag des Festivals ableitet: die<br />

kulturelle Belebung <strong>der</strong> verlassenen Industriebauten, dieser Zeugnisse nicht nur einer<br />

vergangenen Zeit, son<strong>der</strong>n auch eines vergangenen Bewusstseins und Weltbezugs.<br />

Kaum eine an<strong>der</strong>e Gegend in Deutschland hat in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren einen so<br />

radikalen Wandel erlebt wie das Ruhrgebiet. Und die Künste sind es, die noch immer zu<br />

begreifen suchen, was uns Menschen da wi<strong>der</strong>fahren ist.<br />

2021 folgte <strong>der</strong> Fotograf Tobias Zielony in seiner Serie Geister den Spuren seines Großvaters.<br />

Als Bergarbeiter in Gelsenkirchen war dieser Teil jener Kultur, die dem Ruhrgebiet<br />

bis heute seine prägende Gestalt gibt. 2022 suchte <strong>der</strong> Künstler Mischa Leinkauf die<br />

Übersicht über die Verän<strong>der</strong>ungen und Zeitschichten zu erlangen, die sich über die Jahre<br />

in die Ruhr-Landschaft eingezeichnet haben. Er erklomm dafür die Dächer und Schornsteine<br />

<strong>der</strong> Industriebauten und entdeckte aus spektakulärer Höhe neue Sichtachsen.<br />

<strong>2023</strong> nun baten wir das Dokumentarfilmduo loekenfranke, das wie kein an<strong>der</strong>es sein<br />

Auge geschärft hat für den Strukturwandel und seine Folgen, mit <strong>der</strong> ihm eigenen Bildsprache<br />

die gegenwärtige Verfasstheit des »Reviers« einzufangen. Entstanden sind<br />

Bil<strong>der</strong> von geradezu mythischer Kraft.<br />

Wie in weit entfernter Zeit, als Menschen Orientierung am Himmel suchten, Auguren<br />

aus <strong>der</strong> Formation des Vogelflugs den Willen <strong>der</strong> Götter herauslasen, erkennen wir auf<br />

den Bil<strong>der</strong>n kleine Menschentrauben unterschiedlicher Altersgruppen, bewaffnet mit<br />

Ferngläsern und Spektiven, verloren in einer Naturlandschaft, den Blick gebannt in eine<br />

Richtung gewandt. Sie sind in Erwartung. Offenbar versuchen sie, in <strong>der</strong> Ferne etwas zu<br />

erhaschen. Im Hintergrund ist die menschliche Ordnung noch sichtbar, aber sie ist nicht<br />

mehr bestimmend. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf etwas, mit dem eine<br />

Verbindung aufgenommen werden will, auf etwas, das sich <strong>der</strong> umstandslosen Verfügbarkeit<br />

entzieht, auf etwas, das – trotz allem – geblieben ist. O<strong>der</strong> zurückgekehrt?<br />

Auffällig ist das Licht, das die Jahres- o<strong>der</strong> Tageszeit vorgegeben hat, ein Licht, in dem<br />

keine Dauer liegt, das nicht länger währt als jener flüchtige Moment, <strong>der</strong> das Versprechen<br />

bereithält, dass die Kontaktaufnahme, <strong>der</strong> contact-call, zu diesem Unverfügbaren<br />

gelingen könnte – ist es doch ein Moment, <strong>der</strong> dem werktätigen Zeitmaß enthoben ist.<br />

Schon seit vielen Jahren porträtiert das Duo in seinen Filmen gesellschaftliche Transformationsprozesse,<br />

die Verwandlung <strong>der</strong> Landschaften, das sich än<strong>der</strong>nde Verhältnis von<br />

Kultur und Natur, die Rolle des Menschen in all dem.<br />

Zurzeit arbeitet loekenfranke an einer Langzeitdokumentation, die Birdwatcher beim<br />

Beobachten beobachtet. Nicht zufällig fällt diese populärer werdende Obsession <strong>der</strong><br />

Vogelbeobachtung in unsere katastrophisch erfahrene Gegenwart. So erklärt die Literaturwissenschaftlerin<br />

Tanja van Hoorn: »Vögel sind in auffälliger Weise ein die Natur-<br />

Kulturgrenzen überschreiten<strong>der</strong>, selbstreflexiver Spiegel, eine epistemische Figur, die im<br />

Zeichen <strong>der</strong> Verunsicherung und kritischen Überprüfung <strong>der</strong> eigenen Fähigkeiten aufgerufen<br />

wird.«<br />

Die Vogelbeobachtung erzählt von dem Wissen, dass das Ausbleiben o<strong>der</strong> Vorkommen<br />

an<strong>der</strong>er Spezies über unser Überleben entscheiden wird – und auch darüber,<br />

dass es an<strong>der</strong>e Ordnungen gibt als die menschengemachten. Dass sie gleichzeitig zur<br />

Bildung und Einübung ästhetischer Wahrnehmung befähigt, rückt sie zu den Künsten in<br />

zärtliche Nähe.<br />

Judith Gerstenberg<br />

130


In the years 2021 to <strong>2023</strong> we have commissioned artists to produce photo series examining<br />

the region that has inspired the festival’s mission: an artistic revival of its disused<br />

industrial buildings that are testament not only to a bygone age but to a way of thinking<br />

and a relationship with the world that are also past. Hardly any other region in Germany<br />

has experienced such a radical transformation over the last century as the Ruhr. And the<br />

arts are what still seeks to un<strong>der</strong>stand the human effects of this process.<br />

In his series Ghosts in 2021, the photographer Tobias Zielony attempted to find traces of<br />

his grandfather. As a coal miner in Gelsenkirchen, he had been part of the culture which<br />

continues to embody the Ruhr region to this day. In 2022, the artist Mischa Leinkauf<br />

sought an overview of the changes and layers of time that have inscribed themselves<br />

into the landscape of the Ruhr over the years. To do this, he climbed onto the roofs and<br />

chimneys of the region’s industrial structures and discovered new visual axes from their<br />

spectacular height.<br />

Now, in <strong>2023</strong>, we have asked the duo of documentary filmmakers loekenfranke, which<br />

have developed a sharp eye for structural change and its consequences that is unrivalled,<br />

to capture the current state of the region in their unique visual language. The results are<br />

images of almost mythic power.<br />

As if in some distant time, when human beings sought guidance from the skies and read<br />

auguries of the will of the gods from the patterns of birds in flight, we can recognise little<br />

groups of people of various ages in the pictures, armed with telescopes and binoculars,<br />

lost in a natural landscape, their rapt gaze pointing in one single direction. They are expectant.<br />

Evidently they trying to make out something in the distance. Human or<strong>der</strong> can<br />

be discerned in the background, but it is no longer decisive. Instead their attention is<br />

pointed towards something that they wish to establish contact with, towards something<br />

that defies easy availability, towards something that – despite everything – is still here.<br />

Or maybe has returned?<br />

It is noticeable that the light which the time of year or day has provided, a light that has no<br />

permanence, that lasts no longer than that brief moment, that offers a promise that the<br />

attempt to make contact with this reclusive entity might perhaps succeed – is a moment<br />

removed from the timescale of the working day.<br />

For many years, films by the duo have portrayed processes of social transformation, the<br />

metamorphoses of landscapes, the closer relationship between culture and nature, and<br />

the role of human beings in all of these.<br />

loekenfranke is currently working on a long-term documentary that watches birdwatchers<br />

watching. It is no coincidence that birdwatching is becoming a more popular obsession at<br />

the present time while we are experiencing a series of disasters. The literary scholar Tanja<br />

van Hoorn explains: »Birds are a conspicuous, self-reflective mirror that transcends the<br />

boundaries between nature and culture, as well as an epistemological figure that is called<br />

upon in an atmosphere of uncertainty and critical examination of one’s own abilities.«<br />

Birdwatching is an indicator of our awareness that the absence or presence of other species<br />

will be decisive for our own survival – and that there are other or<strong>der</strong>s besides those<br />

made by humans. The fact that it also cultivates the formation and practice of aesthetic<br />

perceptions gives it a ten<strong>der</strong> affinity with the arts.<br />

Judith Gerstenberg<br />

131


Bildstrecke<br />

Konzept / Realisation<br />

Michael Loeken & Ulrike Franke<br />

Fotos<br />

Michael Loeken, Ulrike Franke<br />

Dramaturgie<br />

Judith Gerstenberg<br />

Colourgrading:<br />

Thomas Haselau<br />

(Staudt Lithographie Bochum), Ole-Kristian Heyer<br />

Dank an<br />

Thomas Griesohn-Pflieger (Birdingtours), Tobias<br />

Rautenberg, Patrick Kretz, Uwe Frey, Max Huemer-<br />

Uffermann, Hermine Kittsteiner, Stefan Mücke,<br />

Verena Niehuis, Bernd Oehler, Danial Hutter, Sophia<br />

Hutter, Theodor, Alvar, Anabel Putz, Antje Schlieper,<br />

Kirsten Schlimm, Thies Wiechert, Hannah Kurau,<br />

Renate Zinke, Bettina Grosse, Jürgen Mauritz,<br />

Mischa Leinkauf, Christa Marek, Sabine Hartmann,<br />

Jörg Adams, Leonard Putz


133MAGAZIN


KOHLENSTRASSE<br />

VON STEFAN WARTENBERG<br />

Stefan Wartenberg<br />

WEGE<br />

Aljoscha Begrich, Gaby Blanco, San Keller, Stefan Wartenberg<br />

ab 12. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 18 _______________ www.ruhr3.com/wege<br />

134


Im Traum laufe ich immer durch die Straßen von Stahlhausen<br />

und Goldhamme. Die Wege sind unendlich, die<br />

Stadt kommt nie zur Ruhe; ein grenzenloses Ballungsgebiet<br />

von Häusern, Farben, Geräuschen und Zeit. Und<br />

Namen: Kohlenstraße Ecke Umweltpark. Die Autobahn<br />

brüllt. Die Geschichte brüllt. Die Wi<strong>der</strong>sprüche prasseln<br />

aufeinan<strong>der</strong> ein, unterbrechen meinen Lauf.<br />

Ein Schleichweg lockt mich vom Gehsteig ins Gestrüpp<br />

unter eine Brücke aus Beton, wo noch alte Schienen liegen.<br />

Weiter hinten ist die Schneise <strong>der</strong> aufgegebenen Güterstrecke<br />

längst asphaltierter Fahrradweg. Die Geräusche<br />

<strong>der</strong> Autos und Züge sind in <strong>der</strong> Senke nur noch dumpf zu<br />

hören, dafür Vögel und Rascheln im Unterholz. Ich folge<br />

einem dieser Fuchs- o<strong>der</strong> Wildschweinwege, geduckt<br />

durch Brombeerranken, lande auf einer verlassenen Zufahrtsstraße<br />

vor einem einzeln stehenden Tor. Der Zaun<br />

darum ist verschwunden, nur Betonpfeiler alle paar Meter<br />

bezeugen seine vergangene Existenz. Ich lasse mich<br />

treiben irgendwo im sogenannten Umweltpark, <strong>der</strong> eher<br />

ein weitläufiges Gewerbegebiet als ein Stadtgarten ist.<br />

Das Areal ist menschenleer. An seinen Grenzen verlaufen<br />

Schienen und die Autobahn. Ich folge dem Lauf eines fast<br />

ausgetrockneten Baches durch einen schmalen Tunnel.<br />

Haus <strong>der</strong> Geschichte des Ruhrgebiets. In meiner Lieblingsbibliothek<br />

forsche ich zur Vergangenheit jener Orte,<br />

durch die ich mich beim Laufen spülen lasse und <strong>der</strong>en<br />

klang volle Namen mich faszinieren. Die Kohlenstraße<br />

hieß früher tatsächlich einmal Brüllstraße. Das Gelände<br />

des heutigen Umweltparks war in den 1940er-Jahren eines<br />

von über 100 »Außenkommandos« des Konzentrationslagers<br />

Buchenwald. Außer einem 2019 errichteten, eher<br />

unscheinbaren Mahnmal an einem <strong>der</strong> zahlreichen Seiteneingänge<br />

des ehemaligen Bochumer Vereinsgeländes<br />

(heute vom Technischen Dienst <strong>der</strong> Stadt Bochum genutzt)<br />

entdecke ich vor Ort keine Spuren aus dieser Zeit,<br />

kein Gedenken. Aber die Geschichte mit all ihren unaushaltbaren<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen bleibt. Sie hat die Gegend wortwörtlich<br />

untergraben.<br />

KGV Bergmannsheil. Am an<strong>der</strong>en Ende des Tunnels entsteige<br />

ich dem Marbach in ein idyllisches Kleingartenparadies.<br />

Auf sonnigen Hängen wächst Gemüse und Salat.<br />

Es ist Samstagnachmittag, Stadiongeräusche hallen durch<br />

das kleine Tal. Trommeln und Trillern, ein Brausen. Jetzt hat<br />

also <strong>der</strong> VfL getroffen. Hinter mir schießt ein ICE durch<br />

die Horizontale. Ich laufe wie<strong>der</strong> auf festem Grund, laufe<br />

auf das große, mo<strong>der</strong>ne Krankenhaus zu, das ebenfalls<br />

Bergmannsheil heißt. »Berchmannsheil« – wie man hier<br />

sagt. Die beinahe ungebrochene Verbundenheit zur Geschichte<br />

des Bergbaus und <strong>der</strong> regionale Stolz auf dieses<br />

Erbe, auf die von Arbeit geschundenen Menschen,<br />

auf die von Maschinen gebeutelte Natur war es, was<br />

mich zuerst in diese Gegend trieb. Nicht nur das großartige<br />

Bergbaumuseum, die ganze Region ist ein Fest für<br />

Nostalgiker, Romantiker und Fans von Novalis, wie ich es<br />

zugegebenerweise bin. Den Symbolen des Raubbaus entkommt<br />

man hier nicht. Auch nicht dem Respekt, welcher<br />

den Proletariern <strong>der</strong> Schächte entgegengebracht wird,<br />

dem Kult, <strong>der</strong> sich bis auf den Fußballplatz ausdehnt,<br />

und <strong>der</strong> Wehmut in den Kneipen und Trinkhallen. Dies<br />

ist eine an<strong>der</strong>e Form des Vernarbens o<strong>der</strong> Verheilens, als<br />

ich sie aus den Revieren von Bitterfeld, Leipzig o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Lausitz kenne, wo ich herkomme.<br />

Beim Laufen habe ich genau das richtige Tempo, um<br />

über diese Dinge nachzudenken. Manchmal schreibe ich<br />

etwas auf. Wenn es mir schlecht geht, laufe ich bis zur<br />

Erschöpfung. Und dann: wie<strong>der</strong> zurück. Das Laufen beeinflusst<br />

das Denken, und das Denken erschöpft sich<br />

tatsächlich – irgendwann. Die Schleifen, die ich denke,<br />

lösen sich im Laufen. Sie kriegen mich nicht zu fassen,<br />

sind Schlingen nur, wenn ich es mir erlaube. Auch deshalb<br />

bin ich unterwegs. Beim Laufen lese ich o<strong>der</strong> ich<br />

blicke in Augen, sammelt sich <strong>der</strong> Müll im Rinnstein zur<br />

ersten Zeile eines Gedichts. O<strong>der</strong> zum Abschluss, zur<br />

Mitte. O<strong>der</strong> alles löst sich auf und die Worte verlieren<br />

wie<strong>der</strong> den Sinn. Was ich nicht mag, sind rote Ampeln,<br />

sie bringen mich aus dem Rhythmus.<br />

STEFAN WARTENBERG lebt in Leipzig und schreibt Gedichte und an<strong>der</strong>e Texte. Er ist Mitglied in<br />

den Künstler:innengruppen Graffitimuseum und Jazzstylecorner, mit denen er installativ<br />

und performativ arbeitet. 2021 gründete Wartenberg den Nachtalb Verlag Engelsdorf, welcher<br />

sich Lyrik und befreundeten Textgattungen zuwendet und junge Autor:innen för<strong>der</strong>t.<br />

Foto: Conny Reuter<br />

135


ÜBER DAS<br />

VERSCHWINDEN,<br />

DAS ERINNERN<br />

UND<br />

DEN MAGISCHEN<br />

MOMENT<br />

BARBARA FREY IM GESPRÄCH MIT DEM<br />

FILMKOLLEKTIV LOEKENFRANKE UND DEM<br />

KÜNSTLER MATS STAUB<br />

FILMRETROSPEKTIVE LOEKENFRANKE<br />

An jedem Festival-Samstag (außer 9. September)<br />

Siehe S. 22 _______________ www.ruhr3.com/loekenfranke<br />

JETZT & JETZT<br />

Installation<br />

Eröffnung am 24. August <strong>2023</strong><br />

Laufzeit: 25. August – 23. September<br />

Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/jetzt<br />

136


Sowohl beim Filmkollektiv loekenfranke als auch in den<br />

Video-Arbeiten von Mats Staub geht es im Grunde um<br />

eine genaue Beobachtung <strong>der</strong> Menschen. Man hat es mit<br />

Porträts zu tun. Menschen erzählen, zeigen sich, zweifeln,<br />

hoffen, kämpfen, machen eine Bestandsaufnahme<br />

ihres Lebens, ihrer Umgebung, <strong>der</strong> Verhältnisse, die sie<br />

geprägt haben und die ihnen bisweilen auch brutale Verän<strong>der</strong>ungen<br />

aufgezwungen haben. Es geht immer auch<br />

um die Frage nach den Möglichkeiten, ökonomischen und<br />

sozialen Zwängen zu trotzen – o<strong>der</strong> aber diese Zwänge<br />

akzeptieren zu müssen, auch oft ausdrücklich gegen die<br />

eigenen Sehnsüchte und Visionen. Was bleibt? Was ist<br />

aus den Sehnsüchten geworden? Was hat man gewinnen<br />

können – und was ist verloren? Kann man überhaupt<br />

Einfluss nehmen auf den schnöden Gang <strong>der</strong> Zeit? Wer<br />

ist eigentlich <strong>der</strong> Autor, die Autorin des eigenen Schicksals?<br />

Indem die Vergangenheit erforscht wird, bekommt<br />

man Aufschluss über die Gegenwart. Und eine fahle<br />

Ahnung dessen, was kommen mag. Warum ist es offenbar<br />

in die Natur des Menschen eingeschrieben, dass<br />

er immer wie<strong>der</strong> auslöschen muss, was er getan hat –<br />

nach angeblich bestem Wissen und Gewissen? Und warum<br />

ist es ebenso klar, dass er sich immer wie<strong>der</strong> erinnern<br />

will, womöglich erinnern muss, an all das, was er lieber<br />

vergessen hätte?<br />

Die Arbeiten von loekenfranke und Mats Staub sind<br />

wohl unter die Kategorie des »Dokumentarischen« einzuordnen<br />

– aber was heißt das? Erzählt das dokumentarische<br />

Filmmaterial von einer an<strong>der</strong>en Wahrheit, als die<br />

Künste es tun? Verlangt man von ihm eine immer neue,<br />

an<strong>der</strong>e, eine sozusagen wahrhaftigere Dimension all <strong>der</strong><br />

Fragestellungen, die die Künste seit jeher beschäftigen?<br />

Wäre die Dokumentation dann gewissermaßen den Künsten<br />

überlegen? Könnte sie gar Antworten geben?<br />

Die Werke von Mats Staub und loekenfranke lösen diesen<br />

scheinbaren Wi<strong>der</strong>spruch auf. Sie sind dokumentarische<br />

wie künstlerische Werke. Sie maßen sich keinen Wahrheitsbegriff<br />

an, mittels dessen man die Menschheit von<br />

ihren Nöten erlösen könnte; sie beanspruchen keinerlei<br />

»Weltverbesserung«.<br />

Eines aber können sie für sich beanspruchen: die Genauigkeit<br />

beim Hinschauen und Hinhören, die Präzision<br />

in <strong>der</strong> Porträtierung von Menschen rund um den Globus<br />

– und das Wissen darum, dass alles, was mit dieser Welt<br />

passiert, sei es im Ruhrgebiet, in an<strong>der</strong>en europäischen<br />

Gegenden o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>en Kontinenten, menschengemacht<br />

ist, und dass es darum geht, die Fragen zu stellen,<br />

die alle Künste seit Menschengedenken immer gestellt<br />

haben: Was ist Verantwortung? Wie leben wir zusammen?<br />

Wie können wir uns gegenseitig helfen? Was<br />

ist unsere Natur – und was ist die Natur, die uns umgibt?<br />

Wie können wir uns gegenseitig an <strong>der</strong> Zerstörung hin<strong>der</strong>n,<br />

die wir unablässig vorantreiben? Wie können wir die<br />

Grausamkeiten von Liebe und Tod ertragen, wie können<br />

wir aushalten, dass wir in die Welt geworfen sind und<br />

noch immer so wenig über uns wissen?<br />

Die Filmdokumente von loekenfranke und Mats Staub<br />

sind gleichermaßen nüchtern wie tiefsinnig, melancholisch<br />

wie humorvoll, scharf analysierend wie spielerisch.<br />

Das Schöne ist, dass sie sich in keine Kategorie einordnen<br />

lassen.<br />

Sie sind frei.<br />

Barbara Frey<br />

→<br />

137


Barbara Frey Heute, da die Natur weitgehend zerstört<br />

ist, gibt es eine sehr intensive Tierforschung, was eine<br />

seltsame Ironie hat. Man zählt gerne zu den »intelligenten<br />

Tieren« jene, die über Erinnerungsfähigkeit verfügen, ein<br />

Gedächtnis haben wie zum Beispiel Primaten, Elefanten,<br />

Ratten, Oktopusse. Was heißt das umgekehrt für die<br />

Natur des Menschen, <strong>der</strong> ja ein sich erinnerndes Tier ist?<br />

Was bedeutet Erinnerung in eurer Arbeit?<br />

Mats Staub Ein Weg ins Innere, im Wortsinn.<br />

Michael Loeken Erinnerung ist eine Begleiterscheinung<br />

des Suchens und Erforschens. Was gibt es zu<br />

entdecken? Zum Beispiel die Vogelbeobachter, die<br />

wir fotografieren: Aus <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong> Vögel erinnern<br />

sich die Leute an ihre eigene Situation. Haben<br />

die Vögel auch Spaß? Was machen sie eigentlich da?<br />

Ulrike Franke Erinnern ist Unberechenbarkeit: Plötzlich<br />

kommt etwas hoch in einem, ausgelöst durch einen<br />

Geruch o<strong>der</strong> einen Lichtreflex. Das ist verbunden<br />

mit Emotionen, fröhlichen o<strong>der</strong> melancholischen. Die<br />

Gier nach Erinnerung ist auch <strong>der</strong> Antrieb für das,<br />

was noch kommt. Man ist hin- und hergerissen.<br />

Michael Loeken Erinnerung geht oft mit Verdrängung<br />

einher.<br />

Der Geist von Hamlets ermordetem Vater bittet seinen<br />

Sohn nicht nur um Rache – er bittet ihn eindringlich darum,<br />

sich an ihn zu erinnern: »Remember me« (»Gedenke<br />

mein«). Daraus entsteht bei Hamlet diese merkwürdige<br />

Tathemmung.<br />

MS Es ist ja auch gut, sich genau zu überlegen, was<br />

<strong>der</strong> nächste Schritt sein kann. Da kommt die eigene<br />

Entscheidung ins Spiel. Unsere Arbeit ist das Innehalten<br />

und Beiseitetreten.<br />

ML Bei bestimmten unserer Projekte merken wir, dass<br />

man sich nicht erinnern will. Es sollen neue Projekte her,<br />

neue Landschaften im Ruhrgebiet entstehen. Alte<br />

Gebäude müssen weg – und umgekehrt pflegt man<br />

aber richtige Kathedralen <strong>der</strong> Vergangenheit. In unserer<br />

Arbeit gibt es aber keine Nostalgie, eher Melancholie.<br />

Nichts an eurer Arbeit wirkt nostalgisch o<strong>der</strong> gar romantisch.<br />

Das Lakonische dominiert als Grundgestus.<br />

UF Es geht um den Moment an sich. Da stößt man auf<br />

das bloße Sein. Ein Blick, eine Geste, hier und jetzt.<br />

Da verbirgt sich die Lakonie.<br />

ML Wir öffnen uns <strong>der</strong> ganzen Bandbreite <strong>der</strong> Gefühle,<br />

die wir erfassen wollen. Humor ist z. B. wichtig! Ein<br />

Humor, <strong>der</strong> Menschen nicht vorführt. Man muss gemeinsam<br />

lachen.<br />

MS Die Gefühle muss man aufkommen und weiterziehen<br />

lassen. Das ist das Lakonische in meiner Arbeit.<br />

Im Theater gibt es überhaupt nur den Moment. Nichts<br />

Bleibendes. Wie nähert ihr euch in euren Filmen dem<br />

Individuum, um es optimal zum Erzählen zu motivieren?<br />

Wie entsteht diese Unmittelbarkeit, die wir beim Anschauen<br />

empfinden?<br />

UF Im Theater muss <strong>der</strong> magische Moment reproduzierbar<br />

sein. Beim Filmemachen gibt es nur die absolute<br />

Einmaligkeit. Aber bloß nichts festzurren im Vorhinein!<br />

Die Menschen müssen auch unsere eigenen<br />

Sorgen und Ängste spüren, es gibt kein einseitiges<br />

Nehmen unsererseits. Nur durch Vertrauen entsteht<br />

so etwas wie Wahrhaftigkeit.<br />

ML Man muss die eigenen Schwächen zeigen, das<br />

schafft Normalität.<br />

MS Ich sage den Menschen immer, ich führe keine<br />

Interviews, son<strong>der</strong>n wir kommen miteinan<strong>der</strong> ins<br />

Gespräch. Ich zeige mich auch, bin präsent. Im Unterschied<br />

zu euch, Ulrike und Michael, muss ich aber etwas<br />

erzeugen, das absolut nicht natürlich ist. Bei 21<br />

– Erinnerungen ans Erwachsenwerden z. B. ist es eine<br />

Ulrike Franke und Michael Loeken<br />

138


Trotzdem bleiben ja viele magische Momente nicht erklärbar.<br />

Das ist das Schöne. Es kommt sozusagen etwas<br />

Drittes hinzu.<br />

MS Das erlebe ich auch so – zugleich bedeutet es unglaublich<br />

viel Arbeit, um die Bedingungen zu schaffen,<br />

dass sich magische Momente ereignen können.<br />

Wochenlanges Editieren, auf die Essenz kommen.<br />

Ich suche die volle Konzentration auf das Individuum.<br />

Dadurch entsteht etwas Universelles. Am Anfang<br />

sagten mir Leute, »das ist ja alles schön und gut –<br />

aber wer interessiert sich schon für die Großmutter<br />

von Frau Meier?«<br />

Mats Staub<br />

künstliche Situation: Die Menschen werden von mir<br />

beim Zuhören ihrer eigenen Geschichte porträtiert.<br />

Aber ich »inszeniere« sie nicht, ich versuche, ihnen<br />

eine Begegnung mit sich selbst zu ermöglichen.<br />

Du, Mats, bringst die Räume zum Verschwinden. Der<br />

Hintergrund in 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden<br />

und bei Jetzt & Jetzt ist schwarz. Dadurch entsteht dieses<br />

merkwürdig Sakrale. Ohne jede falsche Heiligkeit.<br />

Die Menschen wirken wie bewegliche Ikonen. In euren<br />

Arbeiten, Ulrike und Michael, spielen die Räume eine<br />

entscheidende Rolle.<br />

UF Die Räume halten alles fest, was verschwunden ist.<br />

In Herr Schmidt und Herr Friedrich ist in je<strong>der</strong> Schallplatte,<br />

jedem Liebesbrief, Foto und Nippes Erinnerung.<br />

In all unseren Filmen beziehen die Leute aus<br />

den sie umgebenden Räumen ihr Lebenselixier, ob<br />

es ein Wohnzimmer o<strong>der</strong> eine Straße im Ruhrgebiet<br />

ist. Eine Frau schaut seit 40 Jahren auf das Opelwerk<br />

Bochum, das dann verschwindet. Und <strong>der</strong> Baum vor<br />

dem Werk muss auch verschwinden. Die Frau verliert<br />

damit ihren angestammten Raum. Wir müssen alle<br />

Orte konkret aufsuchen, sie riechen!<br />

Beim Schauen eurer Filme rieche ich auch alles. Wie<br />

macht ihr das?<br />

ML Man muss wirklich alles wahrnehmen, einfangen<br />

und ernst nehmen, auch und gerade das scheinbar<br />

»Banale«.<br />

UF Das Entscheidende passiert im Schnei<strong>der</strong>aum, es<br />

geht um Komposition. Wie viel Wichtigkeit geben wir<br />

einem einzelnen Bild? In dem Film über die Schlagersängerin<br />

Renate Kern gibt es ein Foto, auf dem sie als<br />

Kind ganz verloren in einer Schneelandschaft steht.<br />

Wie lange das Bild exakt stehen bleibt, ist wichtig für<br />

den Gesamtzusammenhang, dadurch entsteht Nähe.<br />

Wie wir feststellen können, sehr viele!<br />

MS Ob ich eine Person aus dem Ruhrgebiet o<strong>der</strong> aus<br />

Kinshasa porträtiere – mich interessieren die Gesichter,<br />

dadurch entsteht etwas Verbindendes. Wenn auch<br />

die Hintergründe schwarz sind wie in 21, so gehen<br />

doch am Ende die Zuschauer:innen in einen speziellen<br />

Raum, um sich dort optimal auf die Porträtierten<br />

konzentrieren zu können. Deshalb liebe ich ja auch<br />

weiterhin die Theaterkunst. Man geht in einen realen<br />

Raum, das bedeutet etwas.<br />

Was sind für euch Held:innen? Wir sind ja 24 Stunden<br />

am Tag konfrontiert mit Heldentum. Im Netz, in Filmen,<br />

Serien, in <strong>der</strong> Werbung. Alles soll menschlich, nahbar<br />

und alltäglich anmuten – und wird doch stets ins Heroische<br />

gesteigert.<br />

MS Der Polizist in eurem Film Göttliche Lage!<br />

UF Die Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> er seinen Job<br />

ausführt, ihn liebt und uns ohne Wenn und Aber<br />

daran teilhaben lässt! Ein Kümmerer. Das wird aber<br />

nicht bewertet o<strong>der</strong> hochstilisiert, ist also womöglich<br />

nicht »heldenhaft«. Held:innen bekommen ja immer<br />

die Bestnote, sie werden ständig bewertet. Unsere<br />

Protagonist:innen sind alles an<strong>der</strong>e als ausgewogen<br />

o<strong>der</strong> perfekt.<br />

ML Es geht nicht um Heldentum, aber sehr wohl um<br />

starke Persönlichkeiten. Man nimmt den Menschen<br />

die Dinge ab, sie sind nicht künstlich.<br />

Barbara Frey<br />

139


Im Theater ist es umgekehrt: Tollen Schauspieler:innen<br />

nimmt man dann alles ab, wenn sie am künstlichsten sind.<br />

Das »Echte« ist ja gespielt. Ein Wesensmerkmal <strong>der</strong> Renaissance<br />

war die perfekte Mischung aus Sein und Spiel.<br />

UF Durch die Anwesenheit <strong>der</strong> Kamera ist bei uns im<br />

Grunde auch alles künstlich: Da stehen ja das Team,<br />

die Kamera, manchmal Licht. Es ist eine Art Verabredung.<br />

Es geht darum, vor Ort eine Intensität zu schaffen<br />

und zu erreichen, dass die Menschen trotzdem<br />

absolut bei sich sind.<br />

ML Es ist ja auch die Vorarbeit, das Kennenlernen davor.<br />

Aber man muss die Fragen, die man hat, auch über<br />

den Haufen werfen – und schon gar keine Antworten<br />

erwarten! Das ist <strong>der</strong> Unterschied zum Journalismus.<br />

MS Die Teilnehmenden müssen absolut bei sich bleiben<br />

können. Es geht um Schutz, damit sie sich öffnen<br />

können.<br />

Es geht um die Wahrnehmung des Gegenübers. Wahrnehmung<br />

schafft Augenhöhe und Empathie.<br />

ML Und wirkliches bei<strong>der</strong>seitiges Interesse!<br />

UF Die Geschichte des Cellisten Gregor Piatigorsky,<br />

<strong>der</strong> im Publikum den großen Pablo Casals erblickte:<br />

Der noch unbekannte Piatigorsky war entsetzlich aufgeregt<br />

und hatte am Ende das Gefühl, schlecht gespielt<br />

zu haben. Casals sagte aber nach dem Konzert<br />

zu ihm, er hätte sehr gut gespielt. Piatigorsky empfand<br />

das als falsches Lob und war gekränkt. Jahre später<br />

sprach er Casals darauf an. Der bekräftigte das Lob, da<br />

er ganz genau wahrgenommen hatte, wie an<strong>der</strong>s und<br />

beson<strong>der</strong>s die Fingersätze und <strong>der</strong> Bogenstrich von<br />

Piatigorsky an manchen Stellen gewesen waren. Man<br />

muss ja in jemand an<strong>der</strong>em etwas erkennen können!<br />

Umgekehrt hat je<strong>der</strong> Mensch die Sehnsucht danach,<br />

selbst erkannt zu werden.<br />

MS Es geht um die Zeit, die man sich gegenseitig<br />

widmet: Ich verbringe viel Zeit mit den Menschen. Die<br />

längste Zeit sind sie aber dann gar nicht mehr da, und<br />

ich befasse mich mit dem gesammelten Material.<br />

Diese Menschen bewohnen mich. Jetzt im März treffe<br />

ich hun<strong>der</strong>t Menschen zum zweiten Mal für Jetzt &<br />

Jetzt. Ich muss hun<strong>der</strong>t Zimmer in mir schaffen, wo<br />

sie temporär einziehen. Wenn Porträt und Schnitt<br />

fertig sind, können sie wie<strong>der</strong> ausziehen. Ich kann ja<br />

nicht immer mit ihnen leben!<br />

In euren Arbeiten ist alles »szenisch«, das ist die Nähe zum<br />

Theater, zum Drama. Wie entsteht die Dramaturgie beim<br />

Drehen selbst, also vor <strong>der</strong> Komposition im Schnei<strong>der</strong>aum?<br />

ML Wir lauern bei <strong>der</strong> Dreharbeit auf alles Situative.<br />

UF Interessant sind die Dinge, die nach den eigentlichen<br />

Gesprächen passieren, sozusagen beim Ausatmen:<br />

Da muss man dranbleiben, das ist wertvolles Material!<br />

MS Ich sage meinen Mitarbeitenden immer, sie dürfen<br />

auf keinen Fall die Stopptaste drücken, solange<br />

wir noch im Raum sind. Beim Aufbrechen sagen dann<br />

manche Teilnehmenden plötzlich noch die entscheidenden<br />

Sätze.<br />

Gibt es in eurer Kunst so etwas wie eine Ur-Szene, zu <strong>der</strong><br />

ihr immer wie<strong>der</strong> zurückkehrt?<br />

UF Man arbeitet sich im Grunde immer an einem<br />

Thema ab. Am Filminstitut in Köln, wo ich Studentin<br />

war, sah ich am ersten Tag an die Mauer gesprüht:<br />

JAMMERLAPPEN. Das fand ich grandios. Später wurde<br />

das übertüncht. In meinem ersten Film ging es<br />

dann um Erinnern und Verschwinden, und ich fragte<br />

die Leute, ob sie sich an diese Schrift erinnern könnten.<br />

Kaum jemand konnte es, und ich fühlte mich sehr<br />

einsam. Dann aber kam einer und sagte, er erinnere<br />

sich, da hätte gestanden: JAMA LA LAPP, aber er wisse<br />

nicht, was das bedeute. Als Michael und ich 25 Jahre<br />

später dann zusammen den Opel-Film gemacht haben,<br />

gab es diesen Moment, da nur noch die Schatten<br />

<strong>der</strong> Buchstaben OPEL am Gebäude zu sehen waren,<br />

da man die Schrift mit <strong>der</strong> Schließung des Werks abmontiert<br />

hatte.<br />

ML Im EL-DE-Haus in Köln (benannt nach seinem<br />

Erbauer Leopold Dahmen) war zwischen 1935 und<br />

1945 die Gestapo, im Keller waren die Zellen. Nach<br />

dem Krieg sagte man mit deutscher Gründlichkeit:<br />

Die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen da schön über malen,<br />

im Haus bringt man das Rentenamt unter, und im Keller<br />

kommen die Akten rein. Ich habe einen Film darüber<br />

gemacht, wie sich eine Bürgerinitiative bemüht hat, das<br />

Ganze zu einer Gedenkstätte zu machen. Dann kamen<br />

die Restauratoren, haben im Keller alles abgekratzt –<br />

und man konnte die Inschriften <strong>der</strong> Gefangenen wie<strong>der</strong><br />

lesen. Es geht in unserer Arbeit in vielfältiger Weise<br />

immer ums Verschwinden und Erinnern.<br />

MS Meine Ur-Szene hat mit meiner Großmutter zu tun.<br />

Am Ende ihres Lebens wie<strong>der</strong>holte sie ihre Erzählungen<br />

zunehmend. Aber es kam doch immer wie<strong>der</strong> ein<br />

Detail dazu. Ihr alter zittriger Zeigefinger fuhr in <strong>der</strong> Luft<br />

auf einer imaginären Landkarte um ganz Afrika herum,<br />

das beschrieb ihre Reise, damals in <strong>der</strong> Umrundung<br />

noch billiger als durch den Suez-Kanal, den sie mit<br />

einer schnellen Fingerbewegung markierte. In ihrem<br />

ganzen Körper, beson<strong>der</strong>s in diesem zittrigen Finger,<br />

steckte die gesamte Gegenwart <strong>der</strong> Vergangenheit.<br />

Ich fragte mich: Was ist dran an dieser Geschichte? Ich<br />

habe einen Umweg genommen. Es dauerte 20 Jahre,<br />

bis ich selbst die Reise dorthin unternahm, wo meine<br />

Großmutter gewesen war. Davor habe ich 300 Leute<br />

gefragt, was sie von ihren Großeltern wissen.<br />

Mir wurde dadurch klar, dass ein Porträt von einem<br />

selbst entsteht, wenn man von seinen Großeltern<br />

spricht. Die Frage, um die es letztlich geht, ist: Was ist<br />

eigentlich wichtig für unser Leben?<br />

Fotos: Luise Jakobi (Ulrike Franke und Michael Loeken; Barbara Frey) und Sabrina Weniger (Mats Staub)<br />

140


EINE REISE<br />

INS INNERE<br />

ANDRI HARDMEIER IM GESPRÄCH MIT DEM<br />

KOMPONISTEN GEORGES APERGHIS<br />

Georges Aperghis<br />

DIE ERDFABRIK<br />

Musiktheater<br />

ab 11. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />

141


Andri Hardmeier Neben <strong>der</strong> Steinkohle wurde im<br />

Ruhrgebiet auch Eisenerz abgebaut und ab Mitte des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit Koks aus <strong>der</strong> Ruhrkohle verhüttet.<br />

Ihr Musiktheater Die Erdfabrik wird in <strong>der</strong> Gebläsehalle<br />

des Landschaftsparks Duisburg-Nord uraufgeführt. Hier<br />

wurde noch bis 1985 Roheisen für die Stahlindustrie produziert.<br />

Wie kam es dazu, für diesen Ort ein neues Musiktheater<br />

zu schaffen?<br />

Georges Aperghis Als man mir vorschlug, ein neues<br />

Musiktheater für die <strong>Ruhrtriennale</strong> zu schreiben,<br />

dachte ich neben <strong>der</strong> geografischen Lage sofort an<br />

die Minen und die Kohle. Als ich ein Kind war, haben<br />

wir noch mit Koks geheizt. Ich habe angefangen, über<br />

das Thema zu recherchieren, viel über die Minen zu<br />

lesen, Fotos von Bergleuten anzuschauen. Und dann<br />

hat mir Jean-Christophe Bailly ein Gedicht von Annette<br />

von Droste-Hülshoff mitgebracht und wir fingen<br />

an, uns darüber zu unterhalten. Jean-Christophe<br />

war in verschiedenen Minen in Frankreich, im Ruhrgebiet<br />

und vor allem auch in Wales. Er hat mir Bil<strong>der</strong><br />

gezeigt, und dann begann ich zu realisieren, worum<br />

es mir geht, worüber ich sprechen möchte: über diese<br />

Arbeit unter sehr speziellen, schwierigen Bedingungen,<br />

die Dunkelheit und die verschiedenen Perspektiven<br />

darauf. Was ist das Dunkel? Wie kommt es zu<br />

den Räumen, die man kaum sieht o<strong>der</strong> die man nur<br />

sieht, weil es einen Schimmer gibt, ein kleines Licht?<br />

Das Gedicht Die Erzstufe von Annette von Droste-Hülshoff<br />

aus dem Jahr 1844 ist ein zentraler Bestandteil des<br />

von Jean-Christophe Bailly zusammengestellten und<br />

größtenteils selbst geschriebenen Texts, welcher <strong>der</strong><br />

Komposition zugrunde liegt. Darin heißt es: »Die Winde<br />

keucht, es rollt <strong>der</strong> Hund. / Hörst du des Schwadens<br />

Sausen nicht?« Annette von Droste-Hülshoff spielt mit<br />

dem Klang einzelner Wörter o<strong>der</strong> Silben. Man hört hier<br />

schon richtiggehend die Musik daraus. Sie zerlegen<br />

Worte in Silben und Phoneme, arbeiten mit Textfragmenten,<br />

mit Wie<strong>der</strong>holungen einzelner Klangzellen, die<br />

wie Baukästen angeordnet zu sein scheinen. Würden Sie<br />

das Spiel generell als zentralen Bestandteil Ihres kompositorischen<br />

Schaffens bezeichnen?<br />

Auf jeden Fall. Mir ist es wichtig, mit <strong>der</strong> Erinnerung<br />

des Publikums zu spielen, dem Wie<strong>der</strong>erkennen von<br />

Dingen, die in einem an<strong>der</strong>en Kontext erscheinen.<br />

Ich mag es, wenn das Publikum aktiv ist, und spiele<br />

mit den Vorgängen, den Erwartungen, wie es in <strong>der</strong><br />

klassischen Musik ja stets <strong>der</strong> Fall ist. Man hört ein<br />

Motiv, eine Variation, man folgt einer Linie, und das<br />

ist wun<strong>der</strong>bar. Es ist ein Spiel, ein kleines Labyrinth.<br />

Mit Silben zu arbeiten ist für mich, wie mit Noten, mit<br />

Klängen zu arbeiten. Es sind auch Klänge, aber man<br />

kann keine Harmonien daraus machen. Sie sollen nur<br />

gesprochen werden, aber es soll eine Musik aus dem<br />

Gesprochenen entstehen, aus <strong>der</strong> Nebeneinan<strong>der</strong>stellung<br />

einzelner Silben.<br />

Jean-Christophe erzählte mir auch von einem Karneval<br />

in Bolivien, wo es eine riesige Mine gibt. Als Gegenleistung<br />

für ihre tägliche Arbeit feierten die Leute ein<br />

ausgelassenes Fest mit Masken, eine Mischung aus<br />

zur Mine gehörenden Gottheiten und christlichen<br />

Heiligenfiguren. All dies brachte mich auf die Idee,<br />

dass die Steine und Höhlenwände zu grinsenden, beinahe<br />

dämonischen Figuren werden, wie ein verrücktes<br />

Fest in <strong>der</strong> Nacht.<br />

Die Erdfabrik ist eine Art Reise in die Vergangenheit<br />

unserer Erde, in Zeitalter, die viele Millionen Jahre zurückliegen.<br />

Jean-Christophe Bailly nennt die Kohle das<br />

»Kind des Lichts«, denn sie ist <strong>der</strong> uralte Speicher von<br />

Sonnenenergie früherer Epochen. Wie zeigt sich dieses<br />

Abtragen von tief unter <strong>der</strong> Erde liegenden Schichten in<br />

Ihrer Komposition?<br />

Das Abtragen von Schichten ist genau, was mich interessiert.<br />

Das steckt für mich auch im Titel Die Erdfabrik.<br />

Der Mensch glaubt, die Erde in seinem Sinne<br />

erschaffen zu können. Er kann Dinge finden und abbauen,<br />

er kann Stollen bauen und Tunnel. Er hat die<br />

Möglichkeit, die Erde so zu gestalten, wie er sie letztendlich<br />

haben will. Und dabei geht es nicht um Schönheit,<br />

son<strong>der</strong>n in erster Linie um Profit. Und während<br />

man in die Tiefe geht, durchgräbt man verschiedene<br />

Schichten, Sedimente aus Zeiten lange bevor die<br />

Menschheit diesen Planeten zu bewohnen begonnen<br />

hat. Ich habe versucht, unterschiedliche musikalische<br />

Materialien zu finden, so wie man im Erdinnern auf verschiedene<br />

Materialien stößt.<br />

Die Art und Weise, wie Sie sich mit dem Phänomen Bergbau<br />

beschäftigen, ist aber sehr assoziativ. Es handelt sich<br />

um eine Art Gedicht über Dunkelheit, Nacht, über Stille.<br />

Genau das ist es: eine kleine gedankliche Reise. Es<br />

gibt eigentlich gar nicht viel zu sehen, kleine Dinge,<br />

die die Sängerin macht, einen Fokus auf die fallenden<br />

Tropfen zum Beispiel, mit denen sie spielt, mit denen<br />

sie spricht. Die Spieler:innen, vier Musiker:innen und<br />

eine Sängerin, stellen keine Bergleute dar, sie manipulieren<br />

Zeichen und Töne, um eine Illusion zu erzeugen.<br />

Das Publikum glaubt zu sehen, sieht aber nicht wirklich,<br />

es stellt sich vielmehr Dinge vor, füllt Lücken.<br />

WAS MAN IN DER TIEFE<br />

DER ERDE FINDET,<br />

IST LETZTENDLICH DER<br />

HIMMEL.<br />

Man hat fast den Eindruck, dass Sie die Dinge mit<br />

Kin<strong>der</strong> augen sehen.<br />

Ja, das ist meine Sicht. Ursprünglich gab es sogar<br />

eine Sequenz, in <strong>der</strong> ein Kind durch den Raum ging,<br />

ins Schwarze, einfach so. Und dann habe ich sie<br />

weggelassen, weil es mir zu konkret erschien. Aber<br />

diese Bil<strong>der</strong> sprechen mich sehr an. Die Angst des<br />

Kindes im Dunkeln, die Spiele <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Dämmerung. Das Spiel, das man Blinde Kuh nennt.<br />

Genau das interessiert mich!<br />

142


Auch Ihr Instrumentarium zeugt von diesem Spielerischen:<br />

Das reiche Schlagwerk ist bestückt mit Melodica,<br />

Kin<strong>der</strong>flöten, Lockvögeln, singenden Sägen, Hämmern,<br />

Sirenen, Glasflaschen, um nur einige wenige zu nennen.<br />

Ich arbeite viel mit Geräuschen, aber hier sind es vor<br />

allem zwei Dinge, die ich zu finden versucht habe:<br />

Zum einen, wie ich mir das Geräusch fallen<strong>der</strong> Tropfen<br />

vorstelle. Zum an<strong>der</strong>n, wie und was man im Dunkeln<br />

hört. Das sind zwei Dinge, die am Ursprung meiner<br />

kompositorischen Arbeit lagen, die ich dann natürlich<br />

bearbeitet und verstärkt habe. Und ich habe Klänge<br />

aus Materialien gesucht, die den Werkzeugen <strong>der</strong><br />

Bergleute ähnlich sind. So gibt es Hämmer o<strong>der</strong> eben<br />

Alarmsirenen. Und ich habe versucht, den Instrumenten<br />

– Schlagzeug, Kontrabass und Trompete – Klänge<br />

zu entlocken, welche die Arbeitsgeräusche in <strong>der</strong><br />

Mine musikalisch umsetzen.<br />

In einem Gedicht von Jean-Christophe Bailly heißt es:<br />

»Das Dunkel <strong>der</strong> Nacht mit dem Glanz <strong>der</strong> Sterne ist wie<br />

das Abbild des Dunkels <strong>der</strong> Erde, wo viele unsichtbare<br />

kleine Glanzpunkte darauf warten, von uns gesehen zu<br />

werden.« Was bedeutet Ihnen dieser Bezug <strong>der</strong> Tiefe, <strong>der</strong><br />

Dunkelheit unter <strong>der</strong> Erde zum uns umgebenden All?<br />

Dieses Bild gefällt mir sehr. Was man in <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong><br />

Erde findet, ist letztendlich <strong>der</strong> Himmel, denn je tiefer<br />

man geht, desto reiner wird es. Es geht in Die Erdfabrik<br />

auch immer um Gegensätze, um das Verbinden extremer<br />

Pole: Licht und Dunkelheit, das Gewichtige und<br />

das Leichte, das Kleine und das Große, das Ernste und<br />

das Spiel. Denn wenn man wirklich in die Tiefe geht,<br />

ins Dunkle, und es immer hoffnungsloser zu werden<br />

scheint, gibt es immer noch das Kind in uns, das zurückkommt<br />

und sagt: Gut, lass uns wie<strong>der</strong> aufwachen,<br />

lass uns aufstehen und weiterspielen. Auch dies ist<br />

eine Art zu sagen – wie Jean-Christophe es ausdrückt –,<br />

dass, je tiefer man in die Erde geht, desto näher man<br />

dem Himmel kommt. Je tiefer man in die Traurigkeit<br />

sinkt, desto mehr Humor kann man haben, den man<br />

braucht, um zu überleben. Und so nähert man sich<br />

dem Himmel, indem man <strong>der</strong> Erde auf den Grund geht.<br />

Und da sind wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Kohle als dem »Kind<br />

des Lichts«, <strong>der</strong> Einsicht, dass die Kohle nichts an<strong>der</strong>es<br />

ist als die Vegetation längst vergangener Epochen,<br />

dass sie aus den Pflanzen jener entlegenen Zeit besteht,<br />

die von <strong>der</strong> Sonne genährt worden sind.<br />

Auch die Schlaflosigkeit, das Eintauchen in die Stille,<br />

das Unheimliche <strong>der</strong> uns umgebenden Dunkelheit spielt<br />

in Die Erdfabrik eine wichtige Rolle.<br />

Im Prinzip könnte man das ganze Stück eine Schlaflosigkeit<br />

nennen. Es geht um die Dinge, die einem<br />

durch den Kopf gehen, wenn man nicht schläft o<strong>der</strong><br />

vor sich hindöst. Es gibt dabei Momente, die angenehm<br />

sind, und dann gibt es Momente, in denen es<br />

ziemlich beängstigend werden kann. Man realisiert,<br />

dass im Dunkeln alles ganz an<strong>der</strong>s wird. Auch in <strong>der</strong><br />

Stille, in <strong>der</strong> wir nicht über die gleiche Wahrnehmung<br />

verfügen. Wir hören an<strong>der</strong>e Dinge in <strong>der</strong> Stille. Und das<br />

Erstaunliche ist, dass mir Jean-Christophe genau von<br />

diesem Erlebnis erzählt hat, das er hatte, als er in eine<br />

Mine hinabgestiegen war. Von dieser absoluten Stille,<br />

die dennoch nicht wie Stille ist, und von <strong>der</strong> Dunkelheit.<br />

Und so habe ich versucht, mir dies vorzustellen.<br />

Denn wir sind an eine Dunkelheit gewöhnt, die kein<br />

Schwarz ist, in <strong>der</strong> es immer irgendwo etwas gibt, das<br />

leuchtet. Das absolute Schwarz ist kaum zu finden,<br />

ebenso wenig wie die absolute Stille. Das letzte Mal,<br />

als ich diese erlebt habe, war im IRCAM (Institut de<br />

recherche et coordination acoustique/musique in Paris),<br />

wo es einen Raum gibt, in dem einfach nichts ist.<br />

Und da fängt man an, sich selbst zu hören, zu hören,<br />

wie <strong>der</strong> eigene Körper funktioniert. Es ist für mich eine<br />

Art Maschinenmusik mit Maschinen, die organisch<br />

sind. Das ist, woran ich arbeiten wollte.<br />

ES IST DAS PUBLIKUM,<br />

DAS ZUR ERZÄHLUNG<br />

WIRD, DENN ES MACHT<br />

GESCHICHTEN.<br />

Seit <strong>der</strong> Gründung Ihrer Theatergruppe Atelier Théâtre<br />

et Musique (ATEM) in den 1970er-Jahren im Pariser Vorort<br />

Bagnolet wurden Sie zur prägenden Figur im Bereich<br />

<strong>der</strong> Entwicklung des zeitgenössischen Musiktheaters.<br />

Das »théâtre musical« kann dabei als Gegenentwurf<br />

zur Oper gesehen werden. Ein poetisches, experimentelles<br />

musikalisches Theater, in welchem Musiker:innen,<br />

Sänger:innen, Schauspieler:innen und bildende Künstler:innen<br />

zusammenkommen, zum Zweck <strong>der</strong> kollaborativen<br />

Kreation neuer Musiktheaterformen.<br />

Ja, es handelt sich um ein abstraktes, poetisches<br />

Musiktheater, das verschiedene Akteure zusammenbringt.<br />

Es geht mir dabei weniger darum, ein Gegenstück<br />

zur Oper zu finden, parallel habe ich auch<br />

Opern komponiert. Meine Herangehensweise ist vielmehr,<br />

jede Komponente des Musiktheaters zu isolieren.<br />

Zum Beispiel den Text zu isolieren, das Licht,<br />

die Bil<strong>der</strong>, die Klänge, die alle nicht das Gleiche erzählen.<br />

Das bedeutet, dass sie frei sind. Was mich<br />

dazu bringt, Musik zu schreiben, sind die vielen Möglichkeiten,<br />

diese Fragmente zusammenzubringen,<br />

übereinan<strong>der</strong>zulegen o<strong>der</strong> nebeneinan<strong>der</strong>zustellen.<br />

Fragmente, die zunächst nichts miteinan<strong>der</strong> zu tun<br />

haben. Meine Arbeit besteht darin, Verbindungen zu<br />

schaffen, aber keine Übergänge! Es sind vielmehr<br />

Brüche o<strong>der</strong> Konflikte o<strong>der</strong> ein Spiel zwischen den<br />

Dingen, ein Hin und Her, um zu einer Konstruktion<br />

zu kommen, die ich nicht kenne, die ich nie erwartet<br />

hätte und die ich hören möchte. Und so kann eine Art<br />

Polyphonie verschiedener Texte, verschiedener Musik<br />

etc. entstehen. In <strong>der</strong> Oper gibt es einen Text, eine<br />

Theater situation, es gibt Figuren und eine Geschichte,<br />

die erzählt werden will. Und wenn die Oper fertig<br />

komponiert ist, kommt <strong>der</strong> Regisseur o<strong>der</strong> die Regisseurin<br />

hinzu, um diese Geschichte auf die Bühne zu<br />

bringen. Im »théâtre musical« hingegen gibt es ein<br />

143


Thema, das ich von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten,<br />

über das ich verschiedene Geschichten zu<br />

erzählen versuche. Hier ist es die Mine, davor hatte<br />

ich etwas über Roboter gemacht, o<strong>der</strong> einen Abend<br />

über Überwachung und Kontrolle. Das sind alles Themen,<br />

um die ich mich dann drehe. Doch alles, was<br />

Musik, Klang o<strong>der</strong> Video betrifft, ist am Anfang unabhängig.<br />

Jedes Ding hat sein eigenes Leben. Daraus<br />

versuche ich, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Es ist<br />

also etwas völlig an<strong>der</strong>es, als eine lineare Geschichte<br />

zu erzählen. Und letztlich ist es das Publikum, das<br />

zur Erzählung wird, denn es macht die Geschichten.<br />

Ich gebe nur die Elemente vor. Oft erzählen mir<br />

Leute nach einer Vorstellung, dass sie an demselben<br />

Abend ganz unterschiedliche Dinge erlebt haben.<br />

Das macht mich sehr glücklich.<br />

Sie selber haben Ihr Schaffen einmal als »faire musique<br />

de tout« (Musik aus allem machen) bezeichnet. Was verstehen<br />

Sie darunter?<br />

Das ist keine Erfindung von mir. Es ist die Idee, dass<br />

Musik auch eine visuelle Komponente hat. Das heißt,<br />

dass Gesten – wenn sie in einer musikalischen Zeit<br />

stehen – selber zu Musik werden, und dass schließlich<br />

alles, was sich innerhalb dieser Zeit befindet,<br />

zu Musik werden kann. Das ist wie im Theater, wenn<br />

man eine theatrale Zeit einrichtet. Und für mich steht<br />

das Theater immer auch in einer musikalischen Zeit,<br />

einer Zeit, in die man Ereignisse eintragen kann. Musiker:innen<br />

o<strong>der</strong> Sänger:innen o<strong>der</strong> Schauspieler:innen<br />

können für eine kurze Zeit zu einer Figur werden,<br />

auch nur für ein paar Sekunden. Und dann machen<br />

sie etwas an<strong>der</strong>es, weil die Musik ihnen das vorgibt.<br />

Es geht nicht nur darum, das Instrument zu spielen,<br />

es ist <strong>der</strong> ganze Körper, <strong>der</strong> involviert ist, die Verhaltensweisen.<br />

Sprache und Körper, Kommunikation<br />

und Interaktion bilden den Fokus. Man könnte sagen,<br />

dass es wie ein Puzzle ist, dass man unterschiedliche<br />

Momente wahrnimmt, dass zum Beispiel <strong>der</strong> Trompeter<br />

schließlich auf eine etwas verschwommene Art<br />

und Weise doch zu einer Figur geworden ist, ohne<br />

dass man genau wüsste, zu welcher. Man hat eine<br />

Idee, konkreter als gedacht, aber man kann es nicht<br />

definieren. Es ist nicht nur <strong>der</strong> schöne Klang, <strong>der</strong> die<br />

Musik ausmacht.<br />

Mit <strong>der</strong> Gleichstellung von Musik, Sprache, Gestik und<br />

Mimik öffnet sich Ihnen ein ganzes Forschungsfeld. Ihre<br />

Stücke integrieren vokale, instrumentale, narrative und<br />

szenische Elemente in einen einzigen Ausdrucksrahmen.<br />

Das Musizieren selber wird zur szenischen Aktion. Wie<br />

entwickeln Sie eine solche Produktion? Ist auch dies ein<br />

kollektiver Prozess?<br />

Meistens fange ich alleine an, um zu sehen, wohin die<br />

Reise geht. Dann habe ich gesehen, dass die Zeichnungen,<br />

die Jeanne Apergis anfertigt, sehr gut mit<br />

<strong>der</strong> Welt funktionieren könnten, die ich mir vorstellte,<br />

und eine Distanz zu einem konkreteren Theaterspiel<br />

schaffen. Ich habe ihr also davon erzählt und sie<br />

hat ein paar Versuche gemacht. Das läuft dann alles<br />

parallel. Ich habe angefangen zu schreiben und gleichzeitig<br />

mit Daniel Lévy über die Beleuchtung gesprochen<br />

und mit Nina Bonardi über die Bühne. Und so<br />

kommt alles zusammen, man trifft sich bei mir zu<br />

Hause und arbeitet gemeinsam weiter. Jérôme Truncer<br />

ist für das Video dazugekommen. Und natürlich war<br />

Jean-Christophe Bailly von Anfang an dabei. Nach und<br />

nach fügen sich dann all diese Aspekte zusammen,<br />

während ich die Musik schreibe.<br />

Mit dem WEGE-Projekt lässt sich im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

die Vielfalt des Ruhrgebiets erwan<strong>der</strong>n und erfahren.<br />

An <strong>der</strong> letztjährigen <strong>Ruhrtriennale</strong> hat <strong>der</strong> südamerikanische<br />

Künstler Lisandro Rodriguez den Weg<br />

zum Landschaftspark mit Fragen bepflastert über das<br />

Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />

Macht und Natur. In seinem Projekt El Extranjero sah er<br />

sich als einen Fremden, <strong>der</strong> Fragen stellt, um zu verstehen.<br />

Eine dieser Fragen lautete: »Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?«<br />

Oft denke ich, dass die tägliche Arbeit des Künstlers<br />

darin besteht, jeden Morgen in die Mine hinabzusteigen,<br />

um Material nach oben zu schaffen. Jeden<br />

Morgen nimmt man die Arbeit erneut auf, fragt sich,<br />

was passieren, was dabei herauskommen wird. Es ist<br />

natürlich nicht so hart und gefährlich wie in <strong>der</strong> Mine,<br />

sozial gesehen hat es nichts damit zu tun. Aber es ist<br />

<strong>der</strong> Grund des Schachtes, in den man hinabsteigen<br />

muss. Es ist auf jeden Fall eine Metapher für Konzentration,<br />

für den Versuch, in sich zu gehen, um Dinge zu<br />

hören. Ohne sich zu betrügen, ohne zu lügen.<br />

Der griechisch-französische Komponist GEORGES APERGHIS ist eine <strong>der</strong> prägendsten Figuren<br />

im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters. In den 1970er-Jahren gründete<br />

er in <strong>der</strong> Pariser Banlieue Bagnolet die Theatergruppe »Atelier Théâtre et Musique«<br />

(ATEM), in <strong>der</strong> sich Musiker:innen, Schauspieler:innen und Anwohner:innen gemeinsam<br />

<strong>der</strong> Entwicklung neuer musiktheatralischer Formen widmeten. Für sein umfassendes<br />

Lebenswerk wurde Georges Aperghis 2021 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis<br />

geehrt. Das Gespräch führte <strong>der</strong> Dramaturg ANDRI HARDMEIER im Rahmen <strong>der</strong> musikalischen<br />

Vorproben im Februar <strong>2023</strong> in München.<br />

Aus dem Französischen von Andri Hardmeier.<br />

Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert<br />

144


ALLE SOLLTEN ZU ZEHN<br />

STUNDEN HANDARBEIT<br />

PRO WOCHE VERPFLICHTET<br />

SEIN. ALLE!<br />

LUKAS BÄRFUSS IM GESPRÄCH MIT DEM<br />

LIBRETTISTEN VON DIE ERDFABRIK<br />

JEAN-CHRISTOPHE BAILLY ÜBER UNSER<br />

VERHÄLTNIS ZUR NATUR, GEBIETE<br />

DES VERGESSENEN UND VERLORENE ARCHIVE<br />

DIE NATUR DES MENSCHEN<br />

Literatur / Dialog<br />

ab 27. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/natur<br />

DIE ERDFABRIK<br />

Musiktheater<br />

ab 11. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />

145


Jean-Christophe Bailly<br />

Paris, 17. Februar <strong>2023</strong><br />

Lukas Bärfuss Jean-Christophe Bailly, erlauben Sie mir<br />

zu Beginn eine persönliche Frage. Sie wurden kurz nach<br />

dem Krieg, 1949, geboren. In ihrer Lebenszeit haben Sie<br />

zwei parallele und wi<strong>der</strong>sprüchliche Entwicklungen erlebt.<br />

Auf <strong>der</strong> einen Seite eine Verbesserung <strong>der</strong> Lebensbedingungen,<br />

wie sie keine Generation zuvor erlebt hat.<br />

Und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite eine ebenso beispiellose<br />

Zerstörung <strong>der</strong> Natur. Wie haben Sie diesen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

in Ihr Denken integriert?<br />

Jean-Christophe Bailly Das ist schwer zu beantworten,<br />

da man als Kind unterschiedliche Dinge erlebt.<br />

Ich war begeistert von <strong>der</strong> sogenannten Natur, den<br />

Tieren, den Wäl<strong>der</strong>n, allem, was ich davon sehen<br />

und verstehen konnte, <strong>der</strong> sternenklaren Nacht, all<br />

das hat mich in Staunen versetzt. Erst spät wurde<br />

uns bewusst, dass wir mit <strong>der</strong> Industrie und <strong>der</strong><br />

postindustriellen Welt alles, aber auch wirklich alles,<br />

zerstören. Und es waren vor allem die Tiere, durch<br />

die mir die Zerstörung bewusst wurde. Das hat mich<br />

immer erschreckt: die Zahl <strong>der</strong> Menschen. Als ich<br />

geboren wurde, waren wir etwa dreieinhalb Milliarden<br />

Menschen. Jetzt sind wir acht Milliarden. Und<br />

wenn wir umgekehrt die Tigerpopulation betrachten,<br />

dann gab es damals Zehntausende. Jetzt zählen wir<br />

sie in Hun<strong>der</strong>ten, manchmal in einzelnen Tieren.<br />

Und wenn man diese beiden Linien sieht, die ständig<br />

ansteigende Linie <strong>der</strong> menschlichen Bevölkerung<br />

und die ständig abnehmende Linie des tierischen<br />

Lebens, dann ist das schrecklich.<br />

In Ihrem Essay La forme animal 1 verwenden Sie ein Zitat<br />

von Georges Canguilhem: »Zwischen dem Lebendigen<br />

und seinem Milieu entwickelt sich das Verhältnis als<br />

Debatte.« 2 Sind wir Menschen hier mitgemeint? Was<br />

wäre dann unser Milieu? Wir wurden doch aus dem<br />

Paradies, dem »umhegten Park, in dem wilde Tiere<br />

leben«, ausgeschlossen. Und können wir noch von einer<br />

Debatte sprechen? Eine Debatte erfor<strong>der</strong>t Subjekte,<br />

die sich auf gleicher Ebene begegnen – ist aus diesem<br />

Verhältnis nicht mittlerweile ein Krieg geworden? Wo<br />

stehen wir in dieser Debatte?<br />

Canguilhem bezieht sich eher auf die Beziehung <strong>der</strong><br />

Lebewesen im Allgemeinen. Ein bestimmtes Tier, eine<br />

bestimmte Pflanze, die Pflanze kann nicht leben, ohne<br />

in irgendeiner Weise mit <strong>der</strong> Umgebung zu diskutieren,<br />

das Leben hängt davon ab. Jedes Lebewesen bewertet<br />

die Welt auf diese Weise, berechnet seine Möglichkeiten.<br />

Es ist gezwungen, das zu berücksichtigen, was<br />

vor ihm, unter ihm, neben ihm, hinter ihm, über ihm<br />

ist. Auch die Menschen mussten so funktionieren, die<br />

Jäger und Sammlergemeinschaften existierten auf diese<br />

Weise, ihr Leben hing davon ab. Vom Moment an,<br />

als die Menschen eine Reihe von Dingen wie Privateigentum,<br />

Lagerung von Gütern und Waren erfanden,<br />

und mit <strong>der</strong> Entwicklung dessen, was die Geschichte,<br />

die Kriege, die Machtformen und so weiter hervorbrachten,<br />

entfernten sie sich immer mehr von dieser<br />

kontinuierlichen Beziehung, dem direkten Kontakt mit<br />

<strong>der</strong> Welt um sie herum.<br />

146


Als Kind habe ich im Urlaub die Milch auf dem Bauernhof<br />

geholt. Heute ist das praktisch verschwunden.<br />

Die Umgebung, in die ein Kind heute geboren wird, ist<br />

auch nicht mehr die Stadt, wie sie zur Zeit <strong>der</strong> aufstrebenden<br />

Bourgeoisie o<strong>der</strong> danach in <strong>der</strong> Industriegesellschaft<br />

entstand. Es ist eine Art Nicht-Stadt, eine<br />

relativ formlose Metropole mit einer Universalität <strong>der</strong><br />

Medien, <strong>der</strong> Mediatisierung von Waren und so weiter.<br />

Es ist etwas Erschreckendes, wo man letztendlich<br />

feststellen muss, dass die Debatte mit <strong>der</strong> Umwelt<br />

schwach ist.<br />

Sie haben lange an <strong>der</strong> École nationale supérieure de la<br />

nature et du paysage (Nationale Hochschule für Natur und<br />

Landschaft) in Blois unterrichtet.<br />

Ich habe dort sehr gerne gearbeitet. Noch dazu als<br />

Schriftsteller. Literatur könnte ich nicht unterrichten,<br />

sie ist mir zu nah. Ich würde mich ständig aufregen.<br />

Wenn ein Student mir sagt, dass er Gérard de Nerval<br />

nicht mag, werde ich verrückt. Während es dort einen<br />

Hintergrund von objektivem Wissen gab. Was macht<br />

man mit einer Industriebrache? Wie kann man verhin<strong>der</strong>n,<br />

dass <strong>der</strong> Fluss über die Ufer tritt? Und so begleiteten<br />

wir die Studierenden, selbst ich, <strong>der</strong> ich offensichtlich<br />

einen eher theoretischen Unterricht gab.<br />

Heute sehen wir, dass die Jugend wütend und verzweifelt<br />

ist. Das Gefühl <strong>der</strong> bevorstehenden Apokalypse ist<br />

verbreitet.<br />

Ich selbst bin nicht völlig verzweifelt, aber ich frage<br />

mich oft, warum.<br />

Was gibt Ihnen noch Hoffnung?<br />

Was mir Hoffnung gibt, sind die Gebiete, die Klammern<br />

des Vergessenen. Wenn ich auf dem Land spazieren<br />

gehe und einen Esel sehe. Er kommt zu mir und<br />

ich berühre seine Ohren. Es macht mich zufrieden.<br />

Ebenfalls die Nacht. Und manchmal die Menschen.<br />

Es gibt einige interessante Dinge, die man mit ihnen<br />

unternehmen kann. Ich war gerade in München zu<br />

den Proben von Georges Aperghis’ Komposition und<br />

verfolgte die Arbeit <strong>der</strong> Musiker:innen. Es ist reine Leidenschaft,<br />

Stunden um Stunden, um winzige Klänge<br />

zu perfektionieren. Alles, was eine Form von Aufmerksamkeit<br />

erfor<strong>der</strong>t, mit den Ohren, mit den Händen,<br />

mit dem Tastsinn, das macht mir Freude. Sogar ein<br />

Metzger, <strong>der</strong> Fleisch schneidet! Ich bin in dieser Hinsicht<br />

ein absoluter Rousseauist. Alle sollten zu zehn<br />

Stunden Handarbeit pro Woche verpflichtet sein. Alle!<br />

Erstaunlich, das von einem Intellektuellen zu hören.<br />

Aber ja, aber nein. Wenn ich jemanden wie Macron<br />

sehe, den französischen Präsidenten, dann ist er für<br />

mich eine Karikatur dessen, was ein Mensch sein sollte.<br />

Ich möchte ihm einen Schraubenzieher in die Hand<br />

drücken, und ich bin mir sicher, dass er kaum weiß, wie<br />

man damit umgeht. Das sind die Leute, die die Welt<br />

regieren. Sie sind erschreckend, eine Inkompetenz und<br />

Arroganz, die fast unbegreiflich ist.<br />

Als Jugendlicher arbeitete ich bei einem Tabakpflanzer.<br />

Er besaß auch Vieh. Es war ein grausames Leben. Einmal<br />

mussten wir ein Kalb zersägen, weil es im Geburtskanal stecken<br />

geblieben war. Es gab einen Nachbarn, <strong>der</strong> jede fremde<br />

Katze tötete, die sich auf seinen Hof gewagt hatte. Ich<br />

fand sie jeweils auf dem Misthaufen. Es war blutig, es gab<br />

einen gewissen Wahrheitsgehalt, aber es war nie idyllisch.<br />

Ich bin nicht sicher, ob ich über den Verlust dieser Welt<br />

traurig wäre. Sie haben ein Libretto über eine an<strong>der</strong>e untergegangene<br />

Welt geschrieben, die Welt <strong>der</strong> Kohlebergwerke.<br />

Wer in Essen, im Ruhrgebiet, eine Zeche besucht, wo<br />

die größten Maschinen standen, findet dort jetzt ein<br />

Vier-Sterne-Restaurant. Welches Recht haben wir,<br />

das zu tun? Das bedeutet nicht, dass man das Restaurant<br />

schließen und die Zeche wie<strong>der</strong> öffnen sollte.<br />

Aber die Geschwindigkeit, mit <strong>der</strong> die Menschen ihre<br />

Vergangenheit auslöschen, gefällt mir nicht.<br />

DIE GESCHWINDIGKEIT,<br />

MIT DER DIE<br />

MENSCHEN IHRE<br />

VERGANGENHEIT<br />

AUSLÖSCHEN, GEFÄLLT<br />

MIR NICHT.<br />

Sie sprechen oft von diesen verlorenen Archiven, von<br />

den ausgelöschten Erinnerungen. Warum sollten wir sie<br />

bewahren?<br />

Weil sie unsere Gesellschaft geformt haben, und darüber<br />

hinaus ist es klar, dass wir Menschen unsere<br />

Rohstoffe lokal produzieren sollten.<br />

Wir hören diese For<strong>der</strong>ungen zurzeit in vielen Debatten.<br />

Gerade in Bezug auf Russland o<strong>der</strong> China. Vielleicht ist<br />

die Globalisierung an ein Ende gekommen und die Re-<br />

Lokalisierung <strong>der</strong> Produktion eine Notwendigkeit.<br />

Davon bin ich fest überzeugt. Ein ehemaliger Student,<br />

den ich gerne besuche, ist Viehzüchter, und er tut dies<br />

unter mo<strong>der</strong>nen Bedingungen. Keine Chemie. Die Wiesen<br />

werden durch Kulturen o<strong>der</strong> Baumstreifen voneinan<strong>der</strong><br />

getrennt, die sich <strong>der</strong> Form des Geländes anpassen,<br />

um Abflüsse und Erosion zu vermeiden. Die<br />

Menge <strong>der</strong> Dinge, die transportiert werden müssen,<br />

wird begrenzt, die Ställe abgeschafft. Die Kühe schlafen<br />

im Winter im Wald und es geht ihnen gut.<br />

1 In: Le parti pris des animaux, Jean-Christophe Bailly, 2013<br />

2 »Entre le vivant et le milieu, le rapport s’établit comme un débat«, Georges Canguilhem, La Connaissance de la vie, 1965<br />

147


Aber dieser Landwirt produziert zu hohen Preisen für<br />

Menschen, die es sich leisten können. Das Wachstum<br />

und <strong>der</strong> wirtschaftliche Erfolg unserer Landwirtschaft<br />

verdankt sich dem intensiven Anbau und vor allem dem<br />

Einsatz von Kunstdünger. Ihm verdanken wir den Anstieg<br />

<strong>der</strong> Geburtenrate und <strong>der</strong> Lebenserwartung. Und<br />

gleichzeitig ist dieser Kunstdünger ein petrochemisches<br />

Produkt und ein wesentlicher Motor des Klimawandels.<br />

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?<br />

Ich weiß es nicht. Aber es ist interessant zu sehen,<br />

dass es jetzt viele junge Leute in Frankreich und<br />

Europa gibt, die von <strong>der</strong> üblichen Spur abweichen<br />

und etwas an<strong>der</strong>es versuchen. Es ist nicht die<br />

Masse und sie sind weit von den Entscheidungs- und<br />

Machtbereichen entfernt, aber sie beginnen, kleine<br />

Inseln einer an<strong>der</strong>en Art des Handelns zu schaffen.<br />

DIE WELT UM UNS<br />

HERUM IST DIE<br />

VERFLECHTUNG<br />

VIELER UMWELTEN.<br />

Sie beziehen sich in Ihrer Arbeit oft auf den Biologen Jakob<br />

Johann von Uexkuell und sein Konzept <strong>der</strong> »Umwelt«.<br />

Und ich war erstaunt zu sehen, dass Sie den Begriff<br />

korrekt und ganz im Sinne Uexkuells im Plural verwenden.<br />

»Umwelten« ist auf Deutsch allerdings sehr ungebräuchlich.<br />

Heute beschreibt dieser Begriff eine Einheit, wo<br />

hingegen Uexkuell eine Vielfalt und also genau das<br />

Gegenteil beschreiben wollte.<br />

Er sagte, dass die Welt um uns herum die Verflechtung<br />

vieler Umwelten ineinan<strong>der</strong> ist, die sich allerdings<br />

selten treffen.<br />

des Einen befreite. So sehe ich die Dinge als etwas<br />

Systemisches. In einem System <strong>der</strong> gleichzeitigen<br />

Verflechtung.<br />

In einer Vielzahl.<br />

Wir sagen Regen, aber je<strong>der</strong> einzelne Tropfen ist<br />

interessant.<br />

Gleichzeitig gründet <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong> Naturwissenschaften,<br />

des Positivismus in <strong>der</strong> Tatsache, dass wir die Dinge in<br />

eine Kategorie einordnen. Ich hatte eine Erfahrung mit<br />

meinem Orthopäden, weil ich Probleme mit meinem Knie<br />

hatte, und dann ging ich von einem Spezialisten zum an<strong>der</strong>en.<br />

Am Ende landete ich bei dem großen Spezialisten<br />

und er sagte: Herr Bärfuss, Sie haben kein Knie, das gibt<br />

es nicht! Es ist nur eine Funktion zwischen Ihren Waden<br />

und Ihren Oberschenkeln. Sie sind also am Ende mit dem<br />

Universum verbunden. Ich war ein wenig beunruhigt,<br />

spirituell gut betreut, aber medizinisch war ich besorgt,<br />

weil ich eine Lösung für mein Knie wollte und nicht für<br />

mein spirituelles Leben.<br />

Wir sind alle ein wenig so. Sobald es uns schlecht<br />

geht, werden wir positivistisch. In <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

verlassen wir uns auf die Positivisten.<br />

Wir müssten eine Sprache finden, die die Vielfalt mit<br />

dem Individuum verbindet. Wenn wir nur das Universelle<br />

sehen, wird <strong>der</strong> Humanismus überflüssig. Denn es ist<br />

ziemlich sicher, dass es noch für eine sehr lange Zeit<br />

Leben auf diesem Planeten geben wird, aber es wird<br />

nicht notwen digerweise menschlich sein.<br />

Es wird Formen annehmen, die wir nicht kennen. Alle<br />

apokalyptischen Perspektiven sind möglich. Die Fähigkeiten<br />

des Menschen zur Zerstörung und Verwüstung<br />

Man müsste alle diese Umwelten kennen.<br />

Sie zu kennen, ist nicht möglich, aber anerkennen, anerkennen,<br />

dass es sie gibt.<br />

Dies steht im Wi<strong>der</strong>spruch zu <strong>der</strong> Idee einer Umwelt,<br />

einer Einheit, die geschützt werden muss.<br />

Die Idee <strong>der</strong> Einheit ist für mich ziemlich schrecklich.<br />

Ich habe vor langer Zeit etwas über die Ontologie<br />

<strong>der</strong> alten Ägypter gelesen. Es gibt eine Ursprungsgeschichte,<br />

die absolut wun<strong>der</strong>bar ist. Am Anfang gab<br />

es das Eine, aber das Eine ist gleich dem Chaos. Das<br />

Eine kann sich nicht sehen, da es eins ist. Es gibt keinen<br />

Blick auf es. Damit es eine Welt gibt, muss es zwei<br />

geben. Wenn es zwei gibt, gibt es Millionen. Und wenn<br />

jemand stirbt, sei es ein Mensch o<strong>der</strong> eine Maus, da<br />

dieses Lebewesen für alles Existierende empfänglich<br />

war, besteht durch den Tod die Gefahr, dass es vom<br />

Einen übernommen wird. Das Eine bedroht ständig<br />

die Existenz und ist in gewisser Weise ihr Ursprung.<br />

Aber die Existenz konnte, wenn man so will, nur werden,<br />

indem sie sich von diesem Klebstoff, diesem Leim<br />

Lukas Bärfuss<br />

148


sind erstaunlich. Natürlich ist das Beispiel, das mir in<br />

den Sinn kommt, das, was gerade in <strong>der</strong> Ukraine passiert.<br />

Sie verstehen nicht, wie eine solche Dummheit<br />

möglich ist.<br />

WENN WIR NUR DAS<br />

UNIVERSELLE SEHEN,<br />

WIRD DER HUMANIS­<br />

MUS ÜBERFLÜSSIG.<br />

Liegt diese Zerstörung in <strong>der</strong> menschlichen Natur?<br />

Menschen sind zum Schlimmsten fähig. Als stünden<br />

sie vor einer Prüfungskommission, als müssten sie<br />

beweisen, dass wir dazu fähig sind. Wir können es<br />

immer noch schlimmer machen. Ich habe in Russland<br />

mehrmals für das Theater gearbeitet. Ich habe<br />

großartige Erinnerungen an die Arbeit mit Menschen,<br />

wun<strong>der</strong>baren Menschen. Selbst meine Erinnerungen<br />

werden von dem, was gerade passiert, angegriffen.<br />

Der Krieg verdirbt auch die Erinnerung?<br />

Das ist schrecklich.<br />

Jean-Christophe, sollen wir hier aufhören o<strong>der</strong> eine Pause<br />

machen?<br />

Nein, nein, wir werden aufhören. Ich fürchte, wenn<br />

wir weiter machen, müssten wir noch so viel mehr<br />

erzählen.<br />

LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Damatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet<br />

mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, kuratiert seit 2021 die<br />

Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

JEAN-CHRISTOPHE BAILLY, 1949 in Paris geboren, hat Theaterstücke, Erzählungen und Reiseberichte<br />

verfasst und auch zahlreiche Gedichte und Essays veröffentlicht. Baillys in<br />

Frankreich hochgeschätztes Werk bewegt sich an <strong>der</strong> Schnittstelle von Geschichte,<br />

Kunstgeschichte, Philosophie und Poesie. Er wurde u. a. mit dem Prix Décembre<br />

ausgezeichnet. Für Die Erdfabrik, Georges Aperghis’ Auftragskomposition für die<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong>, schrieb er das Libretto.<br />

Aus dem Französischen von Lukas Bärfuss.<br />

Fotos: Jérôme Panconi (Jean-Christophe Bailly), Lea Meienberg (Lukas Bärfuss)<br />

149


MÖGLICHKEITSFORMEN<br />

DES MENSCHSEINS<br />

BARBARA ECKLE<br />

IM GESPRÄCH MIT<br />

DER FORENSISCHEN<br />

PSYCHIATERIN<br />

NAHLAH SAIMEH<br />

AUS EINEM TOTENHAUS<br />

Musiktheater<br />

ab 31. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/totenhaus<br />

150


Leoš Janáčeks Oper Aus einem Totenhaus spielt im sibirischen<br />

Gefangenenlager, das Straftäter und politische<br />

Gefangene an einem Ort <strong>der</strong> Demütigung, <strong>der</strong> Gewalt,<br />

<strong>der</strong> Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit versammelt<br />

– eine Schicksalsgemeinschaft <strong>der</strong> »Schicksallosen«<br />

(Imre Kertész). Als Forensische Psychiaterin beschäftigt<br />

sich Dr. Nahlah Saimeh täglich mit Straftätern schwerer<br />

Gewalt- und Sexualdelikte. Im Gespräch mit ihnen ermittelt<br />

sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer wie<strong>der</strong>holten<br />

Straftat ist und welcher Grad an Gefahr von<br />

ihnen für die Gesellschaft noch ausgeht. Sie erstellt<br />

Gutachten, auf <strong>der</strong>en Grundlage die Gerichte entscheiden,<br />

ob ein Straftäter in eine Justizvollzugsanstalt o<strong>der</strong><br />

eine Forensische Klinik eingewiesen wird, und über die<br />

Vollzugsdauer von Strafen o<strong>der</strong> Antritt und Ende <strong>der</strong><br />

Sicherungsverwahrung. Barbara Eckle, Leitende Dramaturgin<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, hat sie getroffen, um über<br />

Janáčeks Oper und <strong>der</strong>en literarische Vorlage, Fjodor<br />

Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu<br />

sprechen – und um zu erfahren, warum Menschen überhaupt<br />

Straftaten begehen.<br />

Dr. Nahlah Saimeh<br />

Barbara Eckle Frau Dr. Saimeh, sind Dostojewskis Schil<strong>der</strong>ungen<br />

aus dem Strafgefangenenlager in Sibirien um<br />

1855 in irgendeiner Weise vergleichbar mit einer heutigen<br />

Gefängnisrealität?<br />

Nahlah Saimeh Das Beeindruckende an Dostojewskis<br />

Aufzeichnungen aus einem Totenhaus ist für mich<br />

die unfassbare Präzision und Dichte: In jedem Satz<br />

formuliert er etwas über die menschliche Psyche,<br />

über die conditio humana und über menschliche Abgründe,<br />

und das mit einer sprachlichen Schönheit,<br />

die meisterlich ist. Inhaltlich ist das Buch mein tägliches<br />

Leben. Ich würde jeden Satz unterschreiben<br />

und sagen: Ja, genau so ist es. Es gibt für mich auch<br />

keinen Zeitsprung zwischen damals und heute, außer<br />

bei Ausstattung o<strong>der</strong> Technik. Das Gefängnis, das<br />

Dostojewski beschreibt, ist dahingehend mit mo<strong>der</strong>nen<br />

Gefängnissen in Nord- und Mitteleuropa natürlich<br />

nicht vergleichbar, weil Häftlinge heute Anspruch auf<br />

einen Einzelraum und eine eigene Toilette haben. Man<br />

hat kleine Feinheiten geän<strong>der</strong>t, die für den Lebenskomfort<br />

bedeutsam sind, aber das System, in dem<br />

so viele unterschiedliche schwierige Charaktere zusammengebracht<br />

werden und auf eine durchaus destruktive<br />

Weise miteinan<strong>der</strong> umgehen, hat sich nicht<br />

geän<strong>der</strong>t – wie auch die Menschen, die ins Gefängnis<br />

kommen, sich nicht geän<strong>der</strong>t haben. Das kann auch<br />

gar nicht sein, weil <strong>der</strong> Mensch in seiner tragischen<br />

Befähigung zum destruktiven Handeln über die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

hinweg konstant mit den gleichen Problemen<br />

seines Seins geboren wird. Die Menschen im Straflager,<br />

die Dostojewski beschreibt, sind Hochstapler,<br />

Betrüger, Mör<strong>der</strong>. Der eine bringt seinen Major um, <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e seine Ehefrau, <strong>der</strong> dritte tötet einen Nebenbuhler.<br />

Sie haben alle klassische Motive. Die hat es zu<br />

Dostojewskis Zeiten gegeben, die hat es in <strong>der</strong> Antike<br />

gegeben, die gibt es heute und die gibt es auch in 150<br />

Jahren noch. Es sind Konstanten des menschlichen<br />

Scheiterns.<br />

151


Als Forensische Psychiaterin arbeiten Sie seit über 20<br />

Jahren mit Menschen, die schwere, teilweise grau same<br />

Straftaten begangen haben. Leoš Janáček stellt <strong>der</strong><br />

Partitur zu seiner Oper Aus einem Totenhaus den Satz<br />

»In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« als Leitgedanken<br />

voran. Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben,<br />

können Sie diesen Satz – mal abgesehen von <strong>der</strong> religiösen<br />

Komponente darin – bestätigen?<br />

Diesen Satz von Janáček auf das forensisch-psychiatrische<br />

Tun und auf die Probanden anzuwenden, wäre<br />

mir zu konkret. Er ist aber von grundsätzlicher und<br />

übergeordneter Richtigkeit und gilt daher auch für<br />

jeden Menschen, den ich bisher getroffen habe. Ich<br />

mache keinen so großen Unterschied zwischen den<br />

Menschen, mit denen ich als Straftäter spreche und<br />

den Menschen, die keine Straftaten begangen haben,<br />

einschließlich meiner selbst. Denn <strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen Straftätern und uns Nichtstraftäterinnen ist<br />

eigentlich relativ klein und bezieht sich auf ganz wenige<br />

Bereiche. Als Menschen haben wir elementare Grundbedürfnisse,<br />

die uns allen zu eigen sind: Wir alle brauchen<br />

Schlaf, etwas zu essen und zu trinken. Wir alle<br />

kennen Erschöpfung o<strong>der</strong> Schmerz. Wir kennen Angst,<br />

und wir alle haben ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit,<br />

Wertschätzung, Anerkennung, Geborgenheit.<br />

Insofern gibt es eine Vielzahl von Eigenschaften, die wir<br />

miteinan<strong>der</strong> teilen. Doch da unser Bewusstsein dualistisch<br />

funktioniert, erleben wir alles dualistisch. Und<br />

das, worauf Janáček mit diesem Satz anspricht, ist eine<br />

allumfassende Wirklichkeitsebene, die wir mit dem dualistisch<br />

geprägten Verstand nicht erkennen können.<br />

Sokrates soll gesagt haben »Niemand tut freiwillig Unrecht«.<br />

Entscheiden tatsächlich die Umstände, ob man<br />

»gut« o<strong>der</strong> »schlecht« wird. Entscheidet man das nicht<br />

auch selbst?<br />

In unserem sehr individualistischen Kulturkreis sind<br />

die gesamte Erziehung und Sozialisation auf ein Ich<br />

ausgerichtet, auf die Frage: Wer bin ich und wer will<br />

ich sein? Kulturen, die das Ich als Teil eines großen<br />

Ganzen verorten, erziehen an<strong>der</strong>s, weil die eigene<br />

Person einem großen Organismus dient, einer Familie,<br />

einem Clan, einem Stamm. Hier hat die Individualität<br />

eine völlig untergeordnete Bedeutung, auch im Erleben<br />

des Selbstwerts. Natürlich sind wir auch das<br />

Ergebnis unserer Prägungen, unserer Erziehung,<br />

unserer frühen Bindungserfahrungen. Trotzdem muss<br />

ich mich irgendwann kritisch fragen, ob und unter<br />

welchen Prämissen mein Handeln Sinn macht, und<br />

was das für mein Selbstbild bedeutet. Vor diesem<br />

Hintergrund treffe ich Entscheidungen. Es gibt natürlich<br />

Lebensumstände, die es extrem schwer machen,<br />

durchgängig gut zu handeln o<strong>der</strong> auf Straftaten zu verzichten.<br />

In Kriegen etwa sind Menschen Ausnahmesituationen<br />

ausgesetzt, da lernt man sich unter Umständen<br />

selbst nochmal ganz an<strong>der</strong>s kennen. Wir<br />

können gut ein edles Bild von uns haben, wenn wir<br />

auf dem Sofa sitzen und nicht in einem Schlauchboot,<br />

das zu 220 % überbelegt ist und nur dann eine<br />

Chance hat, das an<strong>der</strong>e Ufer zu erreichen, wenn es<br />

Leute gibt, die dieses Boot verlassen. Und ich weiß<br />

nicht, ob wir wirklich von uns sagen können, dass<br />

wir wissen, wie wir in einer solchen Situation handeln<br />

würden, weil wir diese extremen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

nicht annähernd kennen. Trotzdem muss man sagen:<br />

Man entscheidet letztlich selbst. Die Verantwortung<br />

für sich und seine Taten trägt man, auch wenn man<br />

nicht fähig ist, mit ihr umzugehen. Und es ist ein großes<br />

Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, wo man<br />

frei ist, für sich zu entscheiden. Es gehört zur Würde<br />

eines Erwachsenen, Verantwortung tragen zu dürfen.<br />

ES GEHÖRT ZUR WÜRDE<br />

EINES ERWACHSENEN,<br />

VERANTWORTUNG<br />

TRAGEN ZU DÜRFEN.<br />

Zwischen dem inneren Wunsch, jemanden umzubringen,<br />

und <strong>der</strong> tatsächlichen Umsetzung in die Tat liegt doch<br />

nochmal eine enorme natürliche Hemmschwelle. Was<br />

befähigt einen Menschen, diese Hemmschwelle zu überschreiten?<br />

Nicht je<strong>der</strong> Mensch kann einen an<strong>der</strong>en umbringen.<br />

Es gibt immer Menschen, die aus grundsätzlichen<br />

Erwägungen o<strong>der</strong> aus ihrer eigenen metaphysischen<br />

Verortung heraus den Weg des Tötens nicht gehen<br />

werden. O<strong>der</strong> sie haben einen Emotionshaushalt,<br />

aus dem sich diese vermeintliche Notwendigkeit<br />

nicht ergibt. Sie erleben nie diese extreme Wut,<br />

Kränkung o<strong>der</strong> Rachsucht. Sie ärgern sich vielleicht,<br />

finden Dinge nicht richtig, aber das erreicht nie einen<br />

so destruktiven Punkt, dass sie ernsthaft darüber<br />

nachdenken, jemanden auszulöschen. Es gibt<br />

aber Persönlichkeiten, die so kränkbar, so eitel, so<br />

nachtragend o<strong>der</strong> in ihrer Selbstsicherheit so zerstörbar<br />

sind, dass an<strong>der</strong>e tatsächlich die Macht haben,<br />

sie innerlich zu zerstören. Der scheinbar einzige<br />

Weg besteht dann darin, diesen »Aggressor«, <strong>der</strong><br />

einem das Selbstwertgefühl zerstört hat, wie<strong>der</strong>um<br />

zu zerstören, um dann aus den Ruinen <strong>der</strong> Tat den<br />

eigenen Selbstwert wie<strong>der</strong> aufzubauen. Auch Temperamentsunterschiede<br />

spielen eine Rolle. Es gibt<br />

Menschen, die extrem cholerisch und reizbar sind,<br />

die ihre Impulse schlecht steuern können, insbeson<strong>der</strong>e<br />

ihre wütenden Impulse. Wenn Sie ein normales<br />

Maß an Impuls- und Emotionskontrolle haben,<br />

werden Sie in <strong>der</strong> Regel kein Totschlagsdelikt begehen.<br />

Dann könnte es theoretisch eher sein, dass Sie<br />

geplant, rational und kühl jemanden Töten würden.<br />

Aber das würde dann bedeuten, dass Sie töten moralisch<br />

mit Ihrem Selbstbild vereinbaren können o<strong>der</strong><br />

es sogar zu einem Bestandteil Ihres Selbstbildes<br />

geworden ist. Ich kann mich toll fühlen, wenn ich in<br />

<strong>der</strong> Lage bin, drei Leute kaltblütig zu erschießen. Ich<br />

kann mich aber genauso toll fühlen, wenn ich meinen<br />

persönlichen Wert darin sehe, jemandem kein Leid<br />

zuzufügen. Nur das eine ist die reifere Entscheidung.<br />

152


Dostojewski konnte seine Aufzeichnungen aus einem<br />

Totenhaus nur schreiben, weil er selbst vier Jahre lang<br />

wegen seiner Mitgliedschaft in sozialistisch-intellektuellen<br />

Kreisen in einem sibirischen Zwangsarbeits lager<br />

inhaftiert war. Hier entdeckte er »das Volk« – sprich:<br />

viele unterschiedliche Typologien von Menschen, denen<br />

er sonst nie begegnet wäre. Etliche von ihnen tauchen<br />

später in seinen fünf großen Romanen wie<strong>der</strong> auf.<br />

Ebenso lernte Dostojewski hier eine Art innere Freiheit<br />

kennen, also eine Freiheit, die nicht von äußeren, physischen<br />

Bedingungen abhängig ist, son<strong>der</strong>n eine metaphysische<br />

Freiheit, eine Art spirituelle Unantastbarkeit <strong>der</strong><br />

Seele. Das befähigte ihn offenbar, so urteilsfrei auf die<br />

unterschiedlichen Menschentypen zu schauen und sie –<br />

ob gut o<strong>der</strong> schlecht – als gleichwertig zu sehen. Wenn Sie<br />

für die Erstellung eines Gutachtens mit einem Straftäter<br />

sprechen, versuchen Sie da, Zugang zu finden zu diesem –<br />

um bei Janáček zu bleiben – »Funken Gottes«?<br />

In <strong>der</strong> professionellen Fragestellung geht es darum,<br />

einen Menschen so klar und präzise zu beschreiben,<br />

dass ich meine relevanten forensischen Schlussfolgerungen<br />

daraus ziehen kann. Es ist ja auch viel<br />

Verantwortung im Spiel. Dass ich ihm mit <strong>der</strong> Beschreibung<br />

nicht die Würde nehme, ist mir dabei<br />

wichtig. Ich glaube, dass es auch etwas mit Würde<br />

zu tun hat, einen Menschen so zu beschreiben, wie<br />

er ist, und ihn darin ernst zu nehmen. Ich urteile<br />

nicht über diese Menschen, ich beschreibe sie. Und<br />

ich hinterfrage, was von ihnen an Gefahr noch zu erwarten<br />

ist – eine sehr kleine Fragestellung im Vergleich<br />

zum großen Ganzen. Dabei ist mir klar, dass<br />

diese Person von vielen Bedingungen abhängt, die<br />

sie nicht selber bestellt hat: Geschlecht, Intelligenz,<br />

Elternhaus, Persönlichkeitseigenschaften. Man weiß<br />

nicht, was aus dieser Person geworden wäre, wenn<br />

sie unter an<strong>der</strong>en Vorzeichen groß geworden wäre.<br />

Natürlich sucht man sich nachher aus, was man<br />

mit seinem Leben und seinen Ressourcen macht.<br />

Man kann auch nicht aus <strong>der</strong> Verantwortung entlassen<br />

werden, wer man ist. Aber wie viele unendliche<br />

Möglichkeiten würden in einem selbst stecken unter<br />

an<strong>der</strong>en Bedingungen! Und deswegen ist mir immer<br />

klar, dass <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> da vor mir sitzt, potenziell<br />

auch ich selber sein könnte. Dieser Mann – mehrheitlich<br />

sind es ja Männer – ist eine Möglichkeitsform<br />

des Menschseins. Und ich bin auch nichts als eine<br />

von Abermilliarden Möglichkeitsformen des Menschseins.<br />

Und das ist letztlich nicht unähnlich, wie<br />

Dostojewski in seinen Aufzeichnungen aus einem<br />

Totenhaus auf seine Mitinsassen schaut.<br />

MIR IST IMMER KLAR,<br />

DASS DERJENIGE, DER<br />

DA VOR MIR SITZT,<br />

POTENZIELL AUCH ICH<br />

SELBER SEIN KÖNNTE.<br />

Dort gibt es tatsächlich keine einzige Bewertung o<strong>der</strong><br />

Verurteilung. Auch wenn er von einem Mitinsassen sagt,<br />

»er ist ein durch und durch grausamer Mensch«, versteht<br />

man das nicht als negative Äußerung. Das fasziniert mich<br />

sehr, und ich frage mich: Warum kann er diese eindeutigen<br />

Worte benutzen und wir lesen sie dennoch nicht als<br />

Werturteil?<br />

Das ist genau das, was ich mit meinen Gutachten anstrebe.<br />

Und ich muss sagen, dass mir das in jungen<br />

Jahren nicht gelungen ist. Da hatte ich viel mehr Hybris<br />

in <strong>der</strong> Art und Weise, wie ich Gutachten geschrieben<br />

habe. Sie waren inhaltlich nicht schlechter, aber sie<br />

waren an<strong>der</strong>s. Die langjährige Erfahrung hat bei mir<br />

zu mehr Demut geführt. Und das habe ich mir zur<br />

Eigenschaft gemacht: Menschen, egal was sie tun,<br />

so zu beschreiben, dass es sachlich bleibt. Meine<br />

Moral ist mir egal, das sage ich ganz klar. Betrachten<br />

zu können und seine sachlichen Schlüsse daraus zu<br />

ziehen, ohne zu bewerten – das ist das Entscheidende.<br />

Der Gefängnisalltag in Dostojewskis Aufzeichnungen aus<br />

einem Totenhaus ist von kleinen und großen Gewaltakten<br />

unter den Insassen geprägt. Janáček gibt diesen<br />

scheinbar lächerlichen Zankereien und Raufereien auffällig<br />

viel Raum in seiner Oper, wohl weil sie so untrennbar<br />

zu dieser Realität gehören, die Dostojewski in <strong>der</strong><br />

Vorlage beschreibt. Und das ist wohl auch heute kaum<br />

an<strong>der</strong>s. Warum gibt es im Gefängnis so viel Gewalt?<br />

Das Risiko von Gewalt entsteht vor allem dadurch,<br />

dass viele Menschen im Gefängnis eine sogenannte<br />

dissoziale Persönlichkeitsstörung haben. Das sind<br />

Personen, die sehr gewaltaffin, sehr rücksichtslos<br />

sind, sich knallhart durchsetzen und oftmals sehr<br />

schnell reizbar sind. Sie wählen Handgreiflichkeiten<br />

als selbstverständliches Mittel <strong>der</strong> Kommunikation<br />

und Interessensdurchsetzung. Sie haben in <strong>der</strong><br />

Durchschnittsbevölkerung eine Quote von ungefähr<br />

3–6 %. In einem Gefängnis haben ungefähr 70 % <strong>der</strong><br />

Leute diese Störung. Das heißt, es kommen mehrheitlich<br />

Leute mit einem an<strong>der</strong>en normativen Gefüge in<br />

die Haft. Und sie tragen ihr Sozialverhalten, dem sie im<br />

Grunde die Haft verdanken, wie<strong>der</strong> in die Haft hinein.<br />

Das heißt, es gibt Gewalthandlungen, Rankings, Knasthierarchien.<br />

Und es gibt Gewalt täter, die definieren,<br />

wer in <strong>der</strong> Rangebene unten ist. In deutschen Gefängnissen<br />

stehen üblicherweise Sexualstraftäter, die sich<br />

an Kin<strong>der</strong>n vergangen haben, in <strong>der</strong> Hierarchie ganz,<br />

ganz, ganz unten. Mit welcher Berechtigung sich nun<br />

zum Beispiel ein Mör<strong>der</strong> für etwas Besseres hält, erschließt<br />

sich mir auch nicht auf den ersten Blick. Aber<br />

es gibt immer noch einen, <strong>der</strong> unter einem selbst steht<br />

und den man abstrafen kann. Der eigene Selbstwert<br />

wird also auch darüber stabilisiert, dass ich einem an<strong>der</strong>en<br />

den Selbstwert nehme. Das ist ein klassisches<br />

Prinzip, das wir auch überall in <strong>der</strong> Gesellschaft sehen.<br />

Nur wenige <strong>der</strong> Sträflinge in Janáčeks Oper Aus einem<br />

Totenhaus haben überhaupt einen Namen. Die meisten<br />

heißen Sträfling 1, 2, 3, großer Sträfling, kleiner Sträfling,<br />

betrunkener Sträfling etc. Es gibt auch viele kleine<br />

Rollen, aber keine großen Hauptrollen, mit denen man<br />

153


mitfühlt und mitfiebert – was für eine Oper ungewöhnlich<br />

ist. Aber <strong>der</strong> Grund ist klar: Das Individuum hat in<br />

<strong>der</strong> Gefängniswelt keinen Stellenwert. Die zermürbende<br />

Deindividualisierung beschreibt auch Dostojewski<br />

in seinen Aufzeichnungen. Mit Namen lernen wir drei<br />

Sträflinge kennen, die in größeren Monologen erzählen,<br />

wie es zu ihrer Straftat kam, und sofort blicken wir an<strong>der</strong>s<br />

auf diese Figuren. Skuratov schil<strong>der</strong>t etwa, wie er<br />

den Bräutigam seiner großen Liebe Luisa erschossen<br />

hat, weil er diese Frau wirklich liebte und sie ihn. Aber<br />

dann kam ein reicherer Anwärter und bot ihr das komfortablere<br />

Leben – und Luisa hat es genommen. Was<br />

war an <strong>der</strong> Quelle dieses Mordes? Liebe – und eine verständlicherweise<br />

unfassbare Enttäuschung.<br />

WENN WIR GEBOREN<br />

WERDEN, TRETEN WIR<br />

IN EINE EXISTENZFORM<br />

EIN, IN DER WIR<br />

UNS VON DER WELT<br />

INSGESAMT ALS<br />

GETRENNT ERLEBEN.<br />

Das ist ein sehr schönes Motiv, so funktioniert es<br />

auch in <strong>der</strong> Realität. In diesem Fall ist es eine beson<strong>der</strong>s<br />

tragische Entscheidung <strong>der</strong> Frau, den reicheren<br />

Bräutigam zu wählen. Es fällt dem Leser also leichter,<br />

sich mit den Gefühlen von Skuratov zu identifizieren.<br />

Skuratovs Narrativ für die Tat hat allerdings einen<br />

Fehler. Er geht von <strong>der</strong> tiefen Liebe Luisas aus, aber<br />

Luisa verrät diese Liebe. Also ist es keine. Eine tiefe,<br />

existentielle Form von Liebe ist nicht korrumpierbar.<br />

Der für mich wesentliche Punkt ist – und das liegt<br />

außerhalb des Fachgebietes <strong>der</strong> forensischen Psychiatrie:<br />

Wenn wir geboren werden, treten wir in eine<br />

Existenzform ein, in <strong>der</strong> wir uns von <strong>der</strong> Welt insgesamt<br />

als getrennt erleben. Wir erleben unsere eigene<br />

Existenz als ein Getrenntsein von etwas. Und aus diesem<br />

Schmerz des Getrenntseins resultiert eine große<br />

Kraft, die in zwei Richtungen gehen kann: in Richtung<br />

Destruktivität o<strong>der</strong> in Richtung Konstruktivität. Also<br />

alles beson<strong>der</strong>s Wertvolle, Ehrenvolle, Selbstlose, fast<br />

übermenschlich Gute (Typus Mutter Teresa), stammt<br />

aus dem unbedingten Willen, dieses Getrenntsein zu<br />

überwinden und diesen Schmerz zu verarbeiten. Der<br />

gleiche Schmerz kann aber auch zum Entschluss zu<br />

etwas Zerstörerischem führen. Hier fließt die Energie<br />

in den Hass. Die Quelle ist aber die gleiche Not. Das<br />

ist die Tragik des Menschseins. Und im Gefängnis zeigt<br />

sich diese Tragik beson<strong>der</strong>s deutlich.<br />

Mo<strong>der</strong>ne Haftbedingungen sind zwar nicht vergleichbar<br />

mit Zwangsarbeitslagern im zaristischen Russland o<strong>der</strong><br />

den sowjetischen Gulags o<strong>der</strong> gar mit den Konzentrationslagern<br />

des NS-Regimes, aber <strong>der</strong> ungarische Schriftsteller<br />

Imre Kertész, <strong>der</strong> zwei Konzentrationslager überlebt hat,<br />

ist <strong>der</strong> Meinung, was man dort erlebt, sei nicht in Literatur<br />

als Kunstform festzuhalten. Sein explizites Vorbild ist<br />

Dostojewski, <strong>der</strong> für seine Aufzeichnungen aus einem<br />

Totenhaus eine quasi nicht-literarische Form gewählt hat,<br />

also nicht den Roman, son<strong>der</strong>n ein vielstimmiges Nebeneinan<strong>der</strong><br />

gleichwertiger Schicksale, ein unsystematisches<br />

Gewebe ohne Handlung, das keine klassischen literarischen<br />

Formstandards erfüllt, keiner dramatischen Dynamik<br />

folgt – und dadurch <strong>der</strong> Situation, wie sie wirklich war,<br />

bedeutend näher kommt. Können Sie diese Ablehnung<br />

einer »Verkunstung« solcher Erfahrungen nachvollziehen?<br />

Ja, das kann ich. Ich verbringe extrem viel Zeit mit<br />

menschlichem Elend, und das ist auch <strong>der</strong> Grund,<br />

warum ich – und da stehe ich dazu – seit Jahren keine<br />

Romane mehr lese, weil ich mit so vielen realen Biografien<br />

und menschlichen Schicksalen arbeite, was<br />

ich auch gerne tue. Aber dazu will ich keine narrative,<br />

sekundäre Überformung haben. Ich brauche keine<br />

kunstvoll erzählten Schicksale. Aber Dostojewskis<br />

Aufzeichnungen aus einem Totenhaus fallen auch für<br />

mich in eine ganz an<strong>der</strong>e Kategorie. Es ist ein Fass<br />

ohne Boden, ein philosophisches Werk eigentlich. Und<br />

zugleich für mich <strong>der</strong> ständige Blick in den Alltagsspiegel.<br />

Das hat mich tief beeindruckt.<br />

Sympathien und Antipathien sind in Dostojewskis Aufzeichnungen<br />

aus einem Totenhaus kein Thema – ganz<br />

an<strong>der</strong>s als in einem Roman, wo sich Sympathien und<br />

Antipathien für die Figuren bilden und sich im Laufe <strong>der</strong><br />

Geschichte meist auch verän<strong>der</strong>n. Mit diesen Dynamiken<br />

operieren und kalkulieren Schriftsteller:innen in <strong>der</strong> Regel.<br />

Genau. Sie steuern die Emotionen des Lesers. Aber<br />

hier ist es an<strong>der</strong>s: Der Leser wird komplett auf sich<br />

selbst zurückgeworfen, weil Dostojewski neutral bleibt.<br />

Er beschreibt hier zum Beispiel in wenigen knappen<br />

Sätzen einen Sadisten, wie er kleine Kin<strong>der</strong> quälte und<br />

sich an ihren Qualen und ihrer Angst weidete, bis er<br />

sie dann schlachtete. Und er beschreibt das genauso,<br />

wie er eine Frau beschreiben würde, die an einem<br />

Rosenstrauch mit einer Heckenschere Rosen abschneidet<br />

und in eine Vase stellt. Ich glaube, dass es<br />

dieses Unterschiedslose ist, das Janáček zu diesem<br />

Satz »In jedem Geschöpf ein Funke Gottes« veranlasst<br />

hat. Es ist das, was letzten Endes auf eine Dimension<br />

zusammenfällt, wenn wir den besagten Dualismus<br />

überwunden haben. Aber die Kraft unseres alltäglichen<br />

Lebens kommt aus dem Dualismus. Insofern liegt<br />

in <strong>der</strong> Kraft des Konstruktiven eben genauso die Kraft<br />

des Destruktiven. Das ist nicht voneinan<strong>der</strong> zu trennen.<br />

Und ein Roman o<strong>der</strong> eine Oper entsteht normalerweise<br />

auch aus dieser Polarität. Da werden Emotionen,<br />

Charaktere, Sympathien und Antipathien erzeugt und<br />

gegeneinan<strong>der</strong> geführt. Das Publikum will sich identifizieren.<br />

Aber in Janáčeks Oper Aus einem Toten haus wie<br />

in Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus<br />

verschwindet diese Identifizierbarkeit.<br />

154


Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil genau das<br />

die charakteristischste Eigenschaft von Janáčeks Musik<br />

ist: je<strong>der</strong> einzelnen Figur eine eigene Sprache zu geben –<br />

Sprechmelodien, die er gewöhnlichen Menschen im realen<br />

Leben abgehorcht und direkt in Musik übertragen hat.<br />

Im Totenhaus gibt er den Sträflingen zwar auch ihre eigene<br />

Stimme, aber diese Individuen versinken in Anonymität<br />

und Gleichgültigkeit. Ihre Geschichten werden von ihren<br />

Mitinsassen kaum wahrgenommen, oft werden sie beim<br />

Erzählen auch unterbrochen. Das ist überhaupt ein Merk ­<br />

mal <strong>der</strong> Musik in dieser Oper: Sie ist stark fragmentiert, es<br />

gibt kaum große Bögen, keinen Fluss, ständige Rhythmuswechsel,<br />

fetzenartige Chorpartien. Es scheint so, als sage<br />

sich Janáček in gleicher Weise vom klassischen Schema<br />

Oper los, wie Dostojewski sich in seinen Aufzeichnungen<br />

aus einem Totenhaus von den gängigen literarischen<br />

Kunstformen lossagt. Weil eben kein probates Kunstgefäß<br />

<strong>der</strong> Wahrheit gerecht wird, die es zu vermitteln gilt.<br />

In unserer Produktion greift nun <strong>der</strong> Regisseur und<br />

Bühnen bildner Dmitri Tcherniakov genau diesen Gedanken<br />

auf und setzt ihn in seiner Inszenierung konsequent im<br />

Raum fort: Er hebt die Trennung <strong>der</strong> Welten auf, lässt<br />

das Publikum nicht von außen auf eine vermeintliche<br />

Gefängnisrealität blicken, son<strong>der</strong>n steckt es mit in das<br />

alcatraz artige Gefängnis, das er in die Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

hineinbaut, sodass jede:r diese Welt aus <strong>der</strong> Innenperspektive<br />

heraus erlebt.<br />

Das ist eine wun<strong>der</strong>bare Idee, schmerzlich konsequent<br />

gedacht. Sehr spannend!<br />

Er macht das Publikum zu Mitinsassen – und das ist nicht<br />

unbedingt nur bequem. Man ist zwar mittendrin und erlebt<br />

das Geschehen und die Figuren aus unmittelbarer Nähe,<br />

aber man ist auch von Kargheit, Alltagsgewalt und Mikrobekriegungen<br />

umgeben und ist einer Gleichgültigkeit und<br />

Härte ausgesetzt, mit <strong>der</strong> man sonst kaum in Berührung<br />

kommt. Ob man nun vom komfortablen Opernsitzplatz<br />

o<strong>der</strong> aus dieser direkten Konfrontation heraus zu Empathie<br />

angehalten wird, ist ein Unterschied.<br />

WIR SELBST SIND<br />

DIE ANDERE<br />

MÖGLICHKEITSFORM<br />

DES GEGENÜBERS,<br />

UND DAS GEGENÜBER<br />

IST DIE ANDERE<br />

MÖGLICHKEITSFORM<br />

UNSERER SELBST.<br />

Nun ja, die ganze Oper ist unbequem (lacht). Der Regisseur<br />

nimmt also das Publikum beim Wort, als würde er<br />

sagen: »Wenn Ihr diese Oper ernst nehmt, dann müsst<br />

Ihr konsequent sein. Setzt euch ihrer Zumutung aus«.<br />

Wir selbst sind die an<strong>der</strong>e Möglichkeitsform des Gegenübers,<br />

und das Gegenüber, <strong>der</strong> Täter, ist die an<strong>der</strong>e<br />

Möglichkeitsform unserer selbst. Trotzdem hat man als<br />

Zuschauer Privilegien: Man hat die freie Wahl, je<strong>der</strong>zeit<br />

den Ort zu verlassen. Und man kann auf einer Meta-<br />

Ebene darüber reflektieren – allein diese Befähigung ist<br />

schon ein Privileg. Ein schwer milieu-gestörter Gewalttäter<br />

mit Drogenmissbrauch kann das alles nicht. Er ist<br />

in <strong>der</strong> Haft vor allem sich selbst ausgeliefert. Sie können<br />

in <strong>der</strong> JVA nicht sagen: »Ich habe Klaustrophobie, bitte<br />

lassen Sie die Tür auf.« Da ist die JVA das Top-Verhaltenstraining.<br />

Kann man sich dort gleich abgewöhnen.<br />

Unser ganzes Menschsein ist aufgespannt zwischen<br />

dem »Unbequemen« und dem Erhabenen. Das zeigt<br />

diese Oper ja auch, und das ist vielleicht die Quelle aller<br />

Kunst.<br />

→ Das Gespräch können Sie in voller Länger auf <strong>der</strong><br />

Website <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> unter <strong>der</strong> Rubrik Magazin lesen.<br />

DR. MED. NAHLAH SAIMEH ist Forensische Psychiaterin. Von 2000 bis 2004 war sie Chefärztin <strong>der</strong> Forensik<br />

in Bremen und von 2004 bis 2018 Ärztliche Direktorin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie<br />

Lippstadt. 2018 machte sie sich als Sachverständige selbständig. Ihr Schwerpunkt liegt in <strong>der</strong> Begutachtung<br />

bei schwerer Gewalt-und Sexualkriminalität. Sie ist Herausgeberin verschiedener Fachbücher und<br />

Autorin von true crime-Büchern und Essays. Mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> ITNS Nachlassverwaltung im Jahr<br />

2018 verwaltet sie das Oeuvre ihres Mannes, des Künstlers Ingolf Timpner (1963–2018). Im Juni <strong>2023</strong><br />

erscheint ihr erster Herausgeberband mit Texten zur Kunst von Ingolf Timpner. BARBARA ECKLE ist Leitende<br />

Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23.<br />

Foto: Ralf Zenker<br />

155


DER BLICK<br />

IN DIE EIGENE<br />

FRATZE<br />

EIN PROBENGESPRÄCH VON<br />

JUDITH GERSTENBERG MIT<br />

BARBARA FREY UND NINA HOSS<br />

»Sowohl <strong>der</strong> Autor dieser Aufzeichnungen als auch die<br />

Aufzeichnungen selbst sind erdacht. Nichtsdestoweniger<br />

sind Menschen wie <strong>der</strong> Verfasser dieser Aufzeichnungen<br />

nicht nur denkbar, son<strong>der</strong>n unausbleiblich, wenn man jene<br />

Verhältnisse in Betracht zieht, unter denen unsere Gesellschaft<br />

sich gebildet hat. Ich wollte dem Publikum deutlicher,<br />

als es sonst zu geschehen pflegt, einen Repräsentanten<br />

<strong>der</strong> jüngst verflossenen Vergangenheit vor Augen<br />

stellen. Er gehört zu <strong>der</strong> noch in unsere Tage ragenden<br />

Generation. In diesem Fragment, das Kellerloch betitelt,<br />

stellt er sich selbst vor, seine Anschauungen und bemüht<br />

sich gewissermaßen die Gründe zu klären, warum er aufgetaucht<br />

ist und warum er mit Notwendigkeit bei uns auftauchen<br />

musste.« Fjodor Dostojewski<br />

Judith Gerstenberg Im Jahre 1864 veröffentlichte Fjodor<br />

Dostojewski in <strong>der</strong> Sankt Petersburger Monatszeitschrift<br />

Epocha seine Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Um<br />

sein Vorhaben <strong>der</strong> Leserschaft zu erläutern, stellte er<br />

obenstehende Notiz voran. Der Text leitet die Hauptschaffensphase<br />

des Autors ein und öffnet den philosophischen<br />

Horizont, <strong>der</strong> seine späteren großen Romane prägen wird.<br />

Liebe Nina Hoss, du tauchst gerade in die Gedankenwelt<br />

dessen ein, <strong>der</strong> diese Aufzeichnungen verfasst haben soll.<br />

Wer begegnet uns hier im Jahre <strong>2023</strong>?<br />

Nina Hoss (lacht) Das versuchen wir gerade herauszufinden.<br />

Wir befinden uns am Ende unseres ersten<br />

Probenblocks und ich spüre die immense Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

die dieser Text bedeutet. Als Schauspielerin,<br />

die den Charakter entwickelt, habe ich zum jetzigen<br />

Zeitpunkt eine Ahnung, aber noch kein Wissen. Das<br />

gefällt mir. Der Text for<strong>der</strong>t eine sehr intensive Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

ein und rüttelt an Gewissheiten,<br />

in denen ich bisher ganz gut gelebt habe. Ich fühle<br />

mich durch viele <strong>der</strong> dort formulierten Gedanken ertappt,<br />

entdecke aber auch die Wi<strong>der</strong>sprüche in ihnen<br />

und verzweifle an <strong>der</strong> verweigerten Logik. Das macht<br />

das Einverleiben <strong>der</strong> Zeilen schwer und dennoch bin<br />

ich absolut fasziniert. Dieser Text pflanzt in mir Fragen,<br />

die mich mein tägliches Leben in Beziehung zu ihnen<br />

setzen lassen. Nahezu alle Situationen, in denen ich<br />

mich wie<strong>der</strong>finde, erlebe ich unter dem Eindruck<br />

<strong>der</strong> Beschäftigung mit diesen Gedanken. Das gefällt<br />

mir übrigens generell sehr an <strong>der</strong> Theaterarbeit: die<br />

Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum probend<br />

und suchend mit einem so starken literarischen<br />

Gegenüber beschäftigen zu können. Das ist im Filmgeschäft,<br />

in dem ich in den letzten Jahren vorwiegend<br />

unterwegs war, kaum denkbar. Du fragst, wem man<br />

hier begegnen wird …<br />

156


AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KELLERLOCH<br />

Schauspiel<br />

ab 20. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 58 _______________ www.ruhr3.com/kellerloch<br />

157


… ja, ob die Generation, <strong>der</strong> dieser Charakter angehört,<br />

auch noch in unsere Tage ragt, obgleich <strong>der</strong> Text mehr<br />

als 150 Jahre alt ist?<br />

NH Absolut. Dieser Mensch, <strong>der</strong> hier spricht, wird<br />

notwendigerweise auftauchen, solange es uns Menschen<br />

noch gibt. Denn die Grundessenz des Textes<br />

thematisiert den Glauben, sich und alles, was einen<br />

umgibt, in den Griff bekommen zu können. Aber wie<br />

es aussieht – und das führt uns die Gegenwart gerade<br />

wie<strong>der</strong> eindrücklich vor Augen –, gelingt dies dem<br />

Menschen nicht. Immer, wenn er denkt, dass er sich<br />

»manierlich« verhält, und meint, alles durchdrungen zu<br />

haben, schießt doch wie<strong>der</strong> ein Begehren quer, etwas<br />

Irrationales, mitunter Zerstörerisches. Sei es auch nur<br />

das, alles kaputtschlagen zu wollen, um es wie<strong>der</strong> aufbauen<br />

zu können. Es bricht sich ein Wollen Bahn, das<br />

keiner Logik folgt. Offenbar geht es dem Menschen<br />

nicht um das Erreichen eines Ziels, son<strong>der</strong>n um das<br />

fortwährende Streben danach.<br />

DER TEXT RÜTTELT<br />

AN GEWISSHEITEN,<br />

IN DENEN ICH<br />

BISHER GANZ GUT<br />

GELEBT HABE.<br />

Der Mensch, heißt es, grenze sich vom Tier ab durch<br />

seinen freien Willen. Dieses freien Willens versichert er<br />

sich durch die Negation. Er kann sich gegen sein eigenes<br />

Interesse, gegen alle Vernunft, gegen die Natur gesetze<br />

stellen. Er macht davon Gebrauch, allein, weil er es kann.<br />

Dies tut auch die hier erzählende Person.<br />

Barbara Frey Das ist das dunkle Zentrum des Textes.<br />

Dostojewskis Protagonist formuliert einen vehementen<br />

Protest gegen das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung, das<br />

bis heute unser westliches Selbstverständnis prägt.<br />

Es macht uns vor, dass <strong>der</strong> Mensch sich fortschreitend<br />

zu einem edleren und guten Wesen entwickelt,<br />

wenn er sich denn nur endlich selbst verstanden hat.<br />

Er versteht sich aber nicht und wird sich nie verstehen.<br />

Darin liegt eine tiefe Kränkung. Dieser rätselhaften<br />

Natur des Menschen spüren wir im diesjährigen<br />

Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> nach. Keine Psychoanalyse,<br />

keine kritische Theorie, keine Philosophie und<br />

keine Naturwissenschaft hat uns bisher letztgültigen<br />

Aufschluss darüber geben können. Das benennt die<br />

Ich-Figur in Dostojewskis Text, und wir erleben das<br />

als Provokation. Heiner Müller hat einmal einen Gedanken<br />

Dostojewkis fortsetzend formuliert: Das eigentliche<br />

Problem sei, dass es überall Lösungen gibt.<br />

Wir hätten nicht zu viele Probleme, son<strong>der</strong>n zu viele<br />

Lösungen. Lösungen suggerieren uns ein Wissen, das<br />

wir nicht haben o<strong>der</strong> nutzen, sonst würden wir nicht<br />

unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.<br />

Ist das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung gescheitert?<br />

NH Können wir das überhaupt denken? Dieser Charakter<br />

ringt zumindest um Wahrhaftigkeit und daher<br />

richtet sich sein vehementer Protest gegen unser<br />

Selbstverständnis, dass alles immer besser wird, dass<br />

man das Schlechte hinter sich lassen kann. Unsere<br />

Rechtsprechung, unser Bildungssystem, unser humanistisches<br />

Weltbild baut darauf auf.<br />

BF Das Projekt <strong>der</strong> Aufklärung steckt als Motor in all<br />

unserem Streben, auch das Vertrauen in die Vernunft,<br />

die Verstandeskraft. Aber das ist ja gerade das Faszinierende<br />

an dem Text. Er fragt, warum denn die Welt so<br />

aussieht, wie sie aussieht. Was gelingt <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

nicht? Woran scheitert sie? Wieso wird <strong>der</strong> Mensch<br />

nicht edel? Wieso führen wir noch immer Kriege? Wieso<br />

verhalten wir uns so grausam zueinan<strong>der</strong>? Durch<br />

die Penetranz des Fragens entsteht auch eine Komik,<br />

die mir an diesem Text sehr gefällt und die mich sofort<br />

an Nina Hoss denken ließ. Es braucht einen Kopf wie<br />

sie, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, alle Facetten dieses Gedankenstroms<br />

zum Leuchten zu bringen und den Witz darin<br />

aufzuspüren. Nina ist eine große Komikerin. Das mag all<br />

diejenigen überraschen, die sie nur aus den Kinofilmen<br />

kennen. Da spielt sie eher die dunklen, ernsten Rollen.<br />

NH Man verfängt sich tatsächlich in diesem Text wie<br />

in einem Spinnennetz. Das führt zu mancher Situationskomik,<br />

denn aus <strong>der</strong> Verstricktheit, Teil dessen<br />

zu sein, was man da gerade anklagt, führt kein Ausweg.<br />

Da veräußert jemand sein Denken im Moment,<br />

den Prozess, die Abschweifungen, behauptet aber,<br />

alles und jedes Detail vorausgedacht zu haben. Zu<br />

erkennen ist eine große Lust dieser Figur am Formulieren,<br />

die Freude an sprachlicher Schönheit, an <strong>der</strong><br />

Suche nach dem immer noch treffen<strong>der</strong>en Ausdruck.<br />

Das trägt sie mitunter auch aus <strong>der</strong> Spur, führt zu Wi<strong>der</strong>sprüchen.<br />

Dieser Monolog, diese Selbstbefragung<br />

ist sehr vital. Darum empfinde ich den Text nicht als<br />

deprimierend, auch wenn er dem Menschen wenig<br />

Schmeichelhaftes attestiert.<br />

BF Ich empfinde die Figur auch als listig, sie hat<br />

Freude an Täuschungsmanövern, am Spiel, die Sätze<br />

schlagen Haken, verwinkeln sich, entwickeln eine<br />

Freude am künstlerisch-literarischen Ausdruck und an<br />

<strong>der</strong> Behauptungskraft <strong>der</strong> Sprache. Dadurch dass sich<br />

die Figur gegen die Formel 2+2=4 auflehnt, beweist sie<br />

sich, dass sie existiert, sie konstituiert darüber ihr Ich.<br />

Daher lese ich die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch<br />

auch als Manifest des Lebenswillens.<br />

NH Letztlich ist dies auch ein Text über die Genese<br />

von Kunst. Wieviel Zweifel müssen ausgeräumt werden,<br />

um in die Tat zu kommen? Am Ende sagt die Figur, die<br />

sich ihrer Untätigkeit bezichtigt, sie mache sich jetzt<br />

ans Schreiben. Darin sieht sie offenbar eine Chance.<br />

Sie bringt ihr Denken in Form. Und darin erkennt man<br />

auch ihre Angewiesenheit auf Begegnung, durch die<br />

sich allein die Form überprüfen lässt. Sie hat sich<br />

– so behauptet sie – bewusst von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

abgekehrt, vom tätigen Leben, zurückgezogen in ein<br />

Kellerloch, aber in dem Versuch, die eigene Klage zu<br />

begreifen, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein,<br />

liegt eben auch eine Form <strong>der</strong> Tätigkeit.<br />

158


Ich sehe hier die kathartische Methode <strong>der</strong> Kunst, den<br />

Menschen das Unglück bewusst zu machen und ihnen<br />

ihre Scheinbefriedigungen zu nehmen. Das Kellerloch<br />

im Titel, das du eben erwähntest, bezeichnet sowohl<br />

den randständigen Rückzugsort vor <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

als auch das Unbewusste, Verdrängte (auch wenn Freud<br />

erst später auftauchen sollte). Unser Kellerloch befindet<br />

sich auf <strong>der</strong> obersten Ebene <strong>der</strong> Mischanlage auf Zeche<br />

Zollverein. Warum dieser Ort?<br />

WIR STEHEN IN DER<br />

MISCHANLAGE IN<br />

EINEM AUSGETRÄUMTEN<br />

TRAUM<br />

BF Wir ziehen hier in ein Gebäude ein, das seine Bestimmung<br />

verloren hat. Die Räumlichkeiten gibt es nur noch<br />

deshalb, weil sie unter Denkmalschutz gestellt wurden.<br />

Das, wofür sie ursprünglich gebaut wurden, geschieht<br />

dort nicht mehr. Die Sinnentleerung ist körperlich erfahrbar.<br />

In dieses Vakuum stößt <strong>der</strong> Text, <strong>der</strong> die Leere<br />

mit Gedanken füllt. Gedanken, die den positivistischen<br />

Fortschrittsglauben an die Entwicklung <strong>der</strong> Technik, die<br />

Beherrschbarkeit <strong>der</strong> Natur, die Aufklärung des Menschen<br />

schon Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts infrage gestellt<br />

hatten. Der Text hat recht behalten. Wir stehen in <strong>der</strong><br />

Mischanlage in einem ausgeträumten Traum und werden<br />

gewahr, dass <strong>der</strong> Fortschritt vor allem Zerstörung<br />

bedeutet hat. Mir gefällt natürlich, dass diese Räumlichkeiten<br />

noch zu uns sprechen. Man meint, die Stimmen<br />

<strong>der</strong>er zu hören, die dort gearbeitet und gelitten haben.<br />

Die Vision von damals ist ebenso präsent wie unser heutiges<br />

Bewusstsein, das diese Vision umbewertet. Diese<br />

Reibung ist wertvoll für die Kunst.<br />

NH Kunst vermag die Dinge und den Menschen zu akzeptieren<br />

und zu zeigen, wie sie sind. Sie bewertet nicht,<br />

sucht keine Antworten, sie weist nicht zurecht. Das ist<br />

herausfor<strong>der</strong>nd. Sie zwingt einen, sich selber in die Fratze<br />

zu blicken, schonungslos, ohne Trost. Das for<strong>der</strong>t<br />

das eigene Denken heraus beim Lesen, Zuhören und<br />

Zuschauen. Sie verunsichert produktiv die bequemen<br />

Gewissheiten. Ich empfinde daher diesen Text auch als<br />

ungeheuer befreiend. Da spricht jemand Ungeheuerliches<br />

aus, Enttäuschendes, aber Wahres. Deshalb ist die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ihm auch so intensiv und treibt<br />

mich gegenwärtig noch in den Wahnsinn.<br />

Die Übersetzerin Swetlana Geier stellte in ihrer jahrzehntelangen<br />

Beschäftigung mit Dostojewski fest, dass bei<br />

ihm kein Wort überflüssig sei, dass je<strong>der</strong> Satz, jede Wie<strong>der</strong>holung,<br />

die Feinnervigkeit <strong>der</strong> Syntax einer brillanten<br />

Rhetorik geschuldet sind. Nina, wie begegnet dir seine<br />

Sprache?<br />

NH Wollüstig! Da hört sich jemand selbst leidenschaftlich<br />

gerne zu, jemand, <strong>der</strong> um seine Fähigkeit<br />

weiß, die Worte so schön zusammenzusetzen. Das ist<br />

natürlich auch sehr theatral.<br />

BF Die Wollust zeigt sich in dem Spaß, immer noch<br />

ein weiteres Argument zu finden gegen das vermeintlich<br />

helle Gebäude <strong>der</strong> Aufklärung. Dieses hatte sich<br />

ja zur Entstehungszeit <strong>der</strong> Aufzeichnungen aus dem<br />

Kellerloch tatsächlich in Gestalt des Kristallpalastes<br />

bei <strong>der</strong> Weltausstellung in London materialisiert.<br />

Gegen diese Vortäuschung <strong>der</strong> Transparenz wütet die<br />

hier sprechende Figur. Ihre Argumentation ließe sich<br />

übrigens ohne weiteres auch gegen die heutigen gläsernen<br />

Konzern- und Parlamentsgebäude anführen.<br />

Sie freut sich daran, schamlos zu übertreiben. Dieses<br />

Wüten ist geradezu manisch. Aber in dem Exzess<br />

steckt <strong>der</strong> Wille zur Kenntlichmachung.<br />

NH Dieser Furor hat auch eine Erotik und Verführungslust,<br />

dem an<strong>der</strong>en sein Spielzeug kaputt zu<br />

machen. In <strong>der</strong> Vehemenz und zuweilen Ungerechtigkeit<br />

findet sich die Komik, aber auch darin, dass hier<br />

jemand behauptet, alles unter Kontrolle zu haben,<br />

während er davon spricht, dass diese Behauptung<br />

<strong>der</strong> Menschheitsirrtum ist.<br />

Die Ich-Figur ist bei Dostojewski eine männliche. Was<br />

wi<strong>der</strong>fährt dem Text, wenn er von einer Frau gesprochen<br />

wird?<br />

BF Mir gefällt die Vorstellung einer weiblichen Stimme<br />

in dieser männlich geprägten Industriekultur,<br />

die Mischung aus <strong>der</strong> klirrenden geistigen Kälte des<br />

Dostojewski-Texts und dem Charme von Nina Hoss.<br />

An einem solchen Ort gehen einem viele Dinge durch<br />

den Kopf, auch sehr düstere. Als Frau nimmt man<br />

womöglich an<strong>der</strong>s wahr, aber – vor allem – man wird<br />

an<strong>der</strong>s wahrgenommen. Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran,<br />

dass die hier vorgetragenen Gedanken universell<br />

sind und sich nicht an ein Geschlecht binden.<br />

NH Vielleicht ist es noch immer überraschend, dass<br />

eine Frau so spricht und sich diesen Raum nimmt,<br />

mit scheinbar großer Selbstgewissheit über Grundsätzliches<br />

zu reden. Ich gebe zu, eine solche Haltung<br />

auszuleben, macht auch großen Spaß.<br />

NINA HOSS, geboren 1975 in Stuttgart, ist eine vielfach ausgezeichnete, international tätige Film- und<br />

Theater schauspielerin. Das Gespräch wurde im Februar <strong>2023</strong> geführt, in den Studios am Hansaplatz<br />

in Berlin, in denen die Proben stattfanden. Wenige Tage später wurde auf <strong>der</strong> Berlinale <strong>der</strong> jüngste Film<br />

mit ihr, Todd Fields vielfach preisgekröntes Musikdrama Tár, im Wettbewerb gezeigt. Mit <strong>der</strong> Festivalintendantin<br />

und Regisseurin BARBARA FREY verbindet sie eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit,<br />

die 2005 am Deutschen Theater Berlin begann und sich am Schauspielhaus Zürich fortsetzte.<br />

JUDITH GERSTENBERG ist leitende Dramaturgin für Schauspiel, Tanz und Performance an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Foto: Pascal Buenning<br />

159


HOMBRE<br />

MODELO<br />

REFLEXIONEN ZU VORBILDERN<br />

VON MÄNNLICHKEIT<br />

LA POSIBILIDAD DE LA TERNURA /<br />

DIE MÖGLICHKEIT VON ZÄRTLICHKEIT<br />

Schauspiel<br />

ab 14. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/ternura<br />

160


Abschlußfoto <strong>der</strong> Workshopphase, Januar <strong>2023</strong> Santiago de Chile<br />

161


Wie kaum ein an<strong>der</strong>es soziales Konstrukt ist »Männlichkeit« zu einem Kampfplatz zwischen<br />

Bewahrung von konservativen Vorstellungen und Vorherrschaften sowie kritisch emanzipierten<br />

Infragestellungen geworden, <strong>der</strong> ein Nachdenken darüber an den Rand <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />

gebracht hat. Doch was bedeutet Männlichkeit heute und mit welchen Vorbil<strong>der</strong>n –<br />

zum Nach ahmen o<strong>der</strong> Angreifen – wachsen Jugendliche heute auf? Für das Projekt von Marco<br />

Layera und La Re-sentida La posibilidad de la ternura wurden in einem halbjährigen Prozess<br />

in Santiago de Chile Workshops mit verschiedenen männlich gelesenen Jugendlichen<br />

mit unterschiedlichen sozialen Herkünften durchgeführt. Dabei fiel auf, wie schnell sich<br />

geeinigt wurde, wenn es darum ging, das toxische, maskuline, patriarchale Negativbild von<br />

Männlichkeit zu beschreiben, und wie schwer es im Gegenzug ist, ein positives Bild zu<br />

skizzieren. Wir veröffentlichen hier einige <strong>der</strong> Antworten auf die Frage:<br />

»Welchen Mann in deinem Leben würdest du als positives Modell für dein Bild von Männlichkeit<br />

beschreiben?«<br />

Matías<br />

José Araya, mein Theaterlehrer. Von ihm habe ich viel<br />

gelernt. Er ist ein sehr spiritueller Mensch, <strong>der</strong> stark<br />

mit <strong>der</strong> Natur verbunden ist. José ist eine Person, die<br />

nicht auf Kämpfe aus ist, und dafür bewun<strong>der</strong>e ich<br />

ihn sehr. Er ist ein Mensch, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> Seele<br />

an<strong>der</strong>er verbindet, er sucht stets das Gespräch und<br />

ist sich bewusst, dass es auf <strong>der</strong> Welt nicht nur Menschen<br />

gibt, son<strong>der</strong>n viele an<strong>der</strong>e Lebewesen, die ihr<br />

Leben gelassen haben, damit wir hier sein können,<br />

und wir deshalb <strong>der</strong> Natur dankbar sein müssen.<br />

Marcos<br />

Ein Vorbild für mich ist Paolo, <strong>der</strong> Freund meiner<br />

Mutter. In letzter Zeit hat er mir viel beigebracht. Es<br />

ist unglaublich, wie jemand, <strong>der</strong> dich kaum kennt,<br />

so viel Ruhe in dein Leben bringen kann. Paolo versucht<br />

immer, die Dinge ruhig anzugehen und dabei<br />

an das Wohl aller zu denken, auch wenn ich denke,<br />

dass ihm diese Anstrengung manchmal zu schaffen<br />

macht. Ich möchte ein Mensch sein, <strong>der</strong> innerlich so<br />

ruhig ist wie er.<br />

Dimitri<br />

Der Mann, <strong>der</strong> mich inspiriert hat, ist Fe<strong>der</strong>ico Moura:<br />

Er ist sensibel, ruhig, kann mit Emotionen umgehen,<br />

er spielt in zwei Bands, er respektiert seine Mitmenschen,<br />

er lebte schon in den 80er-Jahren offen seine<br />

Homosexualität und er schrieb ein Lied darüber: Sin<br />

disfraz (dt: Ohne Verkleidung). Er schreibt Gedichte und<br />

hat eine sozialistische Grundeinstellung. Er ist lei<strong>der</strong><br />

vor 24 Jahren an AIDS gestorben.<br />

Aukan<br />

Mein Bru<strong>der</strong> Alexis ist mir in vielerlei Hinsicht sehr<br />

ähnlich, wir teilen viele Schwächen, aber er hat es geschafft,<br />

sie zu überwinden. Alexis ist sehr ehrlich und<br />

hat kein Problem damit, dir die Wahrheit zu sagen, denn<br />

er nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine innere Logik<br />

ist beeindruckend: Er ist, was er sagt, und er macht,<br />

was er sagt. So will ich auch sein. Ich bewun<strong>der</strong>e ihn,<br />

seit ich klein war, als Kind war er mein Superheld.<br />

David<br />

Mein Vorbild ist mein Onkel Facundo. Ich bewun<strong>der</strong>e<br />

ihn, er wurde in einer armen Familie geboren, aber hat<br />

es dank harter Arbeit geschafft, ein Stipendium zu erhalten,<br />

um zu studieren. Er ist heute Informatiker, reist<br />

auf <strong>der</strong> ganzen Welt herum und lebt in Australien. Ich<br />

bewun<strong>der</strong>e ihn für alles, was er erreicht hat, und für<br />

seine schöne Beziehung zu seiner Partnerin. Er unternimmt<br />

viel, hat aber trotzdem immer Zeit für seine<br />

Freunde, liest und macht viel Sport. Obwohl er viel arbeitet,<br />

hat er Zeit, sich weiterzubilden. Facundo ist ein<br />

sehr toller und beson<strong>der</strong>er Mensch. Er ist wirklich eine<br />

Person, von <strong>der</strong> ich sagen kann: Ich wäre gern wie er.<br />

Daniel<br />

Ich habe mich für Mauricio entschieden, den Zwillingsbru<strong>der</strong><br />

meines Vaters. Ich finde, dass mein Onkel<br />

ein Beispiel für Standhaftigkeit und Mut ist, weil er<br />

Teil <strong>der</strong> LGBTQ+-Community ist, dies aber lange Zeit<br />

nicht offen gelebt hat und viel Schweres durchmachen<br />

musste. Trotzdem hat er es geschafft, zu sagen,<br />

wer er war und was er fühlte – auch gegenüber seinen<br />

Eltern, was zu seiner Zeit sehr schwer war. Außerdem<br />

bewun<strong>der</strong>e ich ihn für sein Wissen, er hat so<br />

viele Wissenfel<strong>der</strong>: Gärtnern, zeitgenössischen Tanz,<br />

Landschaftsbau … Ich wusste seine Aufmerksamkeit<br />

immer zu schätzen, die er mir als Kind schenkte. Er<br />

ging mit mir Kleidung kaufen o<strong>der</strong> nahm mich mit zu<br />

kulturellen Veranstaltungen, einfach nur, um Zeit mit<br />

mir zu verbringen – etwas, das mein Vater nie wirklich<br />

gemacht hat. Und Maurico arbeitet viel an sich selbst,<br />

meditiert und reflektiert. Eine solche Entwicklung <strong>der</strong><br />

Persönlichkeit hätte ich auch gern.<br />

Camilo<br />

Als Beispiele kann ich nur Frauen nennen. Denn ich<br />

habe nach wie vor das Gefühl, dass Frauen viel freier<br />

sind als Männer in <strong>der</strong> Art und Weise, wie sie sich<br />

ausdrücken, wie sie denken und wie sie mit Kin<strong>der</strong>n<br />

umgehen.<br />

162


Efraín<br />

Er heißt Moises. Moises arbeitet als Arzt und ist stets<br />

bemüht um unsere Gesundheit. Ich habe ihn seit einer<br />

Weile nicht mehr gesehen, aber ich bewun<strong>der</strong>e ihn für<br />

seine Fähigkeit, so viele Dinge zu tun, ohne gestresst<br />

zu sein und ohne zu vergessen, wo er herkommt. Er<br />

liebt seine Familie und das ist es, was ich am meisten<br />

an ihm bewun<strong>der</strong>e. Vor kurzem hat er meine Großmutter<br />

auf eine Reise in den Süden Chiles mitgenommen,<br />

sie war noch nie dort gewesen und diese Reise hat ihr<br />

sehr viel Lebensfreude gegeben. Ich würde ihn gerne<br />

nochmal wie<strong>der</strong>sehen, um ihm zu gratulieren für das,<br />

was er verän<strong>der</strong>t hat, und ihm für alles danken.<br />

Thormo<br />

Die Person, die ich ausgewählt habe, steht mir nicht<br />

mehr sehr nahe, aber ich habe mich für ihn entschieden,<br />

weil er mir sehr dabei geholfen hat, mit meiner<br />

Sexualität ins Reine zu kommen. Er hat mir dabei geholfen,<br />

zu erkennen, dass ich nicht alleine bin. Er war<br />

die erste Person, bei <strong>der</strong> ich wirklich das Gefühl hatte,<br />

gehört zu werden, und obwohl wir uns jetzt nicht mehr<br />

sehen und so gut verstehen, werde ich ihm immer<br />

dankbar sein, weil er <strong>der</strong> erste Mensch war, für den<br />

ich Gefühle hatte, und er mir sehr dabei geholfen hat,<br />

meine Persönlichkeit zu entwickeln und <strong>der</strong> Mensch<br />

zu werden, <strong>der</strong> ich heute bin.<br />

Aljoscha<br />

Mein männliches Vorbild ist mein Freund Rodrigo.<br />

Ich würde nicht sagen, dass ich so sein will wie er,<br />

weil er das genaue Gegenteil von mir ist, aber ich<br />

bewun<strong>der</strong>e ihn, weil er sehr in <strong>der</strong> Gegenwart lebt,<br />

offen für alle Menschen und ihre Probleme ist. Er ist<br />

sehr ausgeglichen und doch sehr emotional und gefühlvoll.<br />

Er hat immer Zeit, plant kaum o<strong>der</strong> organisiert<br />

etwas im Voraus.<br />

Kath<br />

Ich bin auf dem Land groß geworden, in einem sehr familiären,<br />

aber sexistischen Umfeld. Aber es gab einen<br />

Menschen, <strong>der</strong> mit allen Vorstellungen von Männlichkeit<br />

gebrochen hat. Dank ihm habe ich verstanden,<br />

dass es keine Dinge gibt, die nur Frauen machen,<br />

und Dinge, die nur Männer machen. Denn er war es,<br />

<strong>der</strong> früh aufstand, einkaufen ging, um das Frühstück<br />

und Mittag zuzubereiten, er zog seine Schürze an und<br />

kochte wie ein Gott. Er war sehr sensibel und liebevoll:<br />

mein Großvater.<br />

Nino<br />

Mein Vorbild ist mein großer Bru<strong>der</strong> Alejandro. Er ist<br />

<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> mir Kunst und Kultur nähergebracht hat.<br />

Heute ist er Ingenieur und Vater von zwei Töchtern –<br />

eine ist nicht von ihm, aber er kümmert sich um sie, als<br />

wäre sie seine eigene. Er ergreift oft Initiative, ist immer<br />

für die Familie da und eine verlässliche Stütze für uns.<br />

Alejandro legt viel Wert auf gute Kommunikation und<br />

er ist <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> die Familie zusammenbringt. Er hat<br />

mir beigebracht, niemals in den Alltagstrott zu verfallen<br />

und immer offen zu sein für neue Erfahrungen. Im<br />

Gegensatz zu meinem Vater hat er meine Bedürfnisse<br />

erfüllt, hat Fragen gestellt und nach meinen Interessen<br />

geforscht. Das habe ich immer gespürt und war<br />

ihm dafür schon immer dankbar. Er hat es immer geschafft,<br />

seine Liebe und Fürsorge zu zeigen. Und er ist<br />

immer für mich da, wenn ich ihn brauche.<br />

Leftraro<br />

Früher war ich selbst mein Vorbild, weil ich immer<br />

gern spielte, Dinge herausfand, dazulernte … Das<br />

hat mir dabei geholfen, ich selbst zu sein. Aber eines<br />

Tages kam mein kleiner Bru<strong>der</strong>; ich sah ihn an und<br />

wusste, dass er für immer eine große Hilfe sein würde.<br />

Während wir zusammen aufwuchsen, habe ich viel<br />

von ihm gelernt, obwohl er viel jünger ist als ich. Er ist<br />

intelligent, viel intelligenter als ich, und für mich ein<br />

gutes Vorbild. Ich habe ihn sehr lieb, denn er hat so<br />

viel Gutes in sich und ich möchte all das herausholen.<br />

Aus dem Spanischen von Ina Reichardt<br />

Foto: Teatro La Re-sentida<br />

163


NACHT<br />

UND LICHT<br />

VON SANDRA LUCBERT<br />

EXTRA LIFE<br />

Schauspiel / Tanz<br />

ab 16. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 26 _______________ www.ruhr3.com/life<br />

164


Gisèle Vienne<br />

12. Februar <strong>2023</strong><br />

Wie schafft es <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> als einzige unter den<br />

Arten über keine instinktive Verdrahtung verfügt, konsistent<br />

zu existieren, also zu konsistieren? Durch an<strong>der</strong>e<br />

Menschen nämlich – und zwar vor allem in seinen ersten<br />

Jahren, in denen das Problem sehr einfach ist: Hilfe o<strong>der</strong><br />

Sterben. Was wird nun aber aus einem Menschen, <strong>der</strong> anstelle<br />

konstituieren<strong>der</strong> Bekanntschaften zu früh eine zu<br />

schlechte Bekanntschaft macht? Das heißt eine Bekanntschaft,<br />

die diesen Menschen dazu führt, zu de-konstituieren,<br />

obwohl sein psychischer und körperlicher Halt noch<br />

umstritten ist?<br />

Was wird aus <strong>der</strong> Körper-Psyche-Konstitution eines<br />

Kindes, das von einem:r an<strong>der</strong>en verletzt wird, die:<strong>der</strong><br />

für seine Stärkung zuständig sein sollte?<br />

Dieser Körper wächst, freilich mit jenem Bruch, den man –<br />

ein familiäres man – in ihn hineingelegt hat. Eine hieroglyphische<br />

Erfahrung hat ihn gezeichnet, die er viel<br />

später entziffern wird – und dabei wird er seine schreckliche<br />

Pulverisierungskraft freisetzen. Hieroglyphisch:<br />

Die ersten Erfahrungen hängen von den Benennungen<br />

ab, die die Erwachsenen, die als Vermittlungsinstanzen<br />

des sozialen Körpers agieren, ihnen verleihen. Die Aussagen,<br />

die für sich beanspruchen, den Inzest zu bezeichnen,<br />

sind in Wirklichkeit ein Hin<strong>der</strong>nis für den Sinn. Sie<br />

benennen nichts an<strong>der</strong>es als die Verwischung dessen,<br />

was sie zu erfassen vortäuschen.<br />

Zunächst sagt »Onkel Bernhard« zu dir: »Gerade vergewaltige<br />

ich dich nicht, gerade bin ich voller Verständnis<br />

für dich.« 1 Einstellung und Entstellung vermischt:<br />

1 Kursiv gedruckte Zitate mit Anführungszeichen sind dem Stück von Gisèle Vienne entnommen.<br />

165


Lähmung deiner Reaktionsfähigkeit. Später dann, als<br />

Erwachsener, überbietet man – ein soziales man – das<br />

Ganze noch: »Inzest ist das Hauptverbot, das darf nicht<br />

geschehen«. Der soziale Körper verrenkt sich, damit er<br />

seinen Zivilisationspunkt aufbewahren kann, allerdings<br />

um den Preis einer Verleugnung, die dich schließlich in<br />

den symbolischen Limbus treibt. Claude Lévi-Strauss gibt<br />

einem in <strong>der</strong> Tat folgende Versicherung: »Dieses Verbot<br />

ist die Grundlage <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaften, die<br />

absolute Ächtung – auch wenn <strong>der</strong> Inzest sich immer und<br />

überall wie<strong>der</strong> ereignet.« 2<br />

Clara und ihr Bru<strong>der</strong> Felix machten als Kin<strong>der</strong> die<br />

schlechte Bekanntschaft von Onkel Bernhard. Sie wissen<br />

nun, dass er sie vergewaltigt hat, aber sie sind noch<br />

nicht über den Berg. Damit sie sich dem entziehen können,<br />

was sie innerlich zerreißt, müssen sie den Inzest erarbeiten.<br />

Sich also zunächst aus den Einstellungen und<br />

Entstellungen herausziehen. Und dann: sich einen an<strong>der</strong>en<br />

Bedeutungsanker suchen. Entgegen den falschen<br />

o<strong>der</strong> allzu zweideutigen Veridiktionen, in denen sie eingesperrt<br />

sind.<br />

Das Stück beginnt mit dem symbolischen Nicht-Ort, an<br />

dem Inzestopfer gefangen sind. »In the outer space«,<br />

wie Clara und Felix aus dem schwarzen stillstehenden<br />

Auto heraus sagen, in dem sie sitzen – dicht umnebelt.<br />

Nacht o<strong>der</strong> Morgengrauen, man hat null Ahnung, wo man<br />

sich befindet, »a car park in a forest«, Fahrzeug ohne<br />

Kennzeichen: lauter Unbestimmtheit – die beiden jungen<br />

Leute gehören vorerst nicht zu den strukturierenden<br />

Signifikanten des sozialen Körpers. Eine Radiosendung<br />

bestätigt diese unermüdliche Arbeit <strong>der</strong> symbolischen<br />

Verzerrung, <strong>der</strong> sie sich gegenübersehen, eine Verzerrung,<br />

die mit einer Verlagerung beginnt: Dort, wo man<br />

die Wirklichkeit aussprechen sollte, werden wir an einen<br />

fantastischen Ort versetzt. Dort ist von Aliens die Rede,<br />

die nachts in Kin<strong>der</strong>zimmer eindringen – immer wie<strong>der</strong>.<br />

Zeugenaus sagen und Expert:innen schließen das entstellende<br />

Interpretationssystem: Sie belegen, dass viele<br />

Menschen, Jungen o<strong>der</strong> Mädchen, schon im frühen Alter<br />

»Objekte sexueller Experimente« sind, aus denen man<br />

nur noch schließen kann, dass sie in den Bereich des<br />

Übernatürlichen gehören. Was sonst? Der Bru<strong>der</strong> und<br />

die Schwester kommentieren: »Nein, du wurdest nicht<br />

vergewaltigt, du wurdest von einer fliegenden Untertasse<br />

entführt« – zwischen Wut und Spott stellen sie nach<br />

und nach das neu dar, was die Radiosendung unkenntlich<br />

macht. Der Kampf wird immer deutlicher. Auf <strong>der</strong><br />

einen Seite das Bestreben des sozialen Körpers, auf die<br />

Außer-Irdischen das zu projizieren, was ihn selbst auszeichnet;<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite das Bestreben <strong>der</strong> Opfer<br />

des Inzests, diese Erfahrung an ihren Platz zu bringen,<br />

ihnen wie<strong>der</strong> Konturen zu verleihen – sie denkbar zu<br />

machen. Und überwindbar.<br />

Es ist ein erschwertes Fortschreiten, das man in den verlangsamten<br />

Bewegungen <strong>der</strong> beiden Protagonist:innen<br />

spürt, die wie in einem ewigen Albtraum gefangen sind.<br />

Eine Beharrlichkeit, die lange Zeit ein und dieselbe Sackgasse<br />

durchschreitet und in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung stecken<br />

bleibt. Das Bemühen, sich ihr zu entziehen, findet mangels<br />

geeigneter Mittel zunächst keinen an<strong>der</strong>en Ausweg,<br />

als die traumatische Szene erneut zu spielen – in verlagerten<br />

Formen. Clara isst ununterbrochen, Felix versucht,<br />

dem zyklischen Wechsel von Drogensucht und Entzug<br />

zu entkommen. Ablenkungsintensitäten, um nicht in den<br />

Abgrund zu stürzen, <strong>der</strong> sich durch das Aufbrechen des<br />

Sinnblocks auftut: Der soziale Signifikant, den sich das<br />

Inzestopfer zu eigen gemacht hat (wie viel auch immer<br />

es davon hat), sagt etwas, das im krassen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu seinen Affekten steht. Der Sinn zerbricht an <strong>der</strong> Diskrepanz<br />

zwischen seinen beiden Komponenten, dem<br />

Signifikanten und dem Affekt – obwohl die Übereinstimmung<br />

bei<strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lich ist, damit <strong>der</strong> Sinn symptomfrei<br />

angeeignet wird. Ein in sich unstimmiger Sinn: ständige<br />

Abschwächung – und panisches Füllen <strong>der</strong> Lücke. Eine<br />

dritte Figur, eine Doppelgängerin von Clara, ebenfalls in<br />

Jogginghose und goldenem Trikot, eine anonyme Frau mit<br />

Baseballkappe, verräumlicht ihre psychischen Zustände,<br />

und zwar zuallererst durch diesen Wie<strong>der</strong>holungszwang.<br />

Wie bei Freud wird durch diese Figur die doppelte Natur<br />

dieses Zwangs deutlich: »die traumatische Spur des<br />

traumatischen Ereignisses bis zur Übelkeit immer wie<strong>der</strong><br />

aufsuchen, sowohl weil man ihr nicht entfliehen kann, als<br />

auch, weil man unermüdlich versucht, die Oberhand über<br />

sie zu gewinnen«. 3<br />

WIE LÄSST SICH EINE<br />

WIEDERHOLUNG<br />

IN EINE VERSCHIEBUNG<br />

VERWANDELN?<br />

Dieser zweiten Clara, einer choreografierten Form ihrer<br />

Psyche, obliegt es, sich in einem von Lasern durchzogenen<br />

Raum zu bewegen: kategoriale Trennwände und normative<br />

Korridore – diese Unsichtbaren, die die Existenz in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft bestimmen, soll heißen: die menschliche<br />

Konsistenz bedingen. Die Strukturen des erlaubten Sinns<br />

bringen diesen dritten Körper, <strong>der</strong> nach vorne drängt, zu<br />

Fall. Wörtlich: Das Double verkörpert die traumatische<br />

Wie<strong>der</strong>holung. Die gleiche Sequenz wie<strong>der</strong>holt sich mehrere<br />

Male identisch. Von <strong>der</strong> Laserwand ins Gesicht geschlagen,<br />

die Mütze weit nach hinten geschleu<strong>der</strong>t, dreht<br />

es sich um, geht zurück, hebt seine Mütze auf, setzt sie<br />

wie<strong>der</strong> auf, richtet sich auf, geht weiter – und wie<strong>der</strong> die<br />

2 Dorothée Dussy, L’Inceste, berceau des dominations, Pocket, 2021.<br />

3 Sigmund Freud, Au-delà du principe de plaisir, Payot, 2010.<br />

166


Wand. Und wie<strong>der</strong>: Ohrfeige, Kappe, Rückkehr. Und wie<strong>der</strong>,<br />

und immer wie<strong>der</strong> – aber es ist beharrlich. Seine automatisierten<br />

Gesten sind die einer Konsistenz, die durch<br />

eine Verlassenheit gestört wird, und die intakt geblieben<br />

ist, weil sie noch nicht erarbeitet werden konnte. Seine<br />

Macht kommt von den eingebrochenen und durchdringenden<br />

Markierungen, die nie an Sinnsequenzen gebunden<br />

sind, <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Geist bemächtigen könnte, die<br />

ganz im Gegenteil dem Eigensinn <strong>der</strong> Entstellungen ausgeliefert<br />

sind.<br />

Im Stück bekommen sie allmählich ein Gesicht und<br />

eine Stimme: eine Angst einflößende Puppe, die auf<br />

dem Rücksitz des Autos kichert. Der Bru<strong>der</strong> und die<br />

Schwester geben sich dabei eine gemeinsame bildliche<br />

Vorstellung des Inzests – bis sie ihn vollständig in das<br />

Verständliche und Sagbare zurückgeführt haben. Felix<br />

nennt sie Frankie. Aus Clara kommt ihre Stimme: anfangs<br />

die Stimme aus dem Zeichentrickfilm, den sie als<br />

Kin<strong>der</strong> zusammen schauten. Und nach und nach nimmt<br />

Frankie Gestalt an – eine in sich wi<strong>der</strong>sprüchliche: Zur<br />

süßen Stimme gesellt sich ein grinsendes Gesicht – bis<br />

zur finalen Auflösung in eine schrille und allgemeine<br />

Grausamkeit. Felix brüllt, um sie zum Schweigen zu bringen.<br />

Immer spricht sie durch Clara. Diese abscheuliche<br />

Puppe ist das Beharren <strong>der</strong> Erinnerung – und umso ungeheuerlicher,<br />

weil sie ohne passende Benennung bleibt.<br />

Wie lässt sich die Wie<strong>der</strong>holung in eine Verschiebung<br />

verwandeln? Gisèle Vienne führt die Form – Musik, Licht<br />

und Tanz – für diesen Weg vor, <strong>der</strong> aus Verän<strong>der</strong>ungen<br />

des physischen und psychischen Zustands besteht. Eine<br />

Durchquerung: von <strong>der</strong> Nacht ohne Anhaltspunkte bis<br />

zur Bildung neuer Verankerungen, die einzig den Eintritt<br />

in die Kriegsbereitschaft ermöglichen. Die Wie<strong>der</strong>eröffnung<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit, affektiert zu sein – das Heraustreten<br />

aus den abschwächenden Fixierungen –, ist ein<br />

Hochgefühl. Es zeigt sich in <strong>der</strong> Bewegungsfreiheit, die<br />

die <strong>der</strong> Selbstzerstörung entrissenen Körper allmählich<br />

wie<strong>der</strong>gewinnen.<br />

Konsistent zu existieren ist nur durch die an<strong>der</strong>en und<br />

mit ihnen möglich. Man kann aus dem Albtraum herauskommen,<br />

aber nicht aus dem Menschsein, <strong>der</strong> condition<br />

humaine. Genauer gesagt: Aus dem Albtraum wird man<br />

nur durch das richtig verstandene Menschsein herauskommen.<br />

Man braucht eine Untergruppe, von <strong>der</strong> aus man<br />

die Erfahrung, die ohne ein symbolisches Raster für ihre<br />

Erfassung nicht angeeignet werden kann und sich in eine<br />

Heimsuchung verwandelt, angemessen benennen kann.<br />

WENN MAN NICHT<br />

DIE RICHTIGEN<br />

ANDEREN HAT, MUSS<br />

MAN ANDERE<br />

ANDERE FINDEN.<br />

Wenn man nicht die richtigen An<strong>der</strong>en hat, muss man<br />

an<strong>der</strong>e An<strong>der</strong>e finden. Frankie taucht dort auf, wo <strong>der</strong><br />

soziale Körper ausweicht: ein sogenanntes Tabu, um<br />

das herum die Gesellschaft in Wahrheit unsagbare Kompromisse<br />

schließt. Gewöhnlich spiegeln die an<strong>der</strong>en die<br />

symbolische Ordnung – das, was sie sagt o<strong>der</strong> nicht sagt,<br />

das, was sie klarstellt o<strong>der</strong> verwirrt. Hier können die Gewöhnlich-An<strong>der</strong>en<br />

keinen Halt bieten: Sie tragen nur dazu<br />

bei, dass man tief in die Vorhölle absinkt. Aber es gibt<br />

immer noch Enklaven im sozialen Körper, Subräume, die<br />

die Bedeutungsabgrenzungen, die vom Kollektiv stabilisiert<br />

werden, nicht anerkennen. Bereiche, in denen sich<br />

Kollektive an<strong>der</strong>s gebildet und die Linien <strong>der</strong> Sinngebung<br />

an<strong>der</strong>s gezogen haben. Das sind die an<strong>der</strong>en An<strong>der</strong>en: die<br />

guten Bekanntschaften, mit und von denen aus man die<br />

unsichtbaren Trennwände nie<strong>der</strong> reißen und die Bewegung<br />

zurückbringen kann.<br />

SANDRA LUCBERT, geboren 1981 in Paris, studierte an <strong>der</strong> École normale supérieure und<br />

erlangte dort die Agregation in mo<strong>der</strong>ner Literatur. Sie absolvierte einen Master in<br />

psychoanaly tischen Studien in Paris VII. Ihre literarische Arbeit kreist um die Frage, wie<br />

Institutionen uns an Ort und Stelle halten – und unter ihnen insbeson<strong>der</strong>e die des Kapitalismus.<br />

Denn <strong>der</strong> Kapitalismus hält die Kontrolle nicht nur durch Gewalt, politischen<br />

und wirtschaftlichen Zwang aufrecht, er hält uns auch fest, indem er zu Impulsen aufruft,<br />

und dank imaginärer und sprachlicher Arbeit dessen, was Gramsci »Hegemonie« nennt.<br />

Als Grundlage für diesen Text besuchte Sandra Lucbert, eine Weggefährtin von Gisèle<br />

Vienne, eine szenische Probe von EXTRA LIFE.<br />

Aus dem Französischen von Clément Fradin<br />

Foto: Andrea Montano<br />

167


SLASHING<br />

ANTICIPATIONS<br />

TAMARA SAPHIR<br />

ÜBER DEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN<br />

TANZPROBEN UND SLASHERFILMEN<br />

THE VISITORS<br />

Tanz<br />

ab 9. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 50 _______________ www.ruhr3.com/visitors<br />

168


»Im Gegensatz zum linearen Schub <strong>der</strong> imperialen Zeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> unerbittlichen Wie<strong>der</strong>kehr<br />

<strong>der</strong> traumatischen Zeit, ist die Zeit <strong>der</strong> Verstrickung im Sinne Mbembes keine Serie,<br />

son<strong>der</strong>n eine Verstrickung von Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften, in <strong>der</strong>en<br />

Tiefen an<strong>der</strong>e Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte wohnen.«<br />

Debarati Sanyal, Critical Times (2019)<br />

Vor mehr als zehn Jahren begann Constanza Macras, in<br />

Südafrika mit Künstler:innen und Familien zu arbeiten. Im<br />

Laufe <strong>der</strong> Jahre haben wir bereits viele Geschichten und<br />

Erinnerungen miteinan<strong>der</strong> geteilt. Nachhaltig beeindruckend<br />

war die weit verbreitete Faszination für Teenie-<br />

Slasher-Horrorfilme. Daher beschlossen wir, gemeinsam<br />

ein Tanztheater in Johannesburg mit Bezügen zur Ästhetik<br />

und Handlung dieses Genres zu entwickeln.<br />

Falls Sie noch nie einen Slasher-Film gesehen haben<br />

(auch bekannt als Teen-Horrorfilm / Bodycount-Film):<br />

Hier werden Teenager:innen eine:r nach dem:r an<strong>der</strong>en<br />

von einem:r mysteriösen, psychopathischen, oft maskierten<br />

Killer:in getötet. Die bevorzugten Mordwaffen des:<strong>der</strong><br />

Killer:in sind Messer, Kettensäge o<strong>der</strong> auch stumpfe<br />

Gegenstände, aber selten Schusswaffen, daher auch <strong>der</strong><br />

Name des Genres: Slasher (dt: Aufschlitzer:in). Erwachsene<br />

sind während <strong>der</strong> Angriffe auf die Opfer oft abwesend<br />

o<strong>der</strong> hilflos. Klassische Slasher-Filme beginnen mit dem<br />

Mord an einer jungen Frau und enden mit einer einzigen<br />

Überlebenden, die es schafft, den Mör<strong>der</strong> zu überwältigen,<br />

dann aber feststellen muss, dass das Böse nicht<br />

vollständig besiegt wurde (wodurch <strong>der</strong> Film die Möglichkeit<br />

zur Fortsetzung erhält). Zu den amerikanischen<br />

Klassikern des Genres gehören The Texas Chainsaw<br />

Massacre (1974), Halloween (1978), Friday the 13th (1982),<br />

Candyman (1992) und Scream (1996).<br />

Der kanadische Kinokritiker Robin Wood sagt, Horror sei<br />

»vielleicht das progressivste (Filmgenre), selbst in seinem<br />

offenkundigen Nihilismus«. Diese Filme präsentieren oft<br />

unpopuläre Ansichten, die sich mit sozialen, rassistischen<br />

o<strong>der</strong> sexuellen Ungerechtigkeiten befassen. Auch Politik<br />

und Religion sind auftauchende Themen. Slasher-Filme<br />

»führen keine falsche Harmonie vor; sie för<strong>der</strong>n nicht das<br />

scheinbar Gute«, son<strong>der</strong>n stellen es vielmehr bloß und<br />

greifen es an. Sie bedienen nicht die Mechanismen von<br />

Identifikation und narrativer Kontinuität aus <strong>der</strong> Mainstream-Kultur<br />

und doch ist die Popularität dieses Genres<br />

ungebrochen.<br />

Die Wie<strong>der</strong>kehr des Vergangenen<br />

»Die Vergangenheit wird zurückkehren und dich in<br />

den Arsch beißen. Was immer du über die Vergangenheit<br />

zu wissen glaubst, vergiss es. Die Vergangenheit<br />

ruht nicht!«<br />

Regel Nr. 3 über Slasher-Filme, Dialog aus Scream 3<br />

von Wes Craven, 2000.<br />

Es gibt auffällige Parallelen zwischen dem Slasher-Movie-Genre<br />

und (post-)kolonialen Strukturen in <strong>der</strong> heutigen<br />

Gesellschaft Südafrikas. Die feministische Filmtheoretikerin<br />

Vera Dike betont den ähnlichen Mechanismus <strong>der</strong><br />

Markierung des An<strong>der</strong>sseins: Verbrechen in Slasher-Filmen<br />

erfolgen oft auf <strong>der</strong> Grundlage einer abwertenden<br />

Beurteilung des Opfers – sei es in Form von Kritik an den<br />

moralischen Standards <strong>der</strong> gejagten Teenager:innen (z. B.<br />

ihrer sexuellen Aktivitäten) o<strong>der</strong> aufgrund rassistischer<br />

Vorurteile. Außerdem gibt es immer eine starke Verbindung<br />

zwischen den Schrecken <strong>der</strong> Gegenwart und denen<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit. Die Gewalt in diesen Filmen ist weniger<br />

das Resultat einer Aktion, die aus dem Nichts im<br />

Hier und Jetzt auftaucht. Sie ist vielmehr ein Nachwirken<br />

<strong>der</strong> Schrecken <strong>der</strong> Vergangenheit, die vergessen und verdrängt,<br />

aber nicht überwunden wurden.<br />

Im südafrikanischen Kontext ist die Gegenwart auf vielfältige<br />

und komplexe Weise geprägt von <strong>der</strong> systematisierten<br />

Gewalt, die durch die nie<strong>der</strong>ländischen und britischen<br />

Kolonialherrscher:innen und anschließend durch das<br />

Apartheidregime ausgeübt wurde. Diese drei Machtsysteme<br />

eint, dass sie teilten, um zu herrschen. Sie bedienten<br />

sich des »Othering« auf <strong>der</strong> Grundlage rassistischer<br />

Konstruktionen und för<strong>der</strong>ten Rivalität und Missgunst<br />

unter Nachbar:innen, um das Potential für Solidarisierung<br />

und gemeinsamen Wi<strong>der</strong>stand zunichtezumachen. Durch<br />

die willkürliche Verteilung von »Privilegien« unter den verschieden<br />

konstruierten unterdrückten Gruppen säten die<br />

Herrschenden Neid und Ressentiments, um Nachbar:innen<br />

zu Konkurrent:innen und potenziellen Feind:innen zu<br />

machen.<br />

Diese Struktur <strong>der</strong> Vergangenheit taucht in Zeiten gesellschaftlicher<br />

Anspannung immer wie<strong>der</strong> auf drastische<br />

Weise auf, wie zuletzt bei den Unruhen während <strong>der</strong> Pandemie,<br />

als rassistische Übergriffe im ganzen Land zunahmen.<br />

Es kam zu vielen Angriffen auf Südafrikaner:innen<br />

mit indischer Abstammung, die während <strong>der</strong> Apartheid<br />

»Privilegien« gegenüber <strong>der</strong> schwarzen südafrikanischen<br />

Bevölkerung genossen hatten, und auf Migrant:innen aus<br />

an<strong>der</strong>en afrikanischen Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e aus Nigeria.<br />

Das Projekt THE VISITORS will vermitteln, wie <strong>der</strong>:die<br />

An<strong>der</strong>e als »Monster« erschaffen wird. Es zeigt auf, wie<br />

die xenophoben Konstrukte rund um die nigerianischen<br />

Einwan<strong>der</strong>:innen mit dem realen Schrecken <strong>der</strong> kolonialen<br />

Eindringlinge verbunden sind und wie diese bis heute die<br />

gesellschaftspolitischen Strukturen <strong>der</strong> südafrikanischen<br />

Gesellschaft beeinflussen.<br />

Die Killer in sogenannten Teen-Horrorfilmen sind keine<br />

komplexen, charismatischen Psychopath:innen wie etwa im<br />

Film Das Schweigen <strong>der</strong> Lämmer. Hier erscheint <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong><br />

eher als eine oberflächliche und unterentwickelte Figur,<br />

die oft kaum zu sehen ist. Statt selbst Protagonist:innen<br />

169


zu werden, verkörpern sie eine nahezu abstrakte Ursache<br />

von Gewalt. Sie sehen menschlich aus, sind aber praktisch<br />

unbesiegbar. Es reicht nicht aus, sie einmal zu töten. Diese<br />

beiden Elemente, Unsichtbarkeit und Unbesiegbarkeit,<br />

spiegeln die gesellschaftlich verinnerlichten und die Zeit<br />

überdauernden Formen <strong>der</strong> oben erwähnten Machtstrukturen<br />

wi<strong>der</strong>.<br />

In Kult-Slasher-Filmen wie Halloween von 1978 sind es<br />

immer wie<strong>der</strong> Jugendliche aus Vor- und Kleinstädten, die<br />

Gefahren ausgesetzt sind: zu Hause, in <strong>der</strong> Schule, beim<br />

Camping und in den Ferien. In den meisten dieser Filme erscheinen<br />

Eltern als völlig abwesend im Leben ihrer Kin<strong>der</strong>,<br />

sowohl physisch als auch emotional. Die Teenager:innen<br />

müssen immer allein mit den Killer:innen fertig werden.<br />

Das Zuhause in diesen Filmen bietet keinen sicheren Zufluchtsort<br />

vor einer aus den Fugen geratenen Welt. In <strong>der</strong><br />

Literatur über das Genre wird dies mit den Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Teenager:innen in verän<strong>der</strong>ten Familienstrukturen<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (Möglichkeit <strong>der</strong> Scheidung, verän<strong>der</strong>te<br />

Arbeitswelten) verknüpft. Doch dieser Aspekt wird im<br />

südafrikanischen Kontext gänzlich an<strong>der</strong>s gelesen. Denn<br />

mit <strong>der</strong> Arbeitspolitik und den Passgesetzen setzte das<br />

Apartheidregime eine staatlich orchestrierte und effektive<br />

Zerstörung von Familienstrukturen um. Männer waren oft<br />

dazu verpflichtet, sich für längere Zeit von ihren Familien<br />

fernzuhalten. So leben heute in Südafrika nur noch etwa<br />

35 Prozent <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit ihren beiden Elternteilen zusammen.<br />

Erwartung, Horror und Absurdes<br />

»Annie: Fürchtest du dich noch?<br />

Laurie: Ich habe mich nicht gefürchtet.<br />

Annie: Lüge!«<br />

Dialog aus Halloween von John Carpenter, 1978.<br />

Erwartung ist ein<br />

entscheidendes Element, um das Gefühl<br />

eines bevorstehenden Übels hervorzurufen. Bereits<br />

durch die reine Beschwörung seiner Anwesenheit wird das<br />

Böse in <strong>der</strong> Imagination des:<strong>der</strong> Zuschauer:in zum Leben<br />

erweckt. Erwartung bildet in diesen Filmen die Quelle des<br />

Schreckeffekts. Aber wie die Kinokritikerin Carol J. Clover<br />

hervorhebt, ist <strong>der</strong> schnelle Wechsel zwischen »echtem«<br />

Schrecken auf <strong>der</strong> einen Seite und einem persiflierenden,<br />

sich selbst parodierenden Schrecken auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

eines <strong>der</strong> auffälligsten Merkmale des Genres. Die Erwartung<br />

<strong>der</strong> Angst löst sich oft absichtlich in einer Übertreibung<br />

auf, die manchmal ins Absurde kippt und damit sogar<br />

Humor hervorbringt. David Lynch erläutert diesen Zusammenhang<br />

sehr anschaulich: »Wenn Sie einen Mann immer<br />

wie<strong>der</strong> gegen eine Wand rennen sehen, bis er zu blutigem<br />

Brei wird, bringt es uns nach einer Weile zum Lachen, weil<br />

es absurd ist.« Ein weiteres Phänomen in Slasher-Filmen<br />

ist <strong>der</strong> fehlende Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> verübten Gewalt<br />

und ihren Auswirkungen. Einige Figuren sterben nach<br />

einem einzigen Schlag, während an<strong>der</strong>e nach 20 Messerstichen<br />

im Körper vom Balkon stürzend weiterleben.<br />

THE VISITORS spielt mit diesen Charakteristiken. Der<br />

wahre Schrecken, <strong>der</strong> durch die Erwartung geschürt wurde,<br />

wird durch Inkohärenz unterbrochen. So als ob die<br />

Figuren meinten, es sei <strong>der</strong> effizienteste Weg, den Monstern<br />

(<strong>der</strong> Vergangenheit?) zu begegnen, indem man die<br />

Kommunikation im Verlauf des Gesprächs radikal än<strong>der</strong>t.<br />

Absurde Wendungen in den Handlungssträngen wie z. B.<br />

die Entdeckung, dass Tanzen die Monster vertreibt, funktionieren<br />

als humorvolle Auswege aus dem unerbittlichen<br />

Kreis des wie<strong>der</strong>kehrenden Grauens.<br />

170


Das Eindringen<br />

»Weiße kommen nie hierher, außer um uns ein Problem<br />

zu bereiten. Glauben Sie mir, das wollen wir nicht.«<br />

Dialog aus Candyman von Bernard Rose, 1992.<br />

Eine weitere Inspiration für THE VISITORS ist die berühmte<br />

Kurzgeschichte Das besetzte Haus des argentinischen<br />

Autors Julio Cortázar von 1946. Sie handelt von einem Geschwisterpaar,<br />

das in seinem Elternhaus lebt. Das Haus<br />

wird allmählich und auf furchteinflößende Weise von unbekannten<br />

Wesen o<strong>der</strong> Kräften »besetzt«. Diese nicht<br />

näher identifizierte und gruselige Kraft wird es schließlich<br />

schaffen, die Figuren aus ihrem Zuhause zu vertreiben.<br />

Am Ende verlassen sie das Haus, schließen die Tür hinter<br />

sich ab und werfen den Schlüssel in einen Gully, in <strong>der</strong><br />

Hoffnung, dass niemand ihn je finden wird. Die Geschichte<br />

selbst bietet keine Erklärungen o<strong>der</strong> Antworten, worauf<br />

sich die gruseligen Kräfte beziehen. In ihrer späteren Rezeption<br />

in Argentinien und Südamerika wurden sie stark<br />

mit <strong>der</strong> Schreckenszeit <strong>der</strong> lokalen Militärdiktaturen (und<br />

<strong>der</strong> mit ihnen verbündeten ausländischen Staaten während<br />

des Kalten Krieges) in Zusammenhang gebracht.<br />

In <strong>der</strong> Tradition von Slasher-Filmen gibt es immer einen<br />

Ort des Schreckens, an dem die Handlung stattfindet.<br />

Aber an<strong>der</strong>s als in Das besetzte Haus erfolgt die Invasion<br />

dieses Ortes nie allmählich o<strong>der</strong> subtil, son<strong>der</strong>n – im Gegenteil<br />

– plötzlich und spektakulär. In aufreibenden Szenen<br />

schließt sich das Opfer (in einem Haus, einer Schule,<br />

einem Zimmer, einem Auto) ein und wartet dort mit klopfendem<br />

Herzen, während sich <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> den Weg hinein<br />

bahnt – schlägt, hackt o<strong>der</strong> schlitzt. Dies sind die sogenannten<br />

»Penetrationsszenen« und üblicherweise Schlüsselmomente<br />

des Films.<br />

Der Schrecken, <strong>der</strong> durch das Eindringen des Monsters in<br />

den Schutzraum des Opfers hervorgerufen wird, wird im<br />

gefeierten Film Get Out von Jordan Peele auf eine weitere<br />

Ebene gehoben. Im Film versuchen die Monster, in<br />

den Kopf des Opfers einzudringen, um dessen Gehirn und<br />

Verstand zu kapern. Das Bild <strong>der</strong> Gehirntransplantation<br />

wird verwendet, um die Fortdauer von Rassismus zu veranschaulichen.<br />

In diesem Film ist, wie Peele es beschreibt,<br />

»die Gesellschaft selbst das Monster«.<br />

Der Ort des Schreckens in THE VISITORS ist die lutherische<br />

Friedenskirche in Johannesburg. Sie befindet sich<br />

in Hillbrow, einem Viertel, das während <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Apartheid<br />

von Deutschen geprägt war. Anschließend wurde es<br />

zu einem zentralen Ort für Migrant:innen aus den Townships,<br />

aus dem ländlichen Südafrika und an<strong>der</strong>en afrikanischen<br />

Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e Nigeria. Heute kämpft das<br />

Gebiet mit einem hohen Grad an Intoleranz und Xenophobie.<br />

Im Jahr 2019, als die gesellschaftlichen Spannungen<br />

(später zusätzlich befeuert durch die COVID-19-Pandemie)<br />

zunahmen, kam es auch in Hillbrow zu fremdenfeindlichen<br />

Übergriffen. Die lutherische Friedenskirche ist das einzige<br />

architektonische Überbleibsel <strong>der</strong> dortigen deutschen Gemeinde.<br />

Das Gebäude, welches jetzt in Church of Peace<br />

umbenannt wurde und Outreach-Community-Programme<br />

anbietet, erinnert nach wie vor an die Strukturen <strong>der</strong><br />

Vergangenheit. Seine neoromanische Architektur und<br />

sein markanter barocker Glockenturm heben sich auf befremdliche<br />

Weise vom Rest <strong>der</strong> Nachbarschaft ab. Es wirkt<br />

nahezu wie ein Geisterhaus einer europäischen Religion.<br />

TAMARA SAPHIR arbeitete als Dramaturgin bereits bei<br />

Hillbrowfication mit Constanza Macras zusammen und<br />

begleitet ebenso The Visitors in seiner Enstehung.<br />

Aus dem Englischen von Oliver Chrzanoswki<br />

Foto: Kruger Van Deventer, Design: Roman Handt<br />

171


JENSEITS<br />

DER VERFESTIGUNG<br />

VON IDENTITÄTEN<br />

VON AMANDA PIÑA / SARA ABBASI<br />

Clemencia Piña, La Sarabia<br />

EXÓTICA<br />

Tanz<br />

ab 1. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 44 _______________ www.ruhr3.com/exotica<br />

172


Amanda Piña widmet sich in Exótica vergessenen Künstler:innen,<br />

die in Europa zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts als<br />

»an<strong>der</strong>s« gelesen und exotisiert wurden. Trotz ihrer großen<br />

Popularität wurden diese Künstler:innen nicht in den Kanon<br />

<strong>der</strong> Tanzgeschichte aufgenommen und ihnen wurde<br />

verhältnismäßig wenig Platz in den Archiven zuerkannt,<br />

wodurch es teilweise schwierig ist, ihre Biografien zu rekonstruieren.<br />

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben<br />

wir kleine Portraits von ihnen zusammengestellt, welche<br />

hoffentlich Lust machen, ihnen weiter zu folgen. Wir beginnen<br />

mit La Sarabia und geben ihr den größten Raum, denn<br />

sie ist die Urgroßtante von Amanda Piña – und Amanda<br />

weiß einiges aus ihren Familienarchiven zu erzählen.<br />

La Sarabia<br />

Es gab immer Gerüchte in meiner Familie über meine Urgroßtante<br />

Clemencia Piña, La Sarabia. Zumindest hielt ich<br />

es für Gerüchte, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

eine berühmte Tänzerin in Paris war, dass sie vor dem<br />

letzten russischen Zaren getanzt hatte und dass es sogar<br />

eine französische Briefmarke gab, die sie abbildete. Aber<br />

dann fanden wir während unserer Recherche über an<strong>der</strong>e<br />

Tänzer:innen aus <strong>der</strong> Zeit so viel Material über meine Urgroßtante<br />

in <strong>der</strong> Französischen Nationalbibliothek. Sie war<br />

damals tatsächlich eine berühmte Künstlerin, doch als sie<br />

in Marseille starb, ging niemand aus meiner Familie zu ihrer<br />

Beerdigung; ich glaube, ihre Tochter, die auch Tänzerin war,<br />

wurde sogar in einem namenlosen Gemeindegrab begraben.<br />

Und das verfolgt mich irgendwie. Was war passiert?<br />

Wie kann es sein, dass du so berühmt bist und ein Land wie<br />

Frankreich repräsentierst, und am Ende wirst du einfach<br />

ausrangiert? War es, weil sie das Land doch nur sehr bedingt<br />

repräsentierte und am Ende doch fremd blieb, auch<br />

wenn man sie das Gegenteil glauben machen wollte?<br />

La Sarabia starb arm und blieb verlassen, doch ihr Leben<br />

muss unglaublich gewesen sein. Ihre Mutter verließ Mexiko<br />

mit ihr, als sie klein war, auf <strong>der</strong> Flucht vor <strong>der</strong> Familie,<br />

weil sie ihren Mann verlassen hatte. Damals konntest du<br />

dich nicht einfach scheiden lassen. Ihre Mutter floh also<br />

nach Paris und führte dort ein ausschweifendes Leben,<br />

sie hatte nämlich viel Geld geerbt. Als das Geld irgendwann<br />

aufgebraucht war, verdiente ihre Tochter La Sarabia<br />

bereits Geld durch ihren Tanz. Sie wurde berühmt durch<br />

die Danza Española, auch »Espagnolade« genannt, ein<br />

spanischer Tanz, <strong>der</strong> damals selten war und als exotisch<br />

galt. Natürlich war sie keine Spanierin, sie war Mexikanerin,<br />

in ihren A<strong>der</strong>n floss indigenes Blut, aber sie gab<br />

vor, spanisch zu sein, und verkörperte in ganz Europa<br />

sehr erfolgreich spanisches Ballett. Und sie hatte tatsächlich<br />

vor dem russischen Zaren getanzt. Irgendwas<br />

muss damals passiert sein, denn sie blieb lange Zeit in<br />

Sankt Petersburg. Manche behaupten, <strong>der</strong> Zar verliebte<br />

sich in sie, aber das werden wir nie erfahren. Es ging ihr<br />

lange Zeit sehr gut, aber dann bekam La Sarabia ein Kind<br />

von einem Mann, den sie kennengelernt hatte, einem<br />

Mexikaner. Sie liebten sich, aber seine Familie war gegen<br />

die Hochzeit, weil es für sie nicht akzeptabel war, dass<br />

meine Urgroßtante Bühnenkünstlerin war. Sie konnten<br />

also nicht heiraten, und so zog meine Urgroßtante ihre<br />

Tochter ohne den Vater auf, <strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Trennung litt<br />

und zumindest regelmäßig Geld schickte. Meine Tante<br />

erzählte mir, dass sie nach Marseille reiste, um die<br />

Tochter von La Sarabia zu besuchen. Das war vor acht<br />

Jahren, Lidia Siria war ihr Name, und sie war damals<br />

schon eine alte Dame. Als meine Tante klingelte, öffnete<br />

sie die Tür und schlug sie sofort wie<strong>der</strong> zu. Wenig<br />

später öffnete sie die Tür erneut und trug eine Fe<strong>der</strong>boa<br />

um den Hals, eine sehr alte Dame. Offenbar war ihr klar,<br />

dass meine Tante die letzte Piña war, die sie in ihrem Leben<br />

sehen würde. Also schenkte sie ihr einen Ring, den<br />

Ring ihrer Mutter, La Sarabia. Und ein paar Jahre später<br />

gab meine Tante den Ring an mich weiter, mit den<br />

Worten: »Ich glaube, <strong>der</strong> ist für dich bestimmt. Denn<br />

du bist wie sie.« Und ich trage den Ring immer. Ich fühle<br />

mich mit meiner Urgroßtante sehr verbunden, es gibt viele<br />

Parallelen in unseren Biografien, obwohl so viel Zeit dazwischen<br />

liegt. Manche sagen, wir würden uns ähnlich<br />

sehen, und tatsächlich gibt es Bil<strong>der</strong> von ihr, auf denen<br />

ich mich selbst erkenne. Manchmal denke ich, vielleicht<br />

sind wir alle, ohne es zu wissen, die Wie<strong>der</strong>geburt einer<br />

Ahnin o<strong>der</strong> eines Ahnen. Die Frage, wie wir zu dem werden,<br />

was wir sind, durch die Augen <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en, interessiert<br />

mich sehr. Wie viel Bewegungsspielraum bleibt<br />

uns innerhalb dieses Blicks? Es gibt eine gewisse Gewalt<br />

in je<strong>der</strong> Selbst- und Fremdbezeichnung, die kulturellen<br />

Manifestationen innewohnt, weil ihr Maßstab immer <strong>der</strong><br />

White Gaze war (ich glaube, <strong>der</strong> White Gaze ist männlich<br />

und heteronormativ). Und wir leben das heute noch, auch<br />

wenn sich viel verän<strong>der</strong>t hat und die Kräfteverhältnisse<br />

in <strong>der</strong> Welt sich verschoben haben. Heute können wir all<br />

diese Diskussionen führen und ein Festival wie die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

lädt mich ein, meine Arbeit vor überwiegend<br />

weißem Publikum zu zeigen. Und auch wenn da noch immer<br />

eine gewisse Brutalität mitschwingt, ist es irgendwie<br />

auch erfrischend und fantastisch, wie wir heute durch all<br />

diese Beschränkungen navigieren können. Was genau ist<br />

also heute dieser Blick, dieser White Gaze? Wie kann man<br />

ihn sichtbar machen und ihm dadurch seine Wirkung nehmen?<br />

Für mich ist <strong>der</strong> Motor für dieses Stück nicht nur<br />

das Andenken an diese wun<strong>der</strong>baren Künstler:innen, ich<br />

will sie auch mit unseren heutigen Biografien verweben<br />

und von ihren Tänzen und ihrem Mut lernen. Und ich will<br />

den White Gaze reflektieren, unterwan<strong>der</strong>n und in gewisser<br />

Weise zurückspielen, ohne dabei abschätzig zu sein.<br />

Ich glaube, es liegt für alle eine große Chance darin, ein<br />

Bewusstsein für den eigenen Blick zu erlangen: wenn das<br />

Publikum beispielweise über seine Art zu schauen nachdenkt<br />

und sich bewusst wird, durch wie viele Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

dieser Blick geformt wurde und wie sehr dieser Blick<br />

die Welt wie<strong>der</strong>um formt. Wollen wir die Welt <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en<br />

nur als ein Image konsumieren o<strong>der</strong> können wir uns<br />

durch diese Erfahrung <strong>der</strong> Zerbrechlichkeit <strong>der</strong> eigenen<br />

Welt bewusst werden? Wenn es eine Sensibilisierung in<br />

diese Richtung gibt, dann können wir daran wachsen und<br />

eine transzendente Erfahrung machen, die uns gemeinsam<br />

woan<strong>der</strong>s hinbringt. Es kann <strong>der</strong> Beginn einer Reise<br />

sein, ein gemeinsames sinnliches Ritual jenseits <strong>der</strong> Verfestigungen<br />

von Identitäten.<br />

Amanda Piña<br />

Aufgezeichnet von Sara Abbasi<br />

173


François »Féral« Benga<br />

François Benga wurde 1906 in Dakar geboren und zog<br />

als Siebzehnjähriger mit seinem Vater nach Paris. Der<br />

Senegal war damals französische Kolonie, Benga und sein<br />

Vater galten gemäß <strong>der</strong> damaligen rassistisch-kolonialen<br />

Anschauung nicht als Bürger, son<strong>der</strong>n als koloniale<br />

Subjekte, gefangen in einer prekären Situation, die kaum<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Teilhabe bot. Bereits in den 1920er<br />

Jahren fand Benga seinen Weg in die Pariser Revue-<br />

Szene und begleitete Josephine Baker an den Tomtoms<br />

während ihrer berühmten »Bananentänze«. Es dauerte<br />

nicht lange und er stieg zum Star in den Folies Bergère auf.<br />

Sein Bühnenname war Féral Benga, was so viel bedeutete<br />

wie »Der wilde Benga«. Im europäischen Konstrukt<br />

von Afrika repräsentierte Benga das maximal An<strong>der</strong>e und<br />

die mit Gefahr assoziierte Männlichkeit. Der europäische<br />

Blick interessierte sich weniger für sein enormes künstlerisches<br />

Potential o<strong>der</strong> seine performativen Fähigkeiten, er<br />

sah vielmehr das stark sexualisierte Objekt, den schwarzen<br />

Merkur, den schönen, schwarzen Adonis. In den Dreißigern<br />

tauchte er ein in die französische Avantgarde und<br />

wirkte als Schwarzer Engel in Cocteaus experimentellem<br />

Spielfilm Le sang d’un poète mit. 1934 unternahm er gemeinsam<br />

mit seinem Partner, dem britischen Anthropologen<br />

Geoffrey Gorer, eine Forschungsreise nach Westafrika,<br />

um für dessen nicht unproblematische Monografie<br />

Africa Dances verschiedene Tanzstile in einer Art Feldforschung<br />

zu »sammeln«. Obwohl er queer war, heiratete er<br />

kurz vor seinem Tod im Jahr 1957 und bekam einen Sohn.<br />

François Benga ist in Paris begraben.<br />

Nyota Inyoka<br />

Die Tänzerin, Choreografin, Autorin und Pädagogin Nyota<br />

Inyoka wurde 1896 in Paris geboren. Ihre Lebensgeschichte<br />

bewegt sich zwischen Faktizität, Invention, Legendenbildung<br />

und Selbstbestimmung. Ihre Mutter war Französin,<br />

vom Vater behauptete sie zu Beginn ihrer Karriere,<br />

er wäre Ägypter, später, er wäre In<strong>der</strong> – wahrscheinlich<br />

wusste sie es selbst nicht genau. Als ihren Geburtsort<br />

gab sie Pondicherry an und bezeichnete sich selbst als<br />

»danseuse hindoue«, Hindu-Tänzerin. In ihrer Blütezeit<br />

lebte sie als erfolgreiche Tänzerin äußerst mondän und<br />

verkehrte in den höchsten Pariser Kreisen, dennoch behielt<br />

ihre Existenz eine eigentümliche Fragilität. Ihre große<br />

Popularität än<strong>der</strong>te nichts daran, dass ihr Tod im Jahr<br />

1971 nur äußerst knapp thematisiert wurde, vermutlich<br />

setzte das Vergessen ihrer Person bereits ab den 1960er<br />

Jahren ein. Bereits ab 1917 trat sie als Nioka-Nioka in den<br />

Folies Bergère auf, angekündigt als »Perle d’Asie«, und<br />

ab den 1920er Jahren in üppigen Ausstattungsrevuen im<br />

Théâtre de l’Oasis unter <strong>der</strong> Leitung des Modeschöpfers<br />

Paul Poiret. 1931 fand in Paris die Internationale Kolonialausstellung<br />

statt, für die sie eine Galaveranstaltung zu<br />

Indien gestaltete. Weil Inyoka sich mit ihrem Programm<br />

aus Tänzen, <strong>der</strong>en indische Anmutung hauptsächlich auf<br />

einer Art Belebung historischer und ikonografischer Überlieferungen<br />

basierte, längst einen Namen gemacht hatte,<br />

wurde sie nun zur gleichsam offiziellen Repräsentantin<br />

<strong>der</strong> indischen Kultur. Ermutigt durch die positive<br />

Resonanz gründete sie eine Compa gnie, die Ballets Nyota<br />

Inyoka, die ihr Debüt 1932 mit einem Programm rekonstruierter<br />

Tänze aus Indien, Ägypten und Äthiopien mit großem<br />

Erfolg im Théâtre du Vieux-Colombier feierte. Spätestens<br />

seit diesem Datum war sie als Künstlerin »durchgesetzt«.<br />

Ihre Compagnie blieb bis zum Ende von Inyokas Bühnenlaufbahn<br />

1957 bestehen.<br />

174


Leïla Be<strong>der</strong>khan<br />

Leïla Be<strong>der</strong>khan wurde 1903 in Konstantinopel als Tochter<br />

eines kurdischen Vaters und einer österreichischen Mutter<br />

mit jüdischer Herkunft geboren. Sie entstammte dem<br />

Geschlecht <strong>der</strong> Bedr Khans und inszenierte sich in Europa<br />

als kurdische Prinzessin. Aufgewachsen ist sie in Ägypten,<br />

später zog sie in die Schweiz und debütierte dann<br />

in Wien, wo sie mit ihrer Mutter, einer Zahnärztin, lebte.<br />

Für ihr internationales Debut mietete sie das Konzerthaus<br />

in Wien, was Aufschluss über die finanziellen Mittel<br />

gibt, über die sie verfügte und die ihr ein ausgesprochen<br />

selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Sie beherrschte<br />

mehrere Sprachen und reiste enorm viel: Sie war in New<br />

York, Stockholm, Paris, machte Urlaub an <strong>der</strong> Côte d’Azur<br />

und im österreichischen Salzkammergut. Auch bei ihr vermischen<br />

sich Fakten und Legenden, die sie klug zu nutzen<br />

wusste, um die Marke <strong>der</strong> »orientalischen Prinzessin« erfolgreich<br />

zu lancieren. Wo es verlangt wurde, bediente sie<br />

den Exotismus, nutzte aber auch immer Elemente westlicher<br />

Tanzstile in ihren Choreografien, sowie westliche<br />

Instrumentierungen und Kostüme. Sie gab vor, drusische,<br />

zoroastrische, indische sowie ägyptische Tänze zu beherrschen<br />

und inszenierte sich als Repräsentantin diverser als<br />

»orientalisch« gelesener Kulturen. Der Höhepunkt ihrer<br />

Karriere war <strong>der</strong> Auftritt an <strong>der</strong> Mailän<strong>der</strong> Scala 1932, wo<br />

sie als Belkis in dem opulent ausgestatteten Ballett Belkis,<br />

Regina di Saba auftrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

zog sie sich von <strong>der</strong> Bühne zurück, gründete eine Tanzschule<br />

in einem Pariser Vorort und verstarb ebendort im<br />

Jahr 1986.<br />

Herzlichen Dank an Sandra Chatterjee, Christina Gillinger-<br />

Correa Vivar, Franz Anton Cramer und Nicole Haitzinger,<br />

die gemeinsam im FWF-Forschungsprojekt Bor<strong>der</strong>-Dancing<br />

Across Time an <strong>der</strong> Universität Salzburg arbeiten und ihr<br />

Wissen großzügig in Gesprächen und durch ihre Publikationen<br />

mit uns geteilt haben.<br />

AMANDA PIÑA war bereits 2021 mit Danza y Frontera Gast<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Sie ist eine mexikanisch-chilenische<br />

Performerin, Choreografin und Kulturarbeiterin, die seit<br />

vielen Jahren in Wien und Mexiko-Stadt lebt und international<br />

arbeitet. In ihren Performances sowie Installationen,<br />

Workshops und Vorträgen untersucht sie mit<br />

anthropologischem Interesse die politische und soziale<br />

Kraft von Tanz und seine Verflechtungen zwischen<br />

Tradition und Mo<strong>der</strong>ne. Seit fast zehn Jahren sammelt<br />

sie in ihrem Langzeitprojekt Endangered Human Movements<br />

vom Aussterben bedrohte Bewegungspraktiken<br />

und befasst sich mit <strong>der</strong> Rolle von Gedächtnis und Archiv<br />

im Kontext dekolonialer Emanzipationsbewegung.<br />

Diesem Artikel liegt ein Gespräch mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-<br />

Dramaturgin SARA ABBASI zugrunde.<br />

Fotos: BNF Paris (La Sarabia), J.C Mehú Tam-Tam-Photographies (François Féŕal<br />

Benga), Lou Lou Roudanez (Nyota Inyoka), Die bühne Theatremuseum wien<br />

(Leila Be<strong>der</strong>khan)<br />

175


THEATER IST JA<br />

AUCH DIE KUNST<br />

DES RECYCLINGS!<br />

ANDREAS KARLAGANIS IM GESPRÄCH MIT<br />

CHRISTINA WALD, PROFESSORIN FÜR ENGLISCHE<br />

LITERATUR, ÜBER WILLIAM SHAKESPEARES<br />

EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />

Christina Wald<br />

EIN SOMMERNACHTSTRAUM<br />

Schauspiel<br />

ab 10. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 12 _______________ www.ruhr3.com/traum<br />

176


Andreas Karlaganis Bei Lektüre des Sommernachtstraums<br />

fällt auf, wie viele Themen darin verhandelt werden,<br />

die uns heute auch bewegen, von <strong>der</strong> Klima kata strophe<br />

bis zur Triggerwarnung im Theater. Und es ist ein zeitloses<br />

Stück über die Verwandlung.<br />

Christina Wald Ein Sommernachtstraum wird unterschätzt,<br />

wenn man denkt, er sei eine liebliche Komödie<br />

über Feen. Zu Shakespeares Zeit gab es so<br />

etwas wie den Sommernachtswahnsinn während<br />

einer festlichen Zeit im Mai und Juni, zu <strong>der</strong> Jugendliche<br />

zusammen in den Wald zogen. Natürlich<br />

war nicht gedacht, dass man sich unmoralisch entgrenzt,<br />

aber es war dennoch ein Initiationsritus mit<br />

Transgressionspotential. Es gab die Idee, dass es<br />

dabei zu Verwandlungen kommen könnte, sowohl<br />

innerer als auch äußerer Art, bei denen Hexerei im<br />

Spiel sein könnte. Neben solchen Bräuchen war<br />

Shakespeare literarisch von Ovids Metamorphosen<br />

inspiriert, die uns Verwandlungen vom Menschen ins<br />

Posthumane zeigen, sei es in Pflanzen o<strong>der</strong> in Tiere.<br />

Es sind ambivalente Verwandlungen. Es können Erlösungen,<br />

es können aber auch Bestrafungen sein<br />

wie Gefangenschaften im falschen Körper, ein Thema,<br />

das uns im Rahmen <strong>der</strong> Transsexualität gerade<br />

sehr beschäftigt. Die enge körperliche Verknüpfung<br />

von nicht-menschlicher Umwelt und Menschen wie<strong>der</strong>um<br />

wird in <strong>der</strong> Ökokritik immer deutlicher betont.<br />

Zettel, <strong>der</strong> Handwerker, wird in einen Esel verwandelt,<br />

doch interessanterweise nicht komplett, son<strong>der</strong>n er<br />

kriegt nur dessen Kopf. Er wird zum hybriden Wesen.<br />

Die Öko kritik spricht von »Trans-species«, ein Begriff,<br />

<strong>der</strong> deutlich machen soll, dass <strong>der</strong> Mensch nicht so<br />

souverän und unabhängig ist von <strong>der</strong> Tierwelt und<br />

<strong>der</strong> Natur, wie wir es über Jahrhun<strong>der</strong>te glauben wollten.<br />

Der Klimawandel und die Pandemie haben uns<br />

deutlich gemacht, dass wir von Mikroben, Viren, dem<br />

Wetter usw. abhängig sind und also vernetzt sind mit<br />

<strong>der</strong> Natur. Insofern ist Ein Sommernachtstraum tatsächlich<br />

ein Stück <strong>der</strong> Stunde.<br />

Der Übergang zur alternativen Lebensform scheint mit<br />

Gefühlen des Grauens verbunden zu sein. Man erkundet<br />

Dinge im Wald, die etwas mit einem selbst zu tun haben,<br />

die einen aber beunruhigen.<br />

Ja, Shakespeare zeigt uns auch einen Mittsommernachtsalbtraum,<br />

auch wenn sich für manche Figuren<br />

Wunschträume erfüllen. So wechselt Lysan<strong>der</strong> das<br />

Liebesobjekt, aber er leidet nicht so stark wie manche<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Auch Zettel realisiert nicht, dass er in<br />

einen Esel verwandelt ist, und wun<strong>der</strong>t sich, warum er<br />

so abgöttisch geliebt wird von <strong>der</strong> Feenkönigin Titania.<br />

Erst danach ist er verstört und versucht, sein Erlebnis<br />

in Worte zu fassen. Er ringt um eine Sprache, die versucht,<br />

den Traum darzustellen. Bei Titania ist die Deutung<br />

umstritten: Gerät sie in einen Albtraum o<strong>der</strong> kann<br />

sie ausleben, was sie sich immer schon gewünscht<br />

hat? Des einen Wunschtraum wird zum Albtraum des<br />

an<strong>der</strong>n. Das können wir in <strong>der</strong> unglücklichen Liebe tatsächlich<br />

oft sehen.<br />

Theater ist die Kunst <strong>der</strong> Verwandlung. In welchem Zustand<br />

ist <strong>der</strong> Mensch überhaupt fähig, sich zu verwandeln?<br />

Die Handwerker werden »rude mechanicals« genannt<br />

und verstehen Theater als basales Handwerk. An<strong>der</strong>erseits<br />

stehen auch die Elfen für das Theater, und<br />

Puck beginnt seinen Schlussmonolog mit den Worten:<br />

»If we shadows have offended …«. Das Theater ist somit<br />

verortet zwischen Handwerk und Zauberei, jener<br />

hohen Kunst, die für den Menschen eigentlich gar nicht<br />

zugänglich ist. Es ist <strong>der</strong> Raum, wo Verwandlung und<br />

alternative Wahrnehmung möglich sind. Auch wird die<br />

Frage aufgeworfen, wie begrenzt diese Verwandlung<br />

ist. Endet sie mit dem Theaterabend o<strong>der</strong> geht sie darüber<br />

hinaus? Es ist ausschlaggebend, dass Demetrius<br />

am Ende nicht zurückverwandelt wird. Wenn wir das<br />

Theater eher mit <strong>der</strong> Zauberei und <strong>der</strong> Magie assoziieren<br />

wollen, dann kann etwas davon weiterbestehen.<br />

Das wäre die Hoffnung, die das Theater eigentlich hat.<br />

Bei Zauberei spielen auch Substanzen eine Rolle – ein<br />

Elixier wird den schlafenden Menschen von den Elfen in<br />

die Augen getropft. Heute könnte man diesen Zustand<br />

mit Drogen herstellen.<br />

Bei Shakespeare ist die Grenze zwischen schädlichen<br />

Drogen und hilfreichem Medikament nicht klar gezogen.<br />

»Potion« ist ein neutraler Ausdruck, selbst das<br />

englische »drug« kann beides bedeuten – wir kennen<br />

den Ausdruck »drugstore« für Drogerie. Wir haben also<br />

das ganze Spektrum zwischen Therapie, Rausch und<br />

Gift für diese Mittel <strong>der</strong> Zeit. Im Sommernachtstraum<br />

wird die Liebe ohnehin als Rauschzustand dargestellt.<br />

Wenn man sich die aktuelle Hirnforschung o<strong>der</strong> die<br />

Erkenntnisse <strong>der</strong> Biochemie anschaut, wird deutlich,<br />

dass <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Verliebtheit ähnlich funktioniert.<br />

177


Oberon erzählt stolz die Entstehungsgeschichte jener<br />

Blume, für die es damals verschiedene Begriffe gab<br />

und die nur <strong>der</strong> Elfenkönig finden könne. Wenn man<br />

sich genauer ansieht, was es mit diesem »love-juice«<br />

auf sich hat, sieht man allerdings, dass es ein wildes<br />

Stiefmütterchen ist, das in Shakespeares Zeit in England<br />

in jedem Garten wuchs. Wir wissen, dass in Gesetzeserlassen<br />

<strong>der</strong> Zeit die Herstellung von Liebestränken<br />

verboten wurde, es also einen gewissen Glauben daran<br />

gegeben haben muss. Das Stück spielt mit dieser kulturellen<br />

Fantasie, respektive <strong>der</strong> kulturellen Angst.<br />

Nach dem Ende des Rauschs <strong>der</strong> Sommernacht beschreibt<br />

Puck die verdammten Seelen, die sich voller<br />

Scham vor dem Tag retten.<br />

Puck spielt auf Menschen an, die durch Selbstmord<br />

gestorben sind o<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en Gründen nicht anständig<br />

beerdigt werden konnten und deswegen die<br />

Lebenden weiter heimsuchen und nachts umherwan<strong>der</strong>n<br />

müssen. Nichtsdestotrotz ist es auch für die<br />

ganze Komödie interessant, dass Puck am Ende einer<br />

ausschweifenden Fantasie-Nacht von <strong>der</strong> Scham <strong>der</strong><br />

Rückkehr spricht. Zu Shakespeares Zeit wurde das<br />

Theater von den Autoritäten ja als eine gefährliche<br />

Gegenwelt zu den Moralvorstellungen <strong>der</strong> Kirche verstanden.<br />

Das war ein Grund, warum keine Frauen als<br />

Schauspielerinnen auftreten durften, weil allein diese<br />

Zurschaustellung für den öffentlichen Blick als sexueller<br />

Akt begriffen wurde. Daher die »boy-actors«,<br />

die ihrerseits nochmal ganz an<strong>der</strong>e Fragen betreffend<br />

Repräsentation von Geschlecht und Sexualität aufwerfen.<br />

Das Theater wurde von den Puritanern zu <strong>der</strong><br />

Zeit als eine Gefahrenquelle gesehen, eine mögliche<br />

Quelle <strong>der</strong> Verwandlung <strong>der</strong> Gesellschaft auf eine Art<br />

und Weise, die nicht gewünscht war.<br />

Kann man die Zeit, in welcher <strong>der</strong> Sommernachtstraum<br />

entstand, mit <strong>der</strong> heutigen Zeit vergleichen, wo sich Teile<br />

<strong>der</strong> patriarchalen Welt aus vielen Gründen ebenfalls mit<br />

rabiater Gewalt gegen Transformationen zur Wehr setzen?<br />

Patriarchal war das damalige System natürlich, trotzdem<br />

hatte es über Jahrzehnte mit Elisabeth I. eine<br />

weibliche Herrscherin, die das Patriarchat geschickt für<br />

sich zu nutzen wusste und sich auch als »a prince« präsentierte.<br />

Und zugleich war sie die »virgin queen«. Sie<br />

hat für sich eine über- respektive doppelgeschlechtliche<br />

Identität inszeniert. Es ist insgesamt interessant<br />

an <strong>der</strong> frühen Neuzeit, dass es im Vergleich zu heute<br />

einerseits rigi<strong>der</strong>e und moralischere Vorstellungen gab,<br />

die bis in die Details <strong>der</strong> gesetzlichen Klei<strong>der</strong>ordnung<br />

gingen, um Klassen- und Geschlechterzugehörigkeit<br />

zweifelsfrei zu signalisieren. An<strong>der</strong>erseits gab es im<br />

Theater aber strukturell vorgegeben Männer, die sich<br />

als Frauen verkleideten. In vielen Shakespeare-Komödien<br />

verkleiden sich diese Frauen wie<strong>der</strong> zu Männern.<br />

Infolgedessen haben wir ganz oft unklare sexuell-erotische<br />

Anziehungen, die gleichgeschlechtlich sind o<strong>der</strong><br />

sich gerade für die uneindeutige Geschlechtlichkeit<br />

interessieren. Was auch fasziniert – und das bringt<br />

uns zur Verwandlung zurück – ist, dass man zu Shakespeares<br />

Zeit von dem »one sex model« ausgegangen<br />

ist. Eine sehr patriarchale Vorstellung, die davon ausging,<br />

dass das einzige und eigentliche Geschlecht das<br />

männliche ist und Frauen in einer Vorstufe verhaftet<br />

sind. Man hat sich das biologisch so vorgestellt, dass<br />

Frauen einen nach innen invertierten Penis haben, welcher<br />

durch mangelnde Körperhitze nicht nach außen<br />

getreten ist. Wenn man sich Zeichnungen aus <strong>der</strong> Zeit<br />

anschaut, unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von<br />

heutigen Darstellungen <strong>der</strong> Geschlechtsorgane. Das<br />

legt nahe, dass sich Frauen damals zumindest theoretisch<br />

zu Männern verwandeln konnten. Es gab Geschichten,<br />

die besagten, dass dies auch passiert sei.<br />

Konkret handelte es sich zum Teil um die Auflösung für<br />

lesbische Liebesgeschichten: Eine Frau hat sich zum<br />

Mann »verwandelt« und konnte so auch offiziell mit<br />

ihrer Partnerin zusammenleben.<br />

EIN SOMMERNACHTS­<br />

TRAUM WAR<br />

SCHON DAMALS EIN<br />

NOSTALGISCHER<br />

BLICK AUF EINE VON<br />

DEN MENSCHEN<br />

UNBERÜHRTE NATUR.<br />

Athen ist <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong> die Flucht und den Traum überhaupt<br />

erst auslöst. Das Stück beginnt mit <strong>der</strong> Todesdrohung<br />

eines Vaters gegen seine Tochter Hermia.<br />

Shakespeare braucht nur ein paar Zeilen, um deutlich<br />

zu machen, wie rigide dieses System ist. Er führt ein<br />

patriarchales Muster ein, in dem Theseus, <strong>der</strong> Herrscher<br />

Athens, sagt, die Väter können die Töchter wie<br />

Wachs formen und auch verformen. Der Vater ist ein<br />

Gott, <strong>der</strong> erschaffen, aber auch zerstören darf. Dieses<br />

System wird gespiegelt, indem Theseus in <strong>der</strong> Vorgeschichte<br />

die Amazonenkönigin Hippolyta unterwirft.<br />

Wenn man sich den Mythos <strong>der</strong> Amazonen genauer<br />

anschaut, sieht man aber, dass in diesem Matriarchat<br />

wie<strong>der</strong>um die jungen Söhne, wie auch <strong>der</strong>en Väter,<br />

umgebracht wurden. Kein nachhaltiges Zukunftsmodell<br />

also, son<strong>der</strong>n einfach das invertierte bestehende<br />

Modell als männliche Angstfantasie. Die Frage ist, ob<br />

uns die Wald- und Feenwelt eine Alternative bietet,<br />

einen dritten Raum. Schon allein die Tatsache, dass<br />

die Feen sich geschlechtlich nicht einordnen lassen,<br />

ist etwas, das über die konventionelle Klassifikation<br />

und Machtverteilung hinausgehen und somit tatsächlich<br />

eine Gegenwelt bieten könnte.<br />

178


Welches Verhältnis hatte Shakespeare zur Natur? Er lebte<br />

damals ja auch in Zeiten, in denen beispielsweise die<br />

Wäl<strong>der</strong> verschwanden.<br />

Es handelte sich nicht um Waldsterben im Sinne von<br />

Erkrankung, son<strong>der</strong>n um Abholzung, weil das Holz<br />

gebraucht wurde. Die Gegenwelt war also schon zu<br />

Shakespeares Zeit bedroht. Der Wald war nicht mehr<br />

ganz so dicht, nicht mehr ganz so groß, nicht mehr<br />

ganz so weit von <strong>der</strong> Zivilisation entfernt und fiel <strong>der</strong><br />

Ausbeutung zum Opfer. Ein Sommernachtstraum war<br />

schon damals ein nostalgischer Blick auf eine von den<br />

Menschen unberührte Natur.<br />

Titania spricht von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung des Klimas. Was sagt<br />

sie uns da?<br />

Das Klima ist aus den Fugen geraten, weil Titania und<br />

Oberon im Streit sind. Das kann man heute als ein<br />

Klimawandel-Horrorszenario lesen. Titania spricht von<br />

»contagious fogs«, die die Menschen heimsuchen,<br />

Flüsse über ihre Ufer treten lassen und die Ernte<br />

ruinieren. Die Menschen leiden auch an gestörten<br />

Jahreszeiten mit unvorhersehbarer Hitze und Frost.<br />

Vielleicht hätte man diese Zeilen vor 50 Jahren in einer<br />

Inszenierung eher gestrichen. Für uns machen sie den<br />

Sommernachtstraum heute beson<strong>der</strong>s interessant.<br />

Gab es damals schon ein kritisches Verhältnis zum Kolonialismus,<br />

<strong>der</strong> im Stück thematisiert wird und dessen<br />

Folgen <strong>der</strong> Ausbeutung heute aufgearbeitet werden?<br />

Das ist eine ganz generelle Frage bei den Shakespeare-Dramen.<br />

Sind sie misogyn o<strong>der</strong> kritisieren sie<br />

Misogynie? Sind sie antisemitisch und rassistisch<br />

o<strong>der</strong> kritisieren sie Antisemitismus und Rassismus?<br />

Die gleiche Frage betrifft auch den Kolonialismus.<br />

Hier wird er angesprochen, im Sturm ist er eine zentrale<br />

Frage. Was wir sagen können ist, dass es zu <strong>der</strong><br />

Zeit durchaus schon kritische Stimmen gab. Aphra<br />

Behn verfasste im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t zum Beispiel die<br />

Geschichte Oroonoko, in <strong>der</strong> sie eine afrikanische<br />

Identifikationsfigur zeigt, die versklavt wird. Dagegen<br />

stand natürlich immer das wirtschaftliche Interesse.<br />

Der Hauptdiskurs war, dass es um Land ging, von<br />

dem man meinte, dass es einem zustünde und man<br />

es daher unterwerfen dürfe. Auch hier sind die Feen<br />

wie<strong>der</strong> interessant. Sie sind wie wir heute. Sie können<br />

ganz schnell die Welt umrunden und Dinge von überall<br />

auf <strong>der</strong> Welt konsumieren und mitbringen. Die<br />

Feen sind globale Figuren. Zu Shakespeares Zeit war<br />

das noch ein utopisches Zukunftsszenario. Inzwischen<br />

haben wir so gelebt und müssen nun wie<strong>der</strong><br />

zurückschrauben.<br />

Im Ruhrgebiet könnte man das als Referenz auf ein postindustrielles<br />

Zeitalter lesen.<br />

Vielleicht wirft das sogar ein postapokalyptisches Szenario<br />

auf. Der Roman und die Fernsehserie Station 11<br />

spielen in einer Postapokalypse, ausgelöst durch eine<br />

Pandemie, die 99 % aller Menschen getötet hat. Interessanterweise<br />

formiert sich dort eine Theatergruppe,<br />

die Shakespeare-Dramen aufführt und die feststellt,<br />

sie muss die Komödien spielen, um den Menschen ein<br />

positiveres Bild zu vermitteln, also zeigt sie Sommernachtstraum.<br />

Wir wenden uns heute wie<strong>der</strong> den präindustriellen<br />

Dramen zu, die zu einer Zeit entstanden, als<br />

man manche Ängste, zum Beispiel aufgrund <strong>der</strong> Abholzung,<br />

bereits kannte. Aus unserer Post-Perspektive<br />

schauen wir zurück und fragen, was kann uns diese Prä-<br />

Perspektive erzählen? Nicht nur über unsere Vergangenheit,<br />

son<strong>der</strong>n vielleicht auch über unsere Zukunft?<br />

Nach dem Nie<strong>der</strong>gang entsteht etwas Neues, das mit<br />

Spiel zu tun hat.<br />

Das Theater ist ja auch die Kunst des Recyclings.<br />

Stücke werden immer wie<strong>der</strong> neu inszeniert, Kostüme<br />

werden teilweise aus dem Fundus genommen,<br />

Schauspieler:innen, die in demselben Stück schon<br />

gespielt haben, lassen dieses in einer an<strong>der</strong>en Rolle<br />

neu auferstehen. Das passt auch sehr zu unserem<br />

heutigen Nachhaltigkeitsgedanken. So gesehen ist<br />

Theater eine ökologische Kunstform!<br />

CHRISTINA WALD ist Professorin für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft und Direktorin des<br />

Zentrums für kulturwissenschaftliche Forschung an <strong>der</strong> Universität Konstanz. Zuvor lehrte sie an den<br />

Universitäten Köln und Augsburg, an <strong>der</strong> Humboldt-Universität Berlin und an <strong>der</strong> Harvard University. Ihre<br />

Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische Dramen, Performances, Filme und Fernsehserien sowie<br />

Shakespeares Dramen und frühneuzeitliche Prosaerzählungen mit beson<strong>der</strong>em Interesse an Fragen <strong>der</strong><br />

Adaption, Intertextualität und transkulturellen Formenwan<strong>der</strong>ung. Sie forscht <strong>der</strong>zeit als Mitglied des<br />

NOMIS-Forschungsprojekts Traveling Forms zu postkolonialen Tragödienadaptionen.<br />

Sie ist die Autorin von Hysteria, Trauma and Melancholia: Performative Maladies in Contemporary<br />

Anglophone Drama (2007), The Reformation of Romance: The Eucharist, Disguise and Foreign<br />

Fashion in Early Mo<strong>der</strong>n Prose Fiction (2014) und Shakespeare’s Serial Returns in Complex TV (2020).<br />

In Vorbereitung auf die Sommernachtstraum-Inszenierung von Barbara Frey sprach sie mit<br />

ANDREAS KARLAGANIS, dem leitenden Dramaturgen des Burgtheater Wien, das diese Arbeit koproduziert.<br />

Foto: Angelika Kessler<br />

179


DIE UTOPE<br />

EINES GARTENS<br />

FÜR HEUTE<br />

UND MORGEN<br />

ERIC VAUTRIN IM GESPRÄCH MIT<br />

PHILIPPE QUESNE ÜBER<br />

LE JARDIN DES DÉLICES – TOUR D’HORIZON<br />

SEINER THEATERARBEITEN<br />

DER LETZTEN 20 JAHRE<br />

LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE<br />

Schauspiel<br />

ab 7. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/lust<br />

180


Hieronymus Bosch Garten <strong>der</strong> Lüste (Mitteltafel des Triptychons)<br />

Frühjahr <strong>2023</strong><br />

Eric Vautrin Philippe Quesne, Ihr neues Werk übernimmt<br />

den Titel des berühmten Bildes von Hieronymus Bosch<br />

vom Beginn des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Nun haben Titel in<br />

Ihrem Schaffensprozess eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung.<br />

Was bringt Sie zu dem nie<strong>der</strong>ländischen Maler aus dem<br />

15. Jahrhun<strong>der</strong>t?<br />

Philippe Quesne Stimmt, es ist das erste Mal, dass ich<br />

den Titel eines bereits existierenden Werkes übernehme.<br />

Allerdings geht Le Jardin des délices (Der Garten<br />

<strong>der</strong> Lüste) als Titel gar nicht auf Bosch selbst zurück.<br />

Er wurde nur verwendet und hat sich so durchgesetzt.<br />

Kunstgeschichte ist in meinen Stücken immer wie<strong>der</strong><br />

präsent. Häufige Inspirationen sind zum Beispiel Maler<br />

wie Brueghel, Dürer o<strong>der</strong> Caspar David Friedrich,<br />

aber auch zeitgenössischer Film und Bildende Kunst.<br />

Angeblich wurde Bosch außerdem von Wan<strong>der</strong>theatern<br />

seiner Zeit inspiriert. Die Verflechtung zwischen<br />

den Künsten ist nicht neu. Aber abgesehen vom Titel:<br />

Es hat etwas Schwindel erregendes, sich mit diesem<br />

faszinierenden Triptychon zu befassen.<br />

Es ist Frühling, die Proben starten demnächst, unsere<br />

Erkundung beginnt. Das Vorgehen ist nicht viel<br />

an<strong>der</strong>s, als wenn wir Hamlet proben würden o<strong>der</strong><br />

ein leeres Blatt Papier als Ausgangspunkt hätten:<br />

Vieles ist möglich. Die Interpretationen des Bildes<br />

haben sich seit 500 Jahren immerfort geän<strong>der</strong>t, bis<br />

zum Surrealismus, Philip K. Dick o<strong>der</strong> zur Flower-<br />

Power-Bewegung <strong>der</strong> 1970er Jahre. Noch heute besteht<br />

keine Einigkeit über den Entstehungskontext<br />

und die Bedeutungen des Werkes.<br />

181


Für die Vorarbeiten haben wir verschiedene Spezialist:innen<br />

und Liebhaber:innen des Werkes getroffen,<br />

etwa die Verantwortlichen im Prado in Madrid, wo<br />

das Bild ausgestellt wird, Historiker:innen mit Fokus<br />

auf das Mittelalter wie Pierre-Olivier Dittmar o<strong>der</strong> große<br />

Bosch-Kenner:innen wie José Luis Alcaine, Kameramann<br />

von Pedro Almodóvar, o<strong>der</strong> die französische<br />

Lyrikerin Laura Vazquez. Wir nehmen das Gemälde<br />

lediglich als Ausgangspunkt, als ein inspirierendes<br />

Rätsel, versuchen aber nicht, es zu imitieren o<strong>der</strong> zu<br />

kommentieren.<br />

Auf welche Weise steht Ihre Theaterarbeit im Dialog mit<br />

dem Werk?<br />

Dieses Werk ist sehr inspirierend, denn es ermöglicht<br />

uns, ein weites, unter an<strong>der</strong>em historisches,<br />

ästhetisches, intellektuelles, spirituelles und psychoanalytisches<br />

Feld zu bearbeiten. Hier gibt es<br />

Ähnlichkeiten zu dem Arbeitsprozess, den wir seit<br />

20 Jahren mit Vivarium Studio entwickeln: Wir knüpfen<br />

Netze aus Verbindungspunkten und Annäherungen,<br />

die von einem Titel o<strong>der</strong> von gemeinsamen Erinnerungen<br />

ausgehen. Dabei greifen wir gleichermaßen<br />

auf Kunstgeschichte, Geisteswissenschaften, Popkultur,<br />

soziopolitische Fragen, die uns beschäftigen,<br />

das Absurde und die Reflexivität zurück. Hieronymus<br />

Bosch bündelt seine Fragen in Verweisen auf das von<br />

ihm Erlebte und Projizierte und lädt dadurch die<br />

Betrachter:innen ein, sich dieselben Fragen über<br />

sich selbst zu stellen. Und heute gehe ich dieser<br />

Frage mit einem Team aus Schauspieler:innen und<br />

Künstler:innen nach. Wir streifen durch das Bild<br />

und kon zentrieren uns dabei auf Spuren, die zu uns<br />

selbst und unserer Epoche führen, wie in einem<br />

Science-Fiction-Film.<br />

Eine kleine Gemeinschaft, die sich organisiert, eine spezifische<br />

Logik, wie sich ein Gebiet auf alternative Weise<br />

bewohnen lässt, eine Katastrophe in <strong>der</strong> Ferne, die Natur,<br />

die in unerwarteter Form wie<strong>der</strong> sichtbar wird und das<br />

Verhältnis von Natur und Kultur durcheinan<strong>der</strong>bringt –<br />

das sind in <strong>der</strong> Tat Aspekte, die ihre bisherigen Stücke<br />

und das Gemälde miteinan<strong>der</strong> verbinden, trotz <strong>der</strong> Unterschiede<br />

zwischen den Epochen.<br />

Das Gemälde eignet sich gut für völlige Neudeutungen.<br />

Jedes Detail eröffnet unerwartete Möglichkeiten, die es<br />

zu erforschen gilt. Wir werden teilhaben am Schicksal<br />

einer menschlichen Gemeinschaft, die sich auf<br />

die Suche nach einer möglichen, erträumten, poetischen<br />

Welt macht und diese zu konstruieren versucht<br />

in einer bedrohten Wirklichkeit. Wie sollen wir<br />

das Triptychon interpretieren? Ist die Mitteltafel ein<br />

Versprechen o<strong>der</strong> stellt sie längst Vergangenes dar?<br />

Stellt die Hölle eine albtraumhafte Zukunft o<strong>der</strong>, im<br />

Gegenteil, die Gegenwart dar? Können wir überhaupt<br />

darauf hoffen, dies beantworten zu können? Das<br />

alles ist <strong>der</strong> Stoff für einen guten Western. Wir begeben<br />

uns ins Gemälde und plötzlich öffnen sich viele<br />

Türen. Wir werden einen eigenen Weg finden, es zu<br />

bewohnen und mit dem umzugehen, was wir in ihm<br />

vorfinden.<br />

Da ist noch eine an<strong>der</strong>e, etwas persönlichere Sache:<br />

Dieses Jahr feiert meine Compagnie Vivarium Studio<br />

20-jähriges Bestehen. Einige Darsteller:innen in dieser<br />

Arbeit waren bereits 2003 in La Démangeaison<br />

des ailes dabei. Wenn ich an all unsere Stücke im<br />

Laufe <strong>der</strong> Zeit zurückdenke, erkenne ich einen Fundus<br />

voller Muster und Typen, außerdem das Gehege<br />

mit menschengroßen Maulwürfen, Vogelscheuchen,<br />

Hunden, Vögeln, fliegenden Skeletten … und<br />

dann noch Höhlen, Fahrzeuge, Asteroiden, Pianolas,<br />

künstliche Inseln … alles Erinnerungen, die mir rückblickend<br />

so vielgestaltig wie logisch und sinnfällig erscheinen<br />

– ein Eindruck, den ich in ähnlicher Form<br />

auch habe, wenn ich vor Boschs Gemälde stehe: Sein<br />

Aussehen ist vielfältig und voller unerwarteter Details,<br />

die beinahe unabhängig voneinan<strong>der</strong> sind. Dennoch<br />

ist es eine Komposition, die geordnet und fluide ist.<br />

Hieronymus Bosch beschreibt eine Epoche des Wandels<br />

zwischen Mittelalter und Renaissance. Wie auch Albrecht<br />

Dürer, dessen Melencolia Sie 2008 zu La Mélancolie des<br />

dragons inspiriert hat.<br />

Ja, auch bei dem Kupferstich von Dürer ist diese Spannung<br />

zwischen Vergangenheit und Zukunft zu spüren:<br />

<strong>der</strong> nachdenkliche Engel vor den Möglichkeiten des<br />

Religiösen und <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />

Wenn man Boschs Triptychon öffnet, ist auf <strong>der</strong> linken<br />

Seite <strong>der</strong> Garten Eden o<strong>der</strong> das Paradies zu sehen: ein<br />

nacktes Pärchen in adretter Natur mit schönen und<br />

friedlichen Tieren. Im Mittelteil lebt eine kleine Menschenmenge<br />

zusammen mit seltsamen Tieren (riesengroßen<br />

Vögeln), Pflanzen und Früchten (menschengroßen<br />

Erdbeeren) und Elementen wie Wasser und Glas.<br />

Auch dort sind die Menschen noch nackt. Sie tanzen,<br />

rennen, lassen es sich gut gehen. Es ist schwer zu sagen,<br />

ob sie irgendwo angekommen sind o<strong>der</strong> aber ob<br />

man sie dort eingepfercht und unter Beobachtung gestellt<br />

hat, wie es die graue Eintönigkeit des geschlossenen<br />

Triptychons vermuten lässt. Auf <strong>der</strong> rechten Tafel ist<br />

das Gemälde dunkel, die Wesen sind starr und werden<br />

von seltsamen Kreaturen festgehalten. Der Raum ist<br />

voller menschlicher Erfindungen: Häuser (in Flammen),<br />

Bücher (auf dem Kopf), Musikinstrumente, Schlittschuhe,<br />

Verträge, Partituren … Man muss sich fragen, ob es<br />

nicht die im Werden begriffene Gesellschaft ist, die hier<br />

als furchteinflößend dargestellt wird. Eine Art Angst vor<br />

dem technischen Fortschritt? Wie Melencolia ist Boschs<br />

Gemälde Teil einer Epoche voller Unsicherheiten, auf<br />

dem Kipppunkt zwischen Mittelalter und Renaissance,<br />

in <strong>der</strong> alle traditionellen, technischen, politischen und<br />

spirituellen Orientierungspunkte durcheinan<strong>der</strong>gewirbelt<br />

wurden. Die Parallelen zu den Transitionsprozessen,<br />

die wir heute erfahren, sind frappierend: eine ungewisse<br />

Zukunft, von <strong>der</strong> wir nur sicher wissen, dass sie zu einem<br />

radikalen Strukturwandel führen wird, <strong>der</strong> Kulturen, Wissenschaften,<br />

Künste und politische Organisationen neu<br />

aufstellen wird. Guillaume Logé zeigt das in seinem Buch<br />

La Renaissance sauvage. Um es anachronistisch zu<br />

formulieren: Bosch malt ein »offenes Kunstwerk«, das<br />

einem freien Geist entspringt.<br />

182


Der dieses Jahr verstorbene deutsche Kunsthistoriker<br />

Hans Belting hielt es für sicher, dass Bosch eine Utopie<br />

malte, eine Vision <strong>der</strong> Menschheit ohne Sündenfall und<br />

Schuld, und er damit ein Vorbote von Erasmus von Rotterdam<br />

und Thomas Morus war. Aus demselben Grund<br />

beruht Boschs Vision ihm zufolge auf Relationen und<br />

Annäherungen und nicht so sehr auf einer bestimmten<br />

visuellen Perspektive. Erkennen Sie sich in diesen ästhetischen<br />

und sozialen Fragestellungen wie<strong>der</strong>?<br />

Es ist rückblickend interessant festzustellen, dass<br />

die meisten meiner Stücke mit einem Problem, einer<br />

Panne o<strong>der</strong> einem Unfall beginnen. Das zwingt die<br />

Anwesenden zu einer Planän<strong>der</strong>ung –, zumindest<br />

könnte man das annehmen – um vor Ort mit dem<br />

zurechtzukommen, was sie vorfinden: Ja, eine Utopie<br />

umzusetzen, das Wort gefällt mir gut, und sei sie<br />

nur temporär. Meine Bühnenbil<strong>der</strong> sind Orte eines<br />

Endes und eines Anfangs, einer Art Initiation. In La<br />

Nuit des taupes schienen Maulwürfe einen unterirdischen<br />

Raum freizuräumen und zu beschützen, damit<br />

Artgenoss:innen dort ein Konzert veranstalten. Das in<br />

München entwickelte Caspar Western Friedrich zeigte<br />

ein Museum, das umstrukturiert und selbst zum<br />

Kunstwerk wird. In Farm Fatale gründeten nach dem<br />

Verschwinden <strong>der</strong> Vögel arbeitslos gewordene Vogelscheuchen<br />

einen Piratensen<strong>der</strong>, um den Vogelgesang<br />

in Erinnerung zu behalten und mit an<strong>der</strong>en in Kontakt<br />

zu treten. Später beschützten sie mysteriöse Eier. In<br />

Crash Park werden Überlebende eines Luftunglücks<br />

zu mo<strong>der</strong>nen Robinsons und erfinden die Insel ihrer<br />

Träume, so künstlich sie auch sein mag. Die Ausgangssituation<br />

meiner Stücke wird tatsächlich wie<strong>der</strong>holt<br />

durch eine Fahrzeugpanne verursacht. Sie kann auch<br />

als Landung verstanden werden, an dem Ort, wo wir<br />

uns befinden: in einem theatralen Raum. Während<br />

meiner Zeit als Leiter des Théâtre des Amandiers in<br />

Nanterre hatte ich den Philosophen Bruno Latour eingeladen,<br />

mit uns zu arbeiten. Über unsere Epoche sagte<br />

er lächelnd, dass es nicht mehr viel Diesel gäbe und<br />

dass »<strong>der</strong> Kapitän Sie lei<strong>der</strong> informieren muss, dass<br />

<strong>der</strong> geplante Ankunftsort nicht mehr existiert«.<br />

Man muss sich entscheiden, an irgendeinem Ort anzulanden<br />

und dort ins Handeln zu kommen, wo wir<br />

stehen. Sie können dies als Beschreibung einer angesichts<br />

<strong>der</strong> Klimakatastrophe besorgten Gesellschaft<br />

lesen. Meine Figuren gestalten eine Fiktion mit, eine<br />

noch zu erfindende Welt, an <strong>der</strong> sie hängen, weil diese<br />

sie miteinan<strong>der</strong> verbindet. Aber sie landen in einem<br />

szenischen Raum und entdecken unter <strong>der</strong> Oberfläche<br />

<strong>der</strong> Fiktion technische Bühnenelemente, die in einem<br />

Theater üblich sind. Letztere ermutigen sie und helfen<br />

ihnen, in ihrem Projekt, das ja genau darin besteht, eine<br />

Art Schauspiel, einen »home-made« Vergnügungspark<br />

o<strong>der</strong> ein Konzert zu organisieren. So können sie frei<br />

von <strong>der</strong> Herstellung zur Fiktion, vom Theater zur Illusion<br />

wechseln und umgekehrt. Wichtig für sie ist, wie<br />

sich alles – sei es Werkzeug, Bild, Erinnerung – positiv<br />

auf die menschliche und nicht-menschliche Gruppe<br />

auswirkt.<br />

Ihre Situation ist prekär, fiktional und theatral. Die<br />

Gruppe for<strong>der</strong>t uns auf, für die Dauer <strong>der</strong> Aufführung<br />

an die von ihr entworfene Utopie zu glauben, damit<br />

sie sich – wir uns? – zusammenschließen können.<br />

Sie zeigt gleichzeitig aber, wie diese hergestellt wird,<br />

wie sich diese Utopie zusammensetzt – in meinem<br />

Theater geschieht das durch das Spiel, durch Montage<br />

und neue Verknüpfungen. Die erahnte Utopie ist<br />

nämlich auch genau das.<br />

Eine Industriehalle im Ruhrgebiet, <strong>der</strong> Steinbruch von<br />

Boulbon in Avignon, das Amphitheater am Fuße <strong>der</strong><br />

Akropolis in Athen, das Ufer des Genfer Sees in Vidy-<br />

Lausanne, das Centro Dramático Nacional in Madrid in<br />

<strong>der</strong> Nähe des Prado … Die Aufführungsorte ihrer Arbeiten<br />

zeichnen eine Landkarte <strong>der</strong> Kultur des europäischen<br />

Theaters. Auf welche Art ist das in Ihrer Arbeit präsent?<br />

Ich bin nicht sicher: Findet sich in <strong>der</strong> Kultur das<br />

Gedächtnis Europas, das uns für die ungewisse Zukunft<br />

wappnet? O<strong>der</strong> erinnert uns die Kultur an die<br />

Notwendigkeit eines Ankommens? Ich weiß nicht, ob<br />

die Lüste dieses Gartens unsere Vergangenheit o<strong>der</strong><br />

unsere Zukunft sind … Wir werden sehen.<br />

Philippe Quesne<br />

PHILIPPE QUESNE geboren 1970, studierte Bildende Kunst, visuelle Gestaltung und Bühnenbild in Paris.<br />

Er gehört zu den international bekanntesten Theatermachern Frankreichs. Seine 2003 gegründete Performancegruppe<br />

Vivarium Studio besteht aus Schauspieler:innen, Bildenden Künstler:innen, Musiker:innen<br />

und Tänzer:innen. Über die Jahre entstand ein weltweit tourendes Repertoire. 2020 widmete das Pariser<br />

Centre Pompidou Philippe Quesne einen Künstlerschwerpunkt. Von 2014 bis 2020 war er Intendant des<br />

Théâtre Nanterre-Amandiers bei Paris. Dort arbeitete er regelmäßig mit dem Studiengang des Soziologen<br />

Bruno Latour zu Fragen von künstlerischer Praxis und Klimawandel zusammen. Das Interview wurde im März<br />

<strong>2023</strong> in Lausanne mit ERIC VAUTRIN, Dramaturg am Théâtre Vidy-Lausanne, geführt.<br />

Aus dem Französischen von Anna Johanssen und Maria Wünsche<br />

Foto: Christian Knoerr<br />

183


LEBENDIGE MONUMENTE,<br />

MONOCHROME RITUALE<br />

VON MAJA ZIMMERMANN<br />

Eszter Salamon<br />

MONUMENT 0.10: THE LIVING MONUMENT<br />

Tanz<br />

ab 15. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 54 _______________ www.ruhr3.com/monument<br />

184


Nachtwache<br />

Bevor die Industrialisierung und elektrifizierte Beleuchtung<br />

in Häusern und Straßen die Menschen in Europa<br />

in einen neu regulierten Rhythmus zwängten, waren die<br />

heute empfohlenen acht Stunden Schlaf eher selten. Es<br />

wurde vielmehr in zwei Abschnitten geschlafen, vom Einbruch<br />

<strong>der</strong> Nacht bis Mitternacht und nach einer kurzen<br />

Wachphase erneut bis zum Morgengrauen. Während des<br />

Schreibens dieses Textes daran erinnert, lese ich nochmal<br />

genauer nach. 1 Jener Moment des Wachseins mitten in<br />

<strong>der</strong> Dunkelheit <strong>der</strong> Nacht, ›watch‹ o<strong>der</strong> ›Nachtwache‹ genannt,<br />

wurde mit allerlei Aktivitäten gefüllt, vor allem aber<br />

damit verbracht, soeben Geträumtem nachzuhängen.<br />

Nicht notwendig zusammenhängende Gedanken, traumähnliche<br />

Erzählungen und halluzinierte Ereignisse ließen<br />

eine Nähe zu an<strong>der</strong>en Realitäten zu. So war es eine gewisse<br />

Form <strong>der</strong> Luzidität, die diesen Zustand des Wachens<br />

ohne Aufgabe begleitete.<br />

EINE SCHEINBARE<br />

UNENDLICHKEIT<br />

IN DIESEM<br />

MONOCHROMEN RELIEF<br />

DER LANDSCHAFT.<br />

Vorbeiziehende Landschaften<br />

Im Oktober 2022 sitze ich im Zug von Oslo nach Bergen,<br />

um mir The Living Monument im Studio Bergen, <strong>der</strong> Produktionsstätte<br />

und Bühne <strong>der</strong> 1989 gegründeten norwegischen<br />

Tanzkompanie Carte Blanche, anzuschauen. Von<br />

den Neubausiedlungen <strong>der</strong> Osloer Vorstädte verän<strong>der</strong>t sich<br />

die Landschaft langsam von dunkel durchtränkten Grüntönen<br />

zu grauschwarzen, felsigen Zerklüftungen, bis die Bahn<br />

schließlich ihre langgezogenen Kurven entlang <strong>der</strong> schneebedeckten<br />

Hochebene zieht. Mein Blick gleitet über die an<br />

mir vorbeiziehende Landschaft. Unterschiedliche Weißtöne<br />

wechseln sich in einem beständigen, sich nie identisch<br />

wie<strong>der</strong>holenden Rhythmus ab. Eine scheinbare Unendlichkeit<br />

in diesem monochromen Relief <strong>der</strong> Landschaft.<br />

Dunkelheit<br />

Aus <strong>der</strong> schwarzen Tiefe des Bühnenraumes tauchen<br />

langsam Umrisse von Gestalten auf. Mein Gehirn strengt<br />

sich an, aus den spärlichen visuellen Informationen ein<br />

schlüssiges Bild zu generieren. Allmählich zeichnet sich<br />

eine Szenerie mit Figuren ab, alle in schwarz gekleidet,<br />

schwarz maskiert vor schwarzem Hintergrund. Sie erinnern<br />

mich an die Pest, ohne dass ich ein konkretes Bild<br />

dieser Krankheit hätte, nur weiß, dass sie Schwarzer Tod<br />

genannt wurde und gefürchtet war. Ganze Landstriche<br />

verloren ihre menschlichen Bewohner:innen an diese<br />

Pandemie, die über Jahrhun<strong>der</strong>te immer wie<strong>der</strong> irgendwo<br />

ausbrach und abebbte. Das vor mir auf <strong>der</strong> Bühne ausgebreitete<br />

Tableau verän<strong>der</strong>t sich kontinuierlich, aber so<br />

langsam, dass mir lange Zeit bleibt, diesen historischen<br />

Ereignissen nachzuhängen, bevor sich neue Assoziationen<br />

in meinen Gedankenfluss schieben.<br />

Monumente <strong>der</strong> Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft<br />

Im Gespräch erzählt mir die in Berlin lebende Choreografin<br />

Eszter Salamon von ihrer mittlerweile bereits mehrere<br />

Jahre umfassenden künstlerischen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> Vergangenheit. Einer intuitiven Herangehensweise<br />

folgend und nicht zuletzt von ihrer eigenen Biografie<br />

geprägt, sucht Salamon nach alternativen Erzählungen<br />

zur vorherrschenden Perspektive auf (Tanz-)Geschichte.<br />

Aufgewachsen in Osteuropa, in <strong>der</strong> realsozialistischen<br />

Volksrepublik Ungarn, lernte sie sowohl Volkstanz als<br />

später auch klassisches Ballett, bevor sie sich schließlich<br />

dem zeitgenössischen Tanz zuwandte.<br />

Auf meine Fragen antwortet sie mäan<strong>der</strong>nd, indem sie in<br />

die Vorgeschichte ihres eigenen Oeuvres ausholend Verbindungslinien<br />

zieht. Ausgehend von <strong>der</strong> Idee eines performativen<br />

Monuments, o<strong>der</strong> besser: Anti-Monuments,<br />

entwickelte Salamon eine Serie von Choreografien, <strong>der</strong>en<br />

zehnter Teil The Living Monument bildet. Die Kritik,<br />

die diese Arbeiten begleitet, gilt sowohl dem dominanten<br />

westlichen Narrativ, welches an<strong>der</strong>e Perspektiven<br />

und Lebensrealitäten immer wie<strong>der</strong> marginalisiert und<br />

übergangen hat, als auch <strong>der</strong> Kanonisierung einer bestimmten<br />

Kunsttradition, für <strong>der</strong>en Erhalt nicht-westliche<br />

Ästhetiken, Körper und Ausdrucksweisen zwangsläufig<br />

negiert werden mussten.<br />

1 Roger Ekirch: In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Nacht, https://monde-diplomatique.de/artikel/!5761920#fn2<br />

185


MEINE ERINNERUNG<br />

FÜLLT ANGEDEUTETES<br />

AUS, WÄHREND MEINE<br />

SINNE KONKRETES<br />

HALLUZINIEREN.<br />

Die MONUMENT-Serie beginnt mit MONUMENT 0:<br />

Haunted by Wars (1913–2013), eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> kolonialen Vergangenheit Europas. Während<br />

die Choreografie unterschiedliche, von westlichen Interessen<br />

geleitete Kriege <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t Jahre in den<br />

Blick nimmt, wird darin auch verschiedenen Volks tänzen<br />

nachgespürt, welche in den Regionen <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Kriegsschauplätze praktiziert wurden. Mit MONUMENT<br />

0.3: The Valeska Gert Museum (2017) und <strong>der</strong> bis heute<br />

andauernden intensiven Beschäftigung mit dem Leben<br />

und Werk <strong>der</strong> deutschen Tänzerin, Kabarettistin und<br />

Schauspielerin Valeska Gert (1892–1978), verschob sich<br />

<strong>der</strong> Fokus auf Momente, Personen und Erfahrungen, die<br />

vor dem Vergessen bewahrt, in Erinnerung gerufen und<br />

gefeiert werden sollten. MONUMENT 0.7: M/OTHERS<br />

(2019), ein intimes Duett mit ihrer eigenen Mutter, wirkt<br />

normativen Zuschreibungen und Repräsentationen weiblich<br />

sozialisierter Körper entgegen und führt auf ganz<br />

an<strong>der</strong>e Weise eine feministische, transgenerationelle Beziehungsarbeit<br />

weiter.<br />

Gestaltete Halluzinationen<br />

Die aktuelle Arbeit MONUMENT 0.10: The Living Monument<br />

verweist auf keinen bestimmten Moment in <strong>der</strong> Geschichte.<br />

In elf monochromen Tableaus, von schwarz über<br />

blau, rot, orange bis weiß, tauchen unspezifische, opake<br />

Momente einer möglichen Vergangenheit auf, die in ihrer<br />

Lesbarkeit undeutlich bleiben. In <strong>der</strong> beständigen Transformation<br />

von Stoffen und Farben tauchen mal kohärentere,<br />

mal weniger greifbare Figuren auf. Einer an<strong>der</strong>en Welt<br />

entstiegen, erhalten sie ein Eigenleben. Aus zahlreichen,<br />

in Theaterfundi zusammengesuchten und recycelten Kostümteilen<br />

wurden aufwändige Materialcollagen arrangiert,<br />

unter denen die 14 Tänzer:innen von Carte Blanche beinah<br />

verschwinden. Dafür werden ihre Stimmen hörbar,<br />

mal ganz klar, mal zur Klanglandschaft transformiert. Die<br />

Komponistin Carmen Villain hat eine nur aus menschlichen<br />

Stimmen bestehende elektronisch verfremdete<br />

Klangebene geschaffen, welche die einzelnen Bil<strong>der</strong> mit<br />

weiteren Assoziationen überlagert. Meine Erinnerung füllt<br />

Angedeutetes aus, während meine Sinne Konkretes halluzinieren.<br />

Das Geschehen folgt keiner Narration, son<strong>der</strong>n<br />

fließt wie Schwemmholz auf einem Fluss. Manchmal ordnen<br />

sie sich durch Strömungen zu ornamentalen Gebilden,<br />

um nach einiger Zeit wie<strong>der</strong> davongetragen zu werden,<br />

langsam und unaufhaltsam.<br />

Landschaften sich überlagern<strong>der</strong> Zeiten<br />

Unsere Körper transformieren sich unaufhörlich, sie altern,<br />

sterben und werden irgendwann zersetzt. Eszter<br />

Salamon erinnert uns mit ihren Choreografien an diesen<br />

Prozess, an die Verwandlung, <strong>der</strong> wir unterworfen sind.<br />

Viele ihrer Arbeiten erinnern an Totentänze, für welche sie<br />

somatische Praktiken entwirft. Salamon bezieht sich dabei<br />

auch auf die Zeitphilosophie Henri Bergsons und dessen<br />

Konzept <strong>der</strong> Dauer, in welcher Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft simultan existieren. Denn »[v]om Gegenwärtigen<br />

darf man sagen, dass es in jedem Augenblick ›war‹,<br />

und vom Vergangenen, dass es ›ist‹, dass es ewig ist, zu<br />

allen Zeiten.« 2 . Eine Zeit, die sich nicht in einem Nacheinan<strong>der</strong><br />

von Momenten, son<strong>der</strong>n vielmehr in ihrer Gleichzeitigkeit<br />

von erinnertem Vergangenen, erlebtem Gegenwärtigen<br />

und imaginiertem Zukünftigen erfährt.<br />

In extrem verlangsamten Bewegungen werden bei Salamon<br />

Grenzen und Kategorisierungen aufgelöst, um über<br />

den menschlichen Körper hinauszugelangen und zum<br />

Ding, zur Landschaft zu werden. Bis hin zur faktischen<br />

Mumifizierung spielt Salamon mit Langsamkeit und<br />

sich überlagernden Zeitebenen, mit <strong>der</strong> Lebendigkeit<br />

des Toten, dem gegenwärtigen Vergangenen. Es wirkt,<br />

als könne sie die Zeit selbst manipulieren.<br />

IN EXTREM<br />

VERLANGSAMTEN<br />

BEWEGUNGEN<br />

WERDEN BEI SALAMON<br />

GRENZEN UND<br />

KATEGORISIERUNGEN<br />

AUFGELÖST,<br />

UM ÜBER DEN<br />

MENSCHLICHEN KÖRPER<br />

HINAUSZUGELANGEN<br />

UND ZUM DING,<br />

ZUR LANDSCHAFT<br />

ZU WERDEN.<br />

2 Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2007, S. 74<br />

186


Zwischen schlafen und wachen<br />

Eszter Salamon versteht ihre Rolle als Choreografin<br />

mittlerweile vor allem darin, Verbindungen zwischen<br />

Menschen, Orten, Zeiten und Erinnerungen herzustellen,<br />

erzählt sie abschließend. The Living Monument ist<br />

ein solcher Versuch, ein monochromes Ritual, das Vergangenheit<br />

mit vorüberziehen<strong>der</strong> Gegenwart verknüpft.<br />

Die Aufführung fällt aus <strong>der</strong> gewohnten Umgebungszeit,<br />

breitet sich aus als diffuse Zeit zwischen hier und irgendwo<br />

an<strong>der</strong>s. Es ist das Gefühl des verschwommenen<br />

Schauens durch halb geöffnete Li<strong>der</strong>, an das ich mich<br />

nach <strong>der</strong> Aufführung erinnere. Wie im Halbschlaf wahrgenommene<br />

Momente, die ineinan<strong>der</strong>fließen und sich<br />

durchdringen, während die Bil<strong>der</strong> vor allem vor dem inneren<br />

Auge vorbeiziehen und weit Entferntes zum Vorschein<br />

bringen. Ein hellwacher Moment mitten im Schlaf.<br />

WIE IM HALBSCHLAF WAHRGENOMMENE<br />

MOMENTE, DIE INEINANDERFLIESSEN UND<br />

SICH DURCHDRINGEN, WÄHREND DIE<br />

BILDER VOR ALLEM VOR DEM INNEREN AUGE<br />

VORBEIZIEHEN UND WEIT ENTFERNTES<br />

ZUM VORSCHEIN BRINGEN. EIN HELLWACHER<br />

MOMENT MITTEN IM SCHLAF.<br />

MAJA ZIMMERMANN arbeitet als Dramaturgin und Kuratorin für zeitgenössischen Tanz und<br />

Performance. Seit Sommer 2021 ist sie Teil des Teams von PACT Zollverein und dort<br />

verantwortlich für Programm und Projektentwicklung.<br />

Foto: Bea Borgers<br />

187


SKATEBOARDING<br />

STRUKTURIERT<br />

DIE WELTANSCHAUUNG<br />

DERER, DIE<br />

ES PRAKTIZIEREN<br />

VON BOJANA CVEJIĆ<br />

SKATEPARK<br />

Tanz<br />

ab 12. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 24 _______________ www.ruhr3.com/skatepark<br />

188


189


Man könnte mehrere Geschichten über das Skateboarden<br />

als soziale Praxis erzählen. In diesem kurzen Bericht<br />

möchte ich einige Motive hervorheben, die nach wie vor<br />

eine starke Anziehungskraft ausüben. Ich werde nicht<br />

nur aus <strong>der</strong> Perspektive eines Diskurses sprechen, <strong>der</strong><br />

sich aus <strong>der</strong> reichhaltigen soziologischen Literatur über<br />

diesen Action- o<strong>der</strong> Lifestyle-Sport speist. Ich werde<br />

auch die soziokulturellen, performativen und kinetischen<br />

Aspekte des Skatens in Betracht ziehen, die eine<br />

soziale Choreografie formen könnten – ein Artefakt, das<br />

sich aus <strong>der</strong> Beobachtung des Skateboardens als einer<br />

räumlichen und gemeinschaftlichen Aktivität ableitet.<br />

Es beginnt mit <strong>der</strong> Geschichte, die in den meisten Studien<br />

als Legende erzählt wird: Das Skaten wurde an einem<br />

Tag geboren, als <strong>der</strong> Ozean ruhig und die Wellen niedrig<br />

waren, und ermöglichte es den Surfer:innen, weiterhin<br />

das Gleiten zu üben, wenn auch auf den Bürgersteigen<br />

von Los Angeles. Das eigentümliche Arrangement, den<br />

Körper mit einem Werkzeug zu koppeln, das gleichzeitig<br />

ein Fortbewegungsmittel ist, verdankt seine Erfindung<br />

einer Kreuzung aus dem Scooter mit abgerissenem<br />

T-Griff und dem Surfbrett. Sobald das dritte Element in<br />

<strong>der</strong> Assemblage Board-Körper-Meer zu einer festen Oberfläche<br />

wurde, wurden die Möglichkeiten, die das Skaten<br />

bot, unvorhersehbar und fragmentiert, und <strong>der</strong> materielle<br />

Wi<strong>der</strong>stand seiner Oberfläche war vielfältiger und uneindeutiger<br />

als die Meeresbrandung. Die Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

wurde sogar umgekehrt: Anstatt sich mit einer Welle zu<br />

vereinen und daraus Wildheit zu kreieren, erzeugt <strong>der</strong>:die<br />

Skater:in eine Welle, während seine:ihre Bewegung den<br />

urbanen Raum voller unregelmäßiger und skurriler Hin<strong>der</strong>nisse,<br />

aber auch gefährlicher Details glättet.<br />

Darüber hinaus folgt die Kulturgeschichte des Skateboards<br />

über vier bis fünf Jahrzehnte mehreren Wellen<br />

von Aufstieg und Fall. In den 1960er Jahren, als Skateboards<br />

noch Surfbrettern mit Rä<strong>der</strong>n glichen, war es<br />

zunächst bei Surfer:innen beliebt. In den 1970er Jahren<br />

trennte sich das Skaten vom Surfen und hielt Einzug in<br />

die Stadt. Mehrere Innovationen trugen zu seiner Verbreitung<br />

bei. Insbeson<strong>der</strong>e die Entwicklung des schnelleren<br />

und wendigeren Polyurethan-Rads und die Einführung<br />

des hochgezogenen hinteren Endes des Bretts, das<br />

Kickturns ermöglicht. Nachdem die Skater:innen an Geschwindigkeit<br />

und Sicherheit gewonnen hatten, nutzten<br />

sie verlassene Schwimmbä<strong>der</strong>, Entwässerungskanäle<br />

und Schulhöfe für das Skateboarden. Die Skater:innen<br />

dieser Zeit stammten überwiegend aus dem Arbeitermilieu.<br />

O<strong>der</strong> wie einer <strong>der</strong> Z-Boys aus dem berühmten<br />

Zephyr-Team in Dogtown, einem heruntergekommenen<br />

Viertel in Venice, sagte: »Wir kamen aus zerrütteten<br />

Familien.« Als Teil des Mainstream-Repertoires an<br />

Sport- und Freizeitaktivitäten von Jugendlichen trägt das<br />

Skateboarden heute nicht mehr das Zeichen <strong>der</strong> sozialen<br />

Unterschicht. Es verspricht nach wie vor eine zeitweilige<br />

Flucht und ein Gefühl <strong>der</strong> Ermächtigung durch Bewegung<br />

und Geschwindigkeit, wobei die Leidenschaft <strong>der</strong> Einzelnen<br />

auch eine Flucht aus <strong>der</strong> jeweiligen Situation ermöglicht,<br />

sei es zu Hause, in <strong>der</strong> Schule, in seinem Alter, im<br />

Ghetto festzustecken.<br />

Das Eindringen des Skatens in das Privateigentum <strong>der</strong><br />

reichen Bewohner:innen von L.A. führte zu Beschwerden<br />

<strong>der</strong> Bürger:innen und zum Bau von Skateparks, die das<br />

Skateboarden als Freizeitsport in den USA und später in<br />

Europa eindämmen und isolieren sollten. Dies markiert<br />

den Punkt, an dem sich das Skateboarden als soziale Praxis<br />

in das Skaten auf <strong>der</strong> Straße und in Skateparks aufspaltet<br />

– die beiden Praktiken, die heute nebeneinan<strong>der</strong><br />

existieren, sich aber früher in einem Katz-und-Maus-Spiel<br />

zwischen unerlaubtem Betreten und Überwachung abwechselten.<br />

Als Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre die Eintrittspreise<br />

für Skateparks aufgrund <strong>der</strong> Kosten für die aufwendige<br />

Landschaftsarchitektur und die hohen Versicherungsgebühren<br />

stiegen, ging das Skateboarden zurück, aber nur,<br />

um im Untergrund wie<strong>der</strong> aufzuerstehen und die Straße<br />

unter dem Punk-Slogan »Skate and Destroy« (»Skaten<br />

und Zerstören«), <strong>der</strong> sich zum Beispiel im Street-Skateboarding-Magazin<br />

Thrasher (1981) wie<strong>der</strong>fand, heftiger<br />

zurückzuerobern.<br />

WENN SIE DURCH DIE<br />

STRASSEN FAHREN,<br />

SUCHEN SKATER:INNEN<br />

DEN WIDERSTAND<br />

VON OBERFLÄCHEN<br />

UND OBJEKTEN,<br />

UND DIE FREUDE LIEGT<br />

ZWISCHEN<br />

ENTDECKUNG UND<br />

ANPASSUNG.<br />

Der Unterschied zwischen dem Skaten in <strong>der</strong> Stadt und<br />

dem Skaten in einem für Skateboards konzipierten und<br />

ausgewiesenen Park spiegelt mindestens zwei verschiedene<br />

Arten <strong>der</strong> sozialen Produktion des Raums wi<strong>der</strong>.<br />

Wenn sie durch die Straßen fahren, suchen Skater:innen<br />

den Wi<strong>der</strong>stand von Oberflächen und Objekten, und die<br />

Freude liegt zwischen Entdeckung und Anpassung. Indem<br />

sie Gelän<strong>der</strong>, Bänke, Gehwege o<strong>der</strong> Treppen umfunktionieren<br />

o<strong>der</strong> die Plätze von Unternehmen durchqueren,<br />

dringen sie in die Territorien ein und brechen die Regeln<br />

des öffentlichen o<strong>der</strong> durch Eigentum geschützten<br />

Raums. Auch wenn dies nicht immer ein Zeichen bewussten<br />

Wi<strong>der</strong>stands gegen die öffentliche Ordnung ist, wird<br />

es von <strong>der</strong> öffentlichen Meinung als »asoziales Verhalten«<br />

und »rücksichtsloses Handeln« (in den Worten des<br />

republikanischen New Yorker Bürgermeisters Rudolph<br />

Giuliani) verurteilt, das verboten werden muss. Aus <strong>der</strong><br />

Sicht <strong>der</strong> Skater:innen hingegen geht es beim Streetskaten<br />

um das sinnliche Vergnügen, die Stadt durch Gleiten,<br />

190


Springen und Kicken mit dem eigenen Körper zu erleben,<br />

während die Spuren <strong>der</strong> Beschädigung und <strong>der</strong> Lärm nur<br />

Kollateralschäden sind.<br />

Die Stadt in einen riesigen Spielplatz zu verwandeln, ist<br />

eine Art Nomad:innentum und Deterritorialisierung, eine<br />

durch Geschwindigkeit verstärkte Flânerie; denn <strong>der</strong>:die<br />

Skater:in scannt die Stadt durch die Details, die an<strong>der</strong>e<br />

vielleicht nicht sehen. Ihre Bewegungen sagen: »I can skate<br />

that, if I hit it like that, I can get the buzz out.« (»Das kann<br />

ich skaten. Wenn ich so erwische, gibt es mir den Kick.«)<br />

Wenn man so schnell durch die Stadt fährt, gibt es Momente<br />

<strong>der</strong> aufregenden Orientierungslosigkeit: »Es ist, als<br />

ob man sich in seinem eigenen Song verliert. Wenn ich mit<br />

meinem Skateboard durch die Gegend fahre, brauche ich<br />

nicht einmal Musik; ich kann mit einem Cheeseburger-Lächeln<br />

im Gesicht die Straße entlang schlen<strong>der</strong>n. Du fährst<br />

einfach weiter; ich muss keine Tricks machen. Ich fahre auf<br />

<strong>der</strong> Straße hin und her, und es macht einfach Spaß.« 1<br />

Ursprünglich wurden Skateparks eingerichtet, um Skater:innen<br />

als »eine Kraft, mit <strong>der</strong> man auf <strong>der</strong> Straße rechnen<br />

muss«, an den Rand zu drängen und ihre Macht, die<br />

Regeln für die Nutzung des öffentlichen Raums zu untergraben,<br />

zu bändigen. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, das<br />

Skateboarden als subversiven, regelbrechenden Lebensstil<br />

in eine regelgebundene Aktivität, d. h. in einen Sport<br />

zu verwandeln. In einem begrenzten Bereich wie einem<br />

Skatepark konzentrieren sich die Skater:innen mehr auf<br />

Tricks und kontrollierte Stunts. Seit den 1990er Jahren und<br />

erst recht heute, wo Technologie so zugänglich ist, ist das<br />

Filmen und Teilen von Videos »part of the game«. Während<br />

sie als Individuen kommen und gehen, um ihre eigene<br />

Fähigkeit und Performance zu verbessern, bindet die<br />

Nachahmung sie in eine Gemeinschaft ein. Üben bedeutet,<br />

allein zusammen zu sein und an<strong>der</strong>e zu beobachten,<br />

um sich inspirieren zu lassen und das eigene Können auf<br />

eine immer etwas höhere Stufe <strong>der</strong> Virtuosität zu bringen.<br />

Wie auf einem Punk-Konzert, wo das Moshen einem Außenstehenden<br />

als aggressive und gefährliche Anarchie erscheinen<br />

mag, gehen die Skater:innen auch im Skatepark<br />

Risiken ein, koordinieren sich aber auch und schützen sich<br />

gegenseitig vor Verletzungen.<br />

Der Individualismus im Skatepark wird durch die sozialen<br />

Regeln des Ortes gemil<strong>der</strong>t. Ein hervorstechendes Merkmal<br />

des Skateparks ist, dass er einer <strong>der</strong> wenigen städtischen<br />

Orte ist, die Jugendlichen vorbehalten sind. Die<br />

westliche Gesellschaft duldet es nicht, dass sich Jugendliche<br />

im öffentlichen Raum aufhalten, es sei denn, sie treiben<br />

einen Mannschaftssport wie Basketball. Es spricht<br />

also für die beson<strong>der</strong>e Anziehungskraft von Skateparks,<br />

dass es ihnen gelungen ist, ein Pendeln zwischen Ordnung<br />

und Unordnung, Beherrschung und Exzess, Wettbewerb<br />

und Spaß am Leben zu erhalten. In einem Übergangsalter,<br />

das von Konflikten mit Autoritäten und Schamgefühlen<br />

geprägt ist, ist <strong>der</strong> Skatepark eine seltene Oase für die<br />

Selbstdarstellung eines Teenagers, ein Schlachtfeld für<br />

das Erwerben von Selbstvertrauen und sozialem Kapital.<br />

Der Künstler und Skater Raphaël Zarka schrieb, dass<br />

»Skateboarding die Weltanschauung <strong>der</strong>jenigen strukturiert,<br />

die es praktizieren«. 2 Seine Aussage vergleicht<br />

das Skaten stillschweigend mit dem Habitus, <strong>der</strong> nach<br />

<strong>der</strong> Definition von Pierre Bourdieu eine körperliche Disposition<br />

ist, die durch eine Praxis <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung und<br />

Nach ahmung erworben wird, und eine Beziehung zwischen<br />

individuellem Handeln und sozialer Struktur darstellt.<br />

Der Habitus strukturiert die Wahrnehmung, die mit<br />

einer sozialen Struktur verwoben ist. Die bewegte Verbindung<br />

von Körper-Board-Oberfläche erzeugt Schwindel,<br />

den Nervenkitzel <strong>der</strong> vorübergehenden Loslösung des<br />

Körpers vom Brett, die mit kontrollierter Anstrengung erfolgen<br />

muss. Mette Ingvartsen beobachtet die kinetische<br />

Kraft und die performativen Stile des Skatens in einem<br />

städtischen Gebiet und nähert sich dem Skatepark als<br />

einem Ort <strong>der</strong> sozialen Choreografie aus <strong>der</strong> Sicht einer<br />

Künstlerin. Die Choreografie hebt hier die kinästhetischen<br />

und akustischen Ausdrucksformen des Skatens<br />

als soziale Formen in <strong>der</strong> Probe hervor und unterstreicht<br />

das kollektive Potenzial von Individuen, die sich in Versuchen<br />

und Fehlern zusammenschließen. Und für die<br />

Zuschauer:innen könnte dies eine Gelegenheit für eine<br />

stellvertretende Erfahrung von Schwindel und sozialer<br />

Ermächtigung sein.<br />

1 Aus einem Interview mit einem Skater, zitiert nach Chihsin Chiu Contestation and Conformity: Street and Park Skateboarding in New York City<br />

Public Space. Raum und Kultur, 2009.<br />

2 Raphaël Zarka. The Forbidden Conjunction. Editions B42 & Raphaël Zarka, 2011.<br />

BOJANA CVEJIĆ’S Forschung umfasst Performance-Theorie, Philosophie und Tanzwissenschaft.<br />

Unter an<strong>der</strong>em ist sie Autorin von Choreographing Problems (2015) und Toward a<br />

Transindividual Self: A Study in Social Dramaturgy (gemeinsam mit Ana Vujanović 2022).<br />

Als Dramaturgin hat sie mit vielen Choreograf:innen und Kollektiven an Performances<br />

und unabhängigen, selbstorganisierten Plattformen für künstlerische Produktion, Theorie<br />

und Bildung in Europa und im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet. Sie lebt in<br />

Brüssel, wo sie an <strong>der</strong> P.A.R.T.S. unterrichtet (seit 2002), und Oslo, wo sie Professorin an<br />

<strong>der</strong> National Academy of the Arts ist. Sie ist die Dramaturgin von Skatepark.<br />

Aus dem Englischen von Berno Odo Polzer und Daniela Bershan.<br />

Foto: Bea Borgers<br />

191


KLANG DER<br />

KOMMUNIKATION<br />

SPRACHE, SPIEL UND SCHLAGFERTIGKEIT<br />

IM MUSIKPROGRAMM DER RUHRTRIENNALE <strong>2023</strong><br />

VON BARBARA ECKLE<br />

SCHLAGZEUGMARATHON<br />

Konzert<br />

am 26. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 38_______________ www.ruhr3.com/marathon<br />

PLAY BIG!<br />

Konzert<br />

ab 21. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 60 _______________ www.ruhr3.com/playbig<br />

DIE ERDFABRIK<br />

Musiktheater<br />

ab 11. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/erdfabrik<br />

AUS EINEM TOTENHAUS<br />

Musiktheater<br />

ab 31. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/totenhaus<br />

QUID CHAOS<br />

Konzert<br />

am 23. September <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 62 _______________ www.ruhr3.com/chaos<br />

192


Musik als Kommunikationsmittel reicht in prähistorische<br />

Zeiten zurück. Dabei ist die menschliche Stimme das<br />

älteste aller »Instrumente«, das einzige, das ohne Hilfsmittel<br />

auskommt. In ihr vereint sich das primäre Kommunikationsmittel<br />

des Sprechens und das sekundäre<br />

des Singens – mit o<strong>der</strong> ohne Worte. Obschon mit dem<br />

gesprochenen Wort eine enorme Präzision möglich ist,<br />

gibt es Dimensionen von Vermittelbarem, zu denen keine<br />

Sprache vordringt und die vokal o<strong>der</strong> instrumental erst<br />

vollständig ausleuchtbar sind.<br />

Die ersten Musikinstrumente, die sich <strong>der</strong> Mensch gebaut<br />

hat, sind Trommeln und Flöten. Dazu bedurfte es wenig:<br />

Erste Flöten wurden in <strong>der</strong> Steinzeit aus Vogelknochen<br />

o<strong>der</strong> Mammutelfenbein gefertigt; die erste Trommel, die<br />

sogenannte Erdtrommel, bestand aus einer über eine<br />

Grube gespannten Tierhaut. Mit <strong>der</strong> Zeit tauchte die<br />

Trommel in allen denkbaren Kontexten und Funktionen<br />

auf, vom Warnsignal bis hin zur rituellen Ahnenbeschwörung,<br />

bei <strong>der</strong> mit den Toten kommuniziert wird. Ihr<br />

Spektrum wurde so breit, dass auch die schärfsten Gegensätze<br />

des menschlichen Lebens darin Platz fanden:<br />

<strong>der</strong> wilde Tanz wie das militärische Marschieren.<br />

Schlagzeugmarathon – ein Rundumschlag<br />

Der mo<strong>der</strong>ne Schlagzeugapparat ist uferlos, und seine<br />

Einzelinstrumente entstammen <strong>der</strong> afrikanischen, <strong>der</strong><br />

arabischen, <strong>der</strong> osmanischen, <strong>der</strong> fernöstlichen, <strong>der</strong> südostasiatischen,<br />

<strong>der</strong> mittel- und südamerikanischen und<br />

nur zu einem geringen Anteil auch <strong>der</strong> europäischen Kultur<br />

– eine Tatsache, die in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik die<br />

längste Zeit unreflektiert geblieben ist. Die längste Zeit<br />

fristete das Schlagzeug im Orchester auch eine auf rhythmus-<br />

und akzentgebende Begleitfunktion beschränkte<br />

Existenz. In <strong>der</strong> Kammermusik war es gänzlich inexistent.<br />

Erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde nach und nach <strong>der</strong><br />

unerhörte Reichtum seiner Möglichkeiten erkannt. Neue<br />

klangästhetische Visionen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne involvierten immer<br />

mehr assoziative, geräuschhafte, außermusikalische<br />

Klänge, angefangen mit Kuhglocken, Peitsche und Hammer<br />

in Gustaf Mahlers 6. Sinfonie (1904). Wie sich eine<br />

Atmosphäre klanglich nicht nur vermittelt, son<strong>der</strong>n einen<br />

ganz umhüllen kann, erlebt man auch in Leoš Janáčeks<br />

letzter Oper Aus einem Totenhaus (1927/28). Mit alltäglichen<br />

Werkzeugklängen wie Ketten, Amboss, Axt o<strong>der</strong><br />

Säge definiert Janáček schon in <strong>der</strong> Ouvertüre das von<br />

unablässig harter körperlicher Arbeit geprägte Umfeld<br />

des sibirischen Straflagers. Wie diese Werkzeuge landete<br />

je<strong>der</strong> neue Klangerzeuger, <strong>der</strong> ins Orchester getragen<br />

wurde, bei den Perkussionist:innen. Hier entstand eine<br />

Nahtstelle zwischen Musik und Alltagswelt, ein komplett<br />

heterogener Organismus, <strong>der</strong> alle Musikstile und die ganze<br />

Welt in sich gespeichert hält. Und je mehr das Schlagzeug<br />

ins Licht rückte, umso schneller wuchs das Instrument<br />

und das Repertoire dafür. Mit Fug und Recht spricht<br />

man daher vom »Jahrhun<strong>der</strong>t des Schlagzeugs« – und die<br />

Entwicklung ist nicht abgeschlossen.<br />

Der ungarische Komponist Béla Bartók gehört zu den<br />

ersten, die das Schlagzeug in <strong>der</strong> westlichen Kunstmusik<br />

emanzipieren wollten. In seiner Sonate für zwei Klaviere<br />

und Schlagzeug (1938) setzt er das Schlagzeug mit<br />

dem Klavier auf Augenhöhe, indem er ihre herkömmlichen<br />

Rollen quasi vertauscht: Das Klavier behandelt<br />

er aufgrund seiner Hammertechnik wie ein Schlagzeug,<br />

während er beim Schlagzeug mithilfe von Xylophon und<br />

Pedalpauken das melodische Potenzial hervorhebt,<br />

sodass Klavier und Schlagwerk ebenbürtige melodie-,<br />

klang- und rhythmusgebende Kammermusikpartner sind.<br />

Die Sololiteratur ließ länger auf sich warten. Als man bei<br />

den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1959 den<br />

Instrumentalwettbewerb für Schlagzeug auszuschreiben<br />

plante und dann feststellte, dass es dafür gar keine Solostücke<br />

gab, schrieb Karlheinz Stockhausen kurzerhand<br />

seinen epochalen Zyklus für einen Schlagzeuger Nr. 9 –<br />

ein Titel, <strong>der</strong> wörtlich und bildlich zu verstehen ist: Er<br />

gruppierte die Instrumente nach Material – Holz, Fell,<br />

Metall – und ordnete die Aufstellung <strong>der</strong> Instrumente im<br />

Kreis an, um nahtlose klangliche Abstufungen im Übergang<br />

von einer Gruppe zur an<strong>der</strong>en zu ermöglichen. Zyklus<br />

inspirierte sofort eine Reihe an<strong>der</strong>er Komponist:innen,<br />

Solostücke für Schlagzeug zu schreiben. Der Befreiungsschlag<br />

aus <strong>der</strong> Begleitfunktion war gelungen!<br />

Inzwischen ist das Schlagzeug mehr als nur emanzipiert.<br />

Neben <strong>der</strong> fabelhaften Virtuosität, die Jazz- und<br />

Rockgrößen wie Billy Cobham zu Legenden am Drumset<br />

o<strong>der</strong> einen Musiker wie Mohammad Reza Mortazavi zu<br />

einem Meister <strong>der</strong> persischen Schlaginstrumente Tombak<br />

und Daf gemacht hat, bietet das variable Instrument<br />

allein schon szenisches Potenzial genug für Performances<br />

mit visuellem und choreografischem Wert<br />

(Marilyn Mazur, Camille Emaille u. a.) – manchmal sogar<br />

193


mit musik theatralem Charakter, wie es sich das Ensemble<br />

This I Ensemble That zur Eigenschaft gemacht hat,<br />

o<strong>der</strong> wie es auch in Georges Aperghis’ neuem Musiktheater<br />

Die Erdfabrik zum Einsatz kommt.<br />

WAHRE KUNST GIBT<br />

DIE MÖGLICHKEIT, DIE<br />

GEISTIGE DIMENSION<br />

ZU ÖFFNEN:<br />

DIESE MÖGLICHKEIT<br />

VERLIEREN DIE<br />

MENSCHEN, DENN SIE<br />

WOLLEN NUR NOCH<br />

LEICHTES LEBEN,<br />

LEICHTE MUSIK,<br />

LEICHTE KUNST.<br />

Wil<strong>der</strong> Ernst, großes Spiel – Michael Wertmüller,<br />

Sofia Gubaidulina, Simon Steen-An<strong>der</strong>sen<br />

Kein Instrument vereint in sich den Kern so vieler eigenständiger<br />

musikalischer Stile und Kulturen, wie es das<br />

Schlagzeug tut. So ist es auch nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass<br />

gerade ein Komponist wie Michael Wertmüller, <strong>der</strong> als<br />

Jazzschlagzeuger wie als Orchesterperkussionist Karriere<br />

gemacht hat, die scheinbar unvereinbaren Welten von<br />

Klassik und Jazz als EINE Welt begreift und behandelt.<br />

In seinem experimentellen Opernraum D•I•E (UA <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

2021) hatte er das mit fünf Bands und Ensembles<br />

völlig unterschiedlicher Stile unter Beweis gestellt.<br />

In seinem neuen Stück für die <strong>Ruhrtriennale</strong> lässt er nun<br />

zwei gegensätzliche Orchester – Sinfonieorchester und<br />

Bigband – zu einem großen heterogenen Klangkörper<br />

zusammenwachsen. Dass sich die beiden nicht ganz<br />

ohne Weiteres in Einklang bringen lassen und mit unterschiedlichen<br />

Rhythmen, Metren und Tempi immer wie<strong>der</strong><br />

genüsslich gegeneinan<strong>der</strong>laufen, verrät schon <strong>der</strong><br />

Titel Shlimazl.<br />

Bigband steht für Spaß und Unterhaltung. Solche Leichtfüßigkeit<br />

ist jedoch das letzte, womit man die tatarischrussische<br />

Komponistin Sofia Gubaidulina assoziieren<br />

würde. Tatsächlich sieht die 91-Jährige in <strong>der</strong> heutigen<br />

»Spaßgesellschaft« die bedenkliche Tendenz, dass jede<br />

geistige Aktivität abhandenkommt und das Leben nur<br />

noch horizontal und eindimensional verläuft. »Wahre<br />

Kunst gibt die Möglichkeit, die geistige Dimension zu öffnen:<br />

die Vertikale«, sagt sie 2002 in einem Interview mit<br />

Janica Draisma. »Diese Möglichkeit verlieren die Menschen,<br />

denn sie wollen nur noch leichtes Leben, leichte<br />

Musik, leichte Kunst. Und alles nur zum Spaß. Das ist eine<br />

sehr große Gefahr. Es ist <strong>der</strong> Weg zum Tod. Zum geistigen<br />

Tod. Aber sie bemerken es nicht.« Spaß und Leichtigkeit<br />

hält Gubaidulina dennoch für wichtig, nur sollten sie mit<br />

geistiger Aktivität und Tiefe in einer Balance stehen, da<br />

man sonst die »geistige Muskulatur« verliere, die »Verbindung<br />

zum Himmel« – o<strong>der</strong> wie sie es an an<strong>der</strong>er Stelle<br />

ausdrückt: die »Wurzeln im Himmel«. Gern verwendet sie<br />

die Metapher des Kreuzes, um diese Balance zu verdeutlichen.<br />

Auf den ersten Blick erstaunt vielleicht, dass diese<br />

hochgeistige und tiefreligiöse Frau, <strong>der</strong>en Kreativität<br />

einst aus Armut, Angst und Trostlosigkeit geboren wurde,<br />

ein frivolitätsverdächtiges Stück wie Revuemusik für Sinfonieorchester<br />

und Jazzband schreibt. Aber eben nur auf<br />

den ersten Blick. Auf den zweiten fällt auf, dass sie ihre<br />

zwei konträren Klangkörper genau in diesen Dienst stellt:<br />

ein Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte herzustellen. An Expertise,<br />

für Bigband zu komponieren, fehlt es ihr dabei keineswegs,<br />

schrieb sie doch in jungen Jahren zum Broterwerb<br />

in Moskau oft Filmmusik – eine Qualität, die in dieser<br />

vollends unfrivolen, fantastisch-skurrilen Komposition<br />

immer wie<strong>der</strong> zum Tragen kommt.<br />

ÜBER DEN HUMOR<br />

UND DAS SPIEL DRINGT<br />

STEEN-ANDERSEN<br />

ZU EINER NEUEN<br />

MUSIK, EINER ART<br />

META-MUSIK VOR,<br />

DIE SICH AUS DIESEM<br />

TRÜMMERHAUFEN<br />

VON AUDIOVISUELLEM<br />

MATERIALSCHOTTER<br />

HERAUSSCHÄLT<br />

UND SICH WIE EIN<br />

KLINGENDER PHOENIX<br />

AUS DER ASCHE<br />

ERHEBT.<br />

Dass Spaß und Humor nicht mit grundsätzlicher Oberflächlichkeit<br />

gleichzusetzen sind, son<strong>der</strong>n auch ein<br />

Schlüssel zu Tiefe, Zweifel o<strong>der</strong> etwas Unbekanntem<br />

sein können, legt <strong>der</strong> dänische Komponist Simon Steen-<br />

An<strong>der</strong>sen nahe. Sein Interessensfeld ist <strong>der</strong> Aufführungsprozess<br />

von Musik, die Konzertsituation und ihre<br />

194


Insignien, mit denen er als Material spielt – und zwar die<br />

aberwitzigsten, absurdesten Spiele. Das Material seines<br />

audiovisuell angelegten Klavierkonzerts (Piano Concerto)<br />

gewinnt er etwa aus dem Video eines Flügels, <strong>der</strong><br />

aus einiger Höhe auf einen Betonboden kracht und zerschellt.<br />

In seiner Black Box Music für Soloschlagzeug,<br />

Video und Ensemble untersucht und dekonstruiert er die<br />

performativen Qualitäten des Puppen theaters und des<br />

Dirigierens zugleich. In seinem TRIO für Orchester, Chor,<br />

Bigband und Video betritt er die monumentale Skala: Auf<br />

einer großen Leinwand über den Klangkörpern spielen<br />

sich Sequenzen von kleinstfragmentiertem, gelooptem<br />

o<strong>der</strong> in schneller Abfolge collagiertem Videomaterial von<br />

Konzert- und Probensituationen <strong>der</strong> drei Klangkörper ab.<br />

Das historische Material stammt aus dem Archiv des Südwestrundfunks.<br />

Und die Live-Musiker:innen, die diesem<br />

Hakenschlagen zu folgen haben, liefern den atemlosen<br />

Soundtrack dazu. Der irre Ritt unterhält, begeistert, belustigt,<br />

fasziniert – wirft in voller Fahrt aber auch Zweifel<br />

auf: Macht sich <strong>der</strong> Komponist lustig über die »Dirigentengötter«<br />

und den verstaubten, pathetischen Gestus<br />

des Musikmachens von damals? O<strong>der</strong> zielt er auf etwas<br />

ganz an<strong>der</strong>es ab? Steen-An<strong>der</strong>sen, so viel wird klar, befragt<br />

den heiligen Ernst, mit dem seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

westliche Kunstmusik aufgeführt wird. Doch hinter dem<br />

ikonoklastischen Trieb scheint auch ein Bedürfnis zu stehen,<br />

Musik in ihrer Wahrhaftigkeit von dem verdeckenden<br />

Gewand des bürgerlichen Performance-Habitus zu<br />

befreien. Über den Humor und das Spiel dringt Steen-<br />

An<strong>der</strong>sen zu einer neuen Musik, einer Art Meta-Musik vor,<br />

die sich aus diesem Trümmerhaufen von audiovisuellem<br />

Materialschotter herausschält und sich aus <strong>der</strong> Hektik<br />

des Springens, Schneidens und Montierens wie ein klingen<strong>der</strong><br />

Phoenix aus <strong>der</strong> Asche erhebt.<br />

Die kommunikative Welt von Georges Aperghis<br />

Auch <strong>der</strong> griechisch-französische Komponist Georges<br />

Aperghis hatte als junger Künstler große Zweifel am<br />

konventionellen Musik- und Theaterbetrieb. Anfang<br />

<strong>der</strong> 70er-Jahre feierte er vielbeachtete Erfolge bei allen<br />

berühmten Musiktheaterfestivals in Frankreich, aber<br />

er hatte das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, seine<br />

Arbeit am falschen Ort zu leisten. Daher stieg er für<br />

etliche Jahre aus diesem Geschäft aus und gründete in<br />

einem von Armut und sozialer Not gezeichneten Pariser<br />

Vorort eine Gruppe für experimentelles Musiktheater,<br />

die sich zum Ziel machte, eine neue künstlerische<br />

Ausdrucksform zu entwickeln, die vom Alltag inspirierte,<br />

soziale Ereignisse in die Welt <strong>der</strong> Poesie überträgt. Die<br />

ersten Bewohner des Vororts, die sich für die Neuankömmlinge<br />

aus Paris interessierten, waren Kin<strong>der</strong>. Und<br />

so begann seine Arbeit mit ihnen. Sie machten spielerische<br />

Improvisationsübungen, erkundeten, wie Sprache,<br />

Klang und Gestik sich zueinan<strong>der</strong> verhalten. Das<br />

Material, mit dem sie spielten, waren die Geschichten<br />

dieser Kin<strong>der</strong>, die größtenteils aus Nordafrika eingewan<strong>der</strong>t<br />

waren, und die von Nachbarschaft und Autolärm<br />

erzählten, von ihrer Heimat und <strong>der</strong> Überfahrt<br />

übers Mittelmeer. Aus Elementen dieser Workshops<br />

generierte Aperghis seine Musiktheatersprache, die er<br />

auch heute noch von dieser Basis aus weiterentwickelt.<br />

IN MEINER MUSIK<br />

GIBT ES ETWAS, DAS MIT<br />

DEM PUBLIKUM,<br />

MIT DEN MUSIKERN<br />

UND AUCH MIT MIR<br />

SPRECHEN WILL.<br />

Obwohl sich Georges Aperghis als Einzelgänger und<br />

Außenseiter bezeichnet, hat er ein so umfassendes<br />

Interesse am Menschen, dass er ihn über sein Werk stellt –<br />

und zugleich in dessen Zentrum. Und dieser Mensch will<br />

kommunizieren: »In meiner Musik gibt es etwas, das mit<br />

dem Publikum, mit den Musikern und auch mit mir sprechen<br />

will«, erklärt Aperghis. »Es ist keine Musik, die aus<br />

himmlischen Sphären kommt. Sie ist auf <strong>der</strong> Erde gemacht,<br />

für die Menschen, und sie erzählt von den Menschen,<br />

von <strong>der</strong> Liebe, von <strong>der</strong> Sprache, vom Körper.«<br />

Auch Instrumente nimmt er wie mitteilsame Menschen<br />

wahr, die mit ihm zu kommunizieren versuchen: »Bei einem<br />

Klavierkonzert von Mozart hat man das Gefühl, das<br />

Klavier spreche mit einem. Jedes Mal sagt es einem etwas<br />

an<strong>der</strong>es, nichts Genaues, aber es ist klar, dass es einem<br />

etwas sagen will, und man versteht es beinahe. Das liebe<br />

ich! Und das würde ich gerne schaffen, aber das schafft<br />

meiner Meinung nach nur Mozart.«<br />

Georges Aperghis behandelt Sprache als reinen Klang,<br />

als musikalisches Ausdrucksmittel jenseits des Inhalts.<br />

Ihn interessiert weniger, was konkret gesagt wird, als wie<br />

es gesagt wird. Es sind die schwer beschreibbaren Nuancen,<br />

die Bände sprechen über einen Menschen und sein<br />

Verhältnis zum Gesagten. Sie verraten etwas über Selbstsicherheit<br />

o<strong>der</strong> Irritierbarkeit, über innere Ruhe, Anspannung<br />

o<strong>der</strong> Zerrissenheit, auch über Charakter, Wahrhaftigkeit<br />

und Leidenschaft. Meist verlässt er die textliche<br />

Logik und zerlegt die Sprache in Silben und Phoneme,<br />

die er wie Töne handhabt. Er bildet daraus sogar eine Art<br />

Melodien, ohne dass zwangsläufig gesungen wird.<br />

Nähe durch Sprache – Leoš Janáček<br />

In Georges Aperghis träfe Leoš Janáček einen geistigen<br />

Verwandten, wenn <strong>der</strong> tschechische Komponist nicht fast<br />

ein Jahrhun<strong>der</strong>t vor Aperghis geboren wäre. Zwar lässt ihre<br />

Musik nicht unmittelbar auf Ähnlichkeit schließen, aber<br />

<strong>der</strong> sprachnahe Gestus ist bei beiden unüberhörbar. Wie<br />

kein an<strong>der</strong>er ist Janáček dafür bekannt, sich in einer einzigartigen<br />

Präzision an <strong>der</strong> menschlichen Sprache – in seinem<br />

Fall <strong>der</strong> tschechischen – zu orientieren; wie Aperghis<br />

geht es ihm dabei weniger um die spezifischen Aussagen<br />

als um die Art und Weise, wie jedes Individuum den Worten<br />

mit seiner Stimme und Verfasstheit klanglich, melodisch,<br />

rhythmisch beim Sprechen Ausdruck verleiht. Zeit seines<br />

Lebens war Janáček geradezu versessen auf die sogenannte<br />

195


Notizbuch von Leoš Janáček: Letzte Worte seiner sterbenden Tochter Olga in Noten festgehalten.<br />

»Sprechmelodik« <strong>der</strong> Menschen, die ihn umgaben, seien<br />

sie bekannt o<strong>der</strong> fremd, bedeutend o<strong>der</strong> gewöhnlich.<br />

Er horchte ihrer Sprache, als sei sie Musik, und übertrug<br />

kleine melodisch-rhythmische Motive mit den dazugehörigen<br />

Silben in Notenschrift und notierte sie in einer beständig<br />

wachsenden Sammlung. Dieses an Charakteren reiche<br />

Sprechmelodienarchiv bildete die Basis seiner Kompositionen,<br />

und zwar <strong>der</strong> vokalen wie <strong>der</strong> rein instrumentalen.<br />

Manchmal schienen ihm diese Notate auch als eine Art<br />

Speichermedium zu dienen, um ihm wichtige Erinnerungen<br />

am Leben zu halten – etwa die letzten Worte seiner mit<br />

nur 20 Jahren verstorbenen Tochter Olga: »Já nechci umřít,<br />

já chci žít!« – Ich will nicht sterben, ich will leben!<br />

Janáčeks Methode zeugt von einem unbedingten Interesse<br />

am Menschen und daran, wie sich dessen hochkomplexe<br />

Psyche in Klang wi<strong>der</strong>spiegelt. Sein egalitärer Blick auf die<br />

Menschen bestimmte auch seine ungewöhnlichen Opernsujets:<br />

Seine bekanntesten Opern Jenůfa, Katja Kabanova und<br />

Das schlaue Füchslein handeln nicht von tragischen Held:innen,<br />

son<strong>der</strong>n von Geschöpfen, die im Schatten stehen, vom<br />

geraden Weg abgekommen sind, die nicht nur keine Rechte<br />

haben, son<strong>der</strong>n auch Unrecht begangen haben. Ob nun<br />

fehltretende Frauenfiguren o<strong>der</strong> die weitgehend ausgelieferte<br />

Tierwelt – Janáček for<strong>der</strong>te mit seiner Musik Mitgefühl,<br />

wo es in einer männlich dominierten Gesellschaft rar gesät<br />

war. Ausschließlich Männer sind wie<strong>der</strong>um das Sujet seiner<br />

letzten Oper Aus einem Totenhaus – doch nicht operntaugliche<br />

Heldenfiguren, son<strong>der</strong>n Verbrecher und Versager,<br />

die in <strong>der</strong> Gleichgültigkeit des Lagerlebens untergehen.<br />

OB NUN<br />

FEHLTRETENDE<br />

FRAUENFIGUREN<br />

ODER DIE WEITGEHEND<br />

AUSGELIEFERTE<br />

TIERWELT – JANÁČEK<br />

FORDERTE MIT SEINER<br />

MUSIK MITGEFÜHL,<br />

WO ES IN<br />

EINER MÄNNLICH<br />

DOMINIERTEN<br />

GESELLSCHAFT RAR<br />

GESÄT WAR.<br />

196


WENN DIE UNSCHULDIG GESTORBENE AKULINA<br />

NUN DURCH ŠIŠKOVS STIMME HINDURCH SPRICHT,<br />

WERDEN NICHT NUR ŠIŠKOVS TRAGISCHE LIEBE,<br />

SEIN SCHMERZ UND SEINE REUE LEBENDIG,<br />

AKULINA SELBST SCHEINT WIE EINE ENGELHAFTE,<br />

METAPHYSISCHE PRÄSENZ DAS DÜSTERE<br />

GEFÄNGNIS EINEN MOMENT LANG ZU ERHELLEN.<br />

Nur manchmal geht ein kleines Fenster auf. Wenn ein Gefangener<br />

von seinem Schicksal erzählt, bahnt sich das<br />

typisch janáčeksche Individuum den Weg ans Licht. Nicht<br />

nur seine Stimme, son<strong>der</strong>n auch die Stimmen jener, die in<br />

seiner Geschichte vorkommen, werden lebendig – kleine<br />

Binnendramen, in denen sich diese Sträflinge in die verhängnisvolle<br />

Situation ihrer Straftat zurückversetzen, dabei<br />

immer wie<strong>der</strong> die Rollen wechseln, um auch ihren Opfern<br />

o<strong>der</strong> Peinigern Stimme zu verleihen. Beson<strong>der</strong>s eindringliche<br />

Formen nimmt das im Fall des Sträflings Šiškov an:<br />

Er erinnert den Mord, den er an seiner geliebten Braut Akulina<br />

begangen hatte, weil er seinem infamen Rivalen glaubte,<br />

sie sei bei <strong>der</strong> Heirat keine Jungfrau mehr gewesen. Wenn<br />

die unschuldig gestorbene Akulina nun durch Šiškovs Stimme<br />

hindurch spricht, werden nicht nur Šiškovs tragische<br />

Liebe, sein Schmerz und seine Reue lebendig, Akulina<br />

selbst scheint wie eine engelhafte, metaphysische Präsenz<br />

das düstere Gefängnis einen Moment lang zu erhellen.<br />

Letzte Stimmen – Huelgas Ensemble<br />

Derselbe nächtliche Raum, <strong>der</strong> Janáčeks Totenhaus-<br />

Sträflinge gefangen hält, wird zum Abschluss <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

<strong>2023</strong> noch einmal von <strong>der</strong> menschlichen Stimme<br />

erhellt. Diesmal ist sie wie<strong>der</strong> alleine, ohne jedes<br />

Hilfsmittel. Das Vokalensemble Huelgas bewegt sich<br />

durch die Welt <strong>der</strong> frühen Vokalpolyphonie, die sich<br />

einst auch aus mensch licher Sprache heraus entwickelt<br />

hat, als im Frühmittelalter die Liturgie, das Gebet, das<br />

Gespräch des Menschen mit Gott zu Musik wurde. Und<br />

die Wirkmacht <strong>der</strong> menschlichen Stimme ist gewachsen:<br />

Sie hat gelernt, ein schwindelerregendes 24-stimmiges<br />

Gefüge wie Josquin Desprez’ Qui habitat durch<br />

die Kraft und Klarheit je<strong>der</strong> einzelnen Stimme schweben<br />

zu lassen. Und sie hat gelernt, mit Antoine Brumels<br />

Erdbebenmesse Et ecce terrae motus die Erde zum Beben<br />

zu bringen: Steine zu bewegen, Welten zu bewegen,<br />

Menschen zu bewegen.<br />

BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

2021–23. Als Autorin und Mo<strong>der</strong>atorin im Bereich Neuer Musik ist sie seit vielen Jahren<br />

für den Deutschlandfunk und die verschiedenen Programme des ARD-Hörfunks tätig.<br />

2018–2020 war sie Dramaturgin für Oper und Konzert an <strong>der</strong> Staatsoper Suttgart.<br />

Foto: Moravské zemské muzeum, Filozofická fakulta Masarykovy univerzity – Ústav hudební vědy 2013<br />

197


JETZT!<br />

VON NINA BADE<br />

Nina Bade 2021<br />

Nina Bade <strong>2023</strong><br />

JETZT & JETZT<br />

Installation<br />

ab 24. August <strong>2023</strong><br />

Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/jetzt<br />

198


Als Zeitstempel bezeichnet man eine spezielle Form von Signatur, die einem Ereignis einen<br />

exakten Zeitpunkt zuordnet. Wenn man einen Brief verschickt, dient <strong>der</strong> Poststempel <strong>der</strong><br />

Zuordnung zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Verschickung. Es gibt auch digitale Zeitstempel, zum Beispiel<br />

jene, die in <strong>der</strong> Fotogalerie den exakten Zeitpunkt <strong>der</strong> Aufnahme angeben.<br />

Zeitstempel haben in gewisser Weise einen objektiven und urteilsfreien Anspruch, sie sind<br />

ein pragmatisches Hilfsmittel. In einer persönlichen Auswahl und Aneinan<strong>der</strong>reihung<br />

ergeben sie jedoch eine Erzählung, die aus einem subjektiven Blickwinkel heraus entsteht.<br />

Der Blickwinkel, aus dem dieser Text entsteht, ist <strong>der</strong> einer Produktionsleiterin und später<br />

Dramaturgin von Jetzt & Jetzt. In meiner persönlichen Auswahl von Zeitstempeln <strong>der</strong><br />

vergangenen zwei Jahre möchte ich ein Bild skizzieren, das von Jetzt & Jetzt erzählt, von<br />

Mats Staub und mehr als hun<strong>der</strong>t Menschen, von Prozessen, von Wachstum und von meinem<br />

eigenen Zeitgefühl.<br />

21/04/02<br />

Meine persönliche Zeitrechnung von Jetzt & Jetzt beginnt<br />

mit einem Anruf von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Es gehe um eine<br />

neue Arbeit von Mats Staub, für die sie eine Produktionsleitung<br />

suchen. Den Namen hatte ich schon mal gehört,<br />

von den Arbeiten dieses Künstlers auch. Arbeiten, die<br />

über viele Jahre entstehen, die aus Gesprächen und<br />

Portraits mit Menschen allerorts bestehen und die sich<br />

in keine Sparte einordnen lassen. Auch in seiner neuen<br />

Arbeit möchte er ins Gespräch mit Menschen kommen.<br />

Er möchte hun<strong>der</strong>t Menschen im Abstand von zwei Jahren<br />

treffen, mit ihnen über ihre Verän<strong>der</strong>ungen und ihr<br />

Wachstum reden und eine Begegnung von zwei Jetzt-<br />

Zuständen schaffen. Meine Aufgabe würde es sein, hun<strong>der</strong>t<br />

Menschen zu finden, einen für jeden Jahrgang zwischen<br />

8 und 80 Jahren, hun<strong>der</strong>t Termine zu vereinbaren, hun<strong>der</strong>t<br />

Begegnungen im Sommer 2021 stattfinden zu lassen.<br />

21/05/15<br />

Die ersten Testaufnahmen finden in <strong>der</strong> Turbinenhalle<br />

statt und ich fahre zum ersten Mal nach Bochum. Da ich<br />

niemanden kenne, schlafe ich über Airbnb bei einer<br />

Person. Sie wird später die erste Teilnehmerin des Projektes<br />

werden.<br />

Bei den Aufnahmen lerne ich Mats Staub persönlich kennen.<br />

Nach ein paar Telefonaten und Zooms treffen wir uns<br />

in <strong>der</strong> Turbinenhalle. Er ist herzlich und warm, nach kurzer<br />

Zeit habe ich das Gefühl, nicht mehr so nervös sein zu<br />

müssen. Die Turbinenhalle ist wie<strong>der</strong>um kalt und rau. Seit<br />

einer Weile scheint sich die Natur die Halle zurückerobern<br />

zu wollen. Ein paar Tauben haben sich in das Gewölbe <strong>der</strong><br />

Halle eingenistet. Von Zeit zu Zeit hören wir sie flattern und<br />

weichen immer mal wie<strong>der</strong> herunterfallendem Kot aus.<br />

21/06/06<br />

Wir haben einen Open Call erstellt, <strong>der</strong> interessierte Menschen<br />

zwischen 8–80 Jahren einlädt, sich für die Teilnahme<br />

am Projekt anzumelden und auf eine intensive Selbstreflexion<br />

einzulassen. Von Woche zu Woche verschicke<br />

ich unseren Teilnahmeaufruf durch verschiedene Verteiler,<br />

telefoniere, vereinbare Termine und recherchiere, wo<br />

ich noch mehr Menschen erreichen kann. Zur Anmeldung<br />

schicken sie per Mail ein zwei Jahre altes Foto von sich<br />

und eine kurze Beschreibung darüber, wie sie sich seitdem<br />

verän<strong>der</strong>t haben.<br />

21/07/12<br />

Es ist nur noch einen Monat hin bis zum Beginn unserer<br />

Aufnahmen. Von hun<strong>der</strong>t Menschen haben sich erst etwa<br />

die Hälfte gemeldet. Plötzlich ist unser Vorhaben so nah<br />

gerückt, nur fehlen all die Leute, die das Ruhrgebiet zu<br />

dem machen, was es ist.<br />

21/08/01<br />

Ich fahre im vollen Zug ohne Klimaanlage und einem großen<br />

Reiserucksack nach Bochum. Dieses Mal bleibe ich<br />

zwei Monate. Den Sommer über werden alle meine Erwartungen<br />

nach und nach mit Erinnerungen gefüllt werden.<br />

21/08/09<br />

Während <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>e Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle für die<br />

Insta llation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden<br />

tech nisch eingerichtet wird, beziehen wir den Teil hinter<br />

den Turbinen. Unser Technikteam baut kleine schwarze<br />

Kabäuschen auf, in denen die Videos gedreht, Gespräche<br />

geführt und Briefe geschrieben werden. Die Schaltzentrale<br />

wird zum Gewächshaus umfunktioniert, darin hun<strong>der</strong>t<br />

Pflanzen, die von unserer Pressereferentin Stefanie Matjeka<br />

in monatelanger Arbeit in ihrem Garten herangezüchtet<br />

wurden. In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> hinteren Turbinenhalle steht ein<br />

großer Holztisch, an dem das Team Platz findet. Weiter<br />

rechts unsere Küchenzeile bestehend aus einem Kühlschrank<br />

und einer Kaffeemaschine.<br />

21/08/15<br />

Mats' künstlerisches Team reist für die Eröffnung von<br />

21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden an. Der vor<strong>der</strong>e<br />

Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle ist nun mit Bildschirmen gefüllt,<br />

die vom 21. Lebensjahr unterschiedlichster Menschen erzählen.<br />

Die Aufnahmen für Jetzt & Jetzt werden zwei Tage<br />

später beginnen und Aufregung und Vorfreude liegen in<br />

<strong>der</strong> Luft. Mats zeigt seinem Team den Aufnahmebereich,<br />

als wäre es seine erste eigene Wohnung, die er gerade<br />

frisch bezogen hat.<br />

199


21/08/17<br />

Unsere Aufnahmen für Jetzt & Jetzt beginnen. Uns steht<br />

ein ganzer Monat voller Begegnungen bevor. Nach <strong>der</strong><br />

kurzzeitigen Anmeldeflaute haben sich viele Teilnehmer:innen<br />

gemeldet, die den Aufruf auf den verschiedenen<br />

Kanälen gefunden haben, die von an<strong>der</strong>en Menschen davon<br />

gehört haben und die die Installation 21 inspiriert hat.<br />

Unser gesamter Sommer ist durchgetaktet. Wir haben die<br />

Abläufe geprobt, aber Proben sind in diesem Fall an<strong>der</strong>s<br />

als am Theater. Vieles bringen erst die Teilnehmer:innen<br />

mit. Die erste Teilnehmerin kommt nicht. Ich erreiche sie<br />

telefonisch nicht. Ich bin verantwortlich für hun<strong>der</strong>t<br />

Menschen, und dass alles nach Plan läuft. Was ist, wenn<br />

niemand kommt?<br />

Alle an<strong>der</strong>en Teilnehmer:innen werden kommen.<br />

Alle tragen eine Maske.<br />

Alle füllen einen Fragebogen über ihre Wünsche und Fragen aus.<br />

Alle führen ein Gespräch mit Mats.<br />

Alle wählen ein aktuelles Lieblingslied und werden beim Blick in den Spiegel gefilmt.<br />

Alle stellen sich dabei vor, dass sie auf ihr zukünftiges Ich treffen.<br />

Alle schreiben einen Brief an ihr zukünftiges Ich.<br />

Alle nehmen eine Pflanze und einen Termin für den März <strong>2023</strong> mit.<br />

Alle machen das Gleiche, aber alle machen es auf ihre Weise.<br />

21/08/26<br />

Auch ich bin eine Teilnehmerin. Eine Woche lang habe<br />

ich die an<strong>der</strong>en Teilnehmer:innen empfangen, ihnen den<br />

Ablauf erklärt, ihre Aufnahmen live miterlebt und dabei<br />

ihre Nervosität gespürt. Nun bin ich an ihrer Stelle. Ich<br />

finde keine Antworten für den Fragebogen und weiß<br />

nicht, was ich in den Brief schreiben soll. Die Videokabine<br />

kommt mir plötzlich sehr eng vor und mein eigener<br />

Blick im Spiegel überfor<strong>der</strong>t mich. Es ist einfacher,<br />

den Kopf bei hun<strong>der</strong>t an<strong>der</strong>en Menschen zu haben, als<br />

mich für eine Stunde mit mir selbst zu beschäftigen.<br />

21/09/02<br />

Während das Festivalpublikum tagsüber 21 – Erinnerungen<br />

ans Erwachsenwerden im vor<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> Turbinenhalle<br />

besucht, nehmen wir hinter <strong>der</strong> Turbine auf. Wir,<br />

das sind Mats Staub, Fre<strong>der</strong>ieke Tambaur (unsere Dramaturgin),<br />

Benno Seidel (unser Videodesigner) und ich.<br />

Die Turbinenhalle ist unsere Oase. Gemeinsam sitzen wir<br />

um den großen Holztisch und arbeiten, liegen in kurzen,<br />

sonnigen Pausen in Liegestühlen vor <strong>der</strong> Turbinenhalle und<br />

unterhalten uns über das, was uns beschäftigt. Wir essen<br />

selten Salat und fast täglich Schokobrötchen von Schmidtmeier.<br />

Nach den Aufnahmen fahren wir zusammen zu den<br />

Vorstellungen und trinken ein Glas Weißburgun<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Pappelwaldkantine. Es ist Sommer und vom Festivalgefühl<br />

beflügelt rauschen die Tage wie im Flug vorbei. Nach<br />

6 Wochen haben wir 108 Menschen aufgenommen und<br />

fast alle Produktionen <strong>der</strong> Ruhr triennale angeschaut.<br />

200


21/09/26<br />

Es ist unser letzter Aufnahmetag. Das Festival ist vorbei<br />

und <strong>der</strong> Sommer auch. Wir packen unsere Dinge zusammen.<br />

Die Briefe verwahren wir an einem sicheren<br />

Ort, wo sie alle zusammen eineinhalb Jahre ruhen werden.<br />

Ich verlasse Bochum.<br />

22/08/11<br />

Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2022 beginnt und mit ihr ein warmer<br />

Sommer. Ich sitze schwitzend in <strong>der</strong> Turbinenhalle, wo das<br />

Festival unter an<strong>der</strong>em eröffnet wird. Ich spüre die Geister<br />

von unseren Aufnahmen und Gesprächen immer noch in<br />

<strong>der</strong> Halle. In den kommenden Tagen werde ich beginnen,<br />

alle Teilnehmer:innen ein Jahr nach ihrer Aufnahme zu<br />

kontaktieren und an ihre Teilnahme zu erinnern. Manche<br />

schicken mir neue Lieblingslie<strong>der</strong> und schreiben mir, wie<br />

sehr ihre Pflanze inzwischen gewachsen ist. Ab und zu<br />

laufe ich einzelnen Teilnehmer:innen über den Weg.<br />

22/09/09<br />

Mats Staub und ich machen zusammen Dramaturgieklausur.<br />

Was vorher als grobe Idee im Raum stand, wird nun<br />

konkret. Mit dabei bei den Treffen ist Hanno Sons, unser<br />

technischer Leiter. Dieses Mal bin ich die Dramaturgin <strong>der</strong><br />

Produktion und Bochum ist inzwischen mein Zuhause.<br />

23/01/09<br />

Wir treffen uns zur Dimensionsprobe in <strong>der</strong> Turbinenhalle,<br />

probieren Raumentwürfe unserer Szenografin Louisa<br />

Robin aus, diskutieren über Monitore, Polsterfarben und<br />

Anordnungen im Raum.<br />

Der März und damit die zweite Aufnahmephase rückt<br />

näher. Wie werden sich die Menschen verän<strong>der</strong>t haben?<br />

Was werden sie erzählen?<br />

23/03/03<br />

Jetzt kommt mein Text zum Ende, denn es ist Redaktionsschluss und unsere Aufnahmen beginnen.<br />

Jetzt werden hun<strong>der</strong>t Menschen für eine zweite Begegnung zu uns kommen.<br />

Jetzt werden sie ihren Fragebogen und ihren Brief wie<strong>der</strong>bekommen und lesen.<br />

Jetzt werden sie ein zweites Mal in den Spiegel schauen.<br />

Jetzt werden sie von ihrer Verän<strong>der</strong>ung und ihrem Wachstum erzählen.<br />

Jetzt werden wir wie<strong>der</strong> um den großen Holztisch sitzen und jeden Mittag gemeinsam essen.<br />

Jetzt geht es endlich weiter!<br />

Dann werde auch ich als Teilnehmerin wie<strong>der</strong>kommen.<br />

Ich werde meinen Brief lesen, mich im Spiegel anschauen,<br />

runter auf die Fußspitzen und beim Aufblicken direkt in<br />

meine erste Momentaufnahme hinein. Jetzt ist die Zeit zur<br />

Reflexion gekommen!<br />

NINA BADE begann 2021 als künstlerische Produktionsleiterin für die beiden Produktionen<br />

von Mats Staub, 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden und Jetzt & Jetzt, bei <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> zu arbeiten. <strong>2023</strong> ist sie Dramaturgieassistentin des Festivals und<br />

Dramaturgin für Jetzt & Jetzt.<br />

Foto: Jetzt&Jetzt<br />

201


202


203SERVICE


SPIELSTÄTTEN / VENUES<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle und<br />

Turbinenhalle, Bochum<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum beginnt im Jahr 1902, als<br />

die Halle dem Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation<br />

auf einer Industrie- und Gewerbeschau in Düsseldorf, <strong>der</strong> sogenannten<br />

»kleinen Weltausstellung«, als Ausstellungshalle diente. Über den Winter<br />

1902/1903 wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die<br />

Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als<br />

Gaskraftzentrale auf. Die Gaskraftzentrale verarbeitete das in den Hochöfen<br />

anfallende Gichtgas und versorgte über 60 Jahre lang das Werk und<br />

umliegende Siedlungen mit Energie. 100 Jahre nach ihrer Errichtung in<br />

Bochum – am 30. April 2003 – wurde die durch einen funktionalen Vorbau<br />

erweiterte und nunmehr denkmalgeschützte Jahrhun<strong>der</strong>thalle im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> zweiten Saison <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> ihrer neuen Bestimmung<br />

als »Montagehalle für die Kunst« (Gerard Mortier) übergeben.<br />

The story of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum begins in 1902, when the hall<br />

served as an exhibition hall for the Bochumer Verein für Bergbau und<br />

Gußstahlfabrikation (Bochum Association for Mining and Steel Casting)<br />

at an industrial and trade show in Düsseldorf, the »small world exhibition«.<br />

The monumental steel construction was transported from the Rhine<br />

to the Ruhr over the winter of 1902/1903 and assumed its function as a<br />

gas power station in the heart of the steelworks. The gas power station<br />

processed the blast furnace gas and supplied the plant and surrounding<br />

settlements with energy for over 60 years. 100 years after its construction<br />

in Bochum – on 30 April 2003 – the Jahrhun<strong>der</strong>thalle, which was extended<br />

by a functional porch and is now a listed building, was given a new<br />

purpose as an »assembly hall for art« (Gerard Mortier) during the opening<br />

of the second season of the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />

44793 Bochum<br />

www.ruhr3.com/jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 302, 305 o<strong>der</strong> 310 bis<br />

Haltestelle Bochumer Verein /<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />

Tram 302, 305 or 310 to Bochumer Verein /<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Approx. 5 min. walk.<br />

Leihfahrrad / Rental Bike<br />

Auf dem Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle befindet<br />

sich die Radstation 7188 von Metropolradruhr.<br />

The Metropolradruhr bike station 7188 is located<br />

on the forecourt of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle.<br />

PKW / By Car<br />

Navigation: An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle, 44793 Bochum<br />

Parkhaus Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Im Parkhaus stehen zwei Parkplätze mit Ladestation<br />

für E-Fahrzeuge sowie fünf Behin<strong>der</strong>tenparkplätze<br />

zur Verfügung.<br />

Car park Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

The multi-storey car park has two parking spaces<br />

with charging stations for e-vehicles and five<br />

disabled parking spaces.<br />

Gastronomie / Catering<br />

Die Pappelwaldkantine vor <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum lädt mit veganen Gerichten und<br />

Getränken zum Verweilen ein.<br />

Öffnungszeiten 11. August – 23. September<br />

Mi–Fr ab 15 Uhr / Sa–So ab 12 Uhr<br />

The Pappelwaldkantine in front of the<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum invites you to<br />

linger with vegan dishes and drinks.<br />

Opening hours 11 August – 23 September<br />

Wed–Fri from 3pm / Sat–Sun from 12pm<br />

Metropolis Kino, Bochum<br />

Das Metropolis Kino öffnete 1957 unter dem Namen »Bahnhofslichtspiele«<br />

(kurz: BALI) seine Türen und war damals das 43. Kino in Bochum.<br />

Es ist neben dem CASABLANCA eines <strong>der</strong> großen Bochumer Filmtheater<br />

für anspruchsvolle Kinounterhaltung. Direkt gelegen im Bochumer<br />

Hauptbahnhof (im linken Seitentrakt des Haupteingangs), bietet das<br />

METROPOLIS in seinem weiträumigen, mit mo<strong>der</strong>nster Technik versehenen<br />

Kinosaal ein abwechslungsreiches Filmangebot, das von Erstaufführungen<br />

in englischer Sprache bis zu beson<strong>der</strong>en Reihen und Premierenveranstaltungen<br />

reicht.<br />

The multi-award-winning METROPOLIS opened its doors in 1957 and,<br />

along with the CASABLANCA cinema, is one of Bochum's major film<br />

theatres for sophisticated cinema entertainment. Located directly in<br />

Bochum's main railway station (in the left side wing of the main entrance),<br />

the METROPOLIS offers a varied range of films in its spacious cinema<br />

auditorium, which is equipped with the latest technology, from first<br />

screenings in English to special series and premiere events.<br />

Hauptbahnhof Bochum<br />

Kurt-Schuhmacher-Platz 13<br />

44787 Bochum<br />

www.ruhr3.com/metropolis<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Der Bochumer Hauptbahnhof ist mit zahlreichen<br />

Verbindungen im Fern- und Nahverkehr erreichbar.<br />

Bochum's main railway station can be reached by<br />

numerous long-distance and local transport<br />

connections.<br />

Leihfahrrad / Rental Bike<br />

Am Hauptbahnhof Bochum befindet sich die<br />

Radstation 7105 von Metropolradruhr.<br />

The Metropolradruhr bike station 7105 is located<br />

at Bochum Main Station.<br />

PKW / By Car<br />

Parkplatz Klever Weg P1 mit 89 Stellplätzen.<br />

Fußweg zum Hauptbahnhof ca. 200 Meter.<br />

Klever Weg P1 car park with 89 parking spaces.<br />

Walking distance to the Bochum Main Station<br />

approx. 200 metres.<br />

204


Zeche Zollern, Dortmund<br />

Die Zeche Zollern war bei ihrer Einweihung im Jahr 1898 die Musterzeche<br />

<strong>der</strong> Gelsenkirchener Bergwerks AG. Prunkvolle Backsteinfassaden und<br />

opulente Giebel mit Zinnenkranz und Ecktürmchen rund um den grünen<br />

Ehrenhof erinnern eher an eine Adelsresidenz als an eine Schachtanlage.<br />

Die Architektur dokumentiert den Übergang vom Historismus zum<br />

Jugendstil, <strong>der</strong> u. a. seinen Ausdruck in den Marmorschalttafeln und<br />

dem eindrucksvollen Portal <strong>der</strong> Maschinenhalle fand. Das ›Schloss<br />

<strong>der</strong> Arbeit‹ im Westen Dortmunds ist zweifellos eines <strong>der</strong> schönsten<br />

und außergewöhnlichsten Zeugnisse <strong>der</strong> industriellen Vergangenheit in<br />

Deutschland. Bereits 1969, drei Jahre nach Stilllegung <strong>der</strong> Zeche, wird<br />

das Gebäudeensemble unter Denkmalschutz gestellt und beherbergt<br />

heute die Zentrale des Westfälischen Industriemuseums des Landschaftsverbandes<br />

Westfalen-Lippe. Der Erhalt <strong>der</strong> Zeche Zollern markiert<br />

den Beginn <strong>der</strong> Industriedenkmalpflege in Deutschland.<br />

Upon its opening in 1898, Zeche Zollern was the pride of the mining company<br />

Gelsenkirchener Bergwerk AG. Elaborate brick façades combined<br />

with opulent parapets and corner towers framing the green entrance<br />

courtyard are more reminis cent of an aristocratic palace than a mining<br />

pit. The architecture represents the transition from historicism to Jugendstil,<br />

which can be seen in the marble control panels and the impressive<br />

entrance to the machine hall. This ›castle of labor‹ in the western part of<br />

Dortmund is undoubtedly one of the most beau tiful and unusual testimonies<br />

to Germany’s industrial past. The ensemble of buildings was already<br />

declared a historical site in 1969, just three years after closing, and today<br />

houses the Westfälisches Industriemuseum of the Landschaftsverband<br />

Westfalen-Lippe. It was the first industrial landmark in Germany.<br />

Zeche Zollern<br />

Grubenweg 5<br />

44388 Dortmund<br />

www.ruhr3.com/zollern<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Bus 462 bis Haltestelle Industriemuseum Zollern<br />

o<strong>der</strong> 378 bis Haltestelle Bövinghauser Straße<br />

RB 43 bis Bahnhof Dortmund Bövinghausen<br />

Bus 462 to Industriemuseum Zollern stop or<br />

378 to Bövinghauser Straße stop<br />

RB 43 to Dortmund Bövinghausen station<br />

Shuttle Service<br />

Ein kostenloser Shuttleservice bringt Sie von<br />

Bochum Hbf o<strong>der</strong> Dortmund Hbf zur Zeche Zollern<br />

und zurück. Weitere Informationen und Buchungsmöglichkeiten<br />

unter www.ruhr3.com/shuttle<br />

A free shuttle service will take you from Bochum<br />

main station or Dortmund main station to Zeche<br />

Zollern and back. Further information and booking<br />

options at www.ruhr3.com/shuttle<br />

PKW / By Car<br />

Für die Navigation geben Sie bitte »Rha<strong>der</strong><br />

Weg 5« (Parkplatz) ein.<br />

For navigation, please enter »Rha<strong>der</strong> Weg 5«<br />

(car park).<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord,<br />

Gebläsehalle, Gießhalle und<br />

Kraftzentrale<br />

Das Stahlwerk im Duisburger Norden wurde 1902 von August Thyssen<br />

als Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb gegründet. Bis zum Jahr 1908<br />

wurden fünf Hochöfen in Betrieb genommen. Außer dem Hüttenwerk<br />

gab es auf dem 200 Hektar großen Gelände noch eine Schachtanlage,<br />

eine Sinterei, eine Kokerei und eine Gießerei. Die Kraftzentrale entstand<br />

zwischen 1906 und 1911, als das Hüttenwerk von drei auf fünf<br />

Öfen erweitert wurde. Im Jahr 1965 hat man die Maschinen zur Stromerzeugung<br />

stillgesetzt und anschließend verschrottet; 1997 schließlich<br />

konnte die Kraftzentrale als multifunktionaler Veranstaltungsort eröffnet<br />

werden. Die Gebläsehalle ist Teil des Dampfgebläsehauses, einem<br />

Gebäudekomplex aus <strong>der</strong> Gründungsphase des Werkes. Noch heute<br />

befinden sich hier vier Elektroturbogebläse, mit denen Hochofenwind<br />

erzeugt wurde, <strong>der</strong> zur Erschmelzung des Roheisens notwendig war.<br />

Die halb offene Gießhalle ist Teil des Gesamtensembles Hochofen 1.<br />

The steelworks in the north of Duisburg was founded in 1902 by August<br />

Thyssen as a joint stock company for metallurgical operations. Five blast<br />

furnaces were put into operation by 1908. In addition to the iron and steelworks,<br />

the 200 hectare site also included a pit, a sintering plant, a coking<br />

plant and a foundry. The Gebläsehalle (blower hall) is part of the steam<br />

blower house, a building complex from the founding period of the plant.<br />

Today, four electric turbo blowers still remain, which were used to generate<br />

the blast furnace wind needed to smelt the pig iron. The Kraftzentrale,<br />

Gebläsehalle and Gießhalle have been restored and reused for cultural events.<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Emscherstraße 71<br />

47137 Duisburg-Mei<strong>der</strong>ich<br />

www.ruhr3.com/landschaftspark<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 903 bis Landschaftspark Nord.<br />

Fußweg ca. 12 Minuten. Achtung: <strong>2023</strong> finden<br />

Bauarbeiten an <strong>der</strong> Haltestelle statt. Bitte<br />

informieren Sie sich vorab über die genauen<br />

Gegebenheiten.<br />

Tram 903 to Landschaftspark Nord stop.<br />

Approx. 12 min. walk. Attention: <strong>2023</strong> construction<br />

work will take place at the stop. Please inform<br />

yourself about the exact conditions in advance.<br />

Leihfahrrad / Rental Bike<br />

metropolradruhr<br />

Radstation 7417 Eingang Landschaftspark.<br />

Fußweg ca. 4 Minuten.<br />

Bike station 7417 main entrance Landschaftspark<br />

Approx. 4 min. walk.<br />

PKW / By Car<br />

Navigation: Emscherstraße 71, 47137 Duisburg<br />

(Mei<strong>der</strong>ich)<br />

Auf dem Parkplatz stehen zwei Ladepunkte für<br />

E-Fahrzeuge zur Verfügung.<br />

There are two charging points for e-vehicles in<br />

the car park.<br />

205


Kulturkirche Liebfrauen, Duisburg<br />

1895/1896 wurde die Liebfrauenkirche im historischen Zentrum Duisburgs<br />

erbaut. Nachdem die Liebfrauenkirche im Zweiten Weltkrieg<br />

größtenteils zerstört wurde, fiel in den Jahren 1953 bis 1955 die Entscheidung<br />

für eine Kirche <strong>der</strong> Gemeinde im Wasserviertel. Nachdem die Stadt<br />

<strong>der</strong> Gemeinde das Grundstück am Friedrich-Albert-Lange-Platz neben<br />

dem Landgericht zugesprochen hatte, begann <strong>der</strong> Bau nunmehr am<br />

König-Heinrich-Platz nach Plänen des Architekten Dr. Toni Hermanns<br />

aus Kleve. Im Zuge <strong>der</strong> Verhandlungen über die Kirche und ihre Nutzung<br />

Anfang <strong>der</strong> 2000er Jahre wurden verschiedenste Modelle diskutiert.<br />

Der Denkmalschutz, die endgültige Unterschutzstellung <strong>der</strong> Kirche am<br />

31. Mai 2005, half dem zwei Jahre zuvor einberufenen »Runden Tisch«,<br />

die Debatte in Richtung <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ung in eine neu zu gründende<br />

Stiftung zu lenken. Am 12. September 2013 erfolgte die Wie<strong>der</strong>eröffnung<br />

<strong>der</strong> zur Kulturkirche umgewidmeten Kirche.<br />

The Liebfrauenkirche was built in the historic centre of Duisburg in<br />

1895/1896. After the Liebfrauenkirche was largely destroyed in the<br />

Second World War, the decision was made between 1953 and 1955 to<br />

build a church for the congregation in the »water district«. After the city<br />

had granted the congregation the plot of land on Friedrich-Albert-Lange-<br />

Platz next to the district court, construction began on König-Heinrich-<br />

Platz according to plans by the architect Dr Toni Hermanns from Kleve.<br />

In the course of negotiations about the church and its use in the early<br />

2000s, a wide variety of models were discussed. The protection of<br />

monuments, the final declaration of the church as a protected building<br />

on 31 May 2005, helped the »Round Table« convened two years earlier<br />

to steer the debate towards incorporation into a new foundation to be<br />

established. On 12 September 2013, the church, which had been rededicated<br />

as a cultural church, was reopened.<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Mit <strong>der</strong> 1907 fertiggestellten Waschkaue <strong>der</strong> größten Zeche des Ruhrgebietes<br />

wurde Schacht 1/2/8 zum Dreh- und Angelpunkt <strong>der</strong> Bergleute <strong>der</strong><br />

Zeche Zollverein. Die Kaue ist ein Umklei<strong>der</strong>aum mit Duschen, ausgelegt<br />

für 3.000 Bergleute. In <strong>der</strong> Weißkaue legten die Bergleute ihre Straßenkleidung<br />

und in <strong>der</strong> Schwarzkaue ihre Arbeitskleidung in Körben ab, die<br />

sie dann unter die Decke zogen. Im Jahr 1964 mo<strong>der</strong>nisiert, war die Kaue<br />

bis zur Einstellung <strong>der</strong> Kohleför<strong>der</strong>ung 1986 in Betrieb.<br />

Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre entdeckten Choreograf:innen <strong>der</strong> Region die<br />

Kaue als Aufführungsort für den Tanz. In den Folgejahren wurde die Verwandlung<br />

in ein Haus für den zeitgenössischen Tanz auf Zollverein vorangetrieben,<br />

die Anfang 2002 im Zusammenschluss des Choreographischen<br />

Zentrums NRW und <strong>der</strong> Tanzlandschaft Ruhr zu PACT Zollverein<br />

ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss fand.<br />

Completed in 1907, the washhouse of the largest colliery in the Ruhr region<br />

made shaft 1/2/8 the linchpin of the miners at the Kokerei Zollverein<br />

(Zollverein colliery). The baths are a changing room with showers designed<br />

for 3,000 miners. The white bath is where miners put their street clothes<br />

and the black bath is where they put their work clothes in baskets, which<br />

they then pulled un<strong>der</strong> the ceiling. Mo<strong>der</strong>nised in 1964, the bath was in<br />

operation until coal mining ceased in 1986.<br />

In the early 1990s, choreographers from the region started using the pithead<br />

as a performance space for dance. In the following years, its transformation<br />

into a house for contemporary dance at Zollverein was driven<br />

forward, which reached its temporary climax and conclusion at the beginning<br />

of 2002 with the merger of the Choreographisches Zentrum NRW<br />

and the Tanzlandschaft Ruhr to form PACT Zollverein.<br />

Kulturkirche Liebfrauen<br />

König-Heinrich-Platz 3<br />

47051 Duisburg<br />

www.ruhr3.com/liebfrauen<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

U79 o<strong>der</strong> Straßenbahnen 901 und 903 bis<br />

Haltestelle König-Heinrich-Platz.<br />

Fußweg von Duisburg Hbf: ca. 13 Minuten<br />

U79 or trams 901 and 903 to König-Heinrich-Platz<br />

stop.Walking distance from Duisburg main station:<br />

approx. 13 minutes<br />

Leihfahrrad / Rental Bike<br />

metropolradruhr<br />

Auf dem König-Heinrich-Platz befindet sich die<br />

Leihstation 7411.<br />

On König-Heinrich-Platz you will find therental<br />

station 7411.<br />

PKW / By Car<br />

Folgen Sie den Wegweisern Richtung Zentrum<br />

und Stadttheater / Mercatorhalle. Die<br />

Tiefgaragen »König-Heinrich-Platz« und<br />

»City Palais« liegen in<br />

unmittelbarer Nähe und bieten pauschale<br />

Abend-/ Veranstaltungstarife an.<br />

Follow the signs to the city centre and Stadttheater /<br />

Mercatorhalle. The un<strong>der</strong>ground car parks<br />

"König-Heinrich-Platz" and "City Palais" are in the<br />

immediate vicinity and offer flat evening/event rates.<br />

Welterbe Zollverein, Areal B<br />

Bullmannaue 20a, 45327 Essen<br />

www.ruhr3.com/pact<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 107 bis Haltestelle Abzweig<br />

Katernberg. Fußweg ca. 6 Minuten<br />

RB 32/35 bis Bahnhof Essen Zollverein Nord.<br />

Fußweg ca. 7 Minuten.<br />

Tram 107 to Katernberg stop. Approx. 6 min. walk.<br />

RB 32/35 to Essen Zollverein Nord station.<br />

Approx. 7 min. walk<br />

Leihfarrad / Rental Bike<br />

metropolradruhr<br />

Auf dem Gelände des Welterbes Zollverein befindet<br />

sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />

Fußweg ca. 7 Minuten.<br />

Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />

behind the Ruhr Museum. Approx. 7 minutes walk.<br />

PKW / By Car<br />

Bitte nutzen Sie den Parkplatz B, Zufahrt über die<br />

Bullmannaue. Es stehen keine Ladepunkte für<br />

E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />

Please use car park B, access via Bullmannaue.<br />

There are no charging points available for<br />

e-vehicles in the immediate vicinity.<br />

206


Salzlager und Mischanlage,<br />

Welterbe Zollverein, Essen<br />

Mit einer För<strong>der</strong>leistung von mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle täglich<br />

war die Zeche Zollverein einst die leistungsfähigste Zeche <strong>der</strong> Welt. Die<br />

Zentralschachtanlage XII, von 1928–1932 nach Plänen von Fritz Schupp<br />

und Martin Kremmer gebaut, gilt als technisches und ästhetisches Meisterwerk<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Im Jahr 2001 wurde das Areal offiziell als Industriekomplex<br />

Zeche Zollverein in die Welterbeliste <strong>der</strong> UNESCO aufgenommen.<br />

Die Kokerei Zollverein entstand 1957–1961 in Anbindung an die Zeche<br />

Zollverein. Aus rund 10.000 Tonnen Kohle konnten hier täglich circa<br />

7.500 Tonnen Koks gewonnen werden. Auf diesem Areal liegt das Salzlager,<br />

in dem bis in die 1980er Jahre Dünger hergestellt wurde – gewonnen<br />

aus Ammoniak und Schwefelsäure. Die Kokerei wurde 1993 stillgelegt. Seit<br />

2001 befindet sich hier die begehbare Rauminstallation Palast <strong>der</strong> Projekte<br />

<strong>der</strong> Künstler Ilya und Emilia Kabakov.<br />

With an output of more than 23,000 tonnes of raw coal per day, the Kokerei<br />

Zollverein (Zollverein colliery) was once the most efficient colliery in the<br />

world. The central shaft XII, built between 1928 and 1932 according to plans<br />

by Fritz Schupp and Martin Kremmer, is consi<strong>der</strong>ed a mo<strong>der</strong>n technical and<br />

aesthetic masterpiece. In 2001, the site was officially listed as Zollverein<br />

Coal Mine Industrial Complex on the UNESCO World Heritage List.<br />

The Kokerei Zollverein (Zollverein coking plant) was built between 1957 and<br />

1961 in connection with the Zollverein colliery. Approximately 7,500 tonnes<br />

of coke could be produced here daily from around 10,000 tonnes of coal.<br />

The Salzlager (salt warehouse) where fertiliser– made from ammonia and<br />

sulphuric acid – was produced until the 1980s is located on this site. The<br />

coking plant was shut down in 1993. Since 2001, it has housed the walk-in<br />

installation Palace of Projects by the artists Ilya and Emilia Kabakov.<br />

Salzlager, Welterbe Zollverein<br />

Heinrich-Imig-Straße 11<br />

45141 Essen<br />

Mischanlage, Welterbe Zollverein<br />

Kokereiallee 71<br />

45141 Essen<br />

www.ruhr3.com/zollverein<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 107 bis Haltestelle Zollverein. Fußweg<br />

zu beiden Spielstätten ca. 15 Min.<br />

Bus 183 bis Haltestelle Kokerei Zollverein<br />

Tram 107 to Zollverein stop. Approx. 15 minutes’<br />

walk to both venues.<br />

Bus 183 to Kokerei Zollverein stop.<br />

Leihfarrad / Rental Bike<br />

metropolradruhr<br />

Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />

sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />

Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />

behind the Ruhr Museum.<br />

PKW / By Car<br />

Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz C zur<br />

Verfügung, Zufahrt über Arendahls Wiese. Ca.<br />

5 Minuten Fußweg zu beiden Spielstätten.<br />

Free parking is available in Area C (Kokerei), car<br />

park C: approach via Arendahls Wiese. Approx.<br />

5 minutes’ walk to both venues<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Das Maschinenhaus Essen ist Teil <strong>der</strong> ehemaligen Schachtanlage Carl,<br />

die ab 1855 errichtet wurde. Erbaut wurde das Backsteingebäude im Jahr<br />

1900 als Standort für die Dampfmaschine, die den För<strong>der</strong>korb bewegte.<br />

1929 wurde die Kohleför<strong>der</strong>ung eingestellt. Bis 1970 war Schacht Carl<br />

noch für Seilfahrt, Materialför<strong>der</strong>ung und Bewetterung in Betrieb, und die<br />

oberirdischen Gebäude wie das Maschinenhaus wurden als Werkstätten<br />

genutzt. Seit 1985 wird das Maschinenhaus als Produktions- und Veranstaltungshaus<br />

von dem Kunstverein Carl Stipendium e. V. getragen.<br />

The Maschinenhaus Essen (Essen engine house) is part of the former Zeche<br />

Carl (Carl pit), which was built from 1855 onwards. The brick building<br />

was built in 1900 to house the steam engine that moved the pit cage. Coal<br />

production ceased in 1929. Until 1970, Carl shaft was still in operation for<br />

rope haulage, material handling and ventilation, and the buildings above<br />

ground, such as the engine house, were used as workshops. Since 1985,<br />

the Maschinenhaus has been used as a production and event centre by<br />

the Carl Stipendium e.V. art association.<br />

Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />

45326 Essen<br />

www.ruhr3.com/maschinenhaus<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

U17 o<strong>der</strong> U11 bis Haltestelle Altenessen Mitte,<br />

Ausgang in Richtung Zeche Carl, Beschil<strong>der</strong>ung<br />

Zeche Carl folgen. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />

U17 or U11 to Altenessen Mitte stop, exit in the<br />

direction of Zeche Carl, follow signs to Zeche Carl.<br />

Approx. 5 min. walk.<br />

Leihfarrad / Rental Bike<br />

metropolradruhr<br />

Radstation 7554 Altenessen Mitte Fußweg ca.<br />

5 Minuten.<br />

Bike station 7597 Altenenssen Mitte<br />

Approx. 5 min. walk.<br />

PKW / By Car<br />

Navigation: Wilhelm-Nieswandt-Allee 100,<br />

45326 Essen.<br />

Der Besucherparkplatz befindet sich direkt am<br />

Eingang zum Gelände. Es stehen keine Ladepunkte<br />

für E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />

The car park is located directly at the entrance<br />

to the grounds. There are no charging points<br />

available for e-vehicles in the immediate vicinity.<br />

207


IHR BESUCH / YOUR VISIT<br />

Audioeinführungen<br />

Auch in diesem Jahr werden Einführungen zu vielen Produktionen<br />

vorab als Audioeinführungen bereitgestellt. Über den<br />

gesamten Festivalzeitraum liefert das künstlerische Team<br />

des Festivals spannende Hintergrundinformationen, spricht<br />

mit Künstler:innen und Beteiligten und gewährt Einblicke in<br />

berauschende Musikstücke. Alle Audioeinführungen unter<br />

ruhr3.com/audio<br />

Rollstuhlplätze<br />

In fast allen Veranstaltungen stehen Rollstuhlplätze zur<br />

Verfügung. Die Eintrittskarte für eine Begleitperson ist frei.<br />

Buchung und weitere Informationen über die Tickethotline<br />

+49 (0) 221 280-210.<br />

Nacheinlass<br />

Bitte beachten Sie: Je nach Produktion ist ein Einlass nach<br />

Vorstellungsbeginn nicht immer möglich.<br />

Übernachtung<br />

Besucher:innen, die für ihren Aufenthalt während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ein Hotel buchen möchten, empfehlen wir eine<br />

Nacht in einem <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-Partnerhotels zu exklusiven<br />

Konditionen. Alle Partnerhotels und Informationen zu<br />

den Konditionen und zur Buchung unter ruhr3.com/reisen<br />

Metropole Ruhr<br />

Kostenfreies Informationsmaterial rund um die Metropole<br />

Ruhr, weitere Hotelangebote und Unterkünfte erhalten Sie<br />

auch bei unserer Partnerin, <strong>der</strong> Ruhr Tourismus GmbH, unter<br />

ruhr-tourismus.de. Infohotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0,20 €<br />

pro Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunkpreise<br />

max. 0,60 € pro Anruf)<br />

Audio introductions<br />

Once again this year, audio introductions to many productions<br />

will be made available in advance. Throughout the<br />

festival, the artistic team of the festival will provide exciting<br />

background information, talk to artists and participants and<br />

offer insights into exhilarating pieces of music.<br />

All audio introductions are available at<br />

ruhr3.com/audio<br />

Wheelchair spaces<br />

Wheelchair spaces are available at almost all events. The<br />

ticket for an accompanying person is free.<br />

Booking and further information via the ticket hotline<br />

+49 (0) 221 280-210.<br />

Late admission<br />

Please note: depending on the production, admission after<br />

the start of the performance may not always be possible.<br />

Accommodation<br />

Visitors who would like to book a hotel for their stay during<br />

the <strong>Ruhrtriennale</strong> are recommended to spend the night in<br />

one of the <strong>Ruhrtriennale</strong> partner hotels at special rates. All<br />

partner hotels and information on rates and booking are<br />

available at ruhr3.com/reisen<br />

Metropole Ruhr<br />

Free information material about the Metropole Ruhr, further<br />

hotel offers and accommodation is also available from<br />

our partner, Ruhr Tourismus GmbH at ruhr-tourismus.de.<br />

Information hotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0.20 € per call<br />

from the German fixed network; mobile phone prices max.<br />

€ 0.60 per call)<br />

208


TICKETS<br />

Online<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

Beim Online-Ticketkauf können Sie zwischen zwei Versandoptionen<br />

wählen:<br />

print@home: Drucken Sie Ihre Tickets bequem zu Hause<br />

aus. Die Buchung ist bis drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn<br />

möglich.<br />

Tickets per Post: Erhalten Sie Tickets per Post an Ihre<br />

Wunschadresse. Eine Buchung ist bis vier Tage vor Veranstaltung<br />

möglich, für den Versand wird eine Gebühr von<br />

4,50 € pro Sendung erhoben.<br />

Zahlungsmethoden: Online steht Ihnen die Zahlung<br />

per PayPal, Kreditkarte o<strong>der</strong> Lastschrift zur Verfügung.<br />

Handyticket: Zeigen Sie Ihr Ticket beim Einlass digital auf<br />

Ihrem mobilen Endgerät.<br />

Telefonisch<br />

Lassen Sie sich durch die Mitarbeiter:innen <strong>der</strong> Telefonhotline<br />

beraten o<strong>der</strong> buchen Sie hier Ihre Tickets. Der<br />

Postversand kostet 4,50 € pro Sendung, die Zahlung<br />

erfolgt per Lastschrift o<strong>der</strong> Kreditkarte.<br />

+49 (0)221 280-210<br />

Mo–Fr 8–20 Uhr / Sa 9–18 Uhr / So 10–16 Uhr<br />

Allgemeine Vorverkaufsstellen<br />

An über 2.500 Vorverkaufsstellen erhalten Sie deutschlandweit<br />

Tickets für die Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Bitte erkundigen Sie sich online über die Erreichbarkeit<br />

und die Öffnungszeiten Ihrer Vorverkaufsstelle:<br />

www.eventim.de<br />

Abendkasse<br />

Die Abendkassen an den Spielorten öffnen jeweils eine<br />

Stunde vor Vorstellungsbeginn. Unsere Tickethotline informiert<br />

Sie unter +49 (0)221 280-210 gerne vorab über<br />

verfügbare Karten. An den Abendkassen können Sie bar<br />

o<strong>der</strong> per EC-Karte zahlen.<br />

KombiTicket<br />

Die Eintrittskarten zur <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> gelten am Tag <strong>der</strong><br />

Veranstaltung im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />

(VRR) in allen Bussen und Nahverkehrszügen (2. Klasse) für<br />

Hin- und Rückfahrt zum bzw. vom Veranstaltungsort. Die<br />

Tickets gelten am Besuchstag bis 3 Uhr des Folgetages.<br />

Die Tickets sind nicht übertragbar.<br />

Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />

Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen <strong>der</strong> Kultur Ruhr können<br />

Sie unter folgendem Link finden: www.ruhr3.com/agb<br />

Online<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

You can choose between two delivery options when purchasing<br />

tickets online:<br />

print@home: Print your tickets in the comfort of your own<br />

home. Booking is possible up to three hours before the<br />

start of the event.<br />

Tickets by post: Receive tickets by post to your preferred<br />

address. Bookings can be made up to four days before the<br />

event. A fee of €4.50 per item will be charged for postage.<br />

Payment: You can pay online by PayPal, credit card or direct<br />

debit.<br />

Mobile ticket: Show your ticket digitally on your mobile device<br />

at the entrance.<br />

By phone<br />

Let the staff on the telephone hotline advise you or book<br />

your tickets here. Shipping costs € 4.50 per shipment, payment<br />

is done by direct debit or credit card.<br />

+49 (0)221 280-210<br />

Mon–Fri 8am–8pm / Sat 9am–6pm / Sun 10am–4pm<br />

General advance booking offices<br />

Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events are available at over 2,500<br />

advance booking offices throughout Germany. Please<br />

enquire online about the availability and opening hours of<br />

your advance booking office: www.eventim.de<br />

Box office<br />

The box offices at the performance venues open one hour<br />

before the performance begins. Our ticket hotline will be<br />

happy to inform you in advance about available tickets on<br />

+49 (0)221 280-210. You can pay cash or by EC card at<br />

the box office.<br />

KombiTicket<br />

Tickets for the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2023</strong> are valid on the day<br />

of the event in the entire Rhine-Ruhr transport network<br />

(VRR) on all buses and local trains (2nd class) for the outward<br />

and return journey to and from the venue. The tickets<br />

are valid on the day of the visit until 3am the following<br />

day. The tickets are not transferable.<br />

General Terms and Conditions<br />

The General Terms and Conditions of Kultur Ruhr GmbH<br />

can be found at www.ruhr3.com/agb<br />

209


Ermäßigungen<br />

Schüler:innen, Auszubildende, Studierende (bis<br />

30 Jahre), Bundesfreiwilligendienstleistende und<br />

Erwerbslose<br />

Für alle Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> werden für<br />

Schüler:innen, Auszubildende, Studierende, Bundesfreiwilligendienstleistende<br />

(bis 30 Jahre) und Erwerbslose<br />

ermäßigte Tickets in Höhe von 12 € angeboten. Bei Einheitspreisen<br />

kann es abweichende Ermäßigungen geben.<br />

Bitte halten Sie Ihren Ermäßigungsnachweis beim Einlass<br />

bereit.<br />

Familienticket<br />

Familien erhalten bei Produktionen für junges Publikum<br />

vergünstigten Eintritt. Eine Familie besteht aus zwei bis<br />

fünf Mitglie<strong>der</strong>n und mindestens einem Kind in Ausbildung<br />

und einer erwachsenen Person. Das Familienticket<br />

kann direkt im Webshop ausgewählt werden.<br />

Schulklassen<br />

Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />

für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei<br />

pro Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen. Nach Verfügbarkeit<br />

können Tickets für Schulklassen und -kurse bis<br />

nach den Sommerferien (spätestens 14 Tage vor <strong>der</strong><br />

Vorstellung) reserviert werden. Bei direkter Buchung<br />

ohne vorherige Reservierung müssen Karten mindestens<br />

sieben Werktage vor <strong>der</strong> Veranstaltung gebucht<br />

werden. Schulen reservieren und bestellen Tickets unter<br />

jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Begleitpersonen (Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis B)<br />

Personen mit Schwerbehin<strong>der</strong>ung mit Ausweisvermerk B<br />

erhalten zusammen mit ihrer Begleitperson zwei Karten<br />

zum vollen Preis einer Eintrittskarte. Tickets können über<br />

die Tickethotline unter +49 (0) 221 280-210 o<strong>der</strong> an <strong>der</strong><br />

Abendkasse gebucht werden. Bitte halten Sie Ihren Nachweis<br />

bei <strong>der</strong> Veranstaltung bereit.<br />

Ticketpatenschaften für geflüchtete Menschen<br />

Die <strong>Ruhrtriennale</strong> möchte Menschen helfen, die vom<br />

Krieg betroffen sind und fliehen mussten. Der Verein <strong>der</strong><br />

Freunde und För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet hierfür Unterstützung<br />

an. Geflüchtete Menschen erhalten somit die<br />

Gelegenheit, Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> bei freiem<br />

Eintritt zu besuchen. Bei Ticketwünschen wenden Sie<br />

sich bitte an service@ruhrtriennale.de<br />

Ehrenamtskarte NRW<br />

Bürgerschaftliches Engagement verdient Anerkennung.<br />

Deshalb hat die nordrhein-westfälische Landesregierung<br />

zusammen mit Städten, Kreisen und Gemeinden<br />

des Landes eine landesweit gültige Ehrenamtskarte<br />

eingeführt. Die <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet Inhaber:innen <strong>der</strong><br />

Karte eine Ermäßigung in Höhe von 30 %. Tickets können<br />

an Vorverkaufsstellen o<strong>der</strong> vor Ort an <strong>der</strong> Abendkasse erworben<br />

werden. Eine Online-Bestellung ist nicht möglich,<br />

da die Ehrenamtskarte beim Kauf vorgezeigt werden muss.<br />

Mehr Informationen unter https://www.engagiert-in-nrw.de/<br />

Professional Tickets<br />

Professionals erhalten nach Verfügbarkeit 50 % Ermäßigung<br />

auf zwei Tickets pro Produktion. Die Buchung <strong>der</strong><br />

Professional Tickets ist ab dem 5. Juni <strong>2023</strong> möglich.<br />

Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Akkreditierung<br />

finden Sie unter www.ruhr3.com/professionals<br />

RuhrKultur.Card<br />

Inhaber:innen <strong>der</strong> RuhrKultur.Card erhalten bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ein Veranstaltungsticket nach Wahl zum halben<br />

Preis. Diese Regelung gilt nicht für Premierenveranstaltungen.<br />

Einlösbar über die Tickethotline, an den Vorverkaufsstellen<br />

und an <strong>der</strong> Abendkasse.<br />

Informationen und Buchung <strong>der</strong> RuhrKultur.Card unter<br />

www.ruhrkulturcard.de<br />

KulturPott.Ruhr<br />

Die <strong>Ruhrtriennale</strong> bietet in Kooperation mit<br />

KulturPott.Ruhr e. V. Menschen, die aus unterschiedlichen<br />

Gründen von kultureller Teilhabe ausgeschlossen<br />

sind, den Besuch ausgewählter Veranstaltungen bei kostenlosem<br />

Eintritt an. Anmeldung und Informationen: www.<br />

kulturpott.ruhr o<strong>der</strong> E-Mail info@kulturpott.ruhr.de<br />

210


Discounts<br />

Children, school pupils and students (up to 30 years of<br />

age), fe<strong>der</strong>al volunteers and unemployed<br />

For all performances of the <strong>Ruhrtriennale</strong>, reduced tickets<br />

of €12 are available for schoolchildren, trainees, students,<br />

people doing fe<strong>der</strong>al voluntary service (up to 30 years of<br />

age) and the unemployed. There may be different reductions<br />

for standard prices. Please have your proof of discount<br />

ready at the entrance.<br />

Family ticket<br />

Families receive discounted admission to productions for<br />

young audiences. A family consists of two to five members<br />

and at least one child in education and one adult.<br />

The family ticket can be selected directly in the webshop.<br />

School classes<br />

Classes and school courses of 10 or more receive tickets<br />

for €5 per pupil and per accompanying person (max.<br />

two per class/course) for all performances. Subject to<br />

availability, tickets for school classes and courses can be<br />

reserved until after the summer holidays (14 days before<br />

the performance at the latest). For direct booking without<br />

prior reservation, tickets must be booked at least seven<br />

working days before the performance. Schools reserve<br />

and or<strong>der</strong> tickets at jungetriennale@ruhrtriennale.de.<br />

Accompanying persons (severely disabled pass B)<br />

Persons with a severe disability with ID B will receive two<br />

tickets together with their accompanying person at the<br />

full price of one ticket. Tickets can be booked via the ticket<br />

hotline at +49 (0) 221 280-210, or at the box office.<br />

Please have your proof ready at the event.<br />

KulturPott.Ruhr<br />

In cooperation with KulturPott.Ruhr e. V., the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

offers people who are excluded from cultural participation<br />

for various reasons the opportunity to attend selected<br />

events with free admission. Registration and information:<br />

www.kulturpott.ruhr or email info@kulturpott.ruhr.de.<br />

Ticket sponsorships for refugees<br />

The <strong>Ruhrtriennale</strong> would like to help people who have<br />

been affected by war and have had to flee. The Association<br />

of Friends and Supporters of the <strong>Ruhrtriennale</strong> offers<br />

support for this. Refugees are thus given the opportunity<br />

to attend <strong>Ruhrtriennale</strong> events with free admission. For<br />

ticket requests, please contact service@ruhrtriennale.de<br />

Ehrenamtskarte NRW (Volunteer Card)<br />

Civic engagement deserves recognition. That is why the<br />

North Rhine-Westphalian state government, together<br />

with the state's cities, districts and municipalities, has introduced<br />

a state-wide Ehrenamtskarte (Volunteer Card).<br />

The <strong>Ruhrtriennale</strong> offers card hol<strong>der</strong>s a 30% discount.<br />

Tickets can be purchased at advance booking offices<br />

or on site at the box office. Online or<strong>der</strong>ing is not possible,<br />

as the Ehrenamtskarte must be presented at the<br />

time of purchase. More information: https://www.engagiert-in-nrw.de/<br />

Professional Tickets<br />

Professionals receive a 50% discount on two tickets per<br />

production, subject to availability. Professional tickets can<br />

be booked from 5 June <strong>2023</strong>. For further information and<br />

accreditation, please visit www.ruhr3.com/professionals<br />

RuhrKultur.Card<br />

RuhrKultur.Card hol<strong>der</strong>s receive an event ticket of their<br />

choice at half price at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. This rule does<br />

not apply to premiere events. Redeemable via the ticket<br />

hotline, at advance booking offices and at the box office.<br />

Information and booking of the RuhrKultur.Card at www.<br />

ruhrkulturcard.de.<br />

211


FREUNDESKREIS & CLUB.RUHR<br />

Der Freundeskreis ist näher dran!<br />

Der <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis ist eine Gemeinschaft<br />

von Kunstbegeisterten, die sich aktiv in das Festival einbringen<br />

und die Kulturlandschaft <strong>der</strong> Region gemeinsam<br />

erleben möchten. Als För<strong>der</strong>verein engagiert sich <strong>der</strong><br />

Freundeskreis für die <strong>Ruhrtriennale</strong> und ihre Künstler:innen<br />

und för<strong>der</strong>t die Realisierung von ausgewählten<br />

Festivalproduktionen. Durch Ticketpatenschaften setzt<br />

sich <strong>der</strong> Verein dafür ein, einem vielfältigen Publikum<br />

den Zugang zum Festival zu ermöglichen. Ein weiteres<br />

zentrales Anliegen ist die Vermittlung des Festivalprogramms<br />

an junge Menschen und Studierende.<br />

The Freundeskreis is up close and personal!<br />

The <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis is a community of art enthusiasts<br />

who want to be actively involved in the festival<br />

and would like to experience the cultural landscape of the<br />

region together. As a support association, the Freundeskreis<br />

is committed to the <strong>Ruhrtriennale</strong> and its artists and<br />

promotes the realisation of selected festival productions.<br />

The association is committed to providing access to the<br />

festival for a diverse audience through ticket sponsorships.<br />

Communicating the festival programme to young people<br />

and students is another core objective of the association.<br />

Club.Ruhr<br />

Kunstbegeisterte Menschen bis 35 Jahre können sich für<br />

eine Mitgliedschaft im jungen Freundeskreis entscheiden:<br />

Der Club.Ruhr erlebt nicht nur die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

jedes Jahr gemeinsam, son<strong>der</strong>n trifft sich auch außerhalb<br />

des Festivals, um gemeinsam die Kulturinstitutionen<br />

<strong>der</strong> Region zu erkunden.<br />

Möchten Sie Mitglied werden o<strong>der</strong> mehr erfahren? Weitere<br />

Informationen und das Antragsformular finden Sie unter:<br />

freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />

Art enthusiasts up to 35 years of age can choose to become<br />

members of the young Freundeskreis: The Club.<br />

Ruhr does more than just experience the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

together every year, it also meets outside the festival to<br />

explore the region’s cultural institutions together.<br />

Ihre Vorteile<br />

Exklusives Vorkaufsrecht<br />

Kaufen Sie Ihre Tickets für die <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits eine<br />

Woche vor dem offiziellen Vorverkaufsstart.<br />

Persönliche Vorstellung des Festivalprogramms<br />

Bei <strong>der</strong> jährlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlung erhalten Sie<br />

schon vor allen an<strong>der</strong>en Einblicke in das Programm <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> und haben die Gelegenheit, die Intendanz<br />

und das künstlerische Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> persönlich<br />

zu treffen.<br />

Einladung zum Prolog<br />

Für den Freundeskreis startet das Festival bereits früher:<br />

Beim Prolog erhalten Sie vor <strong>der</strong> Eröffnung einen beson<strong>der</strong>en<br />

Blick hinter die Kulissen des Festivals.<br />

Generalprobenbesuche<br />

Besuchen Sie gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n des Freundeskreises<br />

öffentliche Generalproben <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Mitglie<strong>der</strong>brief<br />

Mit dem Newsletter erhalten Sie alle Informationen rund<br />

um die <strong>Ruhrtriennale</strong> als Erste.<br />

Wir sagen Danke!<br />

Wir bedanken uns bei allen Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

und insbeson<strong>der</strong>e bei den För<strong>der</strong>:innen des Jahres <strong>2023</strong>,<br />

Ingeborg El Dib, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula<br />

Müller, N. N., Dr. phil. Bernard Wiebel für ihr Engagement!<br />

Freundeskreismitglie<strong>der</strong>n stehen verschiedene För<strong>der</strong>modelle<br />

zur Auswahl:<br />

Club.Ruhr: bis 35 Jahre, ab 20 € / Jahr<br />

Freund:in, Einzelperson: ab 95 € / Jahr<br />

für zwei Personen: ab 140 € / Jahr<br />

För<strong>der</strong>:in: ab 1.000 € / Jahr<br />

Partner:in: ab 5.000 € / Jahr<br />

Would you like to become a member or find out more? You<br />

can find more information and the application form at:<br />

freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />

212


213


TEAM<br />

Intendanz und Geschäftsführung /<br />

Artistic Direction and General Management<br />

Barbara Frey<br />

Geschäftsführerin / General Management<br />

Dr. Vera Battis-Reese<br />

Assistent <strong>der</strong> Intendantin /<br />

Assistant to the Artistic Director<br />

Maximilian Brands<br />

Mitarbeiterin <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />

und Sponsoring / Assistant to the<br />

managing director and sponsoring<br />

Regina Weidmann<br />

Justiziariat / Legal Adviser’s Department<br />

Valentina Lori, Melina Schimmöller,<br />

Annika Trockel<br />

Controlling<br />

Helena Magel<br />

Künstlerisches Betriebsbüro / Produktionsbüro /<br />

Artistic Management / Production Office<br />

Lisa Katharina Holzberg, Christiane Biallas,<br />

Katharina Flick, Johanna Freytag, Alina Klöpper,<br />

Sarah Lorbeer, Katharina Rückl; Künstlerische<br />

Beratung Sound Design: Thomas Wegner<br />

Künstlerische Programmgestaltung /<br />

Artistic Curation<br />

Barbara Eckle, Judith Gerstenberg, Sara Abbasi,<br />

Nina Bade, Aljoscha Begrich, Mats Staub (Scouting),<br />

Andri Hardmeier (Autor / Lektor)<br />

Junge Triennale<br />

Anne Britting, Yannick Warkus, Ilka Hütte (FSJ Kultur)<br />

Konzept Internationaler Festivalcampus /<br />

Concept International Festival Campus<br />

Philipp Schulte, Carla Gesthuisen<br />

Presse / Press<br />

Angela Vucko, Stefanie Matjeka, Karla Koball<br />

Marketing und Vertrieb / Marketing and Sales<br />

Franca Lohmann, Daniel Eißing (in Elternzeit), Fabio<br />

Gorchs, Moritz Kappen, Marlen Stuka, Evelyn Walton<br />

Grafikdesign / Graphic Design<br />

Dominik Blase, Sophie Schäfer<br />

Ticketing<br />

Ulrike Graf, Nicole Hofmann, Anja Nole<br />

Technik und Ausstattung / Technical Department<br />

Max Schubert, Mirko Bartoš, Marie Gäthke,<br />

Harun Güngör, Levent Güngör, Georg Kolacki,<br />

Anne Prietzsch, Julia Reimann, Ioannis Siaminos,<br />

Saskia Tappe, Erik Trupin, Holger Vollmert,<br />

Anke Wolter<br />

Kostüm und Maske / Costumes and Make-up<br />

Anna Dressendörfer, Christina Hillinger, Pia Norberg<br />

Verwaltung / Administration Department<br />

Vanessa Sán Roman Domínguez, Janina Albrecht,<br />

Tanja Alstede, Anna Baumann, Joanne Budzier,<br />

Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger, Steffen Eckers,<br />

Katharina Heib, Nick Hosberg, Dominika Hourtz,<br />

Frie<strong>der</strong>ike Jacobi, Stefanie Kusenberg, Franz-Josef Lortz,<br />

Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel,<br />

Max Schomann, Julia Schmidt, Roland Sieberg,<br />

Michael Turrek, Johanna Vormann<br />

Veranstaltungsorganisation / Event Organisation<br />

Eileen Berger, Tanja Martin, Paula Packheiser<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Jürgen Wagner, Martina Ossoble, Marcus Fuchs,<br />

Anna Zirr, Gesa Eichhorn<br />

Urbane Künste Ruhr<br />

Künstlerische Leitung: Britta Peters; Projektleitung:<br />

Daniel Klemm; Projektkoordination / Assistenz-Kuratorin:<br />

Alisha Raissa Danscher; Leitungsassistenz:<br />

Tanja Borcherding; Technische Leitung: Stefan Göbel;<br />

Projektmanagement: Roy Huschenbeth, Larissa Koch,<br />

Nora Memmert; Produktionsleitung Healing Complex:<br />

Nicole Trzeja; Produktionsassistenz: Katrin Lohbeck,<br />

Erik Wittbusch; Kunstvermittlung: İpek Gençtürk,<br />

Josephine Hofmann, Kim Lempelius; Marketing:<br />

Kerstin Finkel; Presse: Hannes Klug; Emscherkunstweg<br />

Kuratorin: Marijke Lukowicz; Projektleitung: Elgin Wolf;<br />

Assistenz Projektleitung: Alicia Jütte;<br />

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Monika Ma<strong>der</strong>t;<br />

Assistenz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit / Social<br />

Media Managerin: Jana Luisa Auf<strong>der</strong>heide<br />

Auszubildende / Trainees<br />

Abdulrahman Alajati, Luisa Bergmann,<br />

Katharina Härtling, Joshua Reuter<br />

214


DANK / THANKS<br />

Unser beson<strong>der</strong>er Dank gilt den För<strong>der</strong>nden, Sponsor:innen<br />

und Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Ohne sie könnten wir<br />

so ein ambitioniertes Programm nicht realisieren. Mit ihrer<br />

Unterstützung ermöglichen sie uns die Freiheit, Ideen zu<br />

verwirklichen und Ort für außergewöhnliche künstlerische<br />

Produktionen und Erfahrungen zu sein.<br />

Our special thanks goes to the supporters, sponsors and<br />

partners of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. Without them, we could<br />

not realise such an ambitious programme. With their<br />

support, they give us the freedom to realise ideas and<br />

provide a place for extraordinary artistic productions and<br />

experiences.<br />

GESELLSCHAFTER UND ÖFFENTLICHE FÖRDERER / ASSOCIATES AND PUBLIC SECTOR SUPPORTERS<br />

PROJEKTFÖRDERUNG / PROJECT SUPPORTERS<br />

RUHRTRIENNALE<br />

FREUNDESKREIS<br />

KULTUR- UND MEDIENPARTNERSCHAFTEN / MEDIA PARTNERS<br />

KOOPERATIONSPARTNERSCHAFTEN / CO-OPERATION PARTNERS<br />

Bochum Marketing / Kultur.Pott Ruhr / Publicity Werbung GmbH /<br />

RuhrBühnen / Ruhr Tourismus GmbH / Stiftung Zollverein / Ströer Media GmbH<br />

215


In Zusammenarbeit mit<br />

Royal Concertgebouw Orchestra<br />

Iván Fischer<br />

Berlioz: Les Troyens<br />

Monteverdi Choir<br />

Orchestre Révolutionnaire<br />

et Romantique<br />

John Eliot Gardiner<br />

Boston Symphony Orchestra<br />

Andris Nelsons<br />

Münchner Philharmoniker<br />

Philharmonischer Chor München<br />

Mirga Gražinytė-Tyla<br />

26.8.<br />

18.9.<strong>2023</strong><br />

Berliner Philharmoniker<br />

Jörg Widmann / Kirill Petrenko<br />

und viele weitere Gastorchester,<br />

Ensembles und Solist*innen<br />

berlinerfestspiele.de<br />

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VON HERZEN UND VON HIER.<br />

217


Das Feuilleton<br />

im Radio.<br />

Deutschlandfunk Kultur berichtet<br />

von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Rang 1<br />

Das Theatermagazin<br />

Samstag, 14.05 Uhr<br />

Kompressor<br />

Das Popkulturmagazin<br />

Montag – Freitag, 14.05 Uhr<br />

Fazit<br />

Kultur vom Tage<br />

Montag – Sonntag, 23.05 Uhr<br />

bundesweit und werbefrei<br />

UKW, DAB+, Online und<br />

in <strong>der</strong> Dlf Audiothek App<br />

deutschlandfunkkultur.de


219


eiheit<br />

beginnt im Kopf.<br />

Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.<br />

Sie steht für die Vielfalt <strong>der</strong> Perspektiven. Für die Kraft<br />

<strong>der</strong> Fakten. Mit Tiefe und Intelligenz, mit sach lichem Blick<br />

und besonnenem Stil analysiert die Frankfurter Allgemeine<br />

das Geschehen und ordnet es ein. Demokratie beruht<br />

auf Freiheit. – Freiheit beginnt im Kopf.<br />

Freiheit hat viele Seiten –<br />

Mehr erfahren auf freiheitimkopf.de


IMPRESSUM / IMPRINT<br />

Herausgeberin<br />

Kultur Ruhr GmbH<br />

Gerard-Mortier-Platz 1<br />

44793 Bochum<br />

Geschäftsführung<br />

Barbara Frey, Dr. Vera Battis-Reese<br />

Kontakt<br />

Tel.: +49 (0)234 97483-300<br />

info@ruhrtriennale.de<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

Redaktion<br />

Dramaturgie, Junge Triennale,<br />

Künstlerisches Betriebsbüro,<br />

Marketing und Pressestelle<br />

Bildserie<br />

loekenfranke, Michael Loeken<br />

und Ulrike Franke<br />

Art Direction und Grafik Design<br />

María José Aquilanti &<br />

Ann Christin Sievers<br />

Satz<br />

María José Aquilanti, Dominik Blase,<br />

Sophie Schäfer, Ann Christin Sievers<br />

Druck und Herstellung<br />

Kunst- und Werbedruck GmbH & Co. KG,<br />

Bad Oeynhausen<br />

Redaktionsschluss<br />

30. Juni <strong>2023</strong><br />

Än<strong>der</strong>ungen vor be halten.<br />

Wir haben uns bemüht, alle Urheberrechte<br />

zu ermitteln. Sollten darüber hinaus<br />

Ansprüche bestehen, bitten wir, uns diese<br />

mitzuteilen.<br />

Übersetzungen<br />

David Tushingham, Bochert Translations,<br />

Tess Lewis, PANTHEA<br />

Korrektorat<br />

Supertext<br />

Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–<strong>2023</strong> ist Partnerin des Aktionsnetzwerkes Nachhaltigkeit in Kultur und Medien.<br />

Der Katalog wurde klimaneutral gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.<br />

222

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