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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022

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Liebes Publikum!<br />

Die wenigsten Menschen, die von außerhalb des Ruhrgebiets kommen,<br />

würden dieses als »schön« bezeichnen. Schön seien die Schwäbische Alb,<br />

das Allgäu und die Lüneburger Heide. Einig scheint man sich aber über<br />

den Umstand, dass die Menschen im Ruhrgebiet generell freundlicher und<br />

offener seien als an<strong>der</strong>swo in Deutschland; das habe womöglich – wie auch<br />

viele sagen, die selbst aus dem Ruhrgebiet stammen – mit <strong>der</strong> »Kumpelmentalität«<br />

zu tun, die noch auf die Montanindustrie zurückgehe. Im Übrigen<br />

fielen an <strong>der</strong> Ruhr aber doch die ausgedehnten grünen Flächen auf, <strong>der</strong> weite<br />

Himmel und die Auen entlang <strong>der</strong> Flüsse … Also doch Schönheit? Wo säße<br />

denn eigentlich die Instanz, die das Monopol über den Begriff des Schönen –<br />

und damit vielleicht gar über das Wahre und Gute hätte?<br />

Kaum jemandem ist es möglich, über eine Region zu urteilen, ohne Legenden<br />

und Klischees über sie ins Blickfeld zu rücken, und wir kennen die Tücken,<br />

die damit verbunden sind. Wir wissen, dass sich unsere Perspektive erheblich<br />

verengen kann, wenn wir alles, was wir über eine Gegend zu wissen glauben,<br />

fraglos als Ausgangspunkt unseres Sehens nehmen. Wie also wecken<br />

wir die Sehnsucht, die Zuschreibungen abzustreifen, diese Gegend an<strong>der</strong>s zu<br />

sehen, neu und gewissermaßen voraussetzungslos?<br />

Die Künste mögen dem Wandel <strong>der</strong> Zeit genauso unterworfen sein wie<br />

alle an<strong>der</strong>en Disziplinen. Sie können sich irren, sie können fadenscheinig<br />

werden, sie müssen sich mühsam mit ständig wechselnden Bedingungen und<br />

Beurteilungen anfreunden.<br />

Eines allerdings müssen sie immer tun, wenn sie ihre Kraft entfalten wollen:<br />

Sie müssen eine Behauptung aufstellen.<br />

Böhmen liegt am Meer betitelte Ingeborg Bachmann eines ihrer bedeutendsten<br />

Gedichte. Sie übernahm die geografisch falsche Behauptung von<br />

Shakespeares Wintermärchen, um poetisch die Möglichkeiten zu erkunden,<br />

wie eine Gesellschaft <strong>der</strong> Gegensätze zusammenrücken kann, wie sich unterschiedliche<br />

Formen <strong>der</strong> Künste annähern können und eine Perspektive auf<br />

2


einen an<strong>der</strong>en Zustand <strong>der</strong> Welt möglich wird. Das hat nichts zu tun mit utopischer<br />

Idylle, vielmehr liegt <strong>der</strong> Verschiebung Böhmens auf <strong>der</strong> Landkarte<br />

eine schmerzliche Erfahrung zugrunde. Alle, die nach Böhmen kommen<br />

sollten, müssen wissen:<br />

»… Und irrt euch hun<strong>der</strong>tmal,<br />

wie ich mich irrte und Proben nie bestand,<br />

doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.<br />

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags<br />

ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt …«<br />

Der Gedanke, dass wir in den Künsten an einem Ort zusammenkommen<br />

können, den wir gemeinsam erfinden, ist herausfor<strong>der</strong>nd und tröstlich.<br />

Aber er hat nichts mit simpler Idealisierung zu tun. Er for<strong>der</strong>t von uns, miteinan<strong>der</strong><br />

eine Behauptung aufzustellen, den Blickwinkel zu verän<strong>der</strong>n, unsere<br />

Voreingenommenheit abzulegen. Ganz gegen unsere Gewohnheiten und<br />

unsere eingeübte Sicht.<br />

Das Ruhrgebiet, in dem vor 20 Jahren die <strong>Ruhrtriennale</strong> gegründet wurde,<br />

weiß um die Notwendigkeit <strong>der</strong> sich ständig verän<strong>der</strong>nden Perspektiven.<br />

Deshalb ist es so inspirierend. Und so unvergleichlich.<br />

Das Ruhrgebiet liegt am Meer!<br />

Wir freuen uns sehr auf Sie!<br />

Ihre Barbara Frey<br />

und das <strong>Ruhrtriennale</strong>-Team<br />

3


Dear Audience,<br />

Very few people from outside the Ruhr area would describe it as »beautiful«.<br />

They might say that the Schwäbische Alb, the Allgäu and the Lüneburger Heide<br />

are beautiful. Yet there seems to be some agreement that people in the Ruhr<br />

region are generally friendlier and more open than elsewhere in Germany;<br />

this may have something to do with – as many people who come from the Ruhr<br />

region themselves say – the »miner mentality«, which goes back to the coal and<br />

steel industry. In other respects, however, the extensive green areas, the broad<br />

sky and the meadows along the rivers are striking in the Ruhr region ... So, is it<br />

beautiful after all? Where would the authority actually be that had the monopoly<br />

on the concept of beauty – and, with that, perhaps even on the truth and good?<br />

Hardly anyone is able to judge a region without bringing legends and clichés to<br />

the fore, and we know the pitfalls of doing so. We know that our perspective<br />

can narrow consi<strong>der</strong>ably if we unquestioningly take everything we believe to<br />

know about a region as the starting point of our vision. So how do we awaken<br />

the longing to strip away the attributions, to see this region differently, anew<br />

and, as it were, without presuppositions?<br />

The arts may be as subject to the changing times as any other discipline. They<br />

may err, they may become threadbare, they must laboriously make friends<br />

with constantly changing conditions and judgements.<br />

One thing, however, they must always do, if they are to develop their power:<br />

They must make a claim.<br />

Bohemia lies by the sea is the title of one of Ingeborg Bachmann’s most<br />

important poems. She took the geographically incorrect assertion from<br />

Shakespeare’s The Winter’s Tale to explore poetically the possibilities of how<br />

a society of opposites can come together, how different forms of the arts can<br />

converge, and how a perspective on a different state of the world becomes<br />

possible. This has nothing to do with a utopian idyll; rather, the shift of<br />

Bohemia on the map is based on a painful experience. All who are to come to<br />

Bohemia must know:<br />

4


»... And err a hundred times,<br />

as I was mistaken and never passed tests,<br />

but I have passed them, one after another.<br />

How Bohemia passed them and one fine day<br />

was pardoned to the sea and now lies by the water ...«<br />

The idea that we can come together in the arts in a place we invent together<br />

is challenging and comforting.<br />

But it has nothing to do with simple idealisation. It requires us to make an assertion<br />

with one another, to change our perspective, to set aside our biases.<br />

Completely against our habits and our practiced view.<br />

The Ruhr region, where the <strong>Ruhrtriennale</strong> was founded 20 years ago, knows<br />

about the necessity of constantly changing perspectives. That is why it is so<br />

inspiring. And so incomparable.<br />

The Ruhr region lies by the sea!<br />

We look forward to welcoming you.<br />

Sincerely yours,<br />

Barbara Frey and the <strong>Ruhrtriennale</strong> team<br />

5


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Musiktheater<br />

14 ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />

Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi /<br />

Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien /<br />

Chorwerk Ruhr<br />

48 HAUS<br />

Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />

Schauspiel<br />

30 DAS WEITE LAND<br />

Arthur Schnitzler / Barbara Frey / Martin Zehetgruber<br />

62 RESPUBLIKA<br />

Łukasz Twarkowski / Bogumil Misala / Joanna Bednarczyk /<br />

Fabien Lédé<br />

68 UNA IMAGEN INTERIOR — EIN BILD AUS DEM INNEREN<br />

El Conde de Torrefiel<br />

150 In den Abgrund<br />

Rezeption Neuer Musik ohne Vorwissen<br />

Von Barbara Balba Weber<br />

207 Mein Traumhaus hat keine Wände …<br />

aber eine Heizung<br />

Sarah Nemtsov, Heinrich Horwitz,<br />

Henriette Gunkel und Johanna Danhauser<br />

im Gespräch<br />

155 Ich schau dich nur an<br />

Barbara Frey im Gespräch mit <strong>der</strong><br />

Künstlerin Katharina Fritsch<br />

170 RES<br />

Von Joanna Bednarczyk<br />

181 Ein Bild mit 1000 Wörtern<br />

Von Aljoscha Begrich<br />

Tanz<br />

18 A PLOT / A SCANDAL<br />

Ligia Lewis<br />

28 ENCANTADO<br />

Lia Rodrigues / Companhia de Danças<br />

184 Szenen für den »Ort des Sehens«<br />

und Komplotte für einen Skandal<br />

Ein Gespräch von Sarah Lewis-Cappellari<br />

mit ihrer Schwester Ligia Lewis<br />

38 HILLBROWFICATION<br />

Constanza Macras / DorkyPark<br />

Für alle ab 12 Jahren<br />

52 I AM 60<br />

Wen Hui<br />

60 PROMISE ME<br />

kabinet k & hetpaleis<br />

Für 3.– 6. Klasse und Erwachsene<br />

64 TO COME (EXTENDED)<br />

Mette Ingvartsen<br />

72 THE THIRD ROOM X RESPUBLIKA<br />

176 Die Zukunft im Rücken<br />

Tamara Saphir im Gespräch mit<br />

Nompilo Hadebe, Tshepang Lembelo,<br />

Jackson Magotlane, Tisetso Maselo<br />

und Pearl Sigwagwa<br />

188 Wohin das Leben führt, da ist unser Tanz<br />

Von Cao Kefei<br />

192 PROMISE ME<br />

Ein Gespräch mit den Choreograf:innen<br />

Joke Laureyns und Kwint Manshoven<br />

196 Freude als Form des Wi<strong>der</strong>stands<br />

Mats Staub im Gespräch mit <strong>der</strong><br />

Choreografin Mette Ingvartsen


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Konzert<br />

12 MYSTERIENSONATEN<br />

Heinrich Ignaz Franz Biber /<br />

Julia Galić / Christine Busch / Yves Ytier<br />

211 Der Klang des Unfassbaren<br />

Physik und Metaphysik im<br />

Musikprogramm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />

Von Barbara Eckle<br />

66 VERGESSENE OPFER<br />

Galina Ustwolskaja / Franz Liszt / Olivier Messiaen / Luigi Nono /<br />

Duisburger Philharmoniker / Elena Schwarz<br />

40 SCHWERKRAFT UND GNADE<br />

Lili Boulanger / Francis Poulenc / Igor Strawinsky /<br />

Chorwerk Ruhr / Bochumer Symphoniker / Florian Helgath<br />

22 ORGANICUM<br />

Iannis Xenakis / Lucia Dlugoszewski / Sarah Nemtsov /<br />

Márton Illés / Michael Pelzel /<br />

Klangforum Wien / Patrick Hahn<br />

56 CLOCK DIES<br />

George Lewis / Sarah Hennies /<br />

Musikfabrik Köln / Brad Lubman<br />

54 COFFIN BUBBLES<br />

Chaya Czernowin / Raphaël Cendo / Pierluigi Billone /<br />

Yaron Deutsch / Ensemble Linea / Yalda Zamani<br />

70 HARAWI<br />

Olivier Messiaen / Rachael Wilson / Virginie Déjos<br />

46 YUEN SHAN<br />

Michael Ranta / Schlagquartett Köln<br />

26 MASCHINENHAUSMUSIK<br />

black midi / Ava Mendoza / Charlotte Hug / Broken Spirit xx /<br />

Mouse on Mars<br />

73 FAREWELL<br />

Thomas Hojsa


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Performance / Installation<br />

16 INTIME REVOLUTION<br />

Anna Papst & Mats Staub<br />

200 Gespräche mit Pionier:innen<br />

Von Anna Papst<br />

20 THE HUDDLE<br />

Katja Aufleger<br />

221 The Huddle von Katja Aufleger<br />

Von Nora Sdun<br />

36 EUPHORIA<br />

Julian Rosefeldt<br />

24 4. HALBZEIT<br />

Wermke / Leinkauf<br />

164 Educate Capitalism!<br />

Judith Gerstenberg im Gespräch mit<br />

Julian Rosefeldt<br />

42 COCK COCK… WHO’S THERE?<br />

Samira Elagoz<br />

44 SEEK BROMANCE<br />

Samira Elagoz<br />

50 FOLLOW ME<br />

Be Flat<br />

Für 1.– 5. Klasse und Familien<br />

203 »Ist es nicht ein bisschen abgefuckt,<br />

jetzt ein Mann werden zu wollen?« –<br />

»Ist es nicht revolutionär?«<br />

Sara Abbasi im Gespräch mit<br />

Samira Elagoz<br />

34 APARICIÓN (ERSCHEINUNG)<br />

Regina José Galindo<br />

Junge Triennale<br />

74 JUNGE TRIENNALE / SCHULEN<br />

75 TEENS IN THE HOUSE II — EINE JUNGE RESIDENZ<br />

Jugendliche ab 16 Jahren<br />

Dialog / Literatur<br />

32 DIE NATUR DES MENSCHEN — LITERATUR UND DIALOG<br />

Lukas Bärfuss / Valentin Butt / Ulrike Draesner / Daniel Freitag /<br />

Sandra Hüller / Alexan<strong>der</strong> Klose / Malakoff Kowalski / Sarah<br />

Sandeh / Roland Satterwhite / Klaus Staeck / Angela Winkler<br />

160 Die Natur des Menschen?<br />

Von Lukas Bärfuss<br />

58 WOLFGANG HILBIG —<br />

MONOLOG AUS EINIGEN TAGEN MEINES LEBENS<br />

Corinna Harfouch / Felix Kroll / Catherine Stoyan<br />

78 FESTIVALCAMPUS / KULTURKONFERENZ<br />

76 PAPPELWALDKANTINE / FESTIVALBIBLIOTHEK


PROGRAMM<br />

MAGAZIN<br />

Wege<br />

82 ALTES ZU NEUEM LEBEN ERWECKEN<br />

Stefan Schnei<strong>der</strong><br />

82 EL EXTRANJERO — DER FREMDE<br />

Lisandro Rodríguez<br />

83 UNEARTH<br />

Azadeh Ganjeh<br />

83 LOS VIENTOS — DIE WINDE<br />

Lagartijas tiradas al sol<br />

84 ACHTMAL BLINZELN<br />

Anna Kpok<br />

84 NATURBÜRO 1—7<br />

loekenfranke<br />

85 ZWISCHENTAGE<br />

RUHRORTER<br />

85 INSIDE OUT<br />

tehran re:public<br />

217 Begegnungskanten II<br />

Von Aljoscha Begrich<br />

BILDSTRECKE<br />

87 BILDSTRECKE<br />

Mischa Leinkauf<br />

Mit Blackouts von Lütfiye Güzel<br />

SERVICE<br />

226 Spielstätten<br />

230 Tickets<br />

232 Ihr Besuch<br />

233 Freundeskreis & Club.Ruhr<br />

234 Team<br />

235 Dank<br />

244 Impressum


Maschinenhalle Zweckel<br />

Shuttlebus verfügbar<br />

Bottrop<br />

Gebläsehalle<br />

Schalthaus Ost<br />

Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Oberhausen<br />

Duisburg<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Mülheim<br />

SPIELSTÄTTEN<br />

Gebläsehalle/Schalthaus Ost<br />

Landschaftspark<br />

Duisburg­Nord<br />

Emscherstraße 71<br />

47137 Duisburg<br />

Maschinenhalle Zweckel<br />

Frentroper Straße 74<br />

45966 Gladbeck<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />

45326 Essen<br />

Salzlager<br />

UNESCO­Welterbe Zollverein<br />

Areal C<br />

Arendahls Wiese /<br />

Ecke Fritz-Schupp-Allee<br />

45141 Essen<br />

Kettwig<br />

Mehr Informationen zu Spielorten, Anfahrt<br />

und Parkmöglichkeiten: Siehe ab Seite 226<br />

10


Bespielte Wege<br />

Gladbeck<br />

Fahrrad<br />

Straßenbahn<br />

Zug<br />

Zu Fuß<br />

Herne<br />

Gelsenkirchen<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Turbinenhalle<br />

Salzlager Halle 5<br />

PACT Zollverein<br />

Pappelwaldkantine<br />

Festivalbibliothek<br />

STÜH33<br />

UNESCO-Welterbe<br />

Zollverein<br />

Bochum<br />

Hauptbahnhof<br />

Bochum Innenstadt<br />

Bochum<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

Essen<br />

PACT Zollverein<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein<br />

Areal B<br />

Bullmannaue 20a<br />

45327 Essen<br />

Halle 5<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein<br />

Areal A<br />

Gelsenkirchener Str. 181<br />

45309 Essen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum / Turbinenhalle /<br />

Pappelwaldkantine/<br />

Festivalbibliothek<br />

An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />

44793 Bochum<br />

STÜH33<br />

Stühmeyerstraße 33<br />

44787 Bochum<br />

11


MYSTERIENSONATEN<br />

HEINRICH IGNAZ<br />

FRANZ BIBER<br />

Konzert<br />

HEINRICH IGNAZ FRANZ BIBER<br />

Mysteriensonaten für Violine und Basso continuo (um 1674)<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

Violine Julia Galić<br />

Orgel, Cembalo Jens Wollenschläger<br />

Theorbe Thorsten Bleich<br />

Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Violine Yves Ytier<br />

Cembalo Marta Dotkus<br />

Violoncello, Viola da Gamba Salome Ryser<br />

Theorbe Liza Solovey<br />

Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />

Pumpenhalle Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Violine Christine Busch<br />

Orgel, Cembalo Peter Kranefoed<br />

Gambe, Violoncello Thomas Dombrowski<br />

Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />

PACT Zollverein Essen<br />

Festivalauftakt<br />

12


In <strong>der</strong> christlichen Glaubenspraxis bietet das Rezitieren des Rosenkranzes ein rituelles<br />

Gefäß für die Meditation. Ein Moment <strong>der</strong> Konzentration und <strong>der</strong> Versenkung steht am<br />

Eingang zu einem vielfältigen Festivalprogramm. Beispiellos in ihrem Formenreichtum<br />

und ihrer Virtuosität durchlaufen Heinrich Ignaz Franz Bibers Mysteriensonaten für Violine<br />

und Generalbass (auch bekannt als Rosenkranzsonaten) die drei Stadien <strong>der</strong> Jesus-<br />

Geschichte: den »freudenreichen«, den »schmerzensreichen« und den »glorreichen«<br />

Rosenkranz. Dafür nimmt Bibers Erzählung die Perspektive <strong>der</strong> Gottesmutter Maria ein.<br />

Wortlos, nie belehrend o<strong>der</strong> katechisierend, for<strong>der</strong>t seine Komposition die vollständige<br />

Hingabe <strong>der</strong> Interpret:innen. Stück für Stück wird die Violine weiter verstimmt – eine faszinierende,<br />

seinerzeit unverstandene Beson<strong>der</strong>heit. Diese Skordaturen (Verstimmungen)<br />

bringen das Instrument in wi<strong>der</strong>sprüchliche Spannungsverhältnisse, provozieren klangliche<br />

Reibungen.<br />

An den Spielorten in Bochum, Essen und Duisburg wird zeitgleich eine jeweils von den<br />

Solist:innen individuell zusammengestellte Auswahl von Sonaten aus allen drei Teilen –<br />

dem freudenreichen, dem schmerzensreichen und dem glorreichen Rosenkranz – sowie<br />

die abschließende Passacaglia zu hören sein. Sie verbinden die drei Städte des Ruhrgebiets<br />

zu einem großen, dezentralen Resonanzraum.<br />

In the practice of Christian beliefs, reciting the rosary provides a ritual vessel for meditation.<br />

A moment of concentration and contemplation features at the beginning of the<br />

festival programme. Unparalleled in their richness of form and virtuosity, Heinrich Ignaz<br />

Franz Biber’s Mysteriensonaten (Mystery Sonatas), written for violin and continuo, embrace<br />

the three stages of the story of Jesus: the »joyful« the »sorrowful« and the »glorious«<br />

Rosary. Biber’s narrative is from the perspective of Mary, the Mother of God. Wordlessly,<br />

never moralising or catechising, his composition demands absolute dedication<br />

from its performers. The violin is progressively detuned – a fascinating feature that was<br />

not un<strong>der</strong>stood in its time. These scordaturas force the instrument into contradictory<br />

tensions and provoke expressive sonic frictions.<br />

A selection of sonatas from all three parts of the Rosary, chosen individually by the soloists,<br />

as well as the concluding Passacaglia, will be played at the three venues simultaneously,<br />

thus linking Duisburg, Bochum and Essen in one big, decentralised resonant space.<br />

An drei Orten zur gleichen Zeit:<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum ;<br />

Pumpenhalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord ;<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Tickets: 17 €,<br />

erm. ab 8,50 €<br />

Do 11. August ___________________ 19.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 60min<br />

www.ruhr3.com/mysterien<br />

13


ICH GEH UNTER<br />

LAUTER SCHATTEN<br />

GÉRARD GRISEY<br />

CLAUDE VIVIER<br />

IANNIS XENAKIS<br />

GIACINTO SCELSI<br />

ELISABETH STÖPPLER<br />

PETER RUNDEL<br />

KLANGFORUM WIEN<br />

CHORWERK RUHR<br />

Musiktheater / Kreation<br />

Blick in den Abgrund<br />

→ Magazin, Seite 150<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

14


Was bestimmt das Leben mehr als <strong>der</strong> Gedanke an dessen Endlichkeit? Der kleine<br />

Schritt über die Schwelle am Ende – in Wahrheit eine Ewigkeit. In seinem letzten Werk<br />

Quatre chants pour franchir le seuil – Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten schickt<br />

<strong>der</strong> Komponist Gérard Grisey zuerst den Engel über die ominöse Schwelle, dann die<br />

Zivilisation, die Stimme und schließlich die Menschheit. Und jedes Mal erscheint die<br />

Membran zwischen Leben und Tod durchlässiger.<br />

Claude Vivier blickt in seiner letzten Komposition Glaubst du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong><br />

Seele seinem Lebensende ganz direkt ins Angesicht. Er skizziert es exakt so, wie es sich<br />

wenig später ereignete – als wäre <strong>der</strong> Tod bereits ins Leben eingezogen. Bleibt also auch<br />

das Leben im Tod präsent?<br />

Vier Frauen folgen in <strong>der</strong> Musiktheaterkreation Ich geh unter lauter Schatten den Pfaden<br />

des Übergangs, stoßen Türen zu verwandten Geistes- und Klangwelten von Giacinto<br />

Scelsi und Iannis Xenakis auf und lassen durch ihre transzendenten Übungen eine<br />

Ahnung metaphysischen Daseins im irdischen Leben aufscheinen.<br />

Griseys Musique liminale (Schwellenmusik) ist dabei selbst eine Art Transzendenzprodukt.<br />

Er übertritt die Grenze des Tons und macht aus dessen feinen Mikrotönen sein<br />

ganzes Vokabular. Scelsi hatte diese Reise ins ungreifbare Innere des Tons in meditativen<br />

Séancen begonnen und damit ein Terrain erschlossen, das sowohl für Grisey als<br />

auch für Xenakis wegbereitend war. In ihren Händen wird starre, begrenzende Materie<br />

weich und lebendig. Begriffe wie innen und außen o<strong>der</strong> diesseits und jenseits werden<br />

hinfällig. Spätestens Griseys Wiegenlied am Ende räumt ein, dass die drastische Kluft<br />

zwischen Leben und Tod vielleicht nur eine menschgemachte Angstchimäre ist, hinter<br />

die zu blicken wir verlernt – o<strong>der</strong> nie gelernt haben.<br />

What shapes life more than the idea that it is finite? In reality, that small step over the<br />

threshold at its end is an eternity. In his final work, Quatre chants pour franchir le seuil<br />

(Four Songs to Cross the Threshold), Gérard Grisey sends the angel across this ominous<br />

threshold first, then civilisation, then the voice and, finally, the human race. And each<br />

time, the magical membrane seems more porous.<br />

In his final composition, Glaubst du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele (Do You Believe in<br />

the Immortality of the Soul), Claude Vivier looks the end of his life directly in the eye. And<br />

sketches it precisely as it would later turn out – as if death had moved into his life long<br />

ago. Does life also remain present in death?<br />

In the music theatre creation Ich geh unter lauter Schatten (I walk among many shadows),<br />

four women follow these rites of passage, pushing open doors to related worlds<br />

of sound and ideas by Giacinto Scelsi and Iannis Xenakis – and through their transcendental<br />

exercises they allow some sense of metaphysical existence to become apparent<br />

in earthly life.<br />

Grisey’s musique liminale (liminal music) is itself a product of transcendence: he enters<br />

the limits of the note and creates an entire vocabulary out of these fine microtones.<br />

Scelsi had begun this journey into the impalpable interior of the note in meditative<br />

séances and opened up a territory that paved the way for both Grisey and Xenakis. In<br />

their hands, stiff, limiting material becomes soft and lively. Concepts such as interior and<br />

exterior, or life and after-life, become redundant. In Grisey’s closing lullaby, at the latest<br />

there is an acknowledgement that the drastic gulf between life and death is perhaps only<br />

a chimera generated by human fears: one that we have lost the ability to see through – or<br />

that we never learned in the first place.<br />

Musikalische Leitung<br />

Peter Rundel<br />

Regie<br />

Elisabeth Stöppler<br />

Bühnenbild<br />

Hermann Feuchter<br />

Kostüme<br />

Susanne Maier-Staufen<br />

Sound Design<br />

Thomas Wegner<br />

Licht Design<br />

Ulrich Schnei<strong>der</strong><br />

Dramaturgie<br />

Barbara Eckle<br />

Musikalische Studienleitung<br />

Arnaud Arbet<br />

Kyoko Nojima<br />

Einstudierung Chor<br />

Béni Csillag<br />

Regieassistenz<br />

Stefanie Hiltl<br />

Bühnenbildassistenz<br />

Antonia Kamp<br />

Kostümassistenz<br />

Sonja Schön<br />

Inspizienz<br />

Jens Fischer<br />

Stimme 1<br />

Sophia Burgos<br />

Stimme 2<br />

Kerstin Avemo<br />

Stimme 3<br />

Kristina Stanek<br />

Stimme 4<br />

Caroline Melzer<br />

Sprecher<br />

Eric Houzelot<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Klangforum Wien<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Do 11. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Fr 12. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Sa 13. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Mo 15. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Do 18. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

So 21. August ___________________ 21.00 Uhr<br />

Tickets: 82 / 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />

ermäßigt ab 11 €<br />

In französischer und deutscher<br />

Sprache mit deutschen und<br />

englischen Übertiteln<br />

Dauer: ca. 1h 40min<br />

Eine Produktion <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Aufführungsrechte Musik:<br />

G. Ricordi & Co. Bühnen- und<br />

Musikverlag GmbH<br />

Éditions Salabert, Paris<br />

Boosey & Hawkes · Bote & Bock<br />

GmbH<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die Kulturstiftung<br />

des Bundes. Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />

Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />

für Kultur und Medien.<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die Alfried<br />

Krupp von Bohlen und<br />

Halbach-Stiftung.<br />

www.ruhr3.com/grisey<br />

15


INTIME<br />

REVOLUTION<br />

ANNA PAPST<br />

& MATS STAUB<br />

Eine Audio-Vinothek<br />

Gespräche mit Pionier:innen<br />

→ Magazin, Seite 200<br />

16


Sex ist zwar medial omnipräsent, aber ehrliche Gespräche darüber, wie wir begehren<br />

und was wir beim Sex emotional erleben, kommen selten vor. Fast allen fehlt das Vokabular,<br />

um zu beschreiben, was in ihnen vorgeht, wenn sie Sex haben. Die Gesprächskünstler:innen<br />

Anna Papst und Mats Staub haben sich auf die Suche nach Menschen<br />

gemacht, die es dennoch versuchen. Sie alle mussten o<strong>der</strong> wollten im Laufe ihres Lebens<br />

Sexualität neu und bewusst lernen. Ihre berührenden und tiefgründigen Geschichten<br />

werden sprachlich verdichtet und neu eingesprochen präsentiert.<br />

In <strong>der</strong> Weinbar im STÜH33 erwartet das Publikum ein kollektives und gleichzeitig intimes<br />

Hörerlebnis. Den Besucher:innen werden Getränke und Kopfhörer serviert. Jede:r kann<br />

sich aus einer Vielzahl von Stimmen und Erzählungen nach eigenem Geschmack ein<br />

auditives 4-Gänge-Menü zusammenstellen: Lieber <strong>der</strong> Rentnerin zuhören, die während<br />

25 Ehejahren keinen Spaß an Sex hatte und jetzt ›anständig ausschweifend‹ lebt? O<strong>der</strong><br />

dem schwulen jungen Mann, <strong>der</strong> nach acht Jahren Abstinenz die körperliche Liebe neu<br />

entdeckt?<br />

Anna Papst und Mats Staub arbeiten beide interviewbasiert und genreübergreifend<br />

zwischen Theater, Ausstellung und Literatur. Intime Revolution ist ihr erstes kollektives<br />

Langzeitprojekt – die Geschichtensammlung wird nach <strong>der</strong> Uraufführung bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

über zahlreiche Stationen weiterwachsen.<br />

Idee, Konzept, Leitung<br />

Mats Staub, Anna Papst<br />

Szenografie<br />

Luana Paladino<br />

Dramaturgie<br />

Nina Bade<br />

Tontechnik, Sound<br />

Philip Bartels<br />

While sex might be omni-present in the media, honest conversations about the nature<br />

of our desire and our emotional experiences during sex are rare. Almost everyone lacks a<br />

vocabulary to describe what they feel when they are having sex. However, conversation<br />

artists Anna Papst and Mats Staub have gone in search of people who are trying to do<br />

this. During the course of their lives, all of them had to or wanted to re-learn how to have<br />

sex. Their touching and profound stories are presented in an edited and re-voiced form.<br />

A collective and yet intimate listening experience awaits the public in the wine bar<br />

at Stüh33. Visitors are served drinks and headphones. Everyone can choose from a<br />

variety of voices and stories and put together their own 4-course listening menu: would<br />

you rather listen to the female pensioner who never enjoyed sex in twenty-five years of<br />

marriage and now leads a »decently dissolute« life? Or the young gay man who discovers<br />

physical love again after eight years of abstinence?<br />

Anna Papst and Mats Staub both create interview-based work that lies in between<br />

theatre, exhibitions and literature. Intime Revolution (»intimate revolution«) is their first<br />

long-term project together – after the world premiere at the <strong>Ruhrtriennale</strong>, their collection<br />

of stories will continue to grow as it is presented at numerous other venues.<br />

STÜH33, Bochum<br />

Uraufführung<br />

Fr 12. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />

Sa 13. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />

Do 18. Aug._________________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 19. Aug._________________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 20. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />

Do 08. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 09. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 10. Sep.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />

Do 15. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 16. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 17. Sep.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />

Tickets: 12 €, ermäßigt 6 €<br />

In deutscher und englischer<br />

Sprache<br />

Dauer: ca. 1h 40min<br />

Eine Produktion von<br />

zwischen_produktionen.<br />

Koproduziert mit <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />

Zürcher Theaterspektakel,<br />

Kaserne Basel, Künstlerhaus<br />

Mousonturm.<br />

www.ruhr3.com/staub<br />

17


A PLOT /<br />

A SCANDAL<br />

LIGIA<br />

LEWIS<br />

Tanz<br />

Szenen für den »Ort des Sehens« und Komplotte für einen Skandal<br />

→ Magazin, Seite 184<br />

18


Das englische Wort »plot« bezeichnet nicht nur die Handlung einer Geschichte, son<strong>der</strong>n<br />

je nach Kontext auch ein Stück Land. Zugleich steckt in diesem Begriff etwas Illegales,<br />

etwas die bestehende Ordnung Gefährdendes, was Ligia Lewis hinführt zur Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit dem Skandal als kulturelle Erscheinungsform. Skandale sind immer auch<br />

Störungsakte, die den Raum für Fantasie und Vergnügen öffnen können. Die Choreografin<br />

und Tänzerin Ligia Lewis fragt in ihrer jüngsten Arbeit, zu wessen Gunsten und auf wessen<br />

Kosten diese Art von Vergnügen stattfindet und wo die Verbindungslinien zwischen<br />

Skandal und Plot historisch verlaufen. Dabei interessiert sich die Künstlerin genauso für<br />

John Locke wie für José Aponte o<strong>der</strong> Maria Olofa (Wolofa) im Sklav:innenaufstand von<br />

Santo Domingo von 1521, von dem noch immer Ruinen zeugen. In <strong>der</strong> Nähe dieser Ruinen<br />

lebte Ligia Lewis’ ihre Großmutter. Eine Schwarze Frau und Wi<strong>der</strong>standskämpferin, die<br />

eigenes Land besaß und als Heilerin noch heute großen Respekt genießt. Sie praktizierte<br />

dominikanischen Voodoo, was damals verboten war und zumindest aus <strong>der</strong> Perspektive<br />

<strong>der</strong> weißen Regierung und Plantagenbesitzer skandalös. Auf den Spuren ihrer eigenen<br />

Geschichte versucht Ligia Lewis aus den Fragmenten oraler familiärer Überlieferung, aus<br />

den erzählten Geschichten über ihre Großmutter, die sie nie kennenlernte, ein imaginäres<br />

Archiv zu rekonstruieren. Indem sie historische, anekdotische, politische, persönliche<br />

und mythische Narrative ineinan<strong>der</strong> verwebt, sucht sie eine Poetik <strong>der</strong> Verweigerung im<br />

Grenzbereich des Darstellbaren zu entwickeln. Ein Tanz zwischen Affekt und Darstellung,<br />

zwischen Sehen und Gesehenwerden.<br />

A plot exposed, a foul deed enacted invite scandal. In the spirit of revolution or romantic<br />

musings, scandals provoke an imagining of the impossible. Utopian or mundane, how<br />

might scandal reveal what lies unwittingly close to our fantasies? And how does it expose<br />

where society places its limits? If life is a scandal waiting to be plotted, how do we position<br />

ourselves within its matrix? Immoral and lacking propriety, scandals are incidents<br />

where fantasy and pleasure take center stage. Guided by the questions for whom this<br />

pleasure is and at what expense, Lewis’s new plot explores the stage where scandals<br />

abound. Weaving together historical, anecdotal, political and mythical narratives, Lewis<br />

constructs the poetics of refusal at the edges of representation. A dance between affect<br />

and embodiment, seeing and being seen, A Plot/A Scandal is a scene in the making,<br />

where the excitement for that which does not fit might find its place.<br />

Konzept, Choreografie,<br />

Künstlerische Leitung<br />

Ligia Lewis<br />

Choreografische Assistenz<br />

Corey Scott-Gilbert<br />

Justin Kennedy<br />

Recherche, Dramaturgie<br />

Sarah Lewis-Cappellari<br />

Outside Eye, Assistenz<br />

Da Ria Geske<br />

Recherche<br />

Michael Tsouloukidse<br />

Licht Design, Technische Leitung<br />

Joseph Wegmann<br />

Musik Komposition<br />

George Lewis Jr AKA Twin<br />

Shadow, Wynne Bennett<br />

Sound Design<br />

George Lewis Jr AKA Twin<br />

Shadow, Wynne Bennett<br />

Soundtechniker<br />

Manuel Pessoa de Lima<br />

Bühnenbild<br />

Ligia Lewis<br />

Kostüme<br />

SADAK<br />

Bühnentechnik<br />

Şenol Şentürk<br />

Produktion, Administration<br />

Sina Kießling<br />

Produktion, Distribution<br />

Nicole Schuchardt<br />

Produktionsassistenz<br />

Julia Leonhardt<br />

Mit<br />

Ligia Lewis<br />

Corey Scott-Gilbert<br />

Justin Kennedy<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Pre-Premiere<br />

Fr 12. August __________________20.00 Uhr<br />

Sa 13. August __________________20.00 Uhr<br />

So 14. August ___________________18.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

In englischer Sprache mit<br />

deutschen Übertiteln<br />

Eine Produktion von Ligia Lewis.<br />

Koproduziert mit HAU Hebbel am<br />

Ufer, <strong>Ruhrtriennale</strong>, Arsenic –<br />

Centre d’art scénique contemporain,<br />

Tanzquartier Wien,<br />

Kunstencentrum Vooruit,<br />

Kaserne Basel, The Museum of<br />

Contemporary, Los Angeles<br />

Mit Unterstützung (Residenz)<br />

von Callie’s, O Espaço do Tempo<br />

Unterstützt durch das<br />

NATIONALE PERFORMANCE<br />

NETZ Koproduktionsför<strong>der</strong>ung<br />

Tanz, geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />

Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />

für Kultur und Medien.<br />

Geför<strong>der</strong>t durch Berliner<br />

Senatsverwaltung für Kultur<br />

und Europa.<br />

www.ruhr3.com/scandal<br />

19


THE<br />

HUDDLE<br />

KATJA<br />

AUFLEGER<br />

Installation<br />

The Huddle von Katja Aufleger<br />

→ Magazin, Seite 221<br />

20


Urbane Künste Ruhr beteiligt sich an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> mit <strong>der</strong> skulpturalen Installation<br />

THE HUDDLE von <strong>der</strong> Künstlerin Katja Aufleger, konzipiert für den öffentlichen Raum.<br />

In THE HUDDLE lässt Katja Aufleger mehrere bewegliche Baumaschinen – funktionsentfremdet<br />

und neu definiert – in einen ungewöhnlichen Dialog treten. Im Sport verweist<br />

<strong>der</strong> titelgebende »Huddle« auf ein Zusammenkommen <strong>der</strong> Mannschaft, um eine<br />

Strategie für den nächsten Spielzug zu besprechen. Ähnlich wie in ihrer Installation<br />

Applause, 2021, die einen Bagger kraftvoll in die Hände klatschen ließ, entwickelt die in<br />

Berlin lebende Künstlerin für die Maschinen eine eigene Klangsprache, auch ihre Gesten<br />

und Bewegungen folgen einer inneren Logik. Der vertraute Anblick von Baugeräten im<br />

öffentlichen Raum erscheint verfremdet und weckt neue Assoziationen. Steht diese<br />

archaisch wirkende Gesellschaft vielleicht in einer direkten Verwandtschaftslinie zu<br />

mo<strong>der</strong>nsten Robotern? Wollen sie uns etwas sagen o<strong>der</strong> geht es gar nicht mehr um die<br />

Interaktion mit uns Menschen? Katja Aufleger ist in den letzten Jahren durch eindrucksvolle,<br />

spannungsgeladene Bil<strong>der</strong> und Skulpturen bekannt geworden, die vielfältige Interpretationen<br />

zulassen, ohne ins Beliebige abzurutschen. Wie sie diesen Balanceakt<br />

meistert und ob wir als Besucher:innen das Zusammenspiel beobachten o<strong>der</strong> auslösen,<br />

ist in Bochum zu erfahren.<br />

Künstlerin<br />

Katja Aufleger<br />

Technische Umsetzung mit<br />

Benjamin Maus (allesblinkt)<br />

BlackSchwarz<br />

Atlas von <strong>der</strong> Wehl GmbH<br />

Kuration<br />

Britta Peters<br />

Projektmanagement<br />

Larissa Koch<br />

Technische Leitung<br />

Stefan Göbel<br />

As a contribution of Urbane Künste Ruhr to the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>, the sculptural installation<br />

THE HUDDLE, by the artist Katja Aufleger, is conceived for public space.<br />

In THE HUDDLE, Katja Aufleger makes several pieces of construction machines – stripped<br />

of their functions and redefined – enter into an unconventional dialogue. In sport, the<br />

word »huddle«, that gives the piece its title, refers to a gathering of the team in or<strong>der</strong> to<br />

discuss strategy for its next move. In similar fashion to her 2021 installation Applause,<br />

where an excavator clapped its hands powerfully, the Berlin-based artist develops a<br />

language of her own for machines whose gestures and movements also follow their<br />

own internal logic. The familiar sight of construction machines in public spaces is made<br />

stranger and gives rise to new associations: is this archaic-seeming group perhaps directly<br />

related to the most mo<strong>der</strong>n robots? Are they trying to tell us something – or are<br />

they no longer concerned about interacting with us humans? Katja Aufleger has become<br />

well-known in recent years for her powerful pictures and sculptures loaded with tension,<br />

which permit many different interpretations without slipping towards banality. How she<br />

masters this balancing act and whether we, as spectators, observe the interplay or trigger<br />

it, can be found out in Bochum.<br />

Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

Eröffnung mit<br />

Publikumsgespräch<br />

Sa 13. August ___________________15.00 Uhr<br />

Projektlaufzeit<br />

11. August – 18. September<br />

Eine Produktion von<br />

Urbane Künste Ruhr für<br />

die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Ohne Sprache<br />

Beson<strong>der</strong>er Dank an<br />

Reinhard von <strong>der</strong> Wehl und<br />

Eike Wollenweber<br />

Performancezeiten<br />

Mo–Fr 12–20 Uhr<br />

Sa–So 12–22 Uhr<br />

www.ruhr3.com/huddle<br />

21


ORGANICUM<br />

KLANGFORUM WIEN<br />

PATRICK HAHN<br />

Konzert<br />

IANNIS XENAKIS<br />

Thalleïn (1984)<br />

LUCIA DLUGOSZEWSKI<br />

Fire Fragile Flight (1973)<br />

SARAH NEMTSOV<br />

MOOS (2019/20)<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

MÁRTON ILLÉS<br />

Forajzok (2021)<br />

MICHAEL PELZEL<br />

Urgewalt Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation (<strong>2022</strong>)<br />

Uraufführung<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

Klangforum Wien<br />

Musikalische Leitung<br />

Patrick Hahn<br />

22


Die Faszination physikalischer Phänomene weckt immer wie<strong>der</strong> den künstlerischen<br />

Forschungsgeist. Auch wenn ihr Ergründen die Domäne <strong>der</strong> Wissenschaft ist, lässt<br />

sich auch auf klanglichem Weg ihrer Essenz nahekommen – manchmal vielleicht sogar<br />

näher. So meint man die Sonnenreflexion auf fallendem Laub im Ensemblestück Fire<br />

Fragile Flight <strong>der</strong> nahezu vergessenen amerikanischen Komponistin Lucia Dlugoszewski<br />

tatsächlich flirren zu sehen. Das weich-feste Gefühl von »Treten wie auf Moos« evoziert<br />

Sarah Nemtsov in ihrer Komposition MOOS mittels einer ausgefallen indirekten<br />

Klangerzeugungsmethode. Márton Illés versucht die unterschiedlichsten Instrumente<br />

<strong>der</strong> menschlichen Stimme anzuverwandeln, insbeson<strong>der</strong>e die urtümlichen Laute, die sie<br />

jenseits von Worten und Gesang hervorbringt. Dabei wachsen die Instrumentalklänge<br />

so organisch zusammen, dass aus dem Ensemble eine Art hochexpressive Kreatur wird.<br />

Der griechisch-französische Komponist, Ingenieur und Architekt Iannis Xenakis legte<br />

indessen nahezu all seinen Werken ganz konkrete naturwissenschaftliche Referenzsysteme<br />

zugrunde – eine in <strong>der</strong> Musikgeschichte präzedenzlose Praxis, die auch in<br />

seinem Ensemblestück Thalleïn (griechisch für »sprießen«) zum Tragen kommt. Unter<br />

Anwendung <strong>der</strong> Siebtheorie lässt er hier unterschiedlichste Kleinstmotive wachsen und<br />

wuchern, sich verwandeln und sich zu organischen Klanggeweben verzahnen. 100 Jahre<br />

nach Xenakis’ Geburt reflektiert <strong>der</strong> Komponist Michael Pelzel in seinem neuen Werk<br />

Urgewalt Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation die »rohe und archaische Wucht« <strong>der</strong> Musik,<br />

die aus solch rigorosen Prozessen erwachsen ist.<br />

The fascination for physical phenomena awakens the artistic spirit of enquiry. Even if<br />

analysing them is the domain of the natural sciences, sonic methods can also bring us<br />

close to their essence – and sometimes even closer. In the ensemble piece Fire Fragile<br />

Flight by the almost forgotten American composer Lucia Dlugoszewski, one might think<br />

one can actually see the sun’s reflection shimmering on the falling leaves. Sarah Nemtsov<br />

evokes the soft yet firm feeling of »treading on moss« in her composition MOOS by using<br />

an unusually indirect method of producing sound. Márton Illés attempts to adapt the<br />

most varied instruments to the human voice, especially those primordial noises that it<br />

produces, aside from words and song. The instrumental sounds grow together so organically<br />

that the ensemble seems to turn into some highly expressive creature.<br />

Meanwhile, the Greek-French composer, engineer and architect Iannis Xenakis based<br />

almost all his works on specific systems of reference from the natural sciences – an<br />

unprecedented practice in musical history, which also comes to fruition in his ensemble<br />

piece Thalleïn (Greek for »to sprout«): he applies sieve theory, allowing the most varied<br />

small motifs to grow and proliferate, transform and become enmeshed in organic textures<br />

of sound. A hundred years after Xenakis’ birth, composer Michael Pelzel, in his new<br />

work Urgewalt Iannis Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation, reflects »the raw and archaic<br />

power« of the music that has grown out of such rigorous processes.<br />

Salzlager, Welterbe<br />

Zollverein, Essen<br />

So 14. August____________________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 2h, 1 Pause<br />

Tickets: 42 / 32 / 22 €,<br />

ermäßigt. ab 11 €<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

durch die RAG-Stiftung<br />

Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />

Kulturstiftung Pro Helvetia<br />

www.ruhr3.com/organicum<br />

23


4. HALBZEIT<br />

WERMKE /<br />

LEINKAUF<br />

Installation<br />

24


Die Installation des Künstlerduos Wermke/Leinkauf zeigt auf zwei gegenüberstehenden,<br />

grell flackernden Stadionanzeigen Szenen von Menschenmassen zwischen politischen<br />

Protesten und Fußballspielen – untermalt von einer ohrenbetäubenden Soundkulisse<br />

aus Fangesängen. Wermke/Leinkauf beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit dem Phänomen<br />

organisierter Fußballfans und Ultras im Zusammenhang gesellschaftspolitischer Aufstände.<br />

Daher auch <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Arbeit, <strong>der</strong> über das Aufeinan<strong>der</strong>treffen <strong>der</strong> Fans in<br />

einer 3. Halbzeit hinaus die 4. Halbzeit befragt: Der öffentliche Raum, in dem Fußballfans,<br />

unabhängig vom Fußballspiel, aktiv werden, um Protestbewegungen zu unterstützen.<br />

Von <strong>der</strong> Istanbuler Gezi-Park-Revolte über den sogenannten Arabischen Frühling bis<br />

hin zu den Protesten am Majdan in Kyiv spielten Fußballfans eine zentrale Rolle. Aus<br />

einem eher unpolitischen, oft destruktiven Sammelbecken von fanatischen Fußballanhänger:innen<br />

entstanden teilweise neue, vielfältige Gruppen, die jenseits <strong>der</strong> Stadien<br />

mit ihren Techniken des Wi<strong>der</strong>stands politisch progressive Aktionen unterstützten.<br />

Wermke/Leinkauf setzen das Mobilisierungspotenzial dieser Gruppierungen, die bereits<br />

seit den 1970er Jahren existieren und die größte Jugend-Subkultur in Deutschland darstellen,<br />

bildmächtig zwischen Faszination und Schrecken in Szene.<br />

Wermke/Leinkauf<br />

Matthias Wermke<br />

Mischa Leinkauf<br />

Sound<br />

Ed Davenport<br />

This spatial installation by the artist duo Wermke/Leinkauf uses two brightly flickering<br />

stadium displays facing each other, to present scenes of crowds attending political protests<br />

and football matches – un<strong>der</strong>scored by an ear-splitting soundscape of football<br />

chants. In their work, Wermke/Leinkauf explore the phenomenon of organised football<br />

fans and ultras in the context of socio-political protests. Hence the title of the work,<br />

which goes beyond the ultras arrangement of a third half – for celebration but also for<br />

riots outside the stadium – to ask for a fourth half: an expanded space where football<br />

can be activated, independent of football matches, for the purposes of protest.<br />

Football fans played a key role in the protests in Istanbul’s Gezi Park, in the so-called<br />

Arab Spring and the Maidan demonstrations in Kyiv. Out of a largely apolitical, often<br />

destructive pool of fanatical football fans, new and multi-faceted groups sometimes<br />

emerged who supported political protest beyond the stadium with their techniques of<br />

resistance. Wermke/Leinkauf demonstrate how these groups, which have existed since<br />

the 1970s and represent Germany’s largest youth subculture, are capable of being<br />

mobilised in graphic images veering between fascination and horror.<br />

Landschaftspark Duisburg-<br />

Nord, Schalthaus Ost<br />

Eröffnung: 17. August <strong>2022</strong><br />

Eintritt frei<br />

Ohne Sprache<br />

Laufzeit<br />

18. August – 11. September<br />

Öffnungszeiten:<br />

Mi. – Fr. 16–20 Uhr<br />

Sa. – So. 12–20 Uhr<br />

www.ruhr3.com/halbzeit<br />

25


MASCHINENHAUSMUSIK<br />

BLACK MIDI<br />

Virtuos, impulsiv und ohne stilistische Leitplanken braust<br />

die blutjunge britische Avantgarde-Rockband black midi<br />

über eine kurvenreiche Straße, gesäumt von den vielfältigsten<br />

Assoziationen: Free Jazz, Punk, Hardcore, zeitgenössische<br />

Kunstmusik – multiple Referenzen rauschen<br />

vorbei, keine bleibt konstant, alles befindet sich im Fluss<br />

<strong>der</strong> steten Verän<strong>der</strong>ung. Expressive Schönheit und harten,<br />

rohen Noise vereinbaren sie ebenso versiert wie das<br />

Ein gängige mit dem Obskuren. Mit Tempo rasen sie in<br />

die Kurven, ohne zu wissen, was sich dahinter auftut.<br />

Abenteuerliche Akkordfolgen, vertrackte Rhythmen, wilde<br />

Wendungen und die ständige Bereitschaft, in Improvisation<br />

auszubrechen, machen die Performance ihres neuen<br />

Albums Cavalcade zu einem sensationellen Ritt, wie man<br />

ihn in <strong>der</strong> avancierten Rockszene selten erlebt.<br />

Brilliant, impulsive and without any stylistic guard rails,<br />

the young British avant-garde rock band black midi roar<br />

down a road full of twists and turns, dotted with a wide<br />

range of associations: free jazz, punk, hardcore, contemporary<br />

art music – multiple references race past, none of<br />

them remaining constant, everything a stream of constant<br />

change. Expressive beauty and hard, raw noise are united<br />

as skilfully as the catchy and the obscure. They enter<br />

the turns at speed, not knowing where they are about to<br />

lead. Adventurous chord sequences, intricate rhythms,<br />

wild shifts and a constant readiness to break into improvisation<br />

make the band’s performance of the new album<br />

Cavalcade a sensational ride of a kind rarely experienced<br />

on the advanced rock scene.<br />

Vocals, E-Gitarre Geordie Greep<br />

Vocals, E-Bass, Synthesizer Cameron Picton<br />

Schlagzeug Morgan Simpson<br />

Mi 17. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />

Maschinenhaus Essen<br />

AVA MENDOZA<br />

Der Kaktus – er wächst, wo er will, auch unter widrigsten<br />

Bedingungen, er nimmt sich seinen Raum, ungeachtet<br />

aller Grenzen. Im Geiste des Kaktus hat die lange in den<br />

südlichsten US-Staaten beheimatete E-Gitarristin Ava<br />

Mendoza gemeinsam mit ihren Freund:innen ein Soloprogramm<br />

komponiert, das sie durch die Pandemie in ein<br />

neues Zeitalter getragen hat. »Zaubersprüche, Hoffnungen<br />

und Gebete am Tor zwischen zwei Welten«, nennt sie die<br />

Stücke ihres Programms New Spells. Wi<strong>der</strong>ständigkeit<br />

und Hitze sind dem abenteuerlich expressiven Spiel dieser<br />

jungen Musikerin ebenso eingeschrieben wie eine geheimnisvoll<br />

trockene Nostalgie.<br />

The cactus – it grows where it wants, even in the most<br />

adverse conditions, it takes its space, regardless of all<br />

boundaries. In the spirit of the cactus, electric guitarist<br />

Ava Mendoza, long a resident of the southernmost U.S.,<br />

has composed a solo program with her friends that has<br />

carried her through the pandemic into a new age. »Spells,<br />

hopes and prayers at the gateway between two worlds«,<br />

she calls the pieces in her program New Spells. Resistance<br />

and heat are inscribed in this young musician’s adventurously<br />

expressive playing, like a mysteriously dry nostalgia.<br />

E-Gitarre, Vocals Ava Mendoza<br />

CHARLOTTE HUG<br />

Zum Übertritt in »An<strong>der</strong>welten« setzt die Schweizer Bratschistin,<br />

Bildende Künstlerin, Komponistin und Vokalperformerin<br />

Charlotte Hug ihre gesammelten Medien ein. In<br />

Irland studierte sie den Gesang <strong>der</strong> Grabsänger, die mit<br />

einer eigenartigen Vokaltechnik Ober- und Unterwelt in<br />

Kontakt bringen. In China veranlasste sie die schamanische<br />

Praxis, bei Verstorbenen eine Jadefigur einer Zikade<br />

in den Mund zu legen, zu einer Untersuchung <strong>der</strong> Mundinnenraumarchitektur.<br />

Dabei liegen großflächige, filigrane<br />

Zeichnungen, die sie Son-Icons nennt, ihrer verzaubernden<br />

Performance In Resonance with Elsewhere (Uraufführung)<br />

als Raum-Partitur zugrunde.<br />

To cross over into »otherworlds«, Swiss violist, painter,<br />

composer and vocal performer Charlotte Hug uses her<br />

collected media. In Ireland she studied the chanting of<br />

grave diggers, who bring upper and lower worlds into contact<br />

with a peculiar vocal technique. In China, the shamanic<br />

practice of placing cicadas in the mouths of the<br />

deceased prompted her to study the mouth’s interior<br />

architecture. In the process, large-scale filigree drawings<br />

she calls Son-Icons un<strong>der</strong>lie her enchanting performance<br />

In Resonance with Elsewhere (world premiere) as a score.<br />

Viola, Stimme, Performance Charlotte Hug<br />

Do 01. September_______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />

26<br />

Maschinenhaus Essen


Ikonen und Ikonoklasten, Geisterbeschwörerinnen und Freigeister, Raumfahrer und Rockstars<br />

– das sind die Künstler:innen <strong>der</strong> MaschinenHausMusik <strong>2022</strong>. Mit <strong>der</strong> Avantgarde-<br />

Rockband black midi weht ein wil<strong>der</strong>, klischeebefreiter Wind von <strong>der</strong> britischen Insel<br />

herüber, die E-Gitarristin Ava Mendoza besiegelt mit Zaubersprüchen den Übergang<br />

zwischen zwei Welten und Zeitaltern, die Schweizer Künstlerin Charlotte Hug bringt auf<br />

unterschiedliche Weise Stimmen aus dem Jenseits zum Klingen, das Elektronik-Duo<br />

Mouse on Mars bricht zum Planeten Künstliche Intelligenz auf, und E-Gitarren-Legende<br />

Caspar Brötzmann stellt erstmals seine brandneue Band Broken Spirit xx vor – nun von<br />

<strong>der</strong> Long Scale Electric Guitar aus!<br />

Icons and iconoclasts, necromancers and free spirits, space travellers and rock stars –<br />

these are the artists playing at MaschinenHausMusik <strong>2022</strong>. The Avant-garde band black<br />

midi brings a wild and cliché-free wind blowing in with them from their island home; e-<br />

guitarist Ava Mendoza seals the transition between two worlds and eras with spells; the<br />

Swiss artist Charlotte Hug articulates voices from beyond the grave in different ways; electronic<br />

duo Mouse on Mars set off for the planet of Artificial Intelligence; and guitar legend<br />

Caspar Brötzmann introduces his new band Broken Spirit xx for the very first time – and<br />

he’s now playing the Long Scale Electric Guitar!<br />

www.ruhr3.com/mhm<br />

Die Konzerte von Ava Mendoza<br />

und Charlotte Hug am 1.9. und<br />

Broken Spirit xx am 7.9. werden<br />

vom WDR für den Hörfunk aufgezeichnet<br />

und zu einem späteren<br />

Zeitpunkt in WDR 3 Konzert<br />

gesendet.<br />

BROKEN SPIRIT XX<br />

Vier Jahre hat <strong>der</strong> E-Gitarrist Caspar Brötzmann darauf<br />

verwendet, sein Gitarrenspiel auf eine Sandberg California<br />

VM4 Bass Guitar zu transponieren, sodass man den Bass<br />

für ein tiefe E-Gitarre halten könnte. Aus den Übungen,<br />

an denen er seine Hände trainierte, wurden Songs, aus<br />

<strong>der</strong> solistischen Askese eine Band: Broken Spirit xx heißt<br />

die neue Formation – seine erste seit <strong>der</strong> Kultband Caspar<br />

Brötzmann Massaker. Nach gebrochenem Spirit klingt die<br />

Musik allerdings keineswegs, mehr nach apokalyptischem<br />

Hendrix-Sound des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Bei <strong>der</strong> Ruhrtiennale<br />

<strong>2022</strong> stellt sich Broken Spirit xx zum ersten Mal <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

vor!<br />

Electric guitarist Caspar Brötzmann spent four years transposing<br />

his guitar playing to a Sandberg California VM4 bass<br />

guitar, so that the bass would sound like a deep electric<br />

guitar. The exercises he used to train his hands turned into<br />

songs, the bass guitar turned into a Long Scale Electric<br />

Guitar and his ascetic solo sessions grew to become a new<br />

band: Broken Spirit xx. However, the spirit of the music<br />

sounds anything but broken – more like the apocalyptic<br />

Hendrix sound of the 20th century. Broken Spirit xx will be<br />

making their first public appearance at <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>.<br />

Long Scale E-Gitarre, Vocals Caspar Brötzmann<br />

Schlagzeug Tim Wyskida<br />

E-Bass, Vocals Rebecca Burchette<br />

Mi 07. September__________________ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />

Band-Premiere<br />

MOUSE ON MARS<br />

Undogmatisch und abenteuerlustig durchstreift das Duo<br />

Mouse on Mars seit 25 Jahren den Kosmos <strong>der</strong> Elektronik,<br />

immer auf <strong>der</strong> Suche nach neuen Experimenten am<br />

Puls technologischer Entwicklung. In ihrer Performance<br />

AAI (Anarchic Artificial Intelligence) tauchen sie gemeinsam<br />

mit ihrem langjährigen künstlerischen Partner, dem<br />

Schlagzeuger Dodo Nkishi, in die Sphäre <strong>der</strong> Künst lichen<br />

Intelligenz ein, treiben ihr Spiel mit ihren narrativen und<br />

klanglichen Möglichkeiten und segeln lässig durch das<br />

unbeherrschbare, unberechenbare Kräftefeld, das sich<br />

zwischen Mensch und Maschine auftut.<br />

Avoiding dogma and eager for adventure, the duo Mouse<br />

on Mars have spent 25 years roaming the cosmos of electronica,<br />

in a constant search for new experiments to the<br />

beat of technological developments. In their performance<br />

AAI (Anarchic Artificial Intelligence), together with their<br />

long-time artistic partner, the percussionist Dodo Nkishi,<br />

they immerse themselves in the sphere of artificial<br />

intelligence, playing with its narrative and sonic possibilities<br />

and sailing nonchalantly through the unpredictable<br />

forcefield that emerges between man and machine.<br />

Elektronik Jan St. Werner<br />

Elektronik, E-Gitarre Andreas Thomas<br />

Schlagzeug Jean-Dominique Nkishi<br />

Mi 14. September__________________ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Maschinenhaus Essen<br />

27


ENCANTADO<br />

LIA RODRIGUES<br />

COMPANHIA<br />

DE DANÇAS<br />

Tanz<br />

28


Lia Rodrigues verwandelt die Bühne auf PACT Zollverein in die blühende und magische<br />

Welt <strong>der</strong> Encantados: Wesen, die sich dem Glauben indigener Kulturen zufolge zwischen<br />

Erde und Himmel, Sanddünen und Felsblöcken sowie Mensch und Tier in <strong>der</strong> Welt bewegen<br />

und diese durch mystische Kräfte beseelen. Eben diese Gegensätzlichkeiten,<br />

zwischen denen sie stehen, werden auf <strong>der</strong> Bühne sichtbar. Mit denkbar einfachen Mitteln<br />

öffnen sich karnevaleske Bil<strong>der</strong> zwischen Tanz und Ritual. Hun<strong>der</strong>t farbenfrohe<br />

und gemusterte Decken von den Märkten Rio de Janeiros kleiden und verwandeln die<br />

nackten Körper <strong>der</strong> Tänzer:innen. Diese verbinden in ihrer Körperlichkeit immer wie<strong>der</strong><br />

Bewegungen und Grimassen und treten wie<strong>der</strong>holt einzeln o<strong>der</strong> in kleinen Gruppen aus<br />

<strong>der</strong> Gemeinschaft heraus. Die Performance wird von <strong>der</strong> Musik <strong>der</strong> indigenen Gemeinschaft<br />

<strong>der</strong> Guarani Mbya angefeuert: sich wie<strong>der</strong>holende Rhythmen, die im vergangenen<br />

Jahr von <strong>der</strong> indigenen Gemeinschaft als Zeichen des Wi<strong>der</strong>standes auf den Straßen<br />

Brasiliens gesungen wurden.<br />

Lia Rodrigues ist eine <strong>der</strong> wichtigsten künstlerischen Stimmen Brasiliens. Gemeinsam<br />

mit <strong>der</strong> Companhia de Danças, welche sie in <strong>der</strong> größten Favela Rio de Janeiros, gründete,<br />

entwickelt sie einen Abend, <strong>der</strong> die Bühne in ein hochaufgeladenes Energiefeld umwandelt<br />

und <strong>der</strong> Bedrohung von Mensch und Natur trotzt. Encantado ist die Einladung,<br />

die Gemeinschaft zu feiern, jedes Individuum darin zu wertschätzen und das Leben zu<br />

bejahen.<br />

Lia Rodrigues transforms the stage at PACT Zollverein into the blooming, magical world<br />

of the encantados: creatures who, according to Indigenous beliefs, roam between heaven<br />

and earth, sand dunes and cliffs, even between humans and animals, and enliven these<br />

with their mystical powers. The opposites they are caught between are made visible on<br />

stage. Using very simple means, carnival-like images form between dance and ritual.<br />

Hundreds of brightly-coloured and patterned quilts from the markets of Rio de Janeiro<br />

clothe and transform the naked bodies of the dancers. Their physical presence combines<br />

movement with powerful facial expressions and they step out repeatedly from the<br />

collective, either alone or in small groups. The performance is driven by music from the<br />

Indigenous Mbyá Guarani people: repetitive rhythms that were sung on Brazil’s streets<br />

last year as a song of resistance by the Indigenous communities. The evening is a powerful<br />

transformation of the fear of failure in the struggle for survival – defying the threats<br />

to humans and nature.<br />

Lia Rodrigues is one of Brazil’s most important artistic voices. Together with her Companhia<br />

de Danças, which she founded in the largest favela of Rio de Janeiro, she develops a<br />

night that transforms the stage into an energetic field and defies the threat to humankind<br />

and nature. Encantado is an invitation to celebrate community, to value each individual<br />

in it and to affirm life.<br />

Kreation<br />

Lia Rodrigues<br />

Choreografie Assistenz<br />

Amalia Lima<br />

Dramaturgie künstlerische<br />

Mitarbeit und Bil<strong>der</strong><br />

Silvia Soter<br />

Sammi Landweer<br />

Licht Design<br />

Nicolas Boudier<br />

Inspizienz<br />

Magali Foubert<br />

Baptistine Méral<br />

Mixing<br />

Alexandre Seabra<br />

Booking<br />

Colette de Turville<br />

Koordination Produktion<br />

Astrid Toledo<br />

Verwaltung<br />

Jacques Segueilla<br />

Produktion Brasilien<br />

Gabi Gonçalves<br />

Corpo Rastreado<br />

Produktion Projekt Goethe Institut<br />

Claudia Oliveira<br />

Sekretariat<br />

Gloria Laureano<br />

Lehrerinnen<br />

Amalia Lima<br />

Sylvia Barretto<br />

Valentina Fittipaldi<br />

Von und mit<br />

Leonardo Nunes<br />

Carolina Repetto<br />

Valentina Fittipaldi<br />

Andrey Da Silva<br />

Larissa Lima<br />

Ricardo Xavier<br />

Joana Lima<br />

David Abreu<br />

Matheus Macena<br />

Tiago Oliveira<br />

Raquel Alexandre<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Do 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 19. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 20. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Mo 22. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 60min<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt. ab 8,50 €<br />

Ohne Sprache<br />

Veranstaltet von PACT Zollverein<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Eine Koproduktion von Chaillot –<br />

Théâtre National de la Danse,<br />

Le CENTQUATRE, Festival<br />

d’Automne, Scène nationale<br />

Carré-Colonnes, Le TAP – Théâtre<br />

Auditorium de Poitiers, Scène<br />

nationale du Sud-Aquitain,<br />

La Coursive, Scène nationale<br />

La Rochelle, L’Empreinte,<br />

Scène nationale Brive, Théâtre<br />

d’Angoulême Scène Nationale,<br />

Le Moulin du Roc, Scène<br />

nationale à Niort, La Scène<br />

Nationale d’Aubusson, l’OARA –<br />

Office Artistique de la Région<br />

Nouvelle-Aquitaine,<br />

Le Kunstenfestivaldesarts,<br />

Theaterfestival Basel, HAU<br />

Hebbel am Ufer, Festival Oriente<br />

Occidente, Theater Freiburg,<br />

Julidans, Teatro Municipal do<br />

Porto / Festival DDD – dias<br />

de dança and Lia Rodrigues<br />

Companhia de Danças.<br />

www.ruhr3.com/encantado<br />

29


DAS WEITE LAND<br />

ARTHUR<br />

SCHNITZLER<br />

BARBARA FREY<br />

MARTIN<br />

ZEHETGRUBER<br />

Schauspiel<br />

Eine Koproduktion vom Burgtheater Wien und <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Ich schau dich nur an<br />

→ Magazin, Seite 155<br />

30


Das weite Land zählt zu den bedeutendsten Tragikomödien des Fin de Siècle. Arthur<br />

Schnitzler porträtiert darin eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren<br />

hat, eine Gesellschaft, die den Begriff <strong>der</strong> Freiheit nur für das persönliche Fortkommen<br />

beansprucht und spürt, dass eine Leerstelle entstanden ist. Gleichwohl ist sie saturiert,<br />

leistet es sich, keine Inhalte mehr zu haben und damit den Verzicht, gemeinschaftliche<br />

Zukunft zu gestalten. Produktion, Expansion und Konsum bilden das Dreigestirn, das auf<br />

alle Lebensbereiche strahlt. Der Fortlauf des Geschäfts hat die oberste Priorität. Natur<br />

wird nur noch als zu bewirtschaftendes Terrain angesehen (dem Tourismus zum Vergnügen),<br />

Intimität wird zur Handelsware, Liebe zum Konsumgut, jedes Gespräch ein argwöhnisches<br />

Aushorchen des Gegenübers. Der Spaß ist schon lange vorbei. Schnitzlers<br />

Figuren leiden – um es mit einer heutigen Diagnose zu attestieren – unter einer hedonistischen<br />

Depression. Das Aggressionspotential, auch das <strong>der</strong> Autoaggression, wächst.<br />

Gegenseitige Verachtung wird auf stetiger Flamme am Simmern gehalten, wohl wissend,<br />

dass ein solches Gefühl schnell zum Kochen zu bringen ist.<br />

Nicht ohne einen gewissen Neid hatte Sigmund Freud festgestellt, dass Schnitzlers präzise<br />

Dialoge leichtfüßig zum Vorschein bringen, was er selbst mühsam wissenschaftlich<br />

zu begründen versucht. Barbara Frey setzt mit dieser Arbeit nach Edgar Allan Poes Der<br />

Untergang des Hauses Usher die auf drei Jahre angelegte Kooperation mit dem Burgtheater<br />

Wien und dessen großartigem Ensemble fort.<br />

Das Weite Land (The Vast Domain) is one of the most important tragi-comedies of<br />

the fin de siècle. Arthur Schnitzler portrays a society that has lost its moral compass,<br />

a society that only applies the concept of liberty to individual advancement and can<br />

feel that this leaves a void. At the same time, it is sated: it allows itself to do without<br />

ideas and avoids planning any communal future. Production, expansion and consumption<br />

form the triumvirate bearing down on all aspects of life. The highest priority<br />

is that business continues. Nature is now regarded purely as territory that has yet<br />

to be cultivated (tourism for pleasure), intimacy is a commodity to be traded, love<br />

is a consumer good, every conversation is a dismissive acquisition of information.<br />

Fun stopped a long time ago. Schnitzler’s characters suffer from what a present-day<br />

diagnosis would describe as hedonistic depression. The potential for aggression, and<br />

for aggression directed against the self, is growing. Mutual contempt is kept simmering<br />

over a constant flame, in the full knowledge that such a feeling can soon be<br />

brought to the boil.<br />

Not without a certain envy, Sigmund Freud noted that Schnitzler’s precise dialogue<br />

nimbly exposed what his own awkward efforts had tried to prove scientifically. With<br />

this production, following that of Edgar Allan Poe’s The Fall of the House of Usher,<br />

Barbara Frey continues her three-year co-operation with the Vienna Burgtheater and<br />

its magnificent ensemble.<br />

Regie<br />

Barbara Frey<br />

Bühnenbild<br />

Martin Zehetgruber<br />

Mitarbeit Bühne<br />

Stefanie Wagner<br />

Kostüme<br />

Esther Geremus<br />

Musik<br />

Josh Sneesby<br />

Sound Design<br />

Thomas Wegner<br />

Licht Design<br />

Rainer Küng<br />

Dramaturgie<br />

Andreas Karlaganis<br />

Regieassistenz<br />

Verena Holztrattner<br />

Bühnebildassistenz<br />

Oscar Grunert<br />

Kostümassistenz<br />

Marie-Lena Poindl<br />

Inspizienz<br />

Irene Petutschnig<br />

Soufflage<br />

Berngard Knoll<br />

Mit<br />

Bibiana Beglau<br />

Dorothee Hartinger<br />

Sabine Haupt<br />

Felix Kammerer<br />

Katharina Lorenz<br />

Michael Maertens<br />

Branko Samarovski<br />

Nina Siewert<br />

Itay Tiran<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Sa 20. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Mo 22. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Mi 24. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Do 25. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 52 / 42 / 32 / 22 €,<br />

ermäßigt ab 11 €<br />

In deutscher Sprache mit<br />

englischen Übertiteln<br />

Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Brost-Stiftung.<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

des Vereins <strong>der</strong> Freunde und<br />

För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> e. V.<br />

www.ruhr3.com/frey<br />

31


DIE NATUR DES MENSCHEN —<br />

LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />

LUKAS BÄRFUSS UND GÄSTE<br />

NATUR UND PROPAGANDA /<br />

NATURE AND PROPAGANDA<br />

ALEXANDER KLOSE / SANDRA HÜLLER<br />

Worüber reden wir, wenn wir über die »Natur« reden?<br />

Was prägt unser Bild und unser Verständnis dieser so<br />

genannten Natur? Antworten finden sich im größten<br />

Wissens- und Erfahrungsspeicher <strong>der</strong> Menschheit: in<br />

<strong>der</strong> Literatur. Drei Abende, drei literarische Reisen durch<br />

die Sprachen, durch die Jahrhun<strong>der</strong>te, durch die Kontinente.<br />

Vorgetragen von den Schauspielerinnen Sandra<br />

Hüller, Angela Winkler und Sarah Sandeh, begleitet<br />

von Musiker:innen und zuvor von Lukas Bärfuss im<br />

Gespräch mit Expert:innen in die historische und literarische<br />

Perspektive gesetzt, nähern wir uns drei Begriffspaaren,<br />

die unsere Vergangenheit formen, die Gegenwart<br />

umtreiben und unsere Zukunft bestimmen.<br />

What are we talking about when we use the word<br />

»nature«? What shapes our image and our un<strong>der</strong>standing<br />

of this so-called nature? We can find answers<br />

in that great store of human knowledge and experience:<br />

literature. Three evenings and three literary<br />

journeys through languages, through the centuries,<br />

through the continents. Read by the actors Angela<br />

Winkler, Sandra Hüller and Sarah Sandeh, accompanied<br />

by musicians and put into historical and literary<br />

context beforehand by Lukas Bärfuss in conversation<br />

with a range of experts, we will approach three conceptual<br />

pairs that have shaped our past, concern our<br />

present and will determine our future.<br />

Wer Macht will, muss über die natürlichen Ressourcen verfügen.<br />

Mit Wasser, Boden und Luft wird Politik und Geld<br />

gemacht. Wer seine Interessen durchsetzen will, muss sie<br />

zuerst sprachlich vorbereiten. Und wer schließlich herrscht,<br />

wird seine Macht gegen an<strong>der</strong>e Ansprüche rechtfertigen<br />

müssen und dazu sprachliche Strategien und Taktiken entwickeln.<br />

Welche Propaganda ist erfolgreich, wenn es um<br />

die Natur geht?<br />

Anyone who wants power needs natural resources. Water,<br />

land and air drive politics and make money. Anyone who<br />

wants their interests to prevail has to prepare their language<br />

in advance. And whoever is ultimately in control will<br />

have to justify their power against the claims of others and<br />

develop linguistic strategies and tactics to do this. What<br />

kind of propaganda is successful when it comes to nature?<br />

So 21. August<br />

17 Uhr<br />

Dialog: Lukas Bärfuss und Alexan<strong>der</strong> Klose<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Sandra Hüller<br />

Musik: Daniel Freitag<br />

Die Natur des Menschen?<br />

→ Magazin, Seite 160<br />

Die dreiteilige Dialogreihe zur Natur des Menschen wird in<br />

Zusammenarbeit mit dem Kulturradio WDR 3 im Rahmen <strong>der</strong><br />

WDR 3 Kulturpartnerschaft aufgezeichnet und zu einem<br />

späteren Zeitpunkt in WDR 3 Forum gesendet.<br />

32


Maschinenhaus Essen<br />

Konzept<br />

Lukas Bärfuss<br />

Judith Gerstenberg<br />

Tickets Dialoge:<br />

17 / 12 €, ermäßigt ab 6 €<br />

Tickets Lesungen:<br />

27 / 17 €, ermäßigt ab 13,50 €<br />

Package Dialoge und Lesung:<br />

35 / 23 €, ermäßigt ab 11,50 €<br />

NATUR UND DEMOKRATIE /<br />

NATURE AND DEMOCRACY<br />

KLAUS STAECK / ANGELA WINKLER<br />

Die Natur ist kein Rechtsstaat. Gewaltenteilung ist ihr<br />

fremd, und <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten kümmert sie<br />

kaum. Freiheit und Solidarität sind menschliche Tugenden.<br />

In einer Demokratie soll nicht die:<strong>der</strong> Stärkere überleben.<br />

In einer Demokratie ist die Würde des Menschen unantastbar.<br />

Aber welche Rechte fallen in einer Demokratie<br />

den Tieren und den Pflanzen zu? Welches Gesetz soll herrschen,<br />

das des Rechtsstaates o<strong>der</strong> das <strong>der</strong> Natur?<br />

Nature does not obey the rule of law. The separation of<br />

powers is alien to it and it is scarcely bothered about<br />

the protection of minorities. Freedom and solidarity are<br />

human virtues. A democracy is not determined by the<br />

survival of the fittest. In a democracy, human dignity is<br />

inviolate. But what rights do animals and plants have in a<br />

democracy? Which law should prevail: the rule of law or<br />

the laws of nature?<br />

So 04. September<br />

17 Uhr<br />

Dialog: Lukas Bärfuss und Klaus Staeck<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Angela Winkler<br />

Musik: Valentin Butt und Roland Satterwhite<br />

NATUR UND BEWUSSTSEIN /<br />

NATURE AND CONSCIOUSNESS<br />

ULRIKE DRAESNER / SARAH SANDEH<br />

Die grausame Wildnis, <strong>der</strong> Garten, aus dem wir verstoßen<br />

wurden, ein verletzliches System, das unseren Schutz<br />

braucht: Die Bil<strong>der</strong> und Begriffe, die wir uns von <strong>der</strong> Natur<br />

machen, sind vielfältig und wi<strong>der</strong>sprüchlich – und sie sind<br />

Teil unserer Kultur. Aber wie steht es um die natürlichen<br />

Grundlagen unseres Bewusstseins? Von welchen Ideen<br />

und Vorstellungen können wir uns befreien, und welchen<br />

Platz hat das menschliche Gehirn im System <strong>der</strong> Natur?<br />

The cruel wil<strong>der</strong>ness, the garden from which we were expelled,<br />

a vulnerable system that requires our protection;<br />

the images and names we create for nature are manifold<br />

and contradictory – and they are part of our culture. But<br />

what about the natural foundations of our consciousness?<br />

What are the ideas and propositions we can free<br />

ourselves from, and what place does the human brain<br />

have in nature’s system?<br />

So 11. September<br />

17 Uhr<br />

Dialog: Lukas Bärfuss und Ulrike Draesner<br />

19.30 Uhr<br />

Lesung: Sarah Sandeh<br />

Musik: Malakoff Kowalski<br />

www.ruhr3.com/natur<br />

33


APARICIÓN /<br />

ERSCHEINUNG<br />

REGINA JOSÉ<br />

GALINDO<br />

Installation<br />

34


Die Arbeit Aparición macht auf die erschütternd hohe Zahl <strong>der</strong> Morde gegen Frauen<br />

in Deutschland aufmerksam. 2021 erschien die Aktionskünstlerin Regina José Galindo<br />

jeden dritten Tag als anonymer Frauenkörper im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets und<br />

Videos zeigten die Aktion auf <strong>der</strong> Internetseite <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Weil das Thema lei<strong>der</strong><br />

an Aktualität und Dringlichkeit nicht verloren hat, werden dieses Jahr Motive <strong>der</strong> Arbeit<br />

im Stadtraum Bochums als Plakat-Mahnmal für die ermordeten Frauen erscheinen.<br />

Regina José Galindo und viele an<strong>der</strong>e Künstler:innen und Aktivist:innen kämpfen um<br />

Sichtbarkeit, um den Tatbestand in die Aufmerksamkeit zu bringen. Der Begriff »Femizid«<br />

(Mord an Frauen, weil sie Frauen sind) macht Gewalt gegen Frauen in häuslicher<br />

Gewalt und <strong>der</strong>en systemischen Charakter benennbar, und wird im US- und lateinamerikanischen<br />

Kontext selbstverständlich verwendet. Im deutschsprachigen Raum<br />

wird er allerdings nur im journalistischen Kontext eingesetzt – erst <strong>2022</strong> entsteht eine<br />

erste evidenzbasierte Studie dazu – und hat keine strafrechtliche Relevanz o<strong>der</strong> Verwendung<br />

im juristischen Bereich. Die Dunkelziffer <strong>der</strong> Taten in Deutschland wird daher<br />

weit höher liegen, denn Femizide geschehen immer noch größtenteils unerkannt und<br />

werden als »Beziehungstat« o<strong>der</strong> »Ehedrama« bagatellisiert. Deutschland, das Land,<br />

in dem Vergewaltigung in <strong>der</strong> Ehe bis zum Jahr 1997 nicht einmal als Verbrechen angesehen<br />

wurde. Und selbst damals stimmten im Bundestag immer noch 138 Bundestagsabgeordnete<br />

dagegen – unter ihnen auch <strong>der</strong> jetzige CDU-Vorsitzende.<br />

Konzept<br />

Regina José Galindo<br />

Fotografie<br />

Lutz Henke<br />

Dramaturgie<br />

Aljoscha Begrich<br />

The work Aparición draws attention to the horrifically high number of mur<strong>der</strong>s committed<br />

against women in Germany. In 2021, performance artist Regina José Galindo would<br />

appear every three days as an anonymous female body in a public location in the Ruhr<br />

region and videos of this intervention would be published on the <strong>Ruhrtriennale</strong> website.<br />

Sadly this topic has lost none of its relevance and urgency, so this year, motifs from the<br />

work will be displayed in poster memorials to the mur<strong>der</strong>ed women across public spaces<br />

in Bochum.<br />

Regina José Galindo and many other artists and activists are fighting to be seen and to<br />

draw attention to the facts. The term »femicide« (the mur<strong>der</strong> of women because they<br />

are women) is intended to help identify violence against women in cases of domestic<br />

violence, as well as its systemic character, and is now used as a matter of course in the<br />

USA and Latin America. In German-speaking cultures, however, journalists have been<br />

extremely hesitant to employ it – the first evidence-based study did not appear until<br />

<strong>2022</strong> – and it has no relevance in law and is not used in legal circles. The actual number<br />

of mur<strong>der</strong> cases in Germany is therefore likely to be far higher because femicide tends to<br />

go largely unrecognised and is trivialised as »relationship problems« or »marital dramas«.<br />

Furthermore, in Germany, the country where rape within marriage was not even seen as<br />

a crime until 1997. Even then, 138 members of parliament still voted against the law being<br />

changed, among them the present chairman of the CDU.<br />

Bochum Innenstadt<br />

Laufzeit<br />

23. August – 12. September<br />

Ein Auftragswerk <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Ohne Sprache<br />

www.ruhr3.com/erscheinung<br />

35


EUPHORIA<br />

JULIAN<br />

ROSEFELDT<br />

Multidisziplinäre Installation<br />

Educate Capitalism!<br />

→ Magazin, Seite 164<br />

36


Euphoria ist die lang erwartete neue, multidisziplinäre, raumgreifende Filminstallation<br />

des Videokünstlers und Filmemachers Julian Rosefeldt, <strong>der</strong> bereits 2016 das Publikum<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> mit Manifesto begeisterte.<br />

Seine neue Arbeit ist eine Tour de Force durch die Geschichte <strong>der</strong> Wirtschaftstheorie.<br />

Das Projekt zitiert aus Originaltexten berühmter Ökonom:innen, Schriftsteller:innen,<br />

Philosoph:innen und Dichter:innen und zeichnet die 2000-jährige Geschichte<br />

<strong>der</strong> menschlichen Gier nach. Die komplizierte Entstehungsgeschichte unserer<br />

neoliberalen Marktwirtschaft übersetzt Rosefeldt in eine zugängliche Bildsprache durch<br />

die Kombination historischer Texte mit vertrauten szenischen Darstellungen, in denen<br />

Schauspieler:innen wie Giancarlo Esposito und Virginia Newcomb als zeitgenössische<br />

Charaktere auftreten und Cate Blanchett einem sprechenden und singenden Tiger ihre<br />

Stimme leiht.<br />

Der Frage, warum <strong>der</strong> Kapitalismus bis heute alternativlos zu sein scheint und warum er<br />

selbst für Menschen, die sich seines zerstörerischen Charakters bewusst sind, unwi<strong>der</strong>stehlich<br />

bleibt, geht das Projekt als filmisches Reenactment von pro- und antikapitalistischer<br />

Kritik nach.<br />

Die Musik in Euphoria wurde von dem kanadischen Komponisten Samy Moussa komponiert,<br />

ergänzt von <strong>der</strong> britischen Komponistin Cassie Kinoshi. Der Musikteil <strong>der</strong> Filminstallation<br />

entstand in Zusammenarbeit mit dem Brooklyn Youth Chorus und fünf <strong>der</strong><br />

renommiertesten zeitgenössischen Jazzschlagzeuger unserer Zeit – Terri Lyne Carrington,<br />

Peter Erskine , Antonio Sánchez, Eric Harland und Yissy García.<br />

Euphoria is the long-awaited, new, multi-disciplinary, spatial film installation by the video<br />

artist and film-maker Julian Rosefeldt, who wowed <strong>Ruhrtriennale</strong> audiences in 2016 with<br />

Manifesto.<br />

His new work is a tour de force that runs through the history of economic theory. The<br />

project consists of original texts from famous economists, writers, philosophers and poets,<br />

and traces the 2,000-year history of human greed. He translates the complex history of<br />

the development of our neoliberal market economy into an accessible visual language<br />

through the combination of historical texts with familiar scenic representations, in which<br />

actors like Giancarlo Esposito and Virginia Newcomb appear as contemporary characters<br />

and Cate Blanchett provides the voice for a talking, singing tiger.<br />

The project pursues the question of why capitalism appears, until now, to have no alternative<br />

and why it remains irresistible, even to people who are aware of its destructive nature,<br />

as a filmic re-enactment of both pro-capitalist and capitalist-critical positions.<br />

The music in Euphoria was composed by the Canadian Samy Moussa. The British<br />

composer Cassie Kinoshi has also contributed one track. The music component of the<br />

project was created in collaboration with the Brooklyn Youth Chorus and five of the most<br />

famous jazz percussionists of our time – Terri Lyne Carrington, Steve Gadd, Antonio<br />

Sanchez, Eric Harland and Yissy García.<br />

Buch, Regie, Produktion<br />

Julian Rosefeldt<br />

Musik<br />

Samy Moussa<br />

Ausführen<strong>der</strong> Produzent<br />

Wassili Zygouris<br />

Ausführende Produzentinnen Kiew<br />

Anastasiya Bukovska<br />

Tatiana Kurmaz<br />

Family Production<br />

Ausführen<strong>der</strong> Produzent New York<br />

Christian Detres<br />

See The Tree Productions<br />

Ausführende Produzentin Sofia<br />

Konstantina Manolova, Solent Film<br />

Künstlerischer Chefproduzent<br />

Park Avenue Armory, New York<br />

Michael Lonergan<br />

Kamera Christoph Krauss<br />

Szenenbild Nadja Götze<br />

Kostümbild<br />

Daniela Backes<br />

Bina Daigeler<br />

Maskenbild Julia Böhm, Katharina<br />

Thieme, Sonia Salazar Delgado<br />

Ton David Hilgers, Oliver<br />

Göbel, Ludwig Fiedler<br />

Sound Design Thomas Appel<br />

Schnitt Bobby Good<br />

Dramaturgie<br />

Tobias Staab<br />

Textcollagen<br />

Julian Rosefeldt<br />

Tobias Staab<br />

Dramaturgische Beratung<br />

Janaina Pessoa<br />

Regieassistenz<br />

Denis Sonin<br />

Ires Jung<br />

Musikalische Konzeption<br />

Julian Rosefeldt<br />

Komposition<br />

Samy Moussa<br />

Ergänzende Komposition<br />

Cassie Kinoshi<br />

Leiterin Brooklyn Youth Chorus<br />

Dianne Berkun Menaker<br />

Musikproduktion<br />

Ed Williams<br />

Dianne Berkun Menaker<br />

Tonmeister Musikaufnahmen<br />

Isaiah Abolin<br />

Halle 5, Welterbe Zollverein,<br />

Essen<br />

Uraufführung<br />

Eröffnung<br />

Do 25. August____________________ 18.00 Uhr<br />

Laufzeit<br />

25. August – 10. September<br />

Öffnungszeiten:<br />

Mo. – So.: 12:00 – 19:30 Uhr<br />

Tickets: 12 €, ermäßigt 6 €<br />

In englischer Sprache mit<br />

deutschen Untertiteln<br />

Ein Auftragswerk und eine<br />

Produktion von Park Avenue<br />

Armory.<br />

Gemeinsam in Auftrag gegeben<br />

von <strong>Ruhrtriennale</strong>, Holland<br />

Festival und Rising Melbourne,<br />

in Kooperation mit<br />

Weltkulturerbe Völklinger Hütte.<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die<br />

Kunststiftung NRW.<br />

Mit<br />

Giancarlo Esposito, Virginia<br />

Newcomb, Ayesha Jordan, Kate<br />

Strong, Jeff Wood, Erik Hansen,<br />

Tim Williams, Jeff Burrell, Robert<br />

Bronzi, Ricio Rodriguez-Inniss,<br />

Dora Zygouri, Esther Odumade,<br />

Tia Murrell, Asa Ali, Luis Rosefeldt<br />

und <strong>der</strong> Stimme von Cate Blanchett<br />

Und<br />

Terri Lyne Carrington, Peter<br />

Erskine, Yissy García, Eric<br />

Harland, Antonio Sanchez<br />

und den Sänger:innen des<br />

Brooklyn Youth Chorus<br />

www.ruhr3.com/euphoria<br />

37


HILLBROW–<br />

FICATION<br />

CONSTANZA<br />

MACRAS<br />

DORKYPARK<br />

Tanz<br />

Für alle ab 12 Jahren<br />

Die Zukunft im Rücken<br />

→ Magazin, Seite 176<br />

38


21 Kin<strong>der</strong> und Jugendliche aus Hillbrow, einem Viertel in Johannesburg, entwerfen mögliche<br />

und unmögliche Zukunftsszenarien für ihren Stadtteil und seine Bewohner:innen.<br />

Hillbrow, ursprünglich als Vorzeigestadtteil geplant, ist mittlerweile berüchtigt für Armut<br />

und Korruption. Auf <strong>der</strong> Bühne ertanzen die Performer:innen Szenen über »das Hillbrow<br />

<strong>der</strong> Zukunft«. Wie sollte dieses Zusammenleben im Viertel in einer idealen Zukunft aussehen?<br />

Es entstehen Utopien und Dystopien von Ghettoisierung und Gentrifizierung.<br />

Aliens kommen auf die Erde und etablieren eine neue soziale Ordnung: Wer gut tanzen<br />

kann, hat das Sagen. Eine revolutionäre Prinzessin mit unendlich vielen Namen hat die<br />

Gabe, die Parameter von Zeit und Raum zu verän<strong>der</strong>n. Menschen haben gelernt, wie<br />

man vom Boden hochfe<strong>der</strong>t, anstatt sich mit kaputten Fahrstühlen herumzuschlagen.<br />

Die Performer:innen verhandeln Rassismus und Gewalt, die sie täglich erleben, und unterlaufen<br />

stereotype Narrative. Die unter Leitung <strong>der</strong> Choreografin Constanza Macras<br />

entstandene Arbeit fasziniert durch die ansteckende Energie und hinterfragt auf humorvolle<br />

Weise unseren Blick auf die Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

21 children and young people from Hillbrow, a district of Johannesburg, outline possible<br />

and impossible scenarios for the future of their district and its inhabitants. Hillbrow, originally<br />

planned as a model development, is now infamous for its poverty and corruption.<br />

On stage the performers dance scenes about »the Hillbrow of the future«. What might<br />

a life together in the district look like in an ideal future? We see utopias and dystopias<br />

of ghettoisation and gentrification. Aliens land on earth and establish a new social<br />

hierarchy where good dancers call the shots. A revolutionary princess with an endless<br />

name has the gift of shifting the parameters of space and time. People have learned to<br />

levitate off the ground instead of struggling with broken elevators. They deal with the<br />

racism and violence they experience daily and subvert stereotypical narratives. The work,<br />

created un<strong>der</strong> the guidance of choreographer Constanza Macras, fascinates due to the<br />

infectious energy of its performers and humorously challenges our view of how the world<br />

operates.<br />

Regie, Choreografie<br />

Constanza Macras<br />

Lisi Estarás<br />

Dramaturgie<br />

Tamara Saphir<br />

Kostüme<br />

Roman Handt<br />

Kostüme, Requisite<br />

Marcus Barros Cardoso<br />

Licht Design, Technischer Entwurf<br />

Sergio de Carvalho Pessanha<br />

Sound Design<br />

Stephan Wöhrmann<br />

Regieassistenz<br />

Mica Heilmann<br />

Tour Management<br />

Marie Glassl<br />

Xiao Yu<br />

Produktionsassistenz<br />

Johannesburg<br />

Linda Michael Mkhwanazi<br />

Internationaler Vertrieb<br />

Plan B – Creative Agency for<br />

Performing Arts Hamburg<br />

Mit<br />

Miki Shoji<br />

Emil Bordás<br />

John Sithole<br />

Zibusiso Dube<br />

Bigboy Ndlovu<br />

Nompilo Hadebe<br />

Rendani Dlamini<br />

Brandon Magengelele<br />

Tshepang Lebelo<br />

Jackson Mogotlane<br />

Bongani Mangena<br />

Karabo Kgatle<br />

Sandile Mtembo<br />

Vusi Magoro<br />

Amahle Mene<br />

Thato Ndlovu<br />

Simiso Msimango<br />

Blessing Opoku<br />

Pearl Segkagwa<br />

Ukho Somadlaka<br />

Lwandile Thabede<br />

Gebläsehalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Do 25. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Fr 26. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 27. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 90min<br />

Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

In englischer Sprache mit<br />

deutschen Übertiteln<br />

Eine Produktion von Constanza<br />

Macras | Dorkypark und<br />

Outreach Foundation’s Hillbrow<br />

Theatre Project.<br />

Koproduziert mit dem Maxim<br />

Gorki Theater Berlin.<br />

www.ruhr3.com/macras<br />

39


SCHWERKRAFT UND GNADE<br />

CHORWERK RUHR<br />

BOCHUMER SYMPHONIKER<br />

FLORIAN HELGATH<br />

Konzert<br />

IGOR STRAWINSKY<br />

Ave Maria (1934)<br />

LILI BOULANGER<br />

Ils m’ont assez opprimé dès ma jeunesse – Psaume 129 (1916)<br />

IGOR STRAWINSKY<br />

Pater noster (1949)<br />

LILI BOULANGER<br />

Du fond de l’abîme – Psaume 130 (1917)<br />

FRANCIS POULENC<br />

Stabat Mater (1950)<br />

LILI BOULANGER<br />

Vieille prière bouddhique (1917)<br />

Sopran<br />

Sheva Tehoval<br />

Mezzosopran<br />

Hasti Molavian<br />

Tenor<br />

Timo Schabel<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Bochumer Symphoniker<br />

Musikalische Leitung<br />

Florian Helgath<br />

40


Schwerkraft und Gnade hat die französische Philosophin Simone Weil als die beiden<br />

weltbeherrschenden Kräfte erkannt, denen die Seele unterworfen ist. Dieses Weltwissen<br />

macht sie zu Lili Boulangers Schwester im Geiste. Die Psalmvertonungen <strong>der</strong><br />

außergewöhnlich visionären, jung verstorbenen Komponistin verleihen <strong>der</strong> kollektiven Krise<br />

des Volkes Jahwes Ausdruck. Unerschrocken lässt sie den Klagechor in die brodelnde<br />

Tiefe stürzen, um »nach oben zu fallen«, ins Licht. Dazwischen bieten zwei schlichte,<br />

innige Motetten Igor Strawinskys einen Ort des Trosts: Erst im Alter hat er sich dem<br />

Gebet zugewandt. Während im Ave Maria und im Pater noster die mütterliche und die<br />

väterliche Instanz angerufen werden, zeigt Francis Poulenc die Gottesmutter im Moment<br />

<strong>der</strong> größten Schwäche. Doch »keine Poesie […] ist echt, wenn sie die Ermüdung ausschließt«<br />

(Simone Weil). In Boulangers Vieille prière bouddhique überwindet die menschliche<br />

Stimme den Schrecken <strong>der</strong> Zivilisation und die Sprache selbst. Die Utopie ist ein<br />

Staunen mit geschlossenem Mund.<br />

Gravity and grace were described by the French philosopher Simone Weil as the two<br />

forces that rule the world and to which the soul is subjugated. This knowledge makes her<br />

Lili Boulanger’s sister in spirit. The psalm settings of this extraordinarily visionary composer,<br />

who died young, give expression to the collective crisis of the people of Yahweh.<br />

She is unflinching in allowing the lamenting chorus to plunge into the simmering depths<br />

in or<strong>der</strong> to »fall upwards« into the light. Between them, two simple, heartfelt motets by<br />

Igor Stravinsky offer a place of consolation: he only turned to prayer in old age. While the<br />

Ave Maria and Pater noster appeal to maternal and paternal entities respectively, Francis<br />

Poulenc presents the Mother of God at her moment of greatest weakness. And yet »no<br />

poetry […] is authentic if fatigue does not figure therein« (Simone Weil). In Boulanger’s<br />

Vieille prière bouddhique (Old Buddhist prayer), the human voice overcomes the horrors<br />

of civilisation and language itself. Utopia is amazement with a closed mouth.<br />

Maschinenhalle Zweckel,<br />

Gladbeck<br />

Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Sa 27. August__________________ 20.00 Uhr<br />

So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />

Tickets: 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />

ermäßigt ab 11 €<br />

Eine Chorwerk Ruhr Produktion<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />

Die Veranstaltung wird vom WDR<br />

für den Hörfunk aufgezeichnet<br />

und zu einem späteren Zeitpunkt<br />

in WDR 3 Konzert gesendet.<br />

Dauer: ca. 1h 55min,<br />

eine Pause<br />

www.ruhr3.com/gnade<br />

41


COCK COCK…<br />

WHO’S THERE?<br />

SAMIRA ELAGOZ<br />

Performance / Film<br />

»Ist es nicht ein bisschen abgefuckt, jetzt ein Mann<br />

werden zu wollen?« – »Ist es nicht revolutionär?«<br />

→ Magazin, Seite 203<br />

42


Auf Einladung <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> wird Samira Elagoz Cock Cock … Who’s there? aus dem<br />

Jahr 2016 im Kontext seiner neuen Arbeit Seek Bromance erneut performen. Heute<br />

identifiziert sich <strong>der</strong> in Berlin lebende Filmemacher und Performancekünstler als transmaskulin<br />

und blickt durch die Wie<strong>der</strong>aufnahme zurück auf seine starke Femme-Vergangen<br />

heit. Der Ausgangspunkt dieser filmischen Performance ist die brutale Erfahrung<br />

sexueller Gewalt in einer intimen Beziehung, sowie die gesellschaftliche Sprachlosigkeit<br />

darüber. Samira Elagoz konfrontiert sich in einem lang angelegten sozialen Experiment<br />

mit heterosexuellen Cis-Männern, die er über Dating-Plattformen wie Chatroulette<br />

o<strong>der</strong> Tin<strong>der</strong> kennenlernt, um in einem klar abgesteckten Rahmen ihre Sicht sowohl auf<br />

sich selbst als auch auf Samira durch die Kameralinse einzufangen.<br />

Indem er eindeutige Opferzuschreibungen vermeidet, entlarvt Samira die gesellschaftliche<br />

Erwartungshaltung an Frauen, die sexuelle Traumaerfahrungen gemacht haben. Was<br />

lange vor #metoo bereits das Publikum polarisierte, ermöglicht die Analyse zwischengeschlechtlicher<br />

Beziehungen in ihrer ganzen Ambivalenz, jenseits <strong>der</strong> stereotypen<br />

Opfer-Täter-Dychotomie. Eine sehr persönliche und zugleich fast klinisch unpersönliche<br />

Arbeit. Gefilmt durch eine Linse, die zwischen zu nah und zu fern oszilliert und<br />

schonungslos gesellschaftliche Themen wie sexuelle Gewalt und den männlichen Blick<br />

aus weiblicher Perspektive offenlegt. Samira Elagoz verdichtet in einer beson<strong>der</strong>en<br />

szenischen Form, die Kino, Filmdokumentation und Performance gekonnt miteinan<strong>der</strong><br />

verbindet, drei Jahre Leben und die damit verbundene schmerzhafte wie humorvolle<br />

Erfahrung über drei Kontinente hinweg in einem 65 minütigen Film, den er durch seine<br />

Auftritte kontextualisiert.<br />

Text, Regie, Bearbeitung<br />

Samira Elagoz<br />

Beratung<br />

Jeanette Groenendaal<br />

Bruno Listopad<br />

Richard Sand<br />

Mit<br />

Samira Elagoz<br />

Ayumi Matsuda<br />

Tashi Iwaoka<br />

At the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s invitation, Samira Elagoz will perform his 2016 work Cock, Cock …<br />

Who’s There? again in the context of his new work Seek Bromance. Today the Berlin-based<br />

film-maker and performance artist identifies as transmasculine and uses this revival to<br />

look back on his high femme past. The starting point of this filmic performance is the<br />

brutal experience of sexual violence in an intimate relationship and society’s inability to<br />

talk about this. Samira Elagoz confronts himself in a long-term social experiment with<br />

cis-men that he meets on dating platforms such as Chatroulette and Tin<strong>der</strong>, in or<strong>der</strong><br />

to capture their views both of themselves and of Samira through the lens of a camera<br />

within a clearly defined framework.<br />

By avoiding being unambiguously defined as a victim, Samira exposes society’s expectations<br />

of women who have un<strong>der</strong>gone traumatic sexual experiences. What was already<br />

polarising audiences long before #metoo enables him to analyse inter-gen<strong>der</strong> relationships<br />

in all their ambivalence, beyond the stereotypical dichotomy of victim and perpetrator. This<br />

is a very personal and at the same time almost clinically impersonal work. Filmed through a<br />

lens that oscillates between being too close and too distant, it mercilessly lays bare social<br />

themes such as sexual violence and the male gaze from a female perspective. In a very<br />

special scenic form that skilfully combines cinema, film documentary and performance,<br />

Samira Elagoz condenses three years of his life across three continents and the painful<br />

and humorous experiences associated with them into a 65 minutes long film which he<br />

contextualizes by himself appearing on stage.<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />

Dauer: 65min<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

In englischer Sprache mit<br />

deutschen Untertiteln<br />

www.ruhr3.com/elagoz1<br />

43


SEEK BROMANCE<br />

SAMIRA ELAGOZ<br />

Performance / Film<br />

»Ist es nicht ein bisschen abgefuckt, jetzt ein Mann<br />

werden zu wollen?« – »Ist es nicht revolutionär?«<br />

→ Magazin, Seite 203<br />

44


Irgendwo zwischen Insta-Reality und Sci-Fi-Dystopie – eine Romanze zwischen zwei transmakulinen<br />

Künstler:innen am Ende <strong>der</strong> Welt. Die Bil<strong>der</strong>, die Samira Elagoz gemeinsam mit<br />

seinem/seiner Partner:in, dem/<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Schnittstelle von Poesie, Performance und<br />

Installation arbeitende/n Künstler:in Cade Moga, einfängt, dokumentieren auf radikal<br />

persönliche Art ihre unmögliche Liebe, vom ersten Kennenlernen bis zur endgültigen<br />

Trennung. Sie dokumentieren zugleich Samiras langen Abschied von seiner Femme-<br />

Identität und den Beginn einer Reise ins Ungewisse. Was als digitale Begegnung auf<br />

Facebook begann, wird zu einem fragilen Experiment in <strong>der</strong> Realität, als Samira in den<br />

Flieger nach L.A. steigt, um Cade zu besuchen. Drei Monate verbringen sie miteinan<strong>der</strong><br />

im Lockdown auf engstem Raum: zwei Fremde, zwei Suchende im Ringen umeinan<strong>der</strong>,<br />

im Ringen um die eigene Identität und schließlich im Scheitern an den binären Grenzen<br />

unserer Wahrnehmung. Eine schmerzhaft schöne, menschenleere Welt, als hätte ein<br />

Virus alles ausgelöscht. Bil<strong>der</strong> von betören<strong>der</strong> Schönheit, zugleich verstörende Zeugnisse<br />

einer zur Wüste gewordenen Welt. Gerade die Wüste ist ein Ort <strong>der</strong> Transformationen,<br />

ein Trans-Ort des Übergangs, wo nichts die Wahrnehmung ablenkt und gesellschaftliche<br />

Konventionen ihre Gültigkeit verlieren. Wir beobachten zwei Liebende, die sich in<br />

ihrer Sehnsucht einan<strong>der</strong> anverwandeln und in dieser Metamorphose zu etwas werden,<br />

für das es keine Begriffe mehr gibt. Was bleibt, sind leere Worte, Worte wie »Mann«<br />

und »Frau« – als bloße Relikte einer Vergangenheit. Seek Bromance, ein vierstündiges<br />

Feuerwerk <strong>der</strong> Eindrücke und Emotionen, das durch eine ausgeklügelte Dramaturgie<br />

bewusst mit Zuschauererwartungen spielt. Samira Elagoz wurde <strong>2022</strong> ausgezeichnet<br />

mit dem Silbernen Löwen <strong>der</strong> Biennale.<br />

Seek Bromance is a trans romance situated at the end of the world – somewhere between<br />

insta-reality and sci-fi dystopia. The images captured by Samira Elagoz, together with his<br />

collaborator Cade Moga, document their impossible love, from first encounter to decisive<br />

parting, in a radically personal way. At the same time, they also document Samira’s<br />

long farewell to his femme identity and the beginning of a journey into the unknown.<br />

What starts as a digital encounter on Facebook, turns into a fragile experiment in reality<br />

when Samira boards a flight to LA to visit Cade. They spend three months together in<br />

lockdown: two strangers, two seekers wrestling with each other, wrestling for their own<br />

identities and ultimately failing on the binary boundaries of our perceptions. A painfully<br />

beautiful world devoid of humanity, as if a virus had eradicated everything. Images of<br />

tantalising beauty and at the same time harrowing testimony of a world that has turned<br />

into a desert. The desert is the beginning of imagination, a transitional place of crossing,<br />

where nothing distracts perception and social conventions lose their validity. We observe<br />

two lovers who relate to each other through their desire and in this metamorphosis<br />

become something for which there are no longer any terms. What is left are empty<br />

words, words like »man« and »woman« – mere remnants of a past. Seek Bromance:<br />

a four-hour firework display of impressions and emotions whose ingenious dramaturgy<br />

deliberately plays with the perception of the audience. Samira Elagoz was awarded the<br />

Silver Lion at the Biennale.<br />

Regie und Konzept<br />

Samira Elagoz<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Cade Moga<br />

Filmmaterial<br />

Samira Elagoz<br />

Cade Moga<br />

Bearbeitung<br />

Samira Elagoz<br />

Beratung<br />

Bruno Listopad<br />

Antonia Steffens<br />

Beratung Bearbeitung<br />

Otto Rissanen<br />

Jessica Dunn Rovinelli<br />

Tiana Hemlock-Yensen<br />

Valerie Cole<br />

Michael Scerbo<br />

Daniel Donato<br />

Beratung Drehbuch<br />

Tiana Hemlock-Yensen<br />

Richard Sand<br />

Valerie Cole<br />

Beratung während <strong>der</strong><br />

Dreharbeiten<br />

Jeanette Groenendaal<br />

Management, Vertrieb<br />

Something Great<br />

Mit<br />

Samira Elagoz<br />

Cade Moga<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Sa 27. August____________________ 19.00 Uhr<br />

So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: 4h, eine Pause<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

In englischer Sprache mit<br />

deutschen Untertiteln<br />

Eine Produktion von SPRING<br />

Performing Arts Festival.<br />

Koproduziert mit Frascati,<br />

Kunstenwerkplaats Pianofabriek,<br />

Black Box Teater, BIT Teatergarasjen,<br />

Finish Cultural Institute<br />

Benelux, Arsenic.<br />

www.ruhr3.com/elagoz2<br />

45


YUEN SHAN<br />

MICHAEL RANTA<br />

SCHLAGQUARTETT<br />

KÖLN<br />

Konzert<br />

WMICHAEL RANTA<br />

Yuen Shan (1997–2014)<br />

Uraufführung des Gesamtzyklus mit Live-Schlagzeug<br />

Schlagquartett Köln<br />

Thomas Meixner<br />

Boris Müller<br />

Dirk Rothbrust<br />

Achim Seyler<br />

Klangregie<br />

Michael Ranta<br />

46


Michael Rantas Komposition für Schlagwerk und achtkanaliges Tonband ist eine<br />

musikalische Kosmologie, die vom Taoismus inspiriert ist. In vier rituellen Schritten<br />

vollzieht sich <strong>der</strong> menschliche Lebenszyklus von <strong>der</strong> Geburt bis zum Abschied, <strong>der</strong> mit<br />

dem Werden und Vergehen <strong>der</strong> Umwelt gleichgesetzt ist. Die Hörerfahrung ist übervoll<br />

– ein nuanciertes Kontinuum natürlicher Klänge. Sie verbindet Michael Rantas Hingabe<br />

an das fernöstliche Instrumentarium mit Mitteln <strong>der</strong> elektroakustischen Musik. Der<br />

ehemalige Assistent und Schüler von Harry Partch war erstmals 1970 mit Karlheinz<br />

Stock hausen zur Expo in Osaka auf den asiatischen Kontinent gekommen. Inspiriert von<br />

den asiatischen Kulturen blieb Ranta, um im Elektronischen Studio Tokyo zu arbeiten.<br />

1972 zog er weiter nach Taiwan, wo er unter an<strong>der</strong>em an <strong>der</strong> Taiwan National Arts<br />

Academy lehrte. Dort besuchte er täglich den Yuen Shan (»vollkommener Berg«), wo er<br />

sich in <strong>der</strong> Praxis des Tai-Chi übte. Über 30 Jahre liegen zwischen dem ersten Impuls<br />

und dem Abschluss des Werks 2014 in Köln.<br />

Die Einladung an das renommierte Schlagquartett Köln umfasst die Fortführung einer<br />

fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Ensemble, das sich<br />

und das üppige Instrumentarium mit gewohnter Experimentierfreude in ungewohnter<br />

Konzertaufstellung präsentiert.<br />

Michael Ranta’s composition Yuen Shan for percussion and eight-channel recorded<br />

sound is a musical universe that takes its inspiration from Taoism. The human life cycle<br />

is completed in four ritual steps, from birth to farewell, that equate to emergence and<br />

decay in the world around us. The listening experience is very dense – a nuanced continuum<br />

of natural sounds. This combines Michael Ranta’s commitment to East Asian<br />

instruments with the techniques of electro-acoustic music. The former assistant to and<br />

pupil of Harry Partch had visited Asia for the first time in 1970 with Karlheinz Stockhausen<br />

to perform at the Expo in Osaka. Ranta was so inspired by Asian cultures that he stayed<br />

on to work at the Electronic Studio in Tokyo. From there, he moved to Taiwan in 1972,<br />

where his activities included teaching at the Taiwan National Arts Academy. There, he<br />

would visit the Yuen Shan (»perfect mountain«) every day, where he would practise tai<br />

chi. More than 30 years elapsed between the initial idea for the work and its completion<br />

in Cologne in 2014.<br />

This invitation to the prestigious Schlagquartett Köln marks the continuation of a fruitful<br />

collaboration between the composer and the ensemble, which presents itself and<br />

its extensive range of instruments in an unusual concert configuration, with its usual<br />

enthusiasm for experimentation.<br />

Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />

Essen<br />

Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 1h 40min, ohne Pause<br />

www.ruhr3.com/yuen<br />

47


HAUS<br />

SARAH NEMTSOV<br />

HEINRICH HORWITZ<br />

ROSA WERNECKE<br />

Musiktheater<br />

Mein Traumhaus hat keine Wände … aber eine Heizung<br />

→ Magazin, Seite 207<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

48


Wie ein amputierter Wurmfortsatz aus einer an<strong>der</strong>en Zeit verharrt die Turbinenhalle im<br />

Bochumer Westpark. Die Produktionsstätte hat ihre ursprüngliche Funktion verloren<br />

und wird nun neu besetzt: Sarah Nemtsovs Instrumentalzyklus HAUS (2013–<strong>2022</strong>) zieht<br />

in den Raum ein, tastet seine Oberflächen und Innereien ab, baut Zimmer übereinan<strong>der</strong><br />

und verkriecht sich in einer Kammer, schlägt Fenster in die Imagination und findet<br />

die Tür nicht mehr. Solominiaturen und Ensemblestücke für Harfe, Flöte, Klarinette,<br />

Schlagzeug und elektroakustisches Instrumentarium schaffen ein mehrdimensionales<br />

Gebilde und verhandeln komplexe Zustände von Gemeinschaft, Vereinzelung und Kontaktlosigkeit.<br />

Die Regie- und Videoarbeit von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke<br />

spürt gespeicherten Gewalterfahrungen nach, reißt Altes ab, um Platz für die Keimzelle<br />

einer utopischen Neukonstruktion zu machen. Das Publikum durchmisst die installative<br />

Szene mit den eigenen Schritten, kann selbst Blickachsen und Bewegungstempo definieren,<br />

während die Raumkomposition die Sinne fortwährend in produktive Desorientierung<br />

versetzt. Queere Transformationsprozesse erfassen Körper wie Raum, machen<br />

schwindelig, pellen die Wände, um ihr Mauerwerk nach außen zu tragen: »Dies ist ein<br />

dunkles Haus, sehr groß. / Ich selbst habe es gebaut. / Zelle für Zelle aus einer stillen<br />

Ecke, / auf grauem Papier kauend, / Leimtropfen schwitzend, / pfeifend, mit den Ohren<br />

wackelnd, / die Gedanken an<strong>der</strong>swo.« Sylvia Plath<br />

The Turbinenhalle remains in Bochum’s Westpark, where it lies like a removed appendix.<br />

This production centre has lost its original purpose and now has new occupants:<br />

Sarah Nemtsov’s instrumental cycle HAUS (2013–<strong>2022</strong>) has moved into the space, felt its<br />

surfaces and innards, built »rooms« on top of each other and snuggled into a »garret«,<br />

put in windows to the imagination and can no longer find the »door«. Solo miniatures and<br />

ensemble pieces for harp, flute, clarinet, percussion and electro-acoustic instruments<br />

create a multi-dimensional structure and negotiate complex states of community, isolation<br />

and lack of contact. The direction and video work of Heinrich Horwitz and Rosa<br />

Wernecke trace memories of violent experiences, tearing down the old to create the nucleus<br />

for a new, utopian construction. The audience navigates this staged installation<br />

with its own steps and can select visual axes and speeds of movement to suit itself,<br />

while the spatial composition continually pushes the senses into a state of productive<br />

disorientation. Queer transformation processes seize both bodies and space, causing<br />

dizziness and peeling away the surface of the walls, exposing their brickwork: »This is a<br />

dark house, very big. / I made it myself, / Cell by cell from a quiet corner, / Chewing at the<br />

grey paper, / Oozing the glue drops, / Whistling, wiggling my ears, / Thinking of something<br />

else.« Sylvia Plath<br />

Komposition<br />

Sarah Nemtsov<br />

Regie, Raum<br />

Heinrich Horwitz<br />

Raum, Video, Licht<br />

Rosa Wernecke<br />

Kostüme<br />

Magdalena Emmerig<br />

Sound Design<br />

Paul Jeukendrup<br />

Dramaturgie<br />

Johanna Danhauser<br />

Regie- und Bühnenbildassistenz<br />

Lina Gasenzer<br />

Inspizienz<br />

Lea Theus<br />

Performer:innen<br />

Synthesizer, Elektronik<br />

Sebastian Berweck<br />

Klarinette<br />

Laurent Bruttin<br />

Harfe<br />

Valeria Kafelnikov<br />

Flöte<br />

Susanne Peters<br />

Perkussion<br />

Jonathan Shapiro<br />

Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Szenische Uraufführung des<br />

Instrumentalzyklus<br />

Mi 31. August _________________ 20.00 Uhr<br />

Do 01. September _______ 20.00 Uhr<br />

Fr 02. September _______ 20.00 Uhr<br />

Sa 03. September _______ 20.00 Uhr<br />

So 04. September _______ 20.00 Uhr<br />

Mi 07. September _______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 37 €, ermäßigt 18,50 €<br />

Ohne Sprache<br />

Eine Produktion <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong><br />

Aufführungsrechte Musik:<br />

G. Ricordi & Co. Bühnen- und<br />

Musikverlag GmbH<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Rudolf Augstein Stiftung<br />

Dauer: ca. 90min<br />

www.ruhr3.com/haus<br />

49


FOLLOW ME<br />

BE FLAT<br />

Performance / Für 1.– 5. Klasse und Familien<br />

50


Wir bewegen uns auf angelegten Wegen durch die Welt, entlang vorgeschriebener und<br />

überlieferter Routen. Wir folgen Regeln, Verabredungen, Übereinkünften, angenommenen<br />

Gesetzmäßigkeiten. Aber sind Wege nicht häufig Umwege? Ist die Karte auf dem Handy<br />

zur Orientierung wirklich geeigneter als <strong>der</strong> Ausblick von einem Laternenmast? Und sind<br />

<strong>der</strong> aufrechte Gang o<strong>der</strong> das Sitzen in Verkehrsmitteln nicht ziemlich langweilig, um von<br />

A nach B zu kommen?<br />

Die beiden belgischen Parkour-Akrobaten Ward Mortier und Thomas Decaesstecker erkunden<br />

die Zeche Zollverein rund um das Salzlager abseits von ausgetretenen Pfaden.<br />

Sie stellen Naturgesetze und körperliche Grenzen auf den Kopf – im wahrsten Sinne des<br />

Wortes und darüber hinaus. Was eben noch die Regel war, ist plötzlich eine Frage.<br />

Im heute urbanen Raum <strong>der</strong> einstigen Industrieanlage wird das Publikum zu Mitspielenden,<br />

die Straßen werden zur Bühne, Fassaden zur Kulisse und das Pflaster zur Tanzfläche.<br />

Wenn jetzt noch ein Hund bellt o<strong>der</strong> ein Auto hupt …<br />

Als analoge Follower:innen, ausgestattet mit Campinghockern, gehen wir in <strong>der</strong> Parkour-<br />

Performance Follow me auf eine akrobatische und theatrale Reise durch alltägliche<br />

Situationen mit unerwarteten Momenten. Wie aktiv sich jede:r in die Aufführung einbringt,<br />

liegt im eigenen Ermessen. Als Gemeinschaft auf Zeit im Hier und Jetzt teilen wir<br />

ein Erlebnis und werden von absurden Situationen verleitet, dem öffentlichen Raum als<br />

kreative Spielwiese zu begegnen. Vielleicht über die Aufführung hinaus.<br />

Inszenierung / Artistik<br />

Ward Mortier<br />

Thomas Decaesstecker<br />

Dramaturgie<br />

Craig Weston<br />

Blick von Außen<br />

San<strong>der</strong> De Cuyper<br />

Schlagzeug<br />

Tars Van Der Vaerent<br />

We move through the world along established paths, using traditional, pre-set routes. We<br />

follow rules, agreements, conventions and accepted laws. But don’t paths often go the<br />

long way round? Is the map on your phone really a better way of working out where you<br />

are than the view from the top of a lamppost? And aren’t walking upright or sitting on<br />

public transport pretty boring ways of getting from A to B?<br />

The two Belgian parkour acrobats Ward Mortier and Thomas Decaesstecker go off the<br />

beaten track to explore Zeche Zollverein around the Salzlager. They turn the laws of<br />

nature and physical limits upside down – in the truest sense of the word and more. What<br />

was the rule is now suddenly a question.<br />

In today’s urban space of the former industrial complex, the public now become coperformers,<br />

the streets the stage, buildings the backdrop and the pavement the dance<br />

floor. And if a dog barks or a car honks right this moment …<br />

As analogue followers, equipped with camping stools, for the parkour performance<br />

Follow me, we go on an acrobatic and theatrical journey through everyday situations with<br />

unexpected moments. How actively everyone takes part in the performance is up to them<br />

to decide. As a temporary community in the here and now, we share an experience and<br />

are induced by absurd situations to encounter public spaces as a creative means of play.<br />

Perhaps beyond the performance.<br />

Außengelände Welterbe<br />

Zollverein, Essen<br />

Treffpunkt: Salzlager<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Fr 02. September__________ 11.00 Uhr<br />

Sa 03. September_________ 16.00 Uhr<br />

So 04. September_________ 16.00 Uhr<br />

Mo 05. September__________11.00 Uhr<br />

Di 06. September__________ 11.00 Uhr<br />

Tickets: 7 €, ermäßigt 3,50 €<br />

Informationen zu Tickets und<br />

Workshops für Schulen s. S. 74<br />

Ohne Sprache<br />

Eine Produktion von Be Flat VZW.<br />

Koproduziert mit Miramiro und<br />

<strong>der</strong> Vlaamse Gemeenschap.<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

durch die RAG-Stiftung<br />

Dauer: ca. 60min<br />

www.ruhr3.com/followme<br />

51


I AM 60<br />

WEN HUI<br />

Tanz / Performance / Film<br />

Wohin das Leben führt, da ist unser Tanz<br />

→ Magazin, Seite 188<br />

52


Der Körper als Archiv kollektiver Erinnerung: In ihrer neuesten Arbeit stellt die chinesische<br />

Choreografin, Tänzerin und Mitbegrün<strong>der</strong>in des legendären Living Dance Studios, Wen Hui<br />

Erfahrungen ihres Lebens als Frau Passagen aus den Stumm- und frühen Tonfilmen des<br />

Shanghai <strong>der</strong> 30er Jahre gegenüber. Diese hatten einen Aufbruch markiert, das herrschende<br />

konfuzianisch-patriarchale System kritisiert und soziale Probleme, Klassenkämpfe und<br />

Fragen <strong>der</strong> Geschlechtergerechtigkeit zu ihrem Gegenstand gemacht. Wen Hui lässt die<br />

Zeitachse sich krümmen und fragt, was von <strong>der</strong> Emanzipationsbewegung geblieben ist.<br />

Sind die gewonnen geglaubten Schlachten tatsächlich geschlagen? Vergangenheit und<br />

Gegenwart legen sich übereinan<strong>der</strong>, und die in den Körper eingeschriebenen Erfahrungen<br />

von Frauen verschiedener Generationen, Audio- und Videoaufnahmen, Texte, Bil<strong>der</strong> und<br />

mündliche Erzählungen verweben sich zu einer multimedialen dokumentarischen Solo-<br />

Performance von großer Intensität.<br />

The body as an archive of collective memory: in her latest work, the Chinese choreographer,<br />

dancer and co-foun<strong>der</strong> of the legendary Living Dance Studio, Wen Hui, contrasts her life<br />

as a woman with excerpts from the silent movies and early talkies of Shanghai in the<br />

30s. These marked a radical change, criticising the prevailing Confucian patriarchal system<br />

and commenting on social problems, class struggles and gen<strong>der</strong> equality. Wen Hui<br />

bends the axes of time and asks: what is left of this emancipation movement? Have the<br />

battles we thought had been won actually been won at all? Past and present are superimposed,<br />

and the physical experiences of women from different generations, audio and<br />

video recordings, texts, images and oral narratives are woven together into a multimedia,<br />

documentary, solo performance of remarkable intensity.<br />

Choreografie, Tanz<br />

Wen Hui<br />

Dramaturgie, Beratung<br />

Zhang Zhen<br />

Musik<br />

Wen Luyuan<br />

Video Design<br />

Rémi Crépeau<br />

Zou Xueping<br />

Licht Design<br />

Romain de Lagarde<br />

Bühnenbild<br />

Francisco Linares<br />

Verwaltung, Booking<br />

Damien Valette<br />

Koordination<br />

Louise Bailly<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Fr 02. September_______ 20.00 Uhr<br />

Sa 03. September_______ 20.00 Uhr<br />

So 04. September_________ 18.00 Uhr<br />

Dauer: 60min<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

In chinesischer Sprache mit<br />

deutschen und englischen<br />

Übertiteln<br />

Eine Produktion von Théâtre de<br />

la Ville, Living Dance Studio und<br />

Damien Valette Prod.<br />

Koproduziert mit Théâtre de la<br />

Ville / Festival d’automne à Paris.<br />

Veranstaltet von PACT Zollverein<br />

für die <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

www.ruhr3.com/sixty<br />

53


COFFIN BUBBLES<br />

YARON DEUTSCH<br />

ENSEMBLE LINEA<br />

YALDA ZAMANI<br />

Konzert<br />

CHAYA CZERNOWIN<br />

Knights of the strange (2015)<br />

RAPHAËL CENDO<br />

Coffin Bubbles Blue (2021)<br />

PIERLUIGI BILLONE<br />

Sgorgo Y (2012)<br />

E-Gitarre<br />

Yaron Deutsch<br />

Ensemble Linea<br />

Musikalische Leitung<br />

Yalda Zamani<br />

54


Für Rock, Blues und Jazz ist die E-Gitarre mehr als nur ein Instrument. Sie ist eine Ikone.<br />

Ihr Klang evoziert Gefühle von Freiheit, Jugend und Unbezwingbarkeit. Inzwischen hat<br />

sie auch in <strong>der</strong> Neuen Musik eine nicht mehr wegzudenkende Rolle eingenommen. Ihr<br />

assoziationsstarker Klang konfrontiert Komponist:innen mit neuen Möglichkeiten und<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen – nicht zuletzt wenn es darum geht, akustische und elektronische<br />

Sphären miteinan<strong>der</strong> zu vereinbaren. Wie grunddivers, lust- und fantasievoll diese<br />

Konfrontation ausfallen kann, zeigt <strong>der</strong> israelische E-Gitarren-Virtuose Yaron Deutsch<br />

mit drei Werken, die in den letzten zehn Jahren für ihn komponiert wurden.<br />

In Chaya Czernowins Knights of the strange geht sein Instrument eine langsam und<br />

traumartig sich vorantastende Verbindung mit dem Akkordeon ein. Raphaël Cendo spannt<br />

das hybride Klangnetz sogar über mehrere Epochen und Kulturen. Sein Concerto Coffin<br />

Bubbles Blue erkundet extravagante Legierungen zwischen E-Gitarre und Barocktheorbe,<br />

Zymbalom, <strong>der</strong> chinesischen Mundorgel Sheng o<strong>der</strong> <strong>der</strong> elektrischen Orgel. Fast obsessiv<br />

indessen fokussiert <strong>der</strong> Italiener Pierluigi Billone in Sgorgo Y ein mechanisches Detail<br />

<strong>der</strong> E-Gitarre, nimmt es unters Mikroskop, folgt seinem Sog wie in einem zenartigen<br />

Ritual. Und braucht dafür nichts als die linke Hand des Gitarristen.<br />

In blues, rock and jazz, the electric guitar is more than just an instrument. It is an icon.<br />

Its sound conjures up feelings of freedom, youth and invincibility. Now, it has also assumed<br />

an irreplaceable role in new music. Its powerfully associative sound confronts<br />

composers with new options and challenges – not least when it comes to uniting the<br />

acoustic and electronic spheres. How fundamentally different, joyful and imaginative<br />

this confrontation can be, is demonstrated by the Israeli electric-guitar virtuoso Yaron<br />

Deutsch, playing three works that have been composed for him in the last ten years.<br />

In Chaya Czernowin’s Knights of the strange, the instrument embarks on a slow and<br />

dreamily tentative union with the accordion. Raphaël Cendo even spans the net of hybrid<br />

sound across several epochs and cultures: His concerto Coffin Bubbles Blue explores<br />

extravagant amalgams between the electric guitar and instruments such as the Baroque<br />

theorbo, the cimbalom, the Chinese mouth organ Sheng and the electric organ. Meanwhile,<br />

in Sgorgo Y, the Italian Pierluigi Billone focuses almost obsessively on a mechanical<br />

detail of the electric guitar, places it un<strong>der</strong> microscopic inspection and follows its<br />

fascination in a Zen-like ritual. And to do this, all he requires is the guitarist’s left hand.<br />

Gebläsehalle,<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

Sa 03. September_______ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 60min<br />

www.ruhr3.com/bubbles<br />

55


CLOCK DIES<br />

ENSEMBLE<br />

MUSIKFABRIK<br />

BRAD LUBMAN<br />

Konzert<br />

GEORGE LEWIS<br />

Assemblage (2013)<br />

SARAH HENNIES<br />

Clock Dies (2021)<br />

Europäische Erstaufführung<br />

GEORGE LEWIS<br />

Tales of the Traveller (2016)<br />

Klarinette<br />

Carl Rosman<br />

Minimoog<br />

Ulrich Löffler<br />

Ensemble Musikfabrik<br />

Musikalische Leitung<br />

Brad Lubman<br />

56


Als Komponist, Musikwissenschaftler, Computermusik-Pionier und Posaunist ist George<br />

Lewis eine Legende <strong>der</strong> amerikanischen Neue-Musik-Szene. So kreativ wie kritisch,<br />

so philosophisch wie experimentell prägt er die musikalische Diskurslandschaft und<br />

schärft das Bewusstsein für die hegemonialen Strukturen, die bis heute das Musikleben<br />

bestimmen. Das breite Spektrum seiner Biografie spricht aus seinen Werken – und aus<br />

jedem an<strong>der</strong>s. In seiner rastlosen Komposition Assemblage rekombiniert er heterogenste<br />

musikalische Elemente, inspiriert von <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Assemblage in Wissenschafts- und<br />

Technologie studien wie in <strong>der</strong> Philosophie von u. a. Bruno Latour und Gilles Deleuze,<br />

und den Assemblage-Kunstwerken afroamerikanischer Künstler wie Noah Purifoy, John<br />

Outterbrldge und Betye Saar. In Tales of the Traveller wie<strong>der</strong>um bringt er einen minutiös<br />

auskomponierten Ensemblepart mit zwei improvisierten Soloparts (»The Travellers« – die<br />

Reisenden) in Einklang und schafft damit eine Art klangliche Nomadengeschichte.<br />

In scharfem Kontrast zu Lewis’ impulsiver Musik <strong>der</strong> unerwarteten Wendungen steht<br />

das meditativ sich entfaltende Stück Clock Dies <strong>der</strong> amerikanischen Postexperimental­<br />

Komponistin Sarah Hennies, in dem sie sich fragt, was passiert, wenn die biochemische<br />

Uhr im menschlichen Gehirn minimal aus dem Takt gerät. Mit George Lewis verbindet<br />

die um eine Generation jüngere Künstlerin aus Kentucky ein außergewöhnlich breites<br />

Aktions- und Beschäftigungsfeld, das neben Komposition, Improvisation und Schlagzeug<br />

auch die Bereiche Film und Performancekunst berührt. Ihr Interesse kreist um<br />

soziopolitische und psychologische Themen wie Psychoakustik o<strong>der</strong> Queer- und Transidentität.<br />

Taucht man in ihre scheinbar ruhige, flächige Musik ein, stößt man allerdings<br />

auch bei Sarah Hennies auf Unerwartetes: eine lebendige, zeitvergessene Klangstruktur<br />

voller winziger Impulse – Mikroregungen und -bewegungen des Hörens und Reagierens.<br />

As a composer, musicologist, pioneer of computer music and trombonist, George Lewis<br />

is a legend of the American new music scene. As creative as he is critical, as philosophical<br />

as he is experimental, the artist has helped shape the landscape of musical discourse<br />

and sharpened awareness of the hegemonic structures that continue to determine musical<br />

life. The broad spectrum of his career informs every one of his works – and differently<br />

for each one. In his restless composition Assemblage Lewis re-combines the most<br />

heterogenous musical ingredients, inspired by the concept of Assemblage in the context<br />

of scientific and technological studies as well as the philosophy of Bruno Latour<br />

and Gilles Deleuze, and by Assemblage artworks of African American artists like Noah<br />

Purifoy, John Outterbridge and Betye Saar. In Tales of the Traveller, he harmonises a<br />

composed ensemble part with two freely improvised solo parts (»The Travellers«), thus<br />

creating a kind of sonic nomad history.<br />

Contrasting starkly with Lewis’ impulsive music of unexpected turns, Clock Dies, by the<br />

young American post-experimental composer Sarah Hennies, unfolds in meditative fashion.<br />

In this piece she explores the question, what might happen when the biochemical<br />

circadian clock in the human brain experiences disruption. The artist, who is from Kentucky<br />

and is a generation younger than George Lewis, shares with him an extraordinary<br />

breadth of activity and engagement, which, in addition to composition, improvisation and<br />

percussion, includes the fields of film and performance art. Her interests revolve around<br />

socio-political and psychological themes, such as psycho-acoustics or queer and trans<br />

identity. Once we immerse ourselves in Sarah Hennies’ seemingly calm, even music, we<br />

also come across the unexpected in her work: a lively sound structure preserved in time,<br />

full of tiny impulses – micro stirrings and movements of hearing and reacting.<br />

Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />

Essen<br />

So 04. September_________ 18.00 Uhr<br />

Tickets: 42 / 32 / 22 €,<br />

ermäßigt ab 11 €<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

durch die RAG-Stiftung<br />

Dauer: ca. 1h 20min, ohne Pause<br />

www.ruhr3.com/clock<br />

57


WOLFGANG HILBIG —<br />

MONOLOG<br />

AUS EINIGEN TAGEN<br />

MEINES LEBENS<br />

CORINNA HARFOUCH<br />

FELIX KROLL<br />

CATHERINE STOYAN<br />

Literatur<br />

58


Corinna Harfouch begeisterte bereits 2021 das Publikum <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> mit ihrer<br />

vitalen Erzählkraft. Dieses Mal widmet sie sich, musikalisch begleitet von Felix Kroll und<br />

<strong>der</strong> Schauspielerin Catherine Stoyan, den Texten Wolfgang Hilbigs. Ein Monolith <strong>der</strong><br />

Literatur. Unverwechselbar, einzigartig! Der 2002 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete<br />

Lyriker, Romanautor und Essayist wäre dieses Jahr 81 Jahre alt geworden.<br />

Aufgewachsen in einer Bergarbeiterfamilie im thüringischen Meuselwitz lernte er nach<br />

kurzer Schulzeit den Beruf des Bohrwerkdrehers, arbeitete auf dem Braunkohletagebau,<br />

später als Heizer. Seine Erkundungsgänge durch die Landschaft <strong>der</strong> Seele suchen in <strong>der</strong><br />

deutschsprachigen Literatur ihresgleichen. Hilbig erzählt von Krieg und Diktatur, Leben<br />

und Tod, Alltag und Arbeitswelt einer sterbenden Industrieregion, von <strong>der</strong> verlorenen<br />

und doch endlich gefundenen Heimat, vor allem aber davon, wie ein Mensch, allen Verführungen<br />

und Bedrohungen zum Trotz, zu sich selbst findet. Es ist die Stimme eines<br />

Autors aus <strong>der</strong> Zwillingsregion des Ruhrgebiets im Osten Deutschlands, in dessen Leben<br />

sich das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mit all seinen Verwerfungen eingezeichnet hat.<br />

Mit<br />

Corinna Harfouch<br />

Catherine Stoyan<br />

Musik<br />

Felix Kroll<br />

Corinna Harfouch thrilled <strong>Ruhrtriennale</strong> audiences in 2021 with her vivid storytelling.<br />

This time, accompanied by music from Felix Kroll and the actor Catherine Stoyan, she<br />

will read the texts of Wolfgang Hilbig. A literary monolith. Unmistakeable and unique!<br />

The poet, novelist and essayist, winner of the Georg Büchner Prize in 2002, would have<br />

been 81 this year. Brought up in a mining family in Meuselwitz in Thuringia, after a brief<br />

education he trained as a lathe operator at a boring mill, worked at an open-cast lignite<br />

mine and later as a boilerman. His explorations of the landscape of the soul have yet to<br />

find their equal in German literature. Hilbig tells us about war and dictatorship, life and<br />

death, the everyday and working-day world of a dying industrial region, of a homeland<br />

that was lost and eventually found again, and, above all, about how someone, ignoring<br />

all temptations and threats, manages to find themselves. His is the voice of an author<br />

from the Ruhr’s twin region in the east of Germany, whose life was inscribed by all the<br />

upheavals of the 20th century.<br />

Maschinenhaus Essen<br />

Do 08. September _______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt 8,50 €<br />

Dauer: ca. 90min<br />

www.ruhr3.com/monolog<br />

59


PROMISE ME<br />

KABINET K<br />

& HETPALEIS<br />

Tanz<br />

Für 3.–6. Klasse und Erwachsene<br />

PROMISE ME<br />

→ Magazin, Seite 192<br />

60


Sie rennen durch den Raum, schreien, springen. Sie fallen von Wänden, beißen sich fest,<br />

zerreißen Klei<strong>der</strong>, werfen Steine und umarmen sich. Werden aufgefangen. Gehalten.<br />

Eingefangen. Abgeschüttelt. Gedreht. Sie sind wild, ungebremst, nicht unterzukriegen,<br />

waghalsig. Sie vertrauen einan<strong>der</strong> und testen die Grenzen des Möglichen aus. Immer<br />

wie<strong>der</strong>.<br />

Die Performer:innen – fünf Kin<strong>der</strong> und zwei Erwachsene – lassen keinen Moment <strong>der</strong><br />

Konfrontation aus. Angetrieben von <strong>der</strong> Livemusik einer E-Gitarre werfen sie sich mutig<br />

von einem Extrem in das nächste, lassen den Stillstand <strong>der</strong> vergangenen Monate hinter<br />

sich, dulden keine Gleichgültigkeit, riskieren alles in Zeiten, in denen die meisten<br />

nach Sicherheit suchen. promise me feiert die Sorglosigkeit – in all ihrer Brutalität und<br />

Schönheit. Erzählt von <strong>der</strong> Sehnsucht nach bedeutungsvollen Dingen. Aber auch von<br />

den Narben, die sie auf unserer Haut hinterlässt.<br />

Die belgische Tanzkompanie kabinet k <strong>der</strong> Choreograf:innen Joke Laureyns und Kwint<br />

Manshoven wird international hoch geschätzt für ihre beeindruckenden Arbeiten mit<br />

generationsübergreifenden Ensembles. Die Produktionen werden mit den mitwirkenden<br />

Kin<strong>der</strong>n in einem intensiven und gleichberechtigten Dialog entwickelt. Nach Monaten<br />

pandemiebedingter Einschränkungen und Absagen traf sich das Ensemble wie<strong>der</strong>. Aus<br />

Improvisationen und <strong>der</strong> Energie des Wie<strong>der</strong>sehens entstand promise me. Eine temporeiche,<br />

schonungslos physische, radikale und poetische Performance. Eine bewegende<br />

Hommage <strong>der</strong> Mutigen und Ungezähmten an die Lebensfreude. Ein berührendes Erlebnis<br />

für Kin<strong>der</strong> von acht bis zwölf Jahren und Erwachsene gleichermaßen.<br />

They run through the room, screaming, jumping. They fall from walls, bite each other, tear<br />

clothing, throw stones and hug each other. They are caught. Held. Captured. Shaken off.<br />

Spun around. They are wild, unstoppable, unable to be kept down. Reckless. They trust<br />

each other and test the limits of what is possible. Over and over.<br />

The five children and two adult performers leave out not a single moment of confrontation.<br />

Driven by the live music of an e-guitar, they throw themselves courageously from<br />

one extreme to the next, leave the stagnancy of the previous months behind them,<br />

tolerate no half-heartedness, and risk everything at a time when most people are looking<br />

for security. Promise me celebrates carefreeness, in all its brutality and beauty. It tells of<br />

the longing for meaningful things. But also of the scars this leaves on our skin.<br />

The Belgian dance company, kabinet k, led by choreographers Joke Laureyns and Kwint<br />

Manshoven, is internationally celebrated for its impressive work with multigenerational<br />

ensembles. After months of pandemic-related restrictions and cancellations, the company<br />

has reunited with a production. Promise me emerged from improvisation and the energy<br />

of the reunion. All of kabinet k’s productions are developed with children participating<br />

in an intense and equal dialogue. A fast-paced, relentlessly physical, radical and poetic<br />

performance. A moving tribute to the joy of life by the brave and untamed. A touching<br />

experience for kids aged 8–12 and adults alike.<br />

Choreografie<br />

Joke Laureyns<br />

Kwint Manshoven<br />

Komposition, Live Musik<br />

Thomas Devos<br />

Bühnenbild<br />

Kwint Manshoven<br />

Dirk de Hooghe<br />

Dramaturgie<br />

Mieke Versyp<br />

Koen Haagdorens<br />

Kostüme<br />

Valerie le Roy<br />

Licht Design<br />

Dirk de Hooghe<br />

Sound Design<br />

Karel Marynissen<br />

Produktionsleitung<br />

Marieke Cardinaels<br />

Kommunikation, Vertrieb<br />

Mieke Versyp<br />

Fotografie<br />

Kurt van <strong>der</strong> Elst<br />

Mit<br />

Ido Batash<br />

Ilena Deboeverie<br />

Téa Mahaux<br />

Zélie Mahaux<br />

Kwint Manshoven<br />

Juliette Spildooren<br />

Lili van den Bruel<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Fr 09. September__________ 11.00 Uhr<br />

Sa 10. September_________ 18.00 Uhr<br />

So 11. September_________ 15.00 Uhr<br />

Dauer: 65min<br />

Tickets: 17 / 12 €, ermäßigt 6 €<br />

Schulen für 5 € pro Person<br />

Ohne Sprache<br />

Informationen zu Tickets und<br />

Workshops für Schulen s. S. 74<br />

Eine Produktion von kabinet k<br />

& hetpaleis. Mit Unterstützung<br />

<strong>der</strong> flämischen Behörde, <strong>der</strong><br />

Stadt Gent und Tax Shelter <strong>der</strong><br />

belgi schen Regierung über<br />

Casa Kafka.<br />

Ab Januar 2023 fusionieren les<br />

ballets C de la B & kabinet k zu<br />

laGeste<br />

www.ruhr3.com/promise<br />

61


RESPUBLIKA<br />

ŁUKASZ TWARKOWSKI<br />

BOGUMIL MISALA<br />

JOANNA BEDNARCZYK<br />

FABIEN LÉDÉ<br />

LITHUANIAN<br />

NATIONAL DRAMA<br />

THEATRE<br />

Schauspiel / Rave<br />

RES<br />

→ Magazin, Seite 170<br />

62


Wie könnte sie aussehen, eine gerechtere Welt? Wie lässt sie sich gestalten, die umweltbewusstere,<br />

die friedliche Gesellschaft, die, die um die Leerstelle weiß, die in ihr klafft,<br />

und die die Konsequenzen zieht aus <strong>der</strong> Erkenntnis, dass die Idee <strong>der</strong> Freiheit sich nicht<br />

nur mit den individuellen Interessen, son<strong>der</strong>n mit dem Sozialen verbinden muss? Welche<br />

Geschichte von morgen lässt sich entwerfen? Wie gelingt Gemeinschaft allen <strong>der</strong>zeitigen<br />

Radikalisierungstendenzen zum Trotz?<br />

Das mehrsprachige Ensemble um den Regisseur, Videokünstler und Raver Łukasz<br />

Twarkowski hat sich einem Selbstversuch unterzogen. Für einige Wochen folgte es<br />

dem Vorbild früherer Aussteiger in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit, nahm sich aus dem<br />

Zeiten lauf, kappte den Alltag, zog sich in die litauischen Wäl<strong>der</strong> zurück und stellte sich<br />

den existenziellen Fragen, aber auch seiner Verzweiflung und Lust. Twarkowski begleitete<br />

diesen Prozess mit seiner Kamera und kreierte aus diesem Material gemeinsam mit <strong>der</strong><br />

Autorin Joanna Bednarczyk, dem bildenden Künstler Fabien Lédé, dem Komponisten<br />

Bogumil Misala, DJ SPECTRIBE, dem Choreografen Paweł Sakowicz und den Spieler:innen<br />

ein komplexes Gegenwartsbild mit all seinen gesellschaftlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen und<br />

individuellen Nöten. Für die Bühne entstand daraus eine sechsstündige Mockumentary,<br />

die Perspektiven aus Vergangenheit und Zukunft wählt, um unsere Zeit in den Blick zu<br />

bekommen.<br />

Techno, Film, Schauspiel und bildende Kunst verbinden sich an diesem Abend zu einer<br />

eigenen Welt. Das Publikum ist eingeladen, diese frei zu erkunden: zu kommen, zu gehen,<br />

zu beobachten, Teil von ihr zu werden, mit den Spieler:innen zu tanzen, zu essen, zu saunieren<br />

und mit ihnen über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Am Ende<br />

steht <strong>der</strong> Rave als Wi<strong>der</strong>stand gegen die Ohnmacht unserer Zeit.<br />

What might a fairer world look like? How can we create this more environmentally conscious,<br />

peaceful society that is aware of the gaping emptiness inside it and can draw<br />

its own conclusions from the realisation that the concept of freedom cannot be linked<br />

only to individual advancement but also social progress? What story of tomorrow might<br />

be created? How can community be achieved despite all the current moves towards<br />

radicalisation?<br />

Members of the multilingual ensemble around the director, video artist and raver Łukasz<br />

Twarkowski have conducted an experiment on themselves. For several weeks, they followed<br />

the example set by previous dropouts in human history, stepping away from course<br />

of time, cutting themselves off from everyday concerns, retreating into the forests of<br />

Lithuania and addressing existential questions, as well as their desperation and desires.<br />

Twarkowski followed this process with his camera, and from this material, together with<br />

the writer Joanna Bednarczyk, the visual artist Fabien Lédé, the composer Bogumil Misala,<br />

DJ SPECTRIBE, the choreographer Pawel Sakowicz and the performers, he created a<br />

complex picture of the present, with all its social challenges and individual needs. This<br />

has now yielded a six-hour mockumentary for the stage that selects perspectives from<br />

the past and the future in or<strong>der</strong> to view our own time.<br />

Techno, film, theatre, literature and the visual arts combine on this evening to form a<br />

world of their own. The public are invited to explore it as they wish: they may come and<br />

go, simply watch or become part of it, they can eat, dance or take a sauna with the actors<br />

and think about new forms of living together. In the end, the rave stands as an act of<br />

subcultural resistance against the impotence of our time.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Fr 09. September ___________19.00 Uhr<br />

Sa 10. September __________19.00 Uhr<br />

Do 15. September __________19.00 Uhr<br />

Fr 16. September ____________19.00 Uhr<br />

Sa 17. September ___________19.00 Uhr<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />

Jedes Ticket zu einer beliebigen<br />

Vorstellung von Respublika<br />

ist auch eine Einladung zu den<br />

Raves ab 23.00 Uhr an den<br />

an<strong>der</strong>en Vorstellungstagen<br />

(ausgenommen 17.09.).<br />

Eine Produktion des Lithuanian<br />

National Drama Theatre in<br />

Koproduktion mit den Münchner<br />

Kammerspielen.<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die Stiftung<br />

Mercator.<br />

Regie<br />

Łukasz Twarkowski<br />

Produktion<br />

Vidas Bizunevičius<br />

Text und Dramaturgie<br />

Joanna Bednarczyk<br />

Bühnenbild<br />

Fabien Lédé<br />

Video Design<br />

Karol Rakowski<br />

Adomas Gustainis<br />

Choreografie<br />

Paweł Sakowicz<br />

Komposition<br />

Bogumił Misala<br />

Kostüme<br />

Svenja Gassen<br />

Licht Design<br />

Julius Kuršys<br />

Dainius Urbonis<br />

Bühnentechnik<br />

Karolis Juknys<br />

Regieassistenz<br />

Eglė Švedkauskaitė<br />

Dramaturgieassistenz<br />

Simona Jurkuvėnaitė<br />

Bühnenbildassistenz<br />

Rokas Valiauga<br />

Kinematographie/Film<br />

Simonas Glinskis<br />

Sound Design<br />

Karolis Drėma,<br />

Adomas Koreniukas<br />

Lichttechnik<br />

Edvardas Osinskis<br />

Dainius Urbonis<br />

Videotechnik<br />

Adomas Gustainis<br />

Šarūnas Liudas Prišmontas Naglis<br />

Kamera<br />

Kristijonas Zakaras<br />

Ričard Žigis<br />

Schnitt<br />

Vytenis Kriščiūnas<br />

Produktionsassistenz<br />

Lukrecija Gužauskaitė<br />

Übersetzung<br />

Vyturys Jarutis<br />

Mit<br />

Diana Anevičiūtė<br />

Algirdas Dainavičius<br />

Jan Dravnel<br />

Airida Gintautaitė<br />

Ula Liagaitė<br />

Martynas Nedzinskas<br />

Valentinas Novopolskis<br />

Augustė Pociūtė<br />

Gediminas Rimeika<br />

Rytis Saladžius<br />

Rasa Samauolytė<br />

Nelė Savičenko<br />

Vainius Sodeika<br />

Komi Togbonou<br />

Dauer: 6h, 2 Pausen<br />

In litauischer, englischer und<br />

deutscher Sprache mit<br />

deutschen und englischen<br />

Übertiteln<br />

Geför<strong>der</strong>t durch die Stiftung<br />

<strong>der</strong> Sparkasse Bochum<br />

zur För<strong>der</strong>ung von Kultur und<br />

Wissenschaft.<br />

www.ruhr3.com/respublika<br />

63


TO COME<br />

(EXTENDED)<br />

METTE<br />

INGVARTSEN<br />

Tanz<br />

Freude als Form des Wi<strong>der</strong>stands<br />

→ Magazin, Seite 196<br />

64


Mette Ingvartsens Performance to come (extended) ist letzter Teil und Höhepunkt ihres<br />

Werkzyklus Red Pieces. In ihm hatte die dänische Choreografin systematisch das<br />

Zusammenspiel von privaten, öffentlichen und politischen Sphären von Sexualität<br />

erforscht. Kontaktarme Zeiten wie die unseren haben die Rolle von Berührungen, Begehren<br />

und Sexualität fundamental verän<strong>der</strong>t. Grund genug, diese ikonischen Arbeit noch einmal<br />

aufzusuchen.<br />

Ständig sind wir von Bil<strong>der</strong>n sexueller Körper umgeben. In Werbung, Internet, Kino, Zeitschriften<br />

– Medien aller Art – wird das Intime, das Erogene ausgestellt. Fleisch, Flüssigkeiten,<br />

Haut, Brüste und Ärsche gehören nicht mehr in die späten Stunden <strong>der</strong> dunklen<br />

Kaschemme um die Ecke, son<strong>der</strong>n sind zu alltäglichen Eindrücken geworden. Erotische<br />

Bil<strong>der</strong>, Texte und Geräusche wirken im öffentlichen Raum mittlerweile so aktiv wie<br />

hinter geschlossenen Schlafzimmertüren und haben unser Verhältnis zum Körperlichen<br />

verän<strong>der</strong>t.<br />

In to come (extended) experimentieren 15 Tänzer:innen mit kollektiven Formen <strong>der</strong> Lust<br />

und befragen sie auf ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen hin. Sie zerlegen die erotische<br />

Ordnung in ihre einzelnen Bestandteile, untersuchen sexuelle, orgiastische und<br />

soziale Ausdrucksformen, überdenken Mechanismen des Begehrens, erforschen, auf<br />

welch unterschiedliche Weisen Körper sich verbinden können und sich das Individuelle<br />

ins Kollektive auflöst.<br />

Today, in these contactless times of social distancing, the topics of pleasure, nudity, sexual<br />

representation and circulation seem as relevant as ever. Reason enough to re-present an<br />

iconographic performance on these themes.<br />

We are constantly surrounded by images of sexual bodies. Commercials, the internet,<br />

cinema, magazines – all kinds of media expose the intimate and the erogenous. Flesh,<br />

fluids, skin, tits and asses no longer belong to the late hours in a dark joint somewhere<br />

around the corner, but to our daily life impressions. Whether in public spaces or behind<br />

closed bedroom doors, erotic images, texts and sounds influence the way we move. The<br />

option to switch off the stimulation of our bodily desires no longer exists. Pleasure has<br />

become a must.<br />

to come (extended) explores indistinctions between private and public space with regard<br />

to sexual representation. In a performance that literally disrupts erotic or<strong>der</strong>s, a group of<br />

15 performers questions the notion of individual sexual freedom by working on orgiastic<br />

relations. The bodies of the performers merge into a collective group formation by making<br />

their surfaces indistinguishable from one another. Working directly on how bodies can<br />

physically connect, mechanisms of desire are rethought by experimenting with sexual,<br />

orgasmic and social expressions. The performance challenges the use of climactic and<br />

orgasmic structures in theatre by proposing extended states of pleasure, in which excitement<br />

is both excessively slowed down and energetically sped up. The enjoyment of<br />

abstract colours and shapes mixes with a sensation of rhythmic pulsing produced by<br />

sensual figures, while social structures come undone.<br />

With The Red Pieces (2014–2017), the Danish choreographer Mette Ingvartsen created<br />

a series of performances dedicated to discourse around sexuality and its historical connections<br />

to the public sphere. The series culminates with to come (extended), a group choreography<br />

piece for 15 dancers, elaborating on cyclic choreographic principles developed by<br />

Ingvartsen in 2005. Proposing that sexual practice is not only intimate and private but also<br />

something that structures social and political interactions, the performance experiments<br />

with public and collective forms of pleasure.<br />

Konzept, Choreografie<br />

Mette Ingvartsen<br />

Licht Design<br />

Basierend auf to come (2005),<br />

entwickelt und durchgeführt von<br />

Mette Ingvartsen<br />

Naiara Mendioroz Azkarate,<br />

Manon Santkin<br />

Jefta van Dinther<br />

Gabor Varga<br />

Licht Design<br />

Jens Sethzman<br />

Musikalische Arrangements<br />

Adrien Gentizon<br />

Basierend auf to come (2005)<br />

Musikalische Arrangements von<br />

Peter Lenaerts<br />

Bühnenbild<br />

Mette Ingvartsen<br />

Jens Sethzman<br />

Blaue Suits<br />

Jennifer Defays<br />

Dramaturgie<br />

Tom Engels<br />

Lindi Hop Trainer<br />

Jill De Muelenaere<br />

Clinton Stringer<br />

Technischer Direktor<br />

Hans Meijer<br />

Tontechnik<br />

Filip Vilhelmsson<br />

Produktionsassistenz<br />

Elisabeth Hirner<br />

Manon Haase<br />

Mit<br />

Thomas Bîrzan<br />

Johanna Chemnitz<br />

Katja Dreyer<br />

Bruno Freire<br />

Gemma Higginbotham<br />

Dolores Hulan<br />

Jacob Ingram-Dodd<br />

Maia Means<br />

Olivier Muller<br />

Calixto Neto<br />

Danny Neyman<br />

Norbert Pape<br />

Julia Rubies<br />

Manon Santkin<br />

Clinton Stringer<br />

Gebläsehalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Sa 10. September_______ 20.00 Uhr<br />

So 11. September_________ 18.00 Uhr<br />

Di 13. September_______ 20.00 Uhr<br />

Mi 14. September______ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 60min<br />

Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

Ohne Sprache<br />

Eine Produktion von<br />

Mette Ingvartsen und Great<br />

Investment. Koproduziert mit<br />

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,<br />

steirischer herbst<br />

festival, NEXT festival/<br />

Kunstencentrum BUDA, Festival<br />

d’Automne, Les Spectacles<br />

vivants – Centre Pompidou,<br />

Dansehallerne, CCN2 – Centre<br />

chorégraphique national de<br />

Grenoble, Dansens Hus, SPRING<br />

Performing Arts Festival,<br />

NEXT festival / le phénix scène<br />

nationale Valenciennes pole<br />

européen de création<br />

www.ruhr3.com/come<br />

65


VERGESSENE OPFER<br />

DUISBURGER<br />

PHILHARMONIKER<br />

ELENA SCHWARZ<br />

Konzert<br />

OLIVIER MESSIAEN<br />

Les offrandes oubliées (1930)<br />

GALINA USTWOLSKAJA<br />

Sinfonie Nr. 1 (1955)<br />

LUIGI NONO<br />

Composizione per orchestra No. 1 (1951)<br />

GALINA USTWOLSKAJA<br />

Sinfonie Nr. 3 ›Jesus Messias, errette uns!‹ (1983)<br />

FRANZ LISZT<br />

Von <strong>der</strong> Wiege bis zum Grabe (1881/82)<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

Männerstimme<br />

Alexan<strong>der</strong> Vassiliev<br />

Duisburger Philharmoniker<br />

Musikalische Leitung<br />

Elena Schwarz<br />

66


Ans Äußerste zu gehen heißt, jede Konsequenz zu tragen: Schmerz, Ausgrenzung, aber<br />

auch die Chance, ansonsten unzugängliche Sphären zu betreten. Im Extremfall bedeutet<br />

es den Tod – für den tschechischen Wi<strong>der</strong>standskämpfer Julius Fučík etwa, dem Luigi<br />

Nono in Compositione per orchestra No. 1 ein verstecktes Denkmal setzte.<br />

Radikal bis zur Selbstaufgabe ist die Musik von Galina Ustwolskaja. Den Vorgaben des<br />

Sozialistischen Realismus verweigerte sie sich so konsequent, dass sie in Kauf nahm,<br />

nur noch für die Schublade zu komponieren. In ihrer Sinfonie Nr. 1, die um die Ängste<br />

und Nöte eines Kindes in <strong>der</strong> kapitalistischen Großstadt kreist, hatte sie den hoffnungslosen<br />

Spagat zwischen Ideologie und Wahrheit noch versucht. In <strong>der</strong> Sinfonie Nr. 3 sind<br />

alle Konformitätsversuche begraben. Die Besetzung ist in extreme Höhen und Tiefen gespreizt.<br />

Die Mittellage bleibt stumm. Brachiale Spieltechniken treiben die Musiker:innen<br />

an ihre physischen Grenzen. Ihr Schmerz beginnt quasi metaphysisch zu klingen.<br />

Auch bei Olivier Messiaen wird Schmerz zu Klang. In seinen offrandes oubliées erinnert<br />

<strong>der</strong> Wegbereiter <strong>der</strong> Nachkriegsavantgarde und fanatische Katholik an die sündhaft vergessenen<br />

Opfer Christi. Schonungslos schlägt seine musikalische Inkarnation <strong>der</strong> Sünde<br />

in die schwebende sinfonische Meditation eine Schneise <strong>der</strong> Unruhe und Verstörung.<br />

Franz Liszt – einst Salon- und Tastenlöwe, später Priester in Askese – wählt für seine<br />

letzte sinfonische Dichtung Von <strong>der</strong> Wiege bis zum Grabe eine ähnlich kontraststarke<br />

Form, bei <strong>der</strong> sich Leben und Tod frontal gegenüberstehen. Was am Ende wie eine Rückkehr<br />

zur Wiege erscheint, erweist sich als abgeklärter Abschied von <strong>der</strong> traditionellen<br />

Harmonik – ein Schwellenübertritt in ein neues Zeitalter <strong>der</strong> Musikgeschichte, Jahre<br />

bevor Schönberg den systematischen Schritt in die Zwölftönigkeit unternimmt.<br />

To go to the very limit means accepting the consequences, whatever they are: pain,<br />

ostracism, but also the chance to enter otherwise inaccessible spheres. In the most<br />

extreme cases, it means death – as it did for the Czech resistance fighter Julius Fučík,<br />

whom Luigi Nono commemorated surreptitiously in his Composizione per orchestra No. 1.<br />

Galina Ustwolskaja’s music is radical to the point of self-abandonment. She rejected the<br />

principles of socialist realism so firmly that she accepted she would only ever compose<br />

for the drawer. In her First Symphony, which focuses on the fears and hardships of a<br />

child in a capitalist metropolis, she still attempted the hopeless balancing act between<br />

ideology and truth. In her Third Symphony, all efforts towards conformity have been<br />

buried. The instrumentation is split between extreme highs and lows. The middle register<br />

remains silent. Brutal playing techniques drive the players to their physical limits. Their<br />

pain begins to sound almost metaphysical.<br />

Pain also turns into sound for Olivier Messiaen: in Les offrandes oubliées (The Forgotten<br />

Offerings) the forerunner of the post-war avant-garde and fanatical Catholic reminds us<br />

of the sinfully forgotten sacrifices of Christ: his musical incarnation of sin cuts a merciless<br />

swathe of unrest and destruction through his wafting symphonic meditation.<br />

Franz Liszt – once a piano virtuoso and socialite, later an ascetic priest – chose a<br />

form similarly rich in contrast for his final symphonic poem Von <strong>der</strong> Wiege bis zum<br />

Grabe (From the Cradle to the Grave), in which life and death confront each other directly.<br />

What appears to be a return to the cradle at the end turns out to be a serene farewell to<br />

traditional harmonics – crossing a threshold to a new age in musical history, years before<br />

Schönberg codified this step in the twelve-tone system.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

So 11. September_________ 18.00 Uhr<br />

Di 13. September______ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 1h 45min, 1 Pause<br />

Tickets: 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />

ermäßigt ab 11 €<br />

Die Veranstaltung wird vom WDR<br />

für den Hörfunk aufgezeichnet<br />

und zu einem späteren Zeitpunkt<br />

in WDR 3 Konzert gesendet.<br />

www.ruhr3.com/vergessen<br />

67


UNA IMAGEN<br />

INTERIOR —<br />

EIN BILD AUS<br />

DEM INNEREN<br />

EL CONDE<br />

DE TORREFIEL<br />

Schauspiel<br />

Ein Bild mit 1000 Wörtern<br />

→ Magazin, Seite 181<br />

68


»Der Mangel an Vorstellungskraft ist <strong>der</strong> Anfang aller Gewalt« hieß es ihrer international<br />

gefeierten Inszenierung La Plaza. In ihrem neuen Projekt intensivieren El Conde de Torrefiel<br />

die Grundlagenforschung. Vor 15.000 Jahren hielten Menschen Bil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Höhle von<br />

Altamira fest. Die Menschen in Altamira gehörten zur Spezies des homo sapiens – wie wir.<br />

Ihr Wunsch nach Abstraktion, Poesie und Kunst wird oft als conditio humana beschrieben,<br />

doch was wenn Menschsein viel mehr <strong>der</strong> Wunsch nach Täuschung und Zerstörung ist?<br />

Una imagen interior ist eine poetische Übung, die eine Erotik <strong>der</strong> Fantasie als Alternative<br />

zu den Bil<strong>der</strong>n, die uns kontrollieren, vorschlägt. Seit über einem Jahr nähern sich El<br />

Conde de Torrefiel dazu in Vorstudien an: auf dem Santargangelo Festival in Italien lief,<br />

während ein Auto sie umkreiste, eine Schafherde durch das verwun<strong>der</strong>te Publikum in<br />

einer Open-Air-Lesung. Im zweiten Teil erklärten Taubstumme im Museum für Mo<strong>der</strong>ne<br />

Kunst MACBA in Barcelona Wort um Wort, bis sich daraus eine Geschichte entspann,<br />

und in Valencia formten Schauspieler:innen zu elektronischer Musik amorphe Formen<br />

aus einer überdimensionalen Plastikplane. Zuletzt stellten Architekturstudent:innen ein<br />

Totem her und zerstörten es anschließend auf <strong>der</strong> Bühne. Diese und mehr lose Fäden<br />

wird El Conde de Torrefiel in ihrer neuen Arbeit zusammenführen, die bei den Wiener<br />

Festwochen im Mai Premiere haben und anschließend die europäischen Festivals verwirren<br />

wird.<br />

»The lack of imagination is the beginning of all violence« was said in their internationally<br />

renowned performance La Plaza. In their new piece, El Conde de Torrefiel invest in fundamental<br />

research. 15.000 years ago, people manifested pictures in the cave of Altmira.<br />

The people in Altmira were homo sapiens – just like you. Their desire for abstraction,<br />

poetry and arts is often described as conditio humana, but what if being human was<br />

more than the desire for deception and destruction? Una imagen interior (An image from<br />

inside) is a poetic exercise that puts forward an eroticism of fantasy as an alternative<br />

to the images that control us. For over a year, El Conde de Torrefiel have been working<br />

towards this in pilot projects: at the Santarcangelo Festival in Italy, a herd of sheep<br />

ran among an amazed audience at an open-air performance while a car drove around<br />

them in circles. In the second section, at the MACBA Museum of Contemporary Art in<br />

Barcelona, deaf people presented one word at a time until a story was produced, and<br />

in Valencia female actors created amorphous shapes out of oversized plastic sheeting<br />

to electronic music. Most recently, architecture students constructed a totem and then<br />

destroyed it on stage. El Conde de Torrefiel will weave together these and other loose<br />

threads in their new work that will premiere at the Wiener Festwochen in May, before<br />

going on to confound audiences at a series of European festivals.<br />

Konzept und Gestaltung<br />

El Conde de Torrefiel in<br />

Zusammenarbeit mit den<br />

Performer:innen<br />

Regie<br />

Tanya Beyeler<br />

Pablo Gisbert<br />

Text<br />

Pablo Gisbert<br />

Bühnenbild, Kostüme<br />

Maria Alejandre<br />

Estel Cristià<br />

Skulpturen<br />

Mireia Donat Melús<br />

Roboter Design<br />

José Brotons Plà<br />

Licht Design<br />

Manoly Rubio García<br />

Sound Design<br />

Rebecca Para<br />

Bühnentechnik<br />

Miguel Pellejero<br />

Technische Direktion<br />

Isaac Torres<br />

Tontechnik<br />

Uriel Ireland<br />

Lichttechnik<br />

Roberto Baldinelli<br />

Übersetzung<br />

Martin Orti (DE)<br />

Nika Blazer (EN)<br />

Produktion, Administration<br />

Haizea Arrizabalaga<br />

Ausführen<strong>der</strong> Produzent<br />

CIELO DRIVE<br />

Vertrieb<br />

Caravan Production<br />

Mit<br />

Anaïs Doménech<br />

Julian Hackenberg<br />

Gloria March<br />

David Mallols<br />

Mauro Molina<br />

und lokalen Performer:innen<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Deutsche Erstaufführung<br />

Do 15. September______ 20.00 Uhr<br />

Fr 16. September______ 20.00 Uhr<br />

Sa 17. September______ 20.00 Uhr<br />

Tickets: 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

Text-Projektionen in deutscher<br />

und englischer Sprache<br />

Eine Produktion von El Conde<br />

de Torrefiel. Koproduziert mit<br />

Wiener Festwochen, Festival<br />

d’Avignon, Grec Festival, Conde<br />

Duque, Kunstenfestivaldesarts,<br />

Grütli – Centre de production<br />

et de diffusion des arts vivants,<br />

Festival delle Colline Torinesi,<br />

Points communs – Nouvelle<br />

Scène nationale de Cergy-<br />

Pontoise – Val d’Oise; Festival<br />

d’Automne und la Villette.<br />

www.ruhr3.com/imagen<br />

69


HARAWI<br />

OLIVIER MESSIAEN<br />

RACHAEL WILSON<br />

VIRGINIE DÉJOS<br />

Konzert<br />

OLIVIER MESSIAEN<br />

Harawi – Chant d’amour et de mort (1945)<br />

Der Klang des Unfassbaren<br />

→ Magazin, Seite 211<br />

Sopran<br />

Rachael Wilson<br />

Klavier<br />

Virginie Déjos<br />

Gestaltung Film<br />

Rachael Wilson<br />

An<strong>der</strong>son Matthew<br />

70


»Harawi« stammt aus <strong>der</strong> Quechua-Sprache <strong>der</strong> Andenregion und bezeichnet eine<br />

Form von Liebeslied, das mit dem Tod <strong>der</strong> Liebenden endet. Im Liebestod liegt die<br />

höchste Erfüllung <strong>der</strong> Liebe. Der Schritt über die Schwelle zum Tod macht sie erst<br />

vollkommen. Um den Liebestod kreist auch <strong>der</strong> Mythos von Tristan und Isolde, wie ihn<br />

Richard Wagner in seiner gleichnamigen Oper verarbeitet hat. Der französische Avantgardist<br />

Olivier Messiaen greift diese transzendente Idee auf und ergründet sie in seiner<br />

Tristan-Trilogie aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven – zum ersten Mal 1945 in<br />

seinem Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi, <strong>der</strong> den Untertitel Chant d’amour et de mort (Gesang von<br />

Liebe und Tod) trägt. Die Texte dazu stammen von Messiaen selbst. Es sind surreale,<br />

teilweise lautmalerische Gedichte von starker Sinnlichkeit und Symbolkraft, hauptsächlich<br />

in französischer Sprache. In Schlüsselmomenten jedoch greift Messiaen zu<br />

Quechua-Wörtern, weniger wegen <strong>der</strong>en Bedeutung als wegen des assoziationsstarken<br />

Klangs ihrer Silben. Vom aufgeregten Warngeschrei <strong>der</strong> Affen (pia pia pia pia pia) bis<br />

hin zum hypnotisierenden Klingeln von Piroutchas Fußkettchen beim Tanz (Doundou<br />

Tchil) – in oft absur<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung, Variation o<strong>der</strong> Spiegelung betritt Messiaen hier<br />

eine urtümlich direkte Ausdrucksebene, eine Art metaphysische Musik, die alle Verrücktheit,<br />

Verzweiflung, Macht und Ekstase einer alles verzehrenden Liebe beschwört,<br />

die ans Äußerste geht – und darüber hinaus.<br />

»Harawi« comes from the Quechua language of the Andes region and refers to a genre<br />

of love songs that culminate with the lovers’ deaths. The greatest fulfilment is in dying<br />

for love. Stepping over the threshold to death makes love complete. Dying of love also<br />

lies at the heart of the myth of Tristan and Isolde, as adapted by Richard Wagner in his<br />

opera of that name. In his Tristan trilogy, the French avant-garde composer Olivier Messiaen<br />

takes this transcendent idea and examines it from different prespectives – first, in<br />

1945, in his song cycle Harawi, which is subtitled Chant d’amour et de mort (Song of Love<br />

and Death). The lyrics were written by Messiaen himself. These are surreal, sometimes<br />

onomato poetic poems with strong sensuality and symbolism, written primarily in French.<br />

However, at key moments, Messiaen resorts to Quechua words, less for their meaning<br />

than for the associative sound of their syllables. From the excited warning cries of the<br />

apes (pia pia pia pia pia) to the hypnotic ring of Piroutcha’s ankle bracelet as she is<br />

dancing (Doundou Tchil), Messiaen, often using absurd repetition, variations or mirroring,<br />

enters a primeval and direct level of expression, a kind of metaphysical music conjuring<br />

up all the madness, desperation, power and ecstasy of an all-consuming love that goes<br />

to extremes - and beyond.<br />

Gebläsehalle, Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord<br />

Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />

ermäßigt ab 8,50 €<br />

Sa 17. September_______ 20.00 Uhr<br />

Dauer: ca. 70min<br />

www.ruhr3.com/harawi<br />

71


THE THIRD ROOM X<br />

RESPUBLIKA<br />

Rave<br />

»THE METRIC FOR REALNESS IS MOVING« — JULIANA HUXTABLE<br />

Je schrecklicher die Weltlage, umso besser die Party. Also<br />

lasst uns die letzte Nacht <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> gemeinsam<br />

durchtanzen, im kollektiven Rausch, eine kleine,<br />

utopische Gesellschaft auf Zeit, die alle einlädt, so zu<br />

kommen, wie sie sind: jenseits <strong>der</strong> Ideologien, gleich<br />

welchen Alters, gleich welcher Klasse, Hautfarbe und<br />

sexuellen Orientierung. Dazu haben wir in einer Kooperation<br />

mit dem Essener Kollektiv The Third Room ein internationales<br />

Line-up eingeladen, das neue Maßstäbe setzt.<br />

Es geht los mit Juliana Huxtable. Die multidisziplinäre Künstlerin,<br />

Performerin, Autorin und DJ verzaubert mit ihrem<br />

experimentellen Sound nicht nur Clubgänger:innen auf <strong>der</strong><br />

ganzen Welt, sie performte bereits im Whitney Museum o<strong>der</strong><br />

im MoMA PS1. Dann geht es weiter mit Nastia, die keiner<br />

Einführung bedarf. Die Ikone <strong>der</strong> Kiewer Technoszene ist<br />

eine <strong>der</strong> bekanntesten und international gefragtesten DJs<br />

unserer Zeit. Die Grün<strong>der</strong>in des legendären Labels Nechto<br />

wird back-to-back mit <strong>der</strong> aufstrebenden Daria Kolosova<br />

spielen – ein erprobtes Duo, das sich bereits seit 2015<br />

kennt und gemeinsam dazu beiträgt, dass die Kiewer<br />

Technoszene sich zu einem <strong>der</strong> Hotspots für elektronische<br />

Subkultur entwickelte. Im Anschluss betritt <strong>der</strong> renommierte<br />

Produzent und DJ Len Faki das Pult, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong><br />

von Figure SPC wird gefolgt von Marcel Dettmann. Beide<br />

sind Pioniere <strong>der</strong> elektronischen Clubmusik Musik und<br />

spielen bereits seit 2004 als Resident-DJs im Berghain.<br />

Marcel ist auch außerhalb des Clubkontexts ein facettenreicher<br />

Künstler und wirkte beispielsweise an <strong>der</strong> Produktion<br />

MASSE mit, einer Kooperation zwischen Berghain und<br />

Berliner Staatsballett.<br />

The worse the global situation, the better the party. So<br />

let’s dance through the last night of the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

<strong>2022</strong> together, in a collective frenzy; a small, utopian society,<br />

for a short while, that invites everyone to come as they are:<br />

beyond ideologies, no matter what class, race, age or sexual<br />

orientation. In cooperation with Essen-based collective The<br />

Third Room, we have invited an international line-up that<br />

sets new standards:<br />

It starts with Juliana Huxtable, the multidisciplinary artist,<br />

performer, writer and DJ, whose experimental sound not<br />

only enchants clubbers all around the world but also art<br />

aficionados – she has performed at both the Whitney<br />

Museum of American Art and MoMA PS1. Then it’s on to<br />

Nastia – icon of the Kyiv techno scene and one of the<br />

most famous and internationally sought-after DJs of our<br />

time. The foun<strong>der</strong> of the legendary Nechto label will play<br />

back to back with the up-and-coming Daria Kolosova.<br />

The two have known each other since 2015 and, together,<br />

have contributed to the Kyiv techno scene, making it one<br />

of the hotspots of electronic subculture. Afterwards, the<br />

renowned producer and DJ Len Faki will step up to the<br />

console. The foun<strong>der</strong> of Figure SPC will be followed by<br />

Marcel Dettmann. Both are pioneers of electronic music<br />

and have been playing as resident DJs at Berghain since<br />

2004. Marcel is also a multifaceted artist outside the club<br />

world and participated, for example, in the production<br />

MASSE – a collaboration between Berghain and the Berlin<br />

State Ballet.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Sa 17. September________ 23.00 Uhr<br />

Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />

72<br />

www.ruhr3.com/rave


FAREWELL<br />

THOMAS HOJSA<br />

Konzert<br />

Im Anschluss an die letzte Vorstellung von Respublika<br />

des Litauischen Nationaltheaters aus Vilnius tanzen die<br />

Besucher:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> in <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum in einem großen Rave durch die Nacht.<br />

Am frühen Sonntagmorgen empfängt <strong>der</strong> österreichische<br />

Komponist und Musiker Thomas Hojsa dann in <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />

unter freiem Himmel zu einem letzten musikalischen<br />

Gruß. Quer durch verschiedene Epochen und Stile<br />

erkundet er eine melancholisch-klangvolle Landschaft<br />

von Abschiedslie<strong>der</strong>n.<br />

Wer den Rave bis zuletzt durchgehalten hat, wird, neben<br />

einem kleinen Frühstück, belohnt mit einer stillen, melodiösen<br />

Reise, ausgehend von John Dowland über Franz<br />

Schubert bis zu k. d. lang und den Beatles.<br />

Following the final performance of Respublika by the Lithuanian<br />

National Theatre, the <strong>Ruhrtriennale</strong> audience can<br />

dance through the night at the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

at a giant rave.<br />

Then, early on Sunday morning, the Austrian composer and<br />

musician Thomas Hojsa will welcome them to the Pappelwaldkantine<br />

in the open air with a final musical greeting:<br />

criss-crossing a range of historical periods and styles, he<br />

will evoke a melancholy and tuneful landscape of songs<br />

of farewell.<br />

Anyone who has made it all the way through the rave will<br />

be rewarded, along with a small breakfast, with a quiet,<br />

melodic journey, starting with John Dowland and progressing<br />

through Franz Schubert to k.d. lang and The Beatles.<br />

Ins stille Land<br />

Ins stille Land!<br />

Wer leitet uns hinüber?<br />

Schon wölkt sich uns <strong>der</strong> Abendhimmel trüber,<br />

Und immer trümmervoller wird <strong>der</strong> Strand.<br />

Wer leitet uns mit sanfter Hand<br />

Hinüber! ach! hinüber,<br />

Ins stille Land?<br />

Ins stille Land!<br />

Zu euch, ihr freien Räume<br />

Für die Veredlung! zarte Morgenträume<br />

Der schönen Seelen! künft’gen Daseins Pfand.<br />

Wer treu des Lebens Kampf bestand,<br />

Trägt seiner Hoffnung Keime<br />

Ins stille Land.<br />

Ach Land! ach Land!<br />

Für alle Sturmbedrohten.<br />

Der mildeste von unsers Schicksals Boten<br />

Winkt uns, die Fackel umgewandt,<br />

Und leitet uns mit sanfter Hand<br />

Ins Land <strong>der</strong> grossen Toten,<br />

Ins stille Land.<br />

Freiherr Johann Gaudenz von Salis-Seewis<br />

To the Land of Rest<br />

To the land of rest!<br />

Who will lead us there?<br />

Already the evening sky grows darker with cloud,<br />

and the shore is ever more strewn with flotsam.<br />

Who will lead us gently by the hand<br />

across, ah, across<br />

to the land of rest?<br />

To the land of rest!<br />

To the free, ennobling spaces!<br />

Ten<strong>der</strong> morning dreams<br />

of fine souls! Pledge of a future life!<br />

He who faithfully won life’s battle<br />

carries the seeds of his hopes<br />

to the land of rest.<br />

O land<br />

for all those threatened by storms.<br />

The gentlest harbinger of our fate<br />

beckons us, brandishing a torch,<br />

and leads us gently by the hand<br />

to the land of the great dead,<br />

the land of rest.<br />

Translated by Richard Wigmore<br />

Pappelwaldkantine, Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

So 18. September_______ 08.00 Uhr<br />

Akkordeon, Gesang<br />

Thomas Hojsa<br />

ruhr3.com/farewell<br />

73


JUNGE TRIENNALE<br />

Die Junge Triennale begleitet das Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

mit künstlerischen Projekten und Workshops für<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche.<br />

Im Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> geht es für junges Publikum<br />

dieses Jahr bewegungsfreudig zu. Grundschüler:innen<br />

folgendem belgischen Parkour-Duo Be Flat bei Follow<br />

me (S. 50) über das Zollverein-Gelände. Das Tanzstück<br />

promise me (S. 60) lädt Kin<strong>der</strong> von acht bis zwölf Jahren<br />

und Erwachsene zu einem riskanten Fest <strong>der</strong> Lebenslust.<br />

Und alle ab 12 Jahren begegnen in Hillbrowfication (S. 38)<br />

21 Jugendlichen aus Johannesburg und ihren Zukunftsideen.<br />

SCHULEN<br />

Eine detaillierte Produktionsempfehlung für Schulen finden<br />

Sie auf unserer Internetseite.<br />

Für die Klassen 1–5 bieten wir anknüpfend an einen Vorstellungsbesuch<br />

von Follow me (S. 50) einen Parkour-Workshop<br />

an.<br />

Für die Jahrgänge 3–6 empfehlen wir, die vor- und nachbereitenden<br />

Workshops zu promise me (S. 60) wahrzunehmen,<br />

in denen wir uns vor dem Aufführungsbesuch kreativ<br />

und praktisch mit den Inhalten des Tanzstücks und mit<br />

körperlichen Ausdrucksformen beschäftigen und hinterher<br />

unsere Eindrücke künstlerisch verarbeiten.<br />

Vorbereitend auf das Projekt TEENS IN THE HOUSE II –<br />

Eine junge Residenz veranstalten wir Workshops in<br />

<strong>der</strong> Schule für Jugendliche ab 16 Jahren, in denen die<br />

Schüler:innen das Projekt kennenlernen und anschließend<br />

entscheiden, ob sie teilnehmen möchten.<br />

Gerne beraten wir Lehrkräfte zum gesamten Programm<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> und organisieren Workshops<br />

o<strong>der</strong> Gespräche zur Vor- bzw. Nachbereitung des Veranstaltungsbesuchs<br />

mit Schüler:innen o<strong>der</strong> dem Kollegium.<br />

Tickets für Schulen unter jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />

für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei pro<br />

Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen nach Verfügbarkeit.<br />

Ein Besuch <strong>der</strong> Performance Follow me kostet 3,50 € pro<br />

Person für Schüler:innen und begleitende Lehrkräfte.<br />

The Junge Triennale accompanies the <strong>Ruhrtriennale</strong> with<br />

artistic projects and workshops for kids and teens. The<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> programme will be full of movement for a<br />

young audience. Elementary school children will follow<br />

the Belgian parkour duo through the industrial complex in<br />

Follow me (p. 50). The dance piece promise me (p. 60)<br />

invites kids aged 8–12 and adults to a risky celebration of<br />

zest for life. And all kids aged 12 and ol<strong>der</strong> will encounter 21<br />

teens from Johannesburg and their ideas about the future in<br />

Hillbrowfication (p. 38).<br />

SCHOOLS<br />

We publish recommendations for schools on our website.<br />

For classes 1–5, following a performance visit of Follow me,<br />

we’ll offer a parkour workshop. (p. 50)<br />

For the 3rd–6th grades we recommend taking advantage<br />

of the pre- and post-performance workshops for promise<br />

me (p. 60), in which we’ll engage creatively and practically<br />

with the content of the dance piece and physical forms of<br />

expression before attending the performance. Afterwards,<br />

we’ll process our impressions artistically. In preparation of<br />

the project TEENS IN THE HOUSE II – a young residence,<br />

we’ll arrange workshops in schools for those aged 16 or<br />

ol<strong>der</strong>, in which students get to know the project and ultimately<br />

decide if they want to participate. We’ll gladly advise<br />

teachers about the entire <strong>Ruhrtriennale</strong> programme <strong>2022</strong><br />

and organise workshops or talks with students or staff to<br />

prepare or follow up on their visit to the event.<br />

Tickets for schools un<strong>der</strong> jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Classes and schoolcourses of more than 10 people receive<br />

tickets for 5 € per student and per accompanying person<br />

(max. two per class/course) for all events subject to availability.<br />

A visit to the Performance Follow me costs € 3.50<br />

per person for students and accompanying teachers. The<br />

tickets are valid on the day of the event as a ticket for the<br />

return journey to the venue in the entire Verkehrsverbund<br />

Rhein-Ruhr (VRR).<br />

Die Eintrittskarten gelten am Tag <strong>der</strong> Veranstaltung als<br />

Fahrkarte für die Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />

im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).<br />

Mit freundlicher Unterstützung durch die RAG-Stiftung<br />

74<br />

www.ruhr3.com/teens


TEENS IN THE HOUSE II<br />

EINE JUNGE RESIDENZ<br />

Wenn nicht jetzt, wann dann? Bringt eure queeren Visionen<br />

in die Wie<strong>der</strong>belebung des gesellschaftlichen Miteinan<strong>der</strong>s<br />

ein, nachdem die Pandemie unser Zusammenleben durcheinan<strong>der</strong>gebracht<br />

hat!<br />

Bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021 haben zwölf Jugendliche Häuser<br />

gebaut und sind damit ins Festival eingezogen. In einer<br />

belebten Installation machten sie Festivalbesucher:innen<br />

auf die Diskriminierungserfahrungen von Frauen und ihre<br />

gesellschaftlichen For<strong>der</strong>ungen aufmerksam.<br />

Die zweite Ausgabe von TEENS IN THE HOUSE knüpft<br />

daran an. In Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zahlreichen Produktionen<br />

und Künstler:innen, die sich bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

<strong>2022</strong> mit gesellschaftlichen Visionen und Verän<strong>der</strong>ungsprozessen<br />

beschäftigen – speziell mit <strong>der</strong> namens verwandten<br />

Musiktheaterproduktion HAUS und den queer-femi nistischen<br />

Perspektiven des Produktionsteams – bauen wir in<br />

kreativen Workshops unsere eigene Utopie für ein Zusammenleben<br />

jenseits normierter Geschlechter bil<strong>der</strong>, Identitätszuschreibungen,<br />

Rollenverteilung etc. Dafür besuchen<br />

wir Proben, Aufführungen und Ausstellungen, treffen Künstler:innen<br />

und tauschen uns mit Expert:innen und Aktivist:innen<br />

aus.<br />

If not now, then when? Bring your queer visions to the revival<br />

of social gatherings, after the pandemic messed up our<br />

social co-existence!<br />

At the <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, twelve teens built houses and<br />

moved into them as part of the festival. In a lively installation,<br />

they drew the attention of festival visitors to women’s<br />

experiences of discrimination and their social demands.<br />

The second edition of TEENS IN THE HOUSE draws upon<br />

these themes. In the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>, we will engage<br />

with numerous productions and artists who deal with social<br />

visions and processes of change – especially with the music<br />

theatre production HAUS and the queer-feminist perspectives<br />

of the production team – and in creative workshops,<br />

we will build our own utopia for a co-existence beyond<br />

standardised gen<strong>der</strong> images, identity attributions, role distribution,<br />

etc. For this purpose, we will visit performances,<br />

productions and exhibitions, meet artists and exchange<br />

ideas with experts and activists.<br />

New participants wanted and welcome for the second<br />

edition of the residence!<br />

Neue Teilnehmende für die zweite Ausgabe <strong>der</strong> Residenz<br />

sind gesucht und willkommen!<br />

Essen, Bochum, Duisburg<br />

4.– 11. September<br />

ab 16 Jahren<br />

Anmeldung:<br />

jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />

Konzept und Projektleitung<br />

Anne Britting<br />

Projektmitarbeit<br />

Timo Kemp<br />

FSJ Kultur<br />

Alicia Ulfik<br />

Mit freundlicher Unterstützung<br />

durch die RAG-Stiftung<br />

Instagram: @jungetriennale<br />

75


PAPPELWALDKANTINE<br />

DEXTER RED<br />

Festivalzentrum<br />

Wir freuen uns, Sie auch in diesem Jahr im Pappelwäldchen<br />

vor <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>thalle mit allerhand<br />

regionalen und vegetarischen Köstlichkeiten bewirten<br />

zu dürfen. Schnappen Sie sich einen Drink, lassen Sie<br />

die Seele baumeln und seien Sie willkommen an diesem<br />

beson<strong>der</strong>en Ort, <strong>der</strong> von Dexter Red geschaffen wurde<br />

und an dem Sie gemeinsam mit den Künstler:innen, dem<br />

Festivalteam und hungrigen Vorbeispazierenden vor und<br />

nach den Veranstaltungen ins Gespräch über die gesammelten<br />

Eindrücke kommen können.<br />

This year we are happy to host you again in the legendary<br />

poplar grove, in front of the Bochum Jahrhun<strong>der</strong>thalle,<br />

where all kinds of regional and vegetarian delicacies will<br />

be served. Grab a drink, unwind and feel welcome in this<br />

special location created by Dexter Red. Here, you can get<br />

together with the artists, the festival team and hungry<br />

passers- by, and share your thoughts and experiences before<br />

or after the events.<br />

Pappelwald an <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />

Konzept, Design<br />

Dexter Red<br />

11. August – 18. September<br />

Eintritt frei<br />

Öffnungszeiten unter<br />

www.ruhr3.com/pappelwald<br />

76<br />

www.ruhr3.com/pappelwald


FESTIVALBIBLIOTHEK <strong>2022</strong><br />

Festivalzentrum<br />

Die Bibliothek wächst! Auch in diesem Jahr erreichen Gastgeschenke<br />

<strong>der</strong> eingeladenen Künstler:innen die <strong>Ruhrtriennale</strong>:<br />

Bücher, die sie geprägt und durch die schwierigen<br />

letzten Monate getragen haben. Einzusehen und gegen ein<br />

Pfand auszuleihen in <strong>der</strong> Pappelwald kantine auf dem Jahrhun<strong>der</strong>thallenvorplatz.<br />

The library is growing! Once again, the <strong>Ruhrtriennale</strong> has<br />

received gifts from the artists invited to the festival: books<br />

that have helped make them who they are and that have<br />

sustained them through the last difficult months. You can<br />

browse through them and borrow them if you leave a deposit<br />

at the Pappelwaldkantine in front of the Jahrhun<strong>der</strong>t halle.<br />

Mit Beiträgen von / With contributions by:<br />

Katja Aufleger, Lukas Bärfuss, Joanna Bednarczyk, Bibiana Beglau, Aljoscha Begrich,<br />

Caspar Brötzmann, Yaron Deutsch, Ulrike Draesner, Hermann Feuchter, Barbara Frey,<br />

Azadeh Ganjeh, Lütfiye Güzel, Corinna Harfouch, Dorothee Hartinger, Sabine Haupt,<br />

Sarah Hennies, Heinrich Horwitz, Sandra Hüller, Charlotte Hug, Wen Hui, Mette Ingvartsen,<br />

Andreas Karlaganis, Malakoff Kowalski, Joke Laureyns, Fabien Lédé, Mischa Leinkauf,<br />

Ligia Lewis, Ula Liagaité, An<strong>der</strong>son Matthew, Susanne Maier-Staufen,Sarah Nemtsov,<br />

Valentinus Novopolskij, Luisa Pardo, Michael Pelzel, Dexter Red, Lázaro Rodríguez,<br />

Lisandro Rodríguez, Julian Rosefeldt, Sarah Sandeh, Rytis Saladzius, Vainius Sodeiku,<br />

Klaus Staeck, Mats Staub, Elisabeth Stöppler, Łukasz Twarkowski, Rachael Wilson,<br />

Angela Winkler, Martin Zehetgruber u.v.m. / and many more<br />

In <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />

11. August – 18. September<br />

Eintritt frei<br />

Öffnungszeiten unter<br />

www.ruhr3.com/bib<br />

www.ruhr3.com/bib<br />

77


FESTIVALCAMPUS<br />

Seit 2012 ist <strong>der</strong> Festivalcampus ein fester Bestandteil<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Auch in <strong>der</strong> zweiten Ausgabe von<br />

Barbara Frey kommen wie<strong>der</strong> internationale Studierende<br />

aus verschiedenen künstlerischen und kulturtheoretischen<br />

Disziplinen aus Polen, Kroatien, Norwegen, Schweiz, Irland,<br />

Deutschland, Dänemark zusammen. Das Campusprogramm<br />

wird von Carla Gesthuisen und Philipp Schulte<br />

in enger Zusammenarbeit mit den Lehrenden <strong>der</strong> Partnerhochschulen<br />

konzipiert und setzt sich im Rahmen eines<br />

viel seitigen Seminar- und Workshopprogramms mit dem<br />

Festival programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> auseinan<strong>der</strong>.<br />

An drei verschiedenen Wochenenden bekommen die Workshopgruppen<br />

die Möglichkeit, Einblicke in die Arbeitsweisen<br />

<strong>der</strong> Festivalkünstler:innen zu gewinnen und in<br />

einen lebendigen Diskurs zu treten. Dabei entsteht ein<br />

enger Austausch mit den Künstler:innen, dem Team <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> sowie untereinan<strong>der</strong>. Die gemeinsamen Erfahrungen<br />

und die kritischen Reflexionen darüber bilden<br />

die Grundlage für eine lebendige und gesellschaftlich<br />

relevante künstlerische und kulturelle Arbeit, bei <strong>der</strong> die<br />

Teilnehmer:innen und »Künstler:innen von morgen« Impulse<br />

an ihre Hochschulen und in ihre künftige Arbeit<br />

mitnehmen. Gemeinsam mit dem Festivalcampus ist die<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> ein Ort, an dem Austausch, Kritik und Diskussion<br />

stattfinden.<br />

The Festival Campus has been a regular part of the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

since 2012. In Barbara Frey’s second year as artistic<br />

director, international students from Poland, Croatia,<br />

Norway, Switzerland, Ireland, Germany and Denmark working<br />

in a range of disciplines in the arts and cultural theory<br />

will once again come together. The Campus programme is<br />

conceived by Carla Gethuisen and Philipp Schulte in close<br />

collaboration with the partner universities and explores<br />

the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s festival programme in a multi-faceted<br />

series of seminars and workshops.<br />

On three different weekends, workshop groups are given<br />

the opportunity to gain insights into the working methods<br />

of festival artists and take part in lively discussions. Here<br />

an exchange with the artists, the <strong>Ruhrtriennale</strong> team and<br />

within the group itself can take place. Their shared experiences<br />

and critical reflections form the basis for vivid<br />

and socially relevant artistic and cultural work, in which<br />

the participants and »artists of tomorrow« take ideas back<br />

to their universities and into their future projects. Alongside<br />

the Festival Campus, the <strong>Ruhrtriennale</strong> is a place for<br />

exchange, constructive criticism and discussion.<br />

Bochum<br />

Konzeption, Durchführung<br />

Carla Gesthuisen<br />

Dr. Philipp Schulte<br />

78<br />

www.ruhr3.com/campus


10. KULTURKONFERENZ RUHR<br />

INDUSTRIELLE KULTURLANDSCHAFT<br />

KULTURELLE IDENTITÄT UND<br />

TRANSFORMATIONEN DES RUHRGEBIETS<br />

In keiner an<strong>der</strong>en Region hat die schwerindustrielle Entwicklung<br />

zu so tiefgreifenden Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> räumlichen<br />

Umformung <strong>der</strong> Landschaft geführt wie im Ruhrgebiet.<br />

Die Dichte und die Vielfalt des industriellen Erbes<br />

aus historisch bedeutenden und architektonisch stilprägenden<br />

Gebäuden und Anlagen <strong>der</strong> Industrialisierung<br />

sind weltweit einzigartig. Dabei sind die Halden, Bauwerke<br />

und Denkmäler <strong>der</strong> Industriekultur selbst Orte <strong>der</strong> Transformation<br />

und kulturellen Reflexion. Heute stellen die Hinterlassenschaften<br />

<strong>der</strong> Industrialisierung mehr denn je die<br />

Fragen nach <strong>der</strong> Zukunftsfähigkeit <strong>der</strong> gesamten Region:<br />

Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit, soziale Sicherheit und<br />

Teilhabe, Digitalisierung <strong>der</strong> Arbeit und Migration.<br />

Welche ökologische, soziale und kulturelle Verantwortung<br />

ist dem industriellen Erbe eingeschrieben? Wie wird in einer<br />

Arbeitswelt, die von Individualisierung und Digitalisierung<br />

geprägt ist, sozialer und demokratischer Zusammenhalt<br />

geför<strong>der</strong>t? Wie kann sich die Region in die Zukunft entwickeln<br />

und zeitgleich ihr identitätsstiftendes, industrielles<br />

Erbe bewahren?<br />

Diesen Fragen widmet sich die 10. Kulturkonferenz Ruhr in<br />

Kooperation mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, die selbst seit 20 Jahren<br />

fest in <strong>der</strong> industriellen Kulturlandschaft verankert ist.<br />

Kulturschaffende, Protagonist:innen, Vertreter:innen von<br />

Institutionen und Gestalter:innen aus Kulturpolitik und<br />

Verwaltung sind eingeladen, gemeinsam über Perspektiven<br />

<strong>der</strong> Industriekultur zu diskutieren.<br />

In no other region has heavy industrial development led<br />

to such profound changes in the spatial transformation<br />

of the landscape as in the Ruhr region. The density and<br />

diversity of the industrial heritage of historically significant<br />

and architecturally style-defining buildings and industrial<br />

facilities are unique in the world. At the same time, the<br />

stockpiles, buildings and monuments of industrial culture<br />

are themselves places of transformation and cultural reflection.<br />

Today more than ever, the legacies of industrialisation<br />

pose questions about the future viability of the<br />

entire region: sustainability, climate justice, social security<br />

and participation, digitisation of labour and migration.<br />

What ecological, social and cultural responsibility is inscribed<br />

in industrial heritage? How is social and democratic<br />

cohesion promoted in a working world characterised by<br />

individualisation and digitalisation? How can the region<br />

develop into the future and at the same time preserve its<br />

identity-forming industrial heritage?<br />

These are the questions being addressed by the 10th Ruhr<br />

Cultural Conference in cooperation with the <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />

which has itself been firmly anchored in the industrial cultural<br />

landscape for 20 years. Creative artists, protagonists,<br />

representatives of institutions and designers from cultural<br />

policy and administration are invited to exchange their perspectives<br />

on industrial culture.<br />

Maschinenhalle Zeche Zollern,<br />

Dortmund<br />

8. September <strong>2022</strong><br />

10–18 Uhr<br />

Das Konferenzprogramm und<br />

alle Informa tionen zur Anmeldung<br />

werden ab August auf <strong>der</strong><br />

Web site <strong>der</strong> Kulturkonferenz<br />

Ruhr veröffentlicht.<br />

www.kulturkonferenz.rvr.ruhr<br />

Die 10. Kulturkonferenz Ruhr<br />

ist eine Veranstaltung des<br />

Regionalverbands Ruhr und<br />

des Ministeriums für Kultur<br />

und Wissenschaft des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen in Koopera -<br />

tion mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

79


WEGE<br />

ALJOSCHA BEGRICH<br />

DU-Landschaftspark<br />

Nord<br />

ALTES ZU NEUEM<br />

LEBEN ERWECKEN<br />

STEFAN SCHNEIDER<br />

EL EXTRANJERO<br />

LISANDRO RODRIGUEZ<br />

UNEARTH<br />

AZADEH GANJEH<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Begegnungskanten II<br />

→ Magazin, Seite 217<br />

12. August – 18. September<br />

Täglich zwischen Duisburg,<br />

Essen, Gelsenkirchen und<br />

Bochum<br />

Detaillierte Informationen zum<br />

Projekt und Downloadlinks zu<br />

den einzelnen Teilstrecken finden<br />

Sie auf www.ruhr3.com/wege<br />

Das Projekt ist kostenlos. Ein ­<br />

trittskarten für Veranstaltungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> gelten am Tag<br />

<strong>der</strong> Veranstaltung im gesamten<br />

Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />

(VRR) in allen Bussen und Nah ­<br />

verkehrszügen (2. Klasse)<br />

für Hin- und Rückfahrt zum bzw.<br />

vom Veranstaltungsort.<br />

Eine Auftragsarbeit <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> in Zusammenarbeit<br />

mit tehran re:public,<br />

RUHRORTER, Anna Kpok,<br />

loekenfranke, Stefan Schnei<strong>der</strong>,<br />

Lisandro Rodriguez, Azadeh<br />

Ganjeh, Largatijas tiradas al sol<br />

Je<strong>der</strong> Start- und Endpunkt ist<br />

mit einer Litfaßsäule markiert.<br />

12 August – 18 September<br />

Daily between Duisburg, Essen,<br />

Gelsenkirchen and Bochum<br />

Further information about the<br />

project, together with links to<br />

downloads for the individual<br />

sections of the journey, can be<br />

found at www.ruhr3.com/wege.<br />

The project is free of charge.<br />

Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events<br />

are valid on the day of the event<br />

on all buses and local trains<br />

(2nd class) to and from the<br />

venue in the entire Verkehrsverbund<br />

Rhein-Ruhr (VRR).<br />

Kettwig<br />

Every one of the start and finish<br />

points is marked with an<br />

advertising pillar.<br />

80


NATURBÜRO 1—7<br />

LOEKENFRANKE<br />

Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

Zeche<br />

Zollverein<br />

ACHTMAL BLINZELN<br />

ANNA KPOK<br />

ZWISCHENTAGE<br />

RUHRORTER<br />

Jahun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

INSIDE OUT<br />

TEHERAN RE:PUBLIC<br />

Bochum<br />

Hauptbahnhof<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

LOS VIENTOS<br />

LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />

Fahrrad / Bike<br />

Straßenbahn / Tram<br />

Zug / Train<br />

Zu Fuß / By foot<br />

Im Raum zwischen den Spielstätten <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> kann die Vielfalt des Ruhrgebiets<br />

durchstreift und erfahren werden. <strong>2022</strong> wird das bestehende Angebot um drei Werke erweitert.<br />

Künstler:innen aus Mexiko, Argentinien und dem Iran bespielen Routen im Ruhrgebiet<br />

und bringen Themen aus an<strong>der</strong>en Regionen <strong>der</strong> Welt, wo Natur ebenso radikal genutzt<br />

wird wie einst hier. Folgerichtig ist dieses Projekt auch ein ökologisches Experiment,<br />

welches versucht internationalen Austausch und nachhaltiges Produzieren zu verbinden<br />

indem keine:r <strong>der</strong> Künstler:innen ins Ruhrgebiet reiste. Wir laden alle ein, die entstandenen<br />

Werke in Verkehrsmitteln zwischen dem Bochumer Hauptbahnhof und dem<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord zu erleben, mal mit <strong>der</strong> Straßenbahn, <strong>der</strong> U-Bahn, dem<br />

Regionalexpress, mal zu Fuß o<strong>der</strong> mit dem Fahrrad.<br />

Konzept<br />

Aljoscha Begrich<br />

Mit<br />

Lagartijas Tiradas al Sol<br />

Azadeh Ganjeh<br />

Lisandro Rodriguez<br />

Stefan Schnei<strong>der</strong><br />

Anna Kpok<br />

loekenfranke<br />

RUHRORTER<br />

tehran re:public<br />

The extreme diversity of the Ruhr region can be explored and experienced in the spaces<br />

between the venues for the <strong>Ruhrtriennale</strong>. In <strong>2022</strong> these existing projects will be supplemented<br />

by three new works: artists from Mexico, Argentina and Iran will create performances<br />

for routes within the Ruhr region without ever having been here. Their artistic<br />

interventions will open up this hybrid landscape even further and introduce themes from<br />

other parts of the world where nature is being used just as radically now as it once was<br />

here. We invite everyone to experience the works that have been created on public transport<br />

between Bochum Hauptbahnhof and the Landschaftspark Duisburg-Nord, on trams,<br />

the U-Bahn, Regionalexpress trains, on foot or on bicycle.<br />

www.ruhr3.com/wege<br />

81


DU-Landschaftspark-<br />

Nord<br />

DU-Landschaftspark-<br />

Nord<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

ALTES ZU NEUEM<br />

LEBEN ERWECKEN<br />

STEFAN SCHNEIDER<br />

Regie und Sound Stefan Schnei<strong>der</strong><br />

Vielen Dank allen Gesprächspartner:innen in Kaßlerfeld, Ruhrort,<br />

Laar und Mei<strong>der</strong>ich<br />

Zwischen dem mo<strong>der</strong>nisierten Innenhafen und den Einfamilienhäusern<br />

in Laar stehen die Ruinen <strong>der</strong> Montanindustrie<br />

und die Kulissen des ersten Tatorts von Schimanski<br />

1981 in Ruhrort. Stefan Schnei<strong>der</strong> lädt ein zu einer<br />

Fahrradfahrt durch ein Duisburg des Dazwischen und<br />

macht es hörbar, indem an ausgewählten Orten kurze Gespräche<br />

darüber zu hören sind. Wie sehen die Menschen<br />

ihre Zukunft und die <strong>der</strong> Region?<br />

Between the mo<strong>der</strong>nised inland harbour and the detached<br />

houses in Laar stand the ruins of the coal and steel industry<br />

and the location in Ruhrort for the first ever Tatort with<br />

Schimanski, filmed in 1981. Stefan Schnei<strong>der</strong> invites you to<br />

take a cycle journey through a Duisburg that lies in between<br />

and makes it audible by listening to short conversations at<br />

selected places. How do the people see their future and<br />

that of the region?<br />

Fahrrad<br />

Duisburg Hauptbahnhof ↔ Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Dauer / Duration: 120 min<br />

Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone<br />

Ist kein eigenes Fahrrad vorhanden, so besteht die Möglichkeit,<br />

am jeweiligen Start- und Endpunkt ein Leihrad zu mieten. Dazu ist<br />

eine Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig. Die Ausleihe<br />

kostet ca. 8 €. Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit<br />

einem QR-Code gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks<br />

aufrufen können. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter<br />

ruhr3.com/schnei<strong>der</strong>-tracks.<br />

Required: bicycle, headphones, smartphone<br />

If no own bike is available, there is the possibility to rent a bike at the<br />

respective start and end points. For this, a registration at Nextbike /<br />

Metropolradruhr is necessary. The rental costs about 8 €. The individual<br />

listening stations are numbered and marked with a QR code with<br />

which you can call up the respective tracks. Alternatively, visit from<br />

12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/schnei<strong>der</strong>-tracks.<br />

EL EXTRANJERO —<br />

DER FREMDE<br />

LISANDRO<br />

RODRÍGUEZ<br />

Regie, Grafikdesign und Text Lisandro Rodríguez<br />

Künstlerische Mitarbeit und Dramaturgie Martín Seijo<br />

Der Fremde stellt Fragen, weil er verstehen will. Fragen,<br />

die den Weg zum Landschaftspark Duisburg-Nord säumen.<br />

Fragen über die Vergangenheit und die Zukunft <strong>der</strong> Region<br />

und <strong>der</strong> Arbeit, die sie geprägt hat, Fragen über das<br />

Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />

Macht und Natur. Und über die Beziehung des Ruhrgebiets<br />

und <strong>der</strong> Welt, denn Bergbau findet ja weiterhin statt, nur<br />

nicht mehr in Duisburg, son<strong>der</strong>n zum Beispiel in Südamerika,<br />

von wo aus Lisandro Rodríguez uns Fragen schickt.<br />

The stranger asks questions because he is trying to un<strong>der</strong>stand.<br />

Questions that line the route to the Landschaftspark<br />

Duisburg-Nord. Questions about the past and future<br />

of the region and the work that made it, questions about<br />

the relationship between art and coal mining, about the<br />

relationship between power and nature. And about how<br />

the Ruhr region is related to the world: because coal<br />

mining is still going on – just not in Duisburg. But it is, for<br />

example, in South America, from where Lisandro Rodríguez<br />

is sending us these questions.<br />

Straßenbahn 903 und zu Fuß<br />

Duisburg Hbf ↔Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Dauer / Duration: ca. 30 min<br />

Die Interventionen von El Extranjero sind ab dem 12. August zwischen<br />

dem Duisburger Hauptbahnhof und dem Landschaftspark Duisburg-<br />

Nord auf den Wegen und <strong>der</strong> Fahrt mit <strong>der</strong> Straßenbahn 903 zu entdecken.<br />

The interventions of El Extranjero can be discovered from 12 August<br />

between Duisburg Central Station and Landschaftspark Duisburg-<br />

Nord on the paths and the journey with tram 903.<br />

82


Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

Duisburg<br />

Hauptbahnhof<br />

Kettwig<br />

UNEARTH<br />

AZADEH GANJEH<br />

Regie und Text Azadeh Ganjeh Dramaturg Foad Esfahani<br />

Sound Abbas Modjarad<br />

Die Erkundungstour will die Wahrheit über Haft Tepe im<br />

Südwesten Irans entbergen: Die antike Ausgrabungsstätte<br />

liegt verschüttet unter mehreren landwirtschaftlich-industriellen<br />

Invasionen. Die Performance unternimmt den Versuch,<br />

das Gelände an <strong>der</strong> Ruhr an<strong>der</strong>s zu kartografieren,<br />

um zu fragen, wie sich menschliche Zivilisation und Ökosystem<br />

beeinflussen.<br />

An explorative journey to unearth the truth of Haft Tepe in<br />

south-western Iran, an archaeological site with an ancient<br />

history which has been buried un<strong>der</strong> layers of agro-industrial<br />

invasion. The performance tries to countermap the site<br />

in the Ruhr to ask: how does the co-existence of human<br />

civilization and ecosystem affect each other.<br />

Zug und zu Fuß<br />

Duisburg Hbf ↔Essen Hbf<br />

Dauer / Duration: 20 min Fahrt mit <strong>der</strong> Regionalbahn,<br />

circa 60 min Fußweg<br />

Benötigt: Wege-Karte, Kopfhörer, Smartphone<br />

Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit einem QR-Code<br />

gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks aufrufen können.<br />

Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter:<br />

www.ruhr3.com/unearth-tracks.<br />

Informationen zu den Ausgabestellen <strong>der</strong> Karte für die Wegstrecke<br />

entnehmen Sie bitte unserer Website.<br />

Required: Smartphone, Headphones, Map<br />

The individual listening stations are numbered and marked with a QR<br />

code with which you can call up the respective tracks.<br />

Alternatively, visit from 12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/unearth-tracks.<br />

For information on the issuing points of the map for the route, please<br />

refer to our website.<br />

LOS VIENTOS —<br />

DIE WINDE<br />

LAGARTIJAS<br />

TIRADAS AL SOL<br />

Konzept Luisa Pardo und Lázaro Gabino Rodríguez<br />

Editorialdesign Juan Leduc Installation Fernanda Pardo<br />

Illustration Pedro Pizarro<br />

Plötzlich wehte kein Wind mehr. Zuerst war es nur ein<br />

bisschen komisch. Nach einem Jahr wurde uns klar: Alle<br />

unsere Tätigkeiten waren mit einem Mal sinnlos und wir<br />

fragten uns: Wie können wir den Wind dazu bringen,<br />

wie<strong>der</strong> zu wehen? Largatijas tiradas al sol verbinden<br />

mexikanische Mythen und deutsche Energiefragen in<br />

einem Ausflug ins Grüne.<br />

We’ve been very concerned about solving life, imagining<br />

projects, answering messages. We’ve thought about how to<br />

articulate our complaints about the world. We wanted to<br />

be right. And suddenly the wind stopped blowing. At first it<br />

was a feeling, just something that bothered us. But after a<br />

year without wind, we realised what it meant. Everything we<br />

were busy with stopped making sense and we won<strong>der</strong> what<br />

we have to do to make up for lost time? How to convince<br />

the wind to come back?<br />

S-Bahn<br />

Essen Hbf →Essen Kettwig<br />

Dauer / Duration: circa 30 min<br />

Benötigt: Buch, Kopfhörer, Smartphone<br />

Informationen zur Ausgabestelle des Buchs am Hauptbahnhof Essen<br />

entnehmen Sie bitte unserer Website.<br />

Los Vientos kann ab dem 12. August erlebt werden und startet am<br />

Hauptbahnhof in Essen und führt mit <strong>der</strong> S6 nach Kettwig (Ausstieg<br />

»Kettwig S-Bahnhof«, Fußweg bis zum Promenadenweg an <strong>der</strong> Ruhr).<br />

Required: Booklet, Smartphone, Headphones<br />

Los Vientos can be experienced from 12 August and starts at the main<br />

station in Essen where it leads to Kettiwig with the trains of S6 (exit at<br />

»Kettwig S-Bahnhof«, walk to the path on the Ruhr). For information<br />

on the issuing points of the booklet, please refer to our website.<br />

www.ruhr3.com/wege<br />

83


Zeche<br />

Zollverein<br />

Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

Zeche<br />

Zollverein<br />

Essen<br />

Hauptbahnhof<br />

ACHTMAL BLINZELN<br />

ANNA KPOK<br />

NATURBÜRO 1—7<br />

LOEKENFRANKE<br />

Konzept und Text Klaas Werner, Jascha Sommer, Kathrin Ebmeier<br />

und Emese Bodolay<br />

Anna Kpok lädt ein, die Straßenbahnfahrt als Text-<br />

Adventure zu erleben. Der Verlauf <strong>der</strong> Geschichte wird<br />

von Entscheidungen <strong>der</strong> Lesenden bestimmt – nicht von<br />

<strong>der</strong> Anordnung im Buch. Dabei ist eine Reise durch Essen<br />

als Reise zwischen Wahrheit und Spekulation zu erleben:<br />

Was wäre, wenn es die Kohleför<strong>der</strong>ung nie gegeben hätte?<br />

O<strong>der</strong> sie bereits viele hun<strong>der</strong>t Jahre vorher begonnen hätte?<br />

Anna Kpok invites you to experience a tram journey as a<br />

text adventure. What happens if the story depends on the<br />

decisions made by the rea<strong>der</strong> – not on the placements in<br />

the book. Rea<strong>der</strong>s will embark on a journey through Essen,<br />

a journey between reality and speculation: what if coal<br />

mining had never happened? Or it had begun many centuries<br />

earlier?<br />

Straßenbahn<br />

PACT Zollverein ↔ Essen Hbf<br />

Dauer / Duration: 70 min<br />

Informationen zu den Ausgabestellen des Dimensionsreisebuchs entnehmen<br />

Sie bitte unserer Website.<br />

For information on the issuing points of the Dimension Travel Reading<br />

Book, please refer to our website.<br />

Von Loekenfranke (Michael Loeken, Ulrike Franke)<br />

Mitarbeit Leonard Putz Mit den Stimmen von Uwe van Hoorn,<br />

anja van Hoorn, Andreas Gehrke, Johanna Romberg, Thomas<br />

Griesohn-Pflieger, Peter Stollfuss, Maria Vogt Dank an Uwe van<br />

Hoorn, Tanja van Hoorn<br />

Mit dem Fahrrad führt die Strecke zwischen Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof und PACT Zollverein durch unterschiedlich<br />

gestaltete Grünanlagen, Parks und Freiflächen. An sieben<br />

Punkten werden die unterschiedlichen Verständnisse von<br />

Natur am Beispiel des Umgangs mit Vögeln thematisiert.<br />

Von <strong>der</strong> preisgekrönten Brieftaube über die lebensrettenden<br />

Kanarienvögeln bis zu Habichten und Falken, zeigen<br />

loekenfranke Vögel als Indikator für den Zustand <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />

in <strong>der</strong> wir leben.<br />

The cycle route leads through a range of different green<br />

belt sites, parks and wasteland. At seven points along the<br />

route loekenfranke have created so-called »Nature Offices«,<br />

where highly contrasting views of nature can be experienced.<br />

From the award-winning carrier pigeon to the<br />

life-saving canaries through to hawks and falcons, loekenfranke<br />

show birds as indicators of the state of our society.<br />

Fahrrad<br />

Gelsenkirchen Hauptbahnhof ↔ PACT Zollverein Essen<br />

Dauer / Duration: 90 min<br />

Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone<br />

Ist kein eigenes Fahrrad vorhanden, so besteht die Möglichkeit, am<br />

jeweiligen Start- und Endpunkt ein Leihrad zu mieten. Dazu ist eine<br />

Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig. Die Kosten liegen<br />

hier bei circa 6€. Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit<br />

einem QR-Code gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks<br />

aufrufen können. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter:<br />

ruhr3.com/loekenfranke-tracks.<br />

Required: bike, headphones, smartphone<br />

If no own bike is available, there is the possibility to rent a bike at the<br />

respective start and end points. For this, a registration at Nextbike /<br />

Metropolradruhr is necessary. The rental costs about 6 €. The individual<br />

listening stations are numbered and marked with a QR code with<br />

which you can call up the respective tracks. Alternatively, visit from<br />

12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/loekenfranke-tracks.<br />

84


Gelsenkirchen<br />

Hauptbahnhof<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Bochum<br />

Bochum<br />

Hauptbahnhof<br />

ZWISCHENTAGE<br />

RUHRORTER<br />

INSIDE OUT<br />

TEHRAN RE:PUBLIC<br />

Von Adem Köstereli, Franziska Schneeberger, Jan Godde,<br />

Maximilian Brands, Wanja van Suntum<br />

Alle acht Minuten fährt die 302 durch Wattenscheid und<br />

Gelsenkirchen-Ückendorf. Dicht gedrängt stehen die Menschen<br />

in <strong>der</strong> Bahn, die eng an den Häusern entlangfährt.<br />

Was steckt hinter diesen Oberflächen? In einem vielstimmigen<br />

Hörstück sind umfassende Zusammenhänge (un)<br />

sichtbarer Bergbauschäden und postmigrantischer Realitäten<br />

im Ruhrgebiet zu erleben.<br />

The 302 travels through Wattenscheid and Gelsenkirchen-Ückendorf<br />

every eight minutes. People stand<br />

crowded together in the tram as it drives along, close to the<br />

houses. What lies behind these surface appearances? In a<br />

polyphonic audio piece, comprehensive contexts of(in)visible<br />

mining damage and post-migrant realities in the Ruhr<br />

region can be experienced.<br />

Straßenbahn 302<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle ↔ Gelsenkirchen Hauptbahnhof<br />

Dauer / Duration: 45 min<br />

Benötigt: Kopfhörer, Smartphone<br />

Die Tracks können über den QR-Code auf <strong>der</strong> Litfaßsäule abgerufen<br />

werden. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> unter<br />

ruhr3.com/ruhrorter-tracks.<br />

Required: headphones, smartphone<br />

The tracks can be accessed via the QR-Code on the advertising pillar.<br />

Also the tracks will be available from 12 August <strong>2022</strong> at<br />

ruhr3.com/ruhrorter-tracks.<br />

Regie Amirhossein Mashaherifard, Shahab Anousha Text<br />

Fabian Lettow, Philipp Beißel, Dr. Stefan Höhne Stimme Miriam<br />

Michel, Philipp Beißel, Judith Schäfer, Sonja Kirschall Sound,<br />

Musik Rasmus Nordholt-Frieling Voice recording Philipp Beißel<br />

Übersetzung Sonja Kirschall<br />

Je<strong>der</strong> Stadtraum ist ideologisch durchdekliniert. Aber sind<br />

sich die Bürger:innen ihrer Beziehung zum öffentlichen<br />

Raum bewusst? Ein Audiowalk durch die Bochumer Innenstadt<br />

zeigt die versteckten Verbindungen zwischen Raum,<br />

Design und sozialer Interaktion auf.<br />

Dienstags und freitags ist <strong>der</strong> Audiowalk wegen des<br />

Wochen marktes auf dem Dr.-Ruer-Platz erst ab 16 Uhr zu<br />

empfehlen.<br />

Every urban space is categorised ideologically. But are its<br />

inhabitants aware of this relationship between themselves<br />

and public spaces? An audio walk through downtown<br />

Bochum reveals the hidden connections between space,<br />

design and social interaction.<br />

On Tuesdays and Fridays, the Audiowalk is recommended<br />

from 4 pm due to the weekly market on Dr.-Ruer-Platz.<br />

Zu Fuß<br />

Bochum Hauptbahnhof → Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Dauer / Duration: 90 min<br />

Benötigt: Kopfhörer, Smartphone<br />

Die Tracks können über den QR-Code auf <strong>der</strong> Litfaßsäule abgerufen<br />

werden. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> unter<br />

ruhr3.com/tehran-tracks.<br />

Required: headphones, smartphone<br />

The tracks can be accessed via the QR-Code on the advertising pillar.<br />

Also the tracks will be available from 12 August <strong>2022</strong> at<br />

ruhr3.com/tehran-tracks.<br />

www.ruhr3.com/wege<br />

85


86


FOTOGRAFIEN VON<br />

MISCHA LEINKAUF<br />

MIT BLACKOUTS VON<br />

LÜTFIYE GÜZEL


Sieht man mehr, je näher man kommt? O<strong>der</strong> wird immer weniger sichtbar? Was ich einst<br />

als Arbeiterregion, Kohle- und Stahlzentrum Deutschlands und Revier aus <strong>der</strong> Ferne einfach<br />

begriff, wird für mich, je näher ich rangehe, immer schwerer zu erkennen, die Ruhrstadt<br />

zerfällt in deutlich unterschiedliche Einzelteile, was hat schon Kettwig mit Bottrop<br />

zu tun? Je mehr Zeit ich in Bruckhausen und Langendreer verbringe, desto weniger kann<br />

ich es verbinden. Jahr für Jahr scheint das Ruhrgebiet komplexer, unübersichtlicher und<br />

ungreifbarer. Und doch gilt es immer wie<strong>der</strong>, diesen Versuch anzugehen. Eine Region zu<br />

begreifen, zu fragen und zu schauen, was Witten und Hochfeld verbindet. Wo Dramaturg:innen<br />

wie ich, aber auch Soziolog:innen und Raumplaner:innen straucheln, können<br />

vielleicht Künstler:innen helfen. Für das Magazin luden wir Mischa Leinkauf ein, um zu<br />

fragen: wie kann Unsichtbares sichtbar werden? Und er hatte die Idee, zu <strong>der</strong> Sprache<br />

<strong>der</strong> Fotografie eine Sprache <strong>der</strong> Worte zu stellen, so kamen wir auf Lütfiye Güzel.<br />

Mischa Leinkauf ist Künstler aus Berlin, Lütfiye Güzel ist Dichterin aus Duisburg. Beim<br />

ersten Treffen in einem Imbiss am Bahnhof in Essen wird schnell klar, dass sich beide<br />

eine gemeinsame Sprache über die Dinge, die Welt, die Fritten und die Menschen um sie<br />

herum wünschen. Bei <strong>der</strong> Offenheit, die sie mitbringen, und <strong>der</strong> Liebe für das Ruhrgebiet<br />

wenig überraschend und doch nicht selbstverständlich, kommen beide doch aus unterschiedlichen<br />

Welten: Ȇber mich schreiben sie immer: Arbeiterkind, aufgewachsen in<br />

Marxloh. Autodidaktin!«, »Über mich schreiben sie immer: Hisste weiße Fahnen auf <strong>der</strong><br />

Brooklyn Bridge und löste Terroralarm in New York aus.«<br />

Welche Wege haben sie in diesen Imbiss am Hauptbahnhof geführt? Während Lütfiye<br />

Güzel in den letzten 20 Jahren lyrisch die Realitäten des Ruhrgebiets mit Schärfe, Biss<br />

und Melancholie beschrieb, erprobte Mischa Leinkauf mit seinem ehemaligen Partner<br />

Matthias Wermke ihr im Berlin <strong>der</strong> Nachwendezeit erlerntes Verhalten im Grauzonenbereich<br />

zwischen legal und illegal in performativen Kletteraktionen an Häusern und<br />

Grenzen in Korea und Mexiko. Vielleicht ist es diese Suche nach <strong>der</strong> Lücke, des Dazwischen,<br />

und <strong>der</strong> spezielle Blick für die Struktur, die beide vereint. Leinkauf und Güzel versuchen<br />

neue Blickpunkte einzunehmen, neue Sichtachsen zu öffnen und somit Übersicht<br />

im Unübersichtlichen zu gewinnen – o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>srum: in <strong>der</strong> vermeintlichen Übersichtlichkeit<br />

Unübersicht aufzuzeigen. Leinkauf plante mit seinem Team tagelang Orte, Genehmigungen<br />

und Möglichkeiten, wie unterschiedliche Höhepunkte des Ruhrgebiets<br />

zu erklimmen seien, um Kontraste zu erspähen, mit starkem Zusammenziehen durch<br />

Zoomen Altbekanntes an<strong>der</strong>s zu verwinkeln. Während Güzel in ihren Blackouts Wörter<br />

und Sätze strich, ausstrich und unterstrich, um Neues in Altem sichtbar zu machen.<br />

Strich für Strich schälte sie den Kern dessen heraus, was bleiben sollte.<br />

Durchstreichen ist ebenso wie Ausblenden, Nichtzeigen ebenso wie Fokussieren. Mit <strong>der</strong><br />

Technik des Verengens versucht die für das Magazin <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> entwickelte<br />

Bildstrecke zu zeigen, was nicht sichtbar ist, zu entdecken durch Verdecken. Weniger<br />

wird hier nicht mehr, son<strong>der</strong>n überhaupt erst etwas. Zwei Menschen, die blicken. Zwei<br />

Blicke auf Strukturen, auf Vergangenheit und auf Gegenwart. Auf die Ideen von Stadt<br />

und auf die Reste davon. Auf die Ruinen von gestern und morgen.<br />

Aljoscha Begrich<br />

60


Do you see more the closer you get? Or is does it get less and less visible? What I once<br />

easily un<strong>der</strong>stood from a distance to be a workers’ region, the coal and steel centre of<br />

Germany and the Revier, is getting increasingly difficult for me to recognise the closer<br />

I get. The Ruhr city is disintegrating into distinctly different individual parts; what does<br />

Kettwig have to do with Bottrop? The more time I spend in Bruckhausen and Langendreer,<br />

the less I can connect them. Year after year, the Ruhr region seems more complex,<br />

more confusing and more impalpable. And yet it’s always worth trying to tackle it. To<br />

grasp a region, to ask and see what connects Witten and Hochfeld. Where dramaturges<br />

like me, but also sociologists and spatial planners stumble, perhaps artists can help. For<br />

the magazine, we invited two artists to ask: how can the invisible become visible?<br />

Mischa Leinkauf is an artist from Berlin; Lütfiye Güzel is a poet from Duisburg. In their<br />

first meeting at a snack bar in Essen’s main train station, it quickly became clear that<br />

they both want to have a common language about the things, the world, the fries and the<br />

people around them. Given the openness they bring with them and their love for the Ruhr<br />

region, it is hardly surprising, and yet not self-evident, given that they both come from<br />

different worlds: »They always write about me: working-class child, grew up in Marxloh.<br />

Self-taught!«. »About me they always write: raised white flags on the Brooklyn Bridge and<br />

set off terror alarms in New York.«<br />

What paths led them to this snack bar at the main train station? While Lütfiye Güzel has<br />

lyrically described the realities of the Ruhr region with poignancy, bite and melancholy<br />

over the past 20 years, Mischa Leinkauf and his former partner Matthias Wermke have<br />

tested their behaviour, learned in post-reunification Berlin in the grey area between legal<br />

and illegal, in performative climbing actions on houses and bor<strong>der</strong>s in Korea and Mexico.<br />

Perhaps it is this search for the gap, the in-between and the special eye for structure that<br />

unites the two. Leinkauf and Güzel try to take on new points of view, to open up new lines<br />

of sight and thus gain an overview amidst the unclarity – or the other way around: to show<br />

unclarity in the supposed clarity. Leinkauf and his team spent days planning locations,<br />

getting permits, and finding ways to climb different high points of the Ruhr region in or<strong>der</strong><br />

to spot contrasts, to use strong contraction by zooming in to make old, familiar things<br />

contort in a different way. While Güzel, in her blackouts, crossed out words and sentences,<br />

un<strong>der</strong>lining them to make the new visible in the old. Stroke by stroke, she peeled out<br />

the core of what was to remain.<br />

Crossing out is just like fading out: not showing as much as focusing. With the technique<br />

of narrowing, the series of images developed for the magazine of the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />

attempts to show what is not visible, to discover it by obscuring it. Less does not become<br />

more here, but something in the first place. Two people who look. Two views of structures,<br />

of the past and of the present. Of the ideas of the city and its remains. Of the ruins of<br />

yesterday and tomorrow.<br />

Aljoscha Begrich<br />

61


Konzept / Realisation / Aktion Mischa Leinkauf<br />

Lyrik / Blackouts Lütfiye Güzel<br />

Dramaturgie Aljoscha Begrich<br />

Luftaufnahmen / Postproduktion Johannes Förster<br />

Precious Eye Pola Sieverding<br />

Höhensicherung Holger Nawrocki, Markus Wich<br />

Produktionsleitung Simon Mellnich<br />

Dank an<br />

Thorsten Kosellek, Ulrike Franke & Michael Loeken, Aino &<br />

Rosi Laberenz, Yuki Jungesblut, Axel Braun, Scherin<br />

Rajakumaran, Christa Marek, Max Raschke (UpUp-Berlin),<br />

Benjamin Frick (Schwebewerk-Berlin), Klaus Mettig &<br />

Katharina Sieverding<br />

sowie<br />

UNESCO-Welterbe Zollverein (Viola Schimmöller),<br />

Westfälisches Landestheater e.V. Castrop-Rauxel<br />

(Hr. Warnecke), Stadt Castrop-Rauxel (Fr. Fulgenzi),<br />

Ruhr-Universität Bochum (Tanja Otto), Landmarken AG /<br />

O-Werk (Fr. Krotschek), ELE-Scholven-Wind GmbH<br />

(Andreas Brandt), Vivawest Wohnen GmbH (Andreas<br />

Petruck & Bastian van den Boom), Kronenturm GbR,<br />

Dortmund (Beate & Alexan<strong>der</strong> Puplick) RDN Agentur<br />

für Public Relations GmbH (Hr. Prott), Stadt Marl<br />

(Andrea Baudek) RWE Generation SE/Essen (Hans-<br />

Jürgen Petschke & Christoph Kappenberg) Evangelischen<br />

Kirchengemeinde Alt-Duisburg (Claudia und Holger<br />

Kanaß) Universität Duisburg-Essen (Andrea Lange),<br />

Theater und Philharmonie Essen (Christoph Dittmann)


149MAGAZIN


IN DEN<br />

ABGRUND<br />

REZEPTION NEUER MUSIK OHNE VORWISSEN<br />

VON BARBARA BALBA WEBER<br />

ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />

Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi /<br />

Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien / Chorwerk Ruhr<br />

Musiktheater/ Kreation<br />

ab 11. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/grisey<br />

150


Ihr schaut ins Glitzern. Das Boot schaukelt, das Kind plau<strong>der</strong>t.<br />

Es kann offenbar nicht unterscheiden zwischen Tod<br />

und Spiel. Ihr schaut über glattes unberührtes Wasser,<br />

sonst nichts. So weit draußen fliegen keine Möwen mehr.<br />

Fast glattes Wasser, denkt ihr, Wasser und Sonne sollen<br />

also das Letzte sein. Es wird euer letzter Tag. Letzte Stunden<br />

voller Sonne, harter, blanker, weißer Sonne auf harten,<br />

glitzernden Gesichtern. Ihr habt diese Musik noch nie gehört,<br />

und doch erkennt ihr sie sofort. Es gibt nur das Leben<br />

und die Abwesenheit von Leben, ein Dazwischen gibt<br />

es nicht. Es gibt diese Musik und sie gehört zum Leben,<br />

auch wenn sie von etwas an<strong>der</strong>em singt. Eine Frau ruft<br />

durch die Geschichte <strong>der</strong> Menschheit, ihr versteht ihre<br />

Landessprache nicht, aber ihr erkennt, worum es geht. Es<br />

gibt Glitzern, Schaukeln, Kindesplau<strong>der</strong>n, das Wasser ist<br />

eine Stimme, die Sonne ist eine Stimme, eine Stimme fetzt<br />

Silben von unten und von oben an die Grenze zwischen<br />

Wasser und Himmel, es zerplatzen kleine Rufe an <strong>der</strong><br />

Härte <strong>der</strong> Sonne, es bleibt ruhig, alles bleibt unberührt, ihr<br />

möchtet unbeteiligt sein, ihr hört nicht auf das Einzelne,<br />

ihr hört auf das Ganze, ihr denkt nicht. Ihr schaut über den<br />

Bootsrand in die Tiefe, für den ihr euch hochverschuldet<br />

habt. Ihr habt schon fertig gelebt, ihr habt nichts mehr vor<br />

euch als Wasser, ihr werdet euch noch lange an den Rand<br />

klammern, wenn das Kind schon nicht mehr plau<strong>der</strong>t. Ihr<br />

habt noch nichts gewusst von Gilgamesch, nichts von sumerischer<br />

Phonologie, ihr habt noch keine französischen<br />

Freundinnen, von den Grabinschriften <strong>der</strong> alten Ägypter<br />

habt ihr noch nicht gewusst, auch die Stimme ist nicht<br />

eure. Ihr wollt woan<strong>der</strong>s sein. Diese Musik ist eure letzte<br />

Begleitung, sie ist eine Schlussmusik, das erfasst ihr<br />

sofort, auch wenn ihr nichts über sie wisst. Die Stimme<br />

kommt nicht aus dem Wasser, sie kommt aus euch. Das<br />

Wasser bewegt sich nicht mehr.<br />

… MIR WAR KALT, ES<br />

WAR WINTER. NUN JA, ICH GLAUBTE,<br />

MIR SEI KALT. ICH WAR VIELLEICHT<br />

KALT. GOTT HATTE MIR ALLERDINGS<br />

GESAGT, MIR WÜRDE KALT SEIN.<br />

VIELLEICHT WAR ICH TOT. ES WAR<br />

NICHT SO SEHR DAS TOTSEIN, VOR<br />

DEM ICH ANGST HATTE, ALS DAS<br />

STERBEN. PLÖTZLICH WAR MIR KALT.<br />

SEHR KALT, ODER ICH WAR KALT. ES<br />

WAR NACHT, UND ICH HATTE ANGST.<br />

Claude Vivier<br />

Am Abend des 7. März 1983 ging <strong>der</strong> französisch-kanadische<br />

Komponist Claude Vivier auf einen Drink in eine<br />

Bar im Pariser Stadtteil Belleville. Dort gabelte er einen<br />

jungen Mann auf und brachte ihn zum Sex in seine Wohnung.<br />

Sie trafen sich mehrmals. Später erstach <strong>der</strong> Mann<br />

Vivier. Hätte <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> vor seiner Flucht einen Blick auf<br />

die Komposition Glaubst Du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong><br />

Seele geworfen, an <strong>der</strong> Vivier gerade arbeitete, hätte er<br />

den in die Partitur unhörbar eingewobenen Text lesen<br />

können, <strong>der</strong> damit endet: »Ich konnte meine Augen nicht<br />

von dem jungen Mann abwenden, es kam mir vor, als säße<br />

er mir schon eine Ewigkeit gegenüber, und dann sprach er<br />

mich an: ›Ganz schön langweilig, diese U-Bahn, was?‹ Ich<br />

wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sagte,<br />

etwas verwirrt darüber, dass mein Blick erwi<strong>der</strong>t wurde,<br />

›ja, ziemlich‹, woraufhin sich <strong>der</strong> junge Mann ganz selbstverständlich<br />

neben mich setzte und sagte: ›Ich heiße<br />

151


Harry.‹ Ich antwortete ihm: ›Ich heiße Claude.‹ Dann zog<br />

er ein Messer aus seiner schwarzen Weste, die er wahrscheinlich<br />

in Paris gekauft hatte, und stach mir mitten ins<br />

Herz.« Es ist <strong>der</strong> Schluss. Vivier hatte die ersten sechs<br />

Minuten von Glaubst Du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele<br />

fertiggestellt, bevor er den Mann kennenlernte. Der letzte<br />

Abschnitt des Werkes wurde während ihrer Beziehung geschrieben.<br />

Vivier war 34 Jahre alt, als die Polizei in seine<br />

Wohnung einbrach und seine Leiche fand.<br />

Aber spielt das für das Erleben dieser Musik tatsächlich eine<br />

Rolle? Spielt es für das Eintauchen in Giacinto Scelsis Klangwelt<br />

eine Rolle, dass er in Hotelzimmern im Schrank statt<br />

im Bett übernachtete und sich nicht fotografieren lassen<br />

wollte? Spielt es eine Rolle zu wissen, dass Gérard Grisey<br />

unerwartet an einer Aneurysma-Ruptur starb und an<strong>der</strong>s als<br />

wir sein letztes Werk gar nie aufgeführt hören konnte?<br />

Ich mache seit Jahren Experimente zur Rezeption von neuer<br />

Musik durch Nicht-Profis. Dafür lasse ich auch Studierende<br />

Interviews mit Personen aus ihrem Familien- o<strong>der</strong><br />

Bekanntenkreis führen. Sie hören sich dafür mit jemandem<br />

zusammen ein Werk neuer Musik an und führen danach<br />

ein Gespräch, das aufgezeichnet und anschließend<br />

im Unterricht analysiert wird. Aus den Erkenntnissen entwickeln<br />

wir Hörsituationen für ein mit neuer Musik unvertrautes<br />

Publikum. Die Befragten sind Kin<strong>der</strong>, Jugendliche,<br />

jüngere und ältere Erwachsene mit diversen Bildungshintergründen<br />

– aber alle ohne Vorerfahrungen mit neuer<br />

Musik. Die einzige an<strong>der</strong>e Voraussetzung für die Auswahl<br />

einer Person als Interviewpartner:in ist, dass sie zur befragenden<br />

Person in einer vertrauensvollen Beziehung steht.<br />

Die Anwesenheit und zugewandte Präsenz eines an<strong>der</strong>en<br />

Menschen sind zentrale Elemente, um einen Hörprozess<br />

mit neuer Musik zu beginnen. Diese Präsenz hilft, dass die<br />

mit neuer Musik nicht vertraute Person sich nicht automatisch<br />

distanziert von Klängen, die in ihr – wie in den<br />

meisten an<strong>der</strong>en Menschen ohne Vorerfahrung auch –<br />

Fluchtreflexe auslösen.<br />

Die Versuchsperson erhält vor dem Anhören keinerlei Informationen<br />

über die Musik, son<strong>der</strong>n bloß Instruktionen<br />

über die Art des Zuhörens: Man installiert sich an einem<br />

ruhigen Ort, die Augen werden während des Anhörens<br />

<strong>der</strong> Musik geschlossen, und es wird nicht kommuniziert.<br />

Die Auswirkungen <strong>der</strong> Musik auf so (un)vorbereitete Zuhörer:innen<br />

sind fast ausnahmslos dieselben: Sie werden<br />

gepackt von einer unbekannten Welt, erschüttert durch<br />

die Begegnung mit einem noch nie betretenen Kosmos,<br />

sie werden geschüttelt von Emotionen. Es geht ihnen<br />

nahe. Viele berichten von Bil<strong>der</strong>n, die sie aus dem Arsenal<br />

<strong>der</strong> Filmindustrie entleihen. Die Verwendung von<br />

nicht aufgelösten dissonanten Intervallen, von gefährlich<br />

stehenden Klängen, von plötzlich einbrechenden scharfen<br />

Tönen, von bedrohlich anschwellendem tieftönigem<br />

Grollen, von schrillen Trillern, von lauten Atemgeräuschen<br />

und nicht erwartbaren Wendungen kennen sie aus<br />

Filmszenen, in denen es um existenzielle Gefühle von<br />

Angst, Verlassenheit, Düsterkeit, Dunkelheit, Verfolgung<br />

und Flucht geht. Profis wissen, wie man sich solchen<br />

Empfindungen entzieht.<br />

Gérard Grisey gibt seinem Werk Quatre chants pour franchir<br />

le seuil zwar auch Worte mit. Aber diese Worte sind<br />

ein Teil <strong>der</strong> Musik, sie eröffnen den Raum, sie definieren<br />

die Bühne für das, was in den Klängen passiert: 1. La mort<br />

de l’ange (Der Tod des Engels), 2. La mort de la civilisation<br />

(Der Tod <strong>der</strong> Zivilisation), 3. La mort de la voix (Der Tod<br />

<strong>der</strong> Stimme) und 4. La mort de l’humanité (Der Tod <strong>der</strong><br />

Menschheit).<br />

Das genügt, mehr braucht es nicht. Auch die Worte, die<br />

gesungen und gerufen werden während <strong>der</strong> Musik, soll<br />

man hören, nicht parallel dazu lesen. Und wenn man sie<br />

nicht versteht, gehört das zum wirklichen Verstehen des<br />

Gesamten dazu. Gérard Grisey stößt unseren Kopf unter<br />

die Trennlinie von Wasser und Himmel, von Unbewusstem<br />

und Bewusstem, von Hören und Denken, von Erleben<br />

und Analysieren.<br />

Veranstalter:innen, Musikwissenschaftler:innen, Komponistenkolleg:innen,<br />

Instrumentalist:innen und Musik lehrer:innen<br />

geben sich Mühe, das Publikum vor <strong>der</strong> Gewalt eines<br />

Werks neuer Musik zu schonen. Wenn man im Voraus weiß,<br />

was einen erwartet, ist man vorgewarnt und kann weniger<br />

überwältigt werden. Man kündigt deshalb neue Musik oft<br />

mit vielen Worten an, man beschreibt sie sehr genau, man<br />

analysiert sie, man diskutiert sie, man erklärt die Architektur<br />

im Großen und im Kleinen, die Texte, die Zitate, die Bezüge,<br />

die Verbindung zum Leben des:<strong>der</strong> Komponisten:in,<br />

die Bezüge zum Werk von an<strong>der</strong>en Komponist:innen. Man<br />

lässt Expert:innen und erfahrene Profis Vorträge dazu<br />

halten. Diese können eine Com-Position de-konstruieren,<br />

können die einzelnen Bestandteile aus dem Gesamten lösen,<br />

bis die Musik fein säuberlich auseinan<strong>der</strong>genommen<br />

auf dem Seziertisch liegt, bevor sie dann als eine Art Leiche<br />

endlich ins Konzert überführt wird.<br />

So weiß man als Zuhörer:in schon, was kommen wird. Man<br />

eilt <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Musik voraus. Man ist vor ihrer Gewalt<br />

in Sicherheit, weil man etwas weiß, weil man vieles weiß,<br />

weil man schon alles weiß. Man weiß sogar, wovon <strong>der</strong><br />

ermordete Komponist in seiner selbsterfundenen Sprache<br />

gesungen hat. Man weiß, was er vor genau dieser Art von<br />

Wissen verstecken wollte.<br />

DER ZUHÖRER MUSS GEPACKT UND,<br />

OB ER WILL ODER NICHT, IN DIE<br />

FLUGBAHN DER KLÄNGE HINEIN­<br />

GEZOGEN WERDEN, OHNE DASS ES<br />

EINER BESONDEREN SCHULUNG<br />

BEDARF. DER SINNLICHE SCHOCK<br />

MUSS GENAUSO STARK SEIN, WIE<br />

WENN MAN EINEN DONNERSCHLAG<br />

HÖRT ODER IN EINEN BODENLOSEN<br />

ABGRUND BLICKT.<br />

Iannis Xenakis<br />

152


Einer, <strong>der</strong> die Musik von Grisey, Xenakis, Vivier und Scelsi<br />

sofort wie<strong>der</strong>erkennen würde, wäre mein junger afghanischer<br />

Freund Amir, im Alter meiner Söhne, <strong>der</strong> die Bootsfahrt<br />

über das Mittelmeer überlebt hat. Er hat in den Abgrund<br />

geblickt. Er musste das Gleißen <strong>der</strong> Sonne länger<br />

ertragen, als Sie, als ich, als meine Söhne je den Gedanken<br />

an den Tod ausgehalten haben. Er hat dafür auch Worte<br />

und eine Stimme, wird aber von <strong>der</strong> Welt nicht gehört.<br />

Xenakis brauchte seine Stimme, um Menschen hörbar zu<br />

machen, die über den Rand des Abgrunds blicken mussten.<br />

Auch er hatte, wie Vivier, eine Geheimsprache verwendet.<br />

Er vermochte so für die ganze Welt darzustellen,<br />

was die Opfer gegenüber den für Brutalität und Tod Verantwortlichen<br />

nicht laut sagen konnten. Auch Xenakis hatte<br />

als noch sehr junger Mann dem Tod ins Auge geschaut,<br />

auch er hat in die gleichen Abgründe, auch er hat ins gleiche<br />

Meer geblickt wie Amir. Dort, wo Amir fünfzig Jahre<br />

später unzählige Male vergeblich versuchte, auf die Fähre<br />

nach Italien zu kommen, dort, wo er nach jedem Versuch<br />

durch die Fußtritte <strong>der</strong> griechischen Polizei zum Gehen<br />

unfähig gemacht wurde, dort, wo er tagelang wartete, bis<br />

seine Knie ihn wie<strong>der</strong> trugen. Dort, wo er es immer wie<strong>der</strong><br />

versuchte. Genau dort wurde mehr als ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

vorher auch Xenakis geschlagen und getreten, es blieb<br />

ihm lebenslänglich eine tiefe Wunde im Gesicht. Sein Werk<br />

Nuits, das er 1967 für zwölf gemischte Stimmen schrieb, die<br />

er sumerische und altpersische Phoneme und Silben rufen,<br />

singen und flüstern lässt, widmete er den stimm-, namenund<br />

wortlosen ungehörten Menschen, denen Gewalt angetan<br />

wurde und immer noch wird: »Für euch, Tausende von<br />

Vergessenen, <strong>der</strong>en Namen sogar verloren sind.«<br />

Wir aber, wir sitzen in <strong>der</strong> Bar und zücken die Musikerkennungs-App<br />

Shazam. Es läuft vielleicht I love you,<br />

Baby von Surf Mesa, den wir nicht kennen. Cüpli und<br />

Nüssli, eine gepflegte Frauenstimme, eine glatte, flache,<br />

leicht schaukelnde, die von nichts singt, ganz und gar unbeteiligt<br />

macht sie ihre Arbeit. Sie singt nicht, um etwas zu<br />

sagen, sie singt auch nicht, um etwas zu erschaffen o<strong>der</strong><br />

um spielerisch mit <strong>der</strong> Welt zu jonglieren. Sie singt nicht,<br />

um etwas hörbar zu machen, etwas neu zu ordnen o<strong>der</strong><br />

um etwas zu fragen. Es gibt auch nichts zu vergessen, das<br />

hören wir sofort. Und das stört uns. Es stört uns, dass wir<br />

eigentlich eintauchen möchten ins Hinhören – und durch<br />

eine Stimme davon abgehalten werden. Manchmal dauert<br />

es Minuten, manchmal Stunden, manchmal Jahre, bis<br />

wir merken, dass etwas übertönt wird. Dann zücken wir<br />

manchmal Shazam, um dem Übertönen wenigstens einen<br />

Namen geben zu können. Surf Mesas Sound ist gemacht,<br />

um das zu übertönen, was wir vergessen haben zu benennen,<br />

bevor wir es vergessen haben.<br />

Mein Sohn sitzt seit drei Monaten zu Hause im Sessel und<br />

hat alles abgeschaltet, Handy, Tablet, Laptop – alle Formen<br />

von Bildschirm. Er kämpft. Jahrelang hatte er Serien geschaut,<br />

stunden- und tagelang hat er über den Bootsrand<br />

seines scheinbar wohlbehüteten Lebens in flaches, bloß<br />

leicht schaukelndes Wasser gestarrt. Er kannte die Serien<br />

alle schon längst auswendig und schaute sie trotzdem immer<br />

wie<strong>der</strong> von vorne. Dann hat er angefangen, Philosophie<br />

zu studieren. Und vor Kurzem hat er sich vorgenommen, so<br />

lange ohne Bildschirm einfach nur dazusitzen, bis in seinem<br />

Inneren nichts mehr übertönt zu werden braucht. Ab und zu<br />

legt er mir die Lektüre von Nietzsche nahe.<br />

»Dies alles begreifen wir, wie gesagt, dann und wann einmal<br />

und wun<strong>der</strong>n uns sehr über alle die schwindelnde<br />

Angst und Hast und über den ganzen traumartigen Zustand<br />

unseres Lebens, dem vor dem Erwachen zu grauen<br />

scheint und das umso lebhafter und unruhiger träumt, je<br />

näher es diesem Erwachen ist. Aber wir fühlen zugleich,<br />

wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke <strong>der</strong> tiefsten<br />

Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen<br />

sind, nach denen die gesamte Natur sich zu ihrer Erlösung<br />

hindrängt: viel schon, dass wir überhaupt einmal ein wenig<br />

mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchem<br />

Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns<br />

nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden<br />

für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen<br />

gehoben werden – und wer sind die, welche uns heben?«<br />

Friedrich Nietzsche, aus Unzeitgemässe Betrachtungen<br />

Es sind Komponist:innen neuer Musik. Sie sind es, die,<br />

wie gewisse Philosophen das bedingungslose Denken,<br />

von uns das bedingungslose Hören verlangen. Nicht jede<br />

Musik braucht eine solch unbedingte Zuwendung. Bei<br />

gewisser Musik wäre es sogar kontraproduktiv, genauer<br />

hinzuhören – wir haben es ja gerade kürzlich in <strong>der</strong> Bar<br />

festgestellt. Es gibt eine Art von Musik, die dafür gemacht<br />

worden ist, eine Frage zu übertönen. Es gibt auch eine Art<br />

von Musik, die dafür geschaffen wurde, eine Antwort auf<br />

eine Frage zu feiern. Es gibt alles. Hun<strong>der</strong>te von existierenden<br />

Musikformen, verteilt auf <strong>der</strong> ganzen Welt, haben<br />

zahlreiche unterschiedliche Funktionen: Musik kann Alltagsflucht,<br />

Illustration o<strong>der</strong> Therapie för<strong>der</strong>n, Musik kann<br />

zur Gruppensynchronisation, Ritualbegleitung, Reflexion<br />

und Distinktion dienen, o<strong>der</strong> es kann von ihr Stimmungsverbesserung,<br />

körperliche Aktivierung o<strong>der</strong> Erinnerung<br />

an vergangene Zeiten erwartet werden. Und dann gibt<br />

es noch eine Form von Musik, <strong>der</strong>en Funktion es ist, den<br />

Menschen zum ganz genauen Hinhören zu verhelfen. Es<br />

ist die sogenannte »neue Musik«.<br />

WIR LEBEN IN EINER ZEIT, DIE DURCH<br />

EINE ART WASSERHAHN, DER<br />

LAUWARME KLÄNGE AUSSPUCKT,<br />

FURCHTBAR VERSEUCHT IST.<br />

ABGESEHEN VOM VERBRENNUNGS-<br />

MOTOR – DER SCHLIMMSTEN<br />

ERFINDUNG DES 20. JAHRHUNDERTS –<br />

GIBT ES LAUTSPRECHER, DIE<br />

ÜBERALL ZU FINDEN SIND. WIE SOLL<br />

MAN BEI DIESER GERÄUSCHKULISSE<br />

MUSIK MACHEN?<br />

Gérard Grisey<br />

153


Nun aber zur Musik von Gérard Grisey. Tun Sie am besten<br />

nichts an<strong>der</strong>es, als genau hinzuhören. Beginnen Sie<br />

damit, dass Sie diese Musik zu Hause im Bett hören,<br />

mit Kopfhörern o<strong>der</strong> einer guten Musikanlage, ohne Geräuschkulisse.<br />

Wie<strong>der</strong>holen Sie das Zuhören mehrmals,<br />

hören Sie die ganze Musik ohne Unterbrechung, einmal<br />

frühmorgens, einmal spätabends. Üben Sie die unbedingte<br />

Hinwendung, sezieren Sie nicht, lenken Sie sich nicht<br />

ab mit dem Erraten von Instrumentennamen, blicken Sie<br />

an die flache leere Wand, halten Sie die Fläche aus, o<strong>der</strong><br />

blicken Sie an den Bettrand, klammern Sie sich mit Ihrem<br />

Blick an das Holz, o<strong>der</strong> schauen Sie aus dem Fenster, ertragen<br />

Sie das Glitzern <strong>der</strong> Sonne. Bleiben Sie ruhig. Seien<br />

Sie nicht ein:e brave:r Schüler:in, seien Sie nicht <strong>der</strong>:die<br />

Klassenbeste, bestehen Sie diese Prüfung nicht, seien Sie<br />

nicht beflissen. Geben Sie keine Antworten, wenn Sie gefragt<br />

werden. Wissen Sie nichts. Sitzen Sie dann später im<br />

Konzert, sollten Sie diese Musik innerlich mitrufen, mitsprechen<br />

diese Stimme. Singen Sie auch die Ihnen unangenehmen<br />

Töne mit. Sie sollten die Unregelmäßigkeiten<br />

<strong>der</strong> Ereignisse mitpulsieren, Ihr Herzschlag sollte sich den<br />

Schlägen anpassen, nicht umgekehrt. Sie sollten mindestens<br />

die Lippen bewegen. Sie sollten sich nicht ablenken<br />

lassen von dieser gewissen Stimme, vor <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Sie zu<br />

verschonen versuchen. Sie können dieser Stimme ohnehin<br />

nicht entkommen. Irgendwann werden Sie diesen Gesang<br />

sowieso hören. Hören Sie zu, hören Sie hin, halten<br />

Sie diese Musik aus. Distanzieren Sie sich nicht. Schauen<br />

Sie hin, hören Sie hin, wenn an<strong>der</strong>e sich an den Bootsrand<br />

klammern. Unterwerfen Sie sich dieser Musik. Nehmen<br />

Sie Ihr Leben mit ins Konzert und werfen Sie es unter diese<br />

Musik. Es ist vielleicht Ihr letzter Tag. Sie haben diese<br />

Karte gekauft, jetzt setzen Sie sich <strong>der</strong> Gewalt des Nicht-<br />

Vorauswissens aus. Wir können Ihnen nicht helfen.<br />

BARBARA BALBA WEBER, ist Dozentin, Forscherin und Autorin im Bereich Musikvermittlung.<br />

Sie beschäftigt sich beson<strong>der</strong>s mit <strong>der</strong> Rezeption und Vermittlung<br />

neuer Musik durch Nicht-Profis und sucht nach künstlerischen<br />

und kuratorischen Möglichkeiten, diverse gesellschaftliche Gruppen in<br />

experimentelle Musik zu involvieren.<br />

Foto: Jörg Brüggemann (Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum)<br />

154


»ICH SCHAU<br />

DICH<br />

NUR AN«<br />

BARBARA FREY<br />

IM GESRPÄCH MIT DER KÜNSTLERIN<br />

KATHARINA FRITSCH<br />

DAS WEITE LAND<br />

Arthur Schnitzler / Barbara Frey / Martin Zehetgruber<br />

Schauspiel<br />

ab 20. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 30 _______________ www.ruhr3.com/frey<br />

155


Die Regisseurin Barbara Frey traf die von ihr seit Jahren<br />

bewun<strong>der</strong>te bildende Künstlerin Katharina Fritsch in<br />

<strong>der</strong>en Düsseldorfer Atelier zum Gespräch über Arthur<br />

Schnitzlers Stück Das weite Land, über eine gewaltbereite<br />

Gesellschaft und über Fritschs eigenes Schaffen. Zuletzt<br />

gewann Katharina Fritsch den Goldenen Löwen <strong>der</strong> Venedig-Biennale<br />

für ihr Lebenswerk.<br />

Barbara Frey: Die Seele sei ein weites Land, sagt <strong>der</strong> Hotelbesitzer<br />

Aigner im Stück zum Glühbirnenfabrikanten<br />

Hofreiter.<br />

Katharina Fritsch: Dieser ganze Intrigenstadel … man<br />

denkt schon an die ungarische Weite, die sich da ausbreitet!<br />

(Lacht.) Wenn man hochgeht in Grinzing auf<br />

den Berg, dann kann man bis nach Ungarn schauen,<br />

und vielleicht ist die Seele dann da auch so.<br />

BF: Der Satz ist ja auch <strong>der</strong> reine Kitsch.<br />

KF: Ich finde ja den Begriff »Seele« toll. Ich habe mir die<br />

Seele als Kind immer als flache, wattige Wolke vorgestellt.<br />

Heute spricht man überhaupt nicht mehr von <strong>der</strong><br />

Seele. Ich weiß nicht, ob die Seele so etwas Unverbindliches<br />

ist, wie Aigner in <strong>der</strong> Szene mit Hofreiter meint.<br />

Unverbindlich, wie man im Nie<strong>der</strong>rheinischen sagen<br />

würde: »Kann so sein – kann auch so sein.« Liebe, Trug,<br />

Treulosigkeit – ach, die Menschen sind ja alle so kompliziert,<br />

so unverbindlich ist es wohl im Stück gemeint.<br />

Der Kunsthistoriker Robert Fleck sagte, in den slawischen<br />

Sprachen würde bei allem immer das Gegenteil<br />

mitgedacht. Das wäre ja aber wie<strong>der</strong> interessant!<br />

BF: Das Grundwesen des Kitsches ist seine Unverbindlichkeit.<br />

KF: Ich mag aber auch Kitsch, wie viele Künstler. Er hat<br />

so etwas Eingedampftes. Ich liebe ja auch Andenkenläden<br />

und Trödelmärkte. Man unterstellt dem Kitsch<br />

etwas Unwahrhaftiges – aber stell dir mal eine Welt<br />

vor, die nur aus Wahrhaftigem besteht …<br />

BF: Das Blabla in den Schnitzler-Dialogen ist reine Maskerade.<br />

Im Grunde hat aber alles, was gesagt wird, etwas<br />

Geheimdienstliches.<br />

KF: Die scheinbare Idylle kippt schon bei den ersten<br />

Regieanweisungen ins Schattenhafte. Das Stück<br />

selbst driftet vom Gesellschaftsgeplänkel in eine unheimliche<br />

Dynamik. Schon zum Ende des ersten Aktes<br />

gibt es diesen monströsen Dialog zwischen Genia Hofreiter<br />

und ihrem Mann Friedrich.<br />

Die Menschen sind jetzige, heutige Menschen. Frau<br />

Natter mit dem roten Auto an <strong>der</strong> Friedhofsmauer …<br />

das könnte doch heute <strong>der</strong> Ferrari sein …<br />

BF: Mich interessiert <strong>der</strong> Zusammenhang von Produktion<br />

und Körpern. Die Frauen- und Männerkörper, die Glühbirnen,<br />

die Fetischisierung von Gegenständen und Begriffen.<br />

Solange es Produktion und Expansion gibt, muss<br />

man sich nicht um Inhalte scheren. Aber alles beginnt mit<br />

einem Toten, und es endet mit einem Toten. Die Gewalt<br />

scheint normal zu sein.<br />

KF: Die Glühbirne ist interessant. Seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

ist sie da – und heute haben wir LED. Kerze<br />

und Feuer waren schönes, direktes Licht. Die Industrialisierung<br />

brachte das Glühbirnenlicht. Als Kind hat<br />

mich die Glühbirne immer traurig gemacht. Aber ohne<br />

Licht kein Leben, keine Produktion.<br />

BF: Und ohne Licht kein Dunkel. Der Lichtproduzent Hofreiter<br />

verursacht ja viel Dunkelheit.<br />

KF: Er ist einfach <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mann. Ein Grün<strong>der</strong>, ein<br />

Macher. Der Frauenkörper ist für ihn eine Trophäe.<br />

Deshalb wendet er sich ja auch <strong>der</strong> jungen Erna zu, die<br />

ist schön knackig. Die an<strong>der</strong>en Frauen sind auch interessant,<br />

sensibler als die Männer, aber ausgeliefert.<br />

BF: Sind sie das wirklich? Sie sind schwer lesbar. Das ist<br />

anspruchsvoll für die Männer. Sie reagieren darauf aggressiv<br />

o<strong>der</strong> bedrückt.<br />

KF: In <strong>der</strong> großen Szene des Ehepaars Hofreiter im<br />

ersten Akt, wo er zynisch und manipulativ ist, sagt sie<br />

an einer Stelle: »Ich schau dich nur an.« (Lacht.) Das<br />

ist natürlich großartig! Gemeiner geht’s nicht.<br />

BF: Das Biotop aus Lüge, Intrige und Verwerfung ist im<br />

ganzen Stück im Grunde Beiwerk; notwendig, um den Plot<br />

voranzutreiben. Im Zentrum steht aber <strong>der</strong> Sturz ins Leere.<br />

KF: Es geht um die unmittelbar bevorstehende Katastrophe.<br />

Historisch gesehen wurden da die jungen<br />

Männer auf dem Schlachtfeld eines voll industrialisierten<br />

Krieges verheizt. Gleichzeitig scheint ja das Personal<br />

auf <strong>der</strong> Bühne kultiviert, gebildet und geschmackvoll.<br />

Es hat die Nase vorn.<br />

BF: Das macht es ja so gefährlich.<br />

KF: Es gab aber schon ein Bewusstsein fürs Soziale. Es<br />

gab Arbeiterbewegung und fortschrittliches Denken,<br />

trotz Hardcore-Kapitalismus. Alle hofften auf bessere<br />

Lebensqualität – zu <strong>der</strong> ja Hofreiters Glühbirnen Entscheidendes<br />

beitrugen. Industrialisierung als Verheißung<br />

für alle. Das Duell zwischen den Männern war ein<br />

Überbleibsel <strong>der</strong> K.-u.-k.-Monarchie. Nicht legal, aber<br />

geduldet und anscheinend gesellschaftsfähig.<br />

BF: Wenn man die historische Duell-Patina von damals<br />

wegnimmt, sind einem Schnitzlers Figuren vertrauter, als<br />

einem lieb sein kann. Man kennt diese Leute, weil man zu<br />

ihnen gehört. Das Unheimliche ist das Unzivilisierte, Gewaltbereite,<br />

das überall durchschimmert.<br />

KF: Interessant ist, dass im Stück generell schlecht<br />

über Künstler gesprochen wird, sie sind die allerletzten<br />

Deppen. Über Musiker und Dichter wird in einer<br />

Selbstverständlichkeit abfällig geredet. Sah Schnitzler<br />

sich selbst in <strong>der</strong> Arztfigur Mauer o<strong>der</strong> bei den Künstlern,<br />

beide eher Außenstehende?<br />

BF: Ich denke, Schnitzler sah sich selbst in allen Figuren,<br />

auch den Frauenfiguren. Das unterstelle ich ihm. Er war<br />

ein äußerst aufmerksamer Mensch und neugierig darauf,<br />

die Perspektiven zu wechseln. Im Übrigen war <strong>der</strong> Arzt<br />

Schnitzler auch als Literat ein Diagnostiker, scharf und<br />

unerbittlich. Auffallend im Stück ist, dass es keine wirklichen<br />

Freundschaften gibt. Eher Seilschaften. Es gibt auch<br />

keine Kategorie von Zärtlichkeit.<br />

KF: Die Männer brauchen die Frauen im Grunde nur als<br />

Back-up. Die Komplimente, die Hofreiter den Frauen<br />

macht, sind schal und selbstbeweihräuchernd.<br />

BF: Und sie sollen seine Aggressivität überdecken. Immerhin:<br />

Hofreiter ist ein Mör<strong>der</strong>, ein Auslöscher. Seine<br />

Glühbirnen kann er an- und ausknipsen, wie er will. Die<br />

gesamte Gesellschaft ist gewaltbereit, auch im schulterzuckenden<br />

Hinnehmen <strong>der</strong> Gewalt Einzelner. Fürs Theater<br />

ist es umso interessanter, die kargen Wärmeherde zu<br />

eruieren, die Spuren von Komplizenschaft, Zuwendung,<br />

156


Verletzlichkeit und Humor zu finden.<br />

KF: Ein Wärmeherd könnte die Figur <strong>der</strong> Schauspielerin<br />

sein. Genia dagegen ist eher ausgeschlafen. Die<br />

Frauen gerieren sich bisweilen als Opfer, sind aber<br />

emotional Täterinnen. Genias Satz »Ich schau dich nur<br />

an« ist perfide.<br />

BF: Hofreiters Not ist, dass seine Frau ihn immer schon<br />

durchschaut hat, bevor er zu argumentieren beginnt.<br />

KF: Sie weiß, wie gewaltbereit er ist. Das macht sie<br />

mitverantwortlich für seine Gewalt gegen Otto, Genias<br />

Kurzzeit-Liebhaber.<br />

BF: Es bleibt aber im Dunkeln, ob sie mit dieser letzten<br />

Konsequenz rechnen konnte. Bei Schnitzler gibt es nicht<br />

Gut und Böse.<br />

KF: Er macht lediglich eine Bestandsaufnahme. Und<br />

fragt, ob die Gesellschaft jemals verantwortungsvoller<br />

war. Es geht ja schließlich um Verantwortung. Sie<br />

zu verweigern, ist damals wie heute ein Zeichen von<br />

Überfor<strong>der</strong>ung. Schnitzlers Gesellschaft vor dem Ersten<br />

Weltkrieg ist überfor<strong>der</strong>t. Um das nicht wahrhaben<br />

zu müssen, lebt sie in einer Art Kapsel, geschützt<br />

durch Wohlstand. Man geht ins Hotel, auf den Berg,<br />

auf den Tennisplatz. Und man geht fremd.<br />

BF: Da taucht Freuds obsessives Eros-Thanatos-Thema auf.<br />

Die ständig wechselnden Liebschaften sollen die Angst vor<br />

dem Tod verscheuchen.<br />

KF: Wir klammern den Tod auch aus. Man spricht nicht<br />

darüber.<br />

BF: Interessant bei Schnitzler ist auch die Sportwelt. Man<br />

spielt Tennis und erklimmt Berggipfel und redet auch andauernd<br />

darüber. In unseren heutigen Städten sind die<br />

Werbeflächen für Fitness, Kraftaufbau und Selbstoptimierung<br />

mittlerweile von gigantischer Größe. Ebenso die<br />

für Partnervermittlung.<br />

KF: Sport als Sucht. Während <strong>der</strong> Pandemie habe ich<br />

mich zwischenzeitlich gar nicht mehr bewegt. Wie eine<br />

Schildkröte. Das war meine Corona-Demonstration!<br />

(Lacht.) Im Sportwahn zeigt sich auch eine Feindschaft<br />

gegen das Geistige. Die Geisteswissenschaften<br />

sind von den Naturwissenschaften verdrängt worden.<br />

Es gibt nur noch Chemie. Deshalb finde ich den Begriff<br />

<strong>der</strong> Seele so interessant. Das ist kein mechanischer<br />

Begriff, man kann ihn nicht mehr benutzen. Kunstwerke<br />

zum Beispiel müssen eine Seele haben. Viel heutige<br />

Kunst ist seelenlos, mit einem »Branding« versehen.<br />

Das ist unverbindlich, man weiß eigentlich nicht mehr<br />

genau, wer das eigentlich macht: die Galerie? Firmen?<br />

O<strong>der</strong> eine Werbeagentur? Als ein Museumsbesucher<br />

in ein Warengestell mit lauter Madonnenfiguren von<br />

mir gelaufen ist und alles in tausend Scherben zerbrach,<br />

bekam ich vom Museum einen Dreizeiler, ob<br />

»mein Studio« das nicht einfach neu machen könne,<br />

nach dreißig Jahren. Ich bin doch keine Industrieproduktion!<br />

Die machen aber einem doch auch kein Auto<br />

von vor dreißig Jahren!<br />

BF: In deiner Kunst fällt auf, dass gerade in <strong>der</strong> radikalen<br />

materiellen Vergegenständlichung eine enorme Beseelung<br />

steckt.<br />

KF: Es ist alles Handarbeit, Manufaktur. Ich mache eigentlich<br />

nur Prototypen. Dinge, die aussehen, als seien<br />

sie industriell gefertigt, als fehle ihnen die Handschrift.<br />

Aber sie haben eine Handschrift. Die Assistenten, die<br />

ich beschäftige, sind allesamt Künstler. Wir setzen alles<br />

gemeinsam um, es ist herkömmliche künstlerische Arbeit,<br />

keine Industrieproduktion. Das, was da die Seele<br />

ausmacht, ist, dass es beim fertigen Kunstwerk immer<br />

etwas geben muss, das sich entzieht, das nicht kontrollierbare<br />

Moment, nur so gibt es Spannung und bekommt<br />

ein Eigenleben.<br />

BF: Die Frage ist ja: Ab wann empfindet man etwas als<br />

»seelisch aufgeladen«?<br />

KF: In meinen Werken steckt mein ganzes Leben. Alles,<br />

was sich nicht in Worte fassen lässt, alle erdenklichen<br />

Atmosphären sind in meinen Objekten gespeichert.<br />

Das liegt auch an dem höchst komplizierten<br />

Fertigungsprozess. Dadurch laden sich diese Objekte<br />

immer mehr auf. Und sie erfüllen keinen Zweck. Sie<br />

sind einfach nur da. Es sind eine Art selbstständig gewordene<br />

Kin<strong>der</strong>. Man kann sie anschauen und nichts<br />

passiert – aber plötzlich kippt die Wahrnehmung, und<br />

man sieht sie ganz an<strong>der</strong>s, und sei es für Sekunden.<br />

Es geht darum, aus dem Alltag herauszukippen. Zum<br />

Beispiel diese hier stehenden schwarzen Vasen. Man<br />

kann sie klar als solche erkennen, aber plötzlich sieht<br />

man momenthaft etwas an<strong>der</strong>es. Eine solche Vase<br />

stand bei meiner Großmutter auf dem Klavier, da waren<br />

Chrysanthemen drin.<br />

BF: Die Vasen sind Skulpturen, ich kann mir darin gar keine<br />

Blume vorstellen.<br />

KF: Die Vase ist einfach ein Objekt, nicht für Blumen<br />

gedacht.<br />

BF: Bei Schnitzler gibt es diese typische Serialität: So, wie<br />

die von Hofreiter produzierten Glühbirnen gleich aussehen,<br />

so müssen sich die Menschen ähneln. Wer auffällt,<br />

aus <strong>der</strong> Reihe tanzt, ist gefährlich, nicht mehr lesbar. Hofreiter<br />

empfindet seine eigene Frau als unheimlich, als sie<br />

sich weigert, den Reigen des allgemeinen Fremdgehens<br />

selbst mitzumachen. Er kann seine Frau nicht als seriellen<br />

weiblichen Gegenstand sehen, so wie er es <strong>der</strong> Einfachheit<br />

halber gerne würde, denn sie lässt es nicht zu.<br />

Urplötzlich sieht er in ihr etwas, was ihm Angst macht.<br />

Und er findet nicht mehr zurück zu seinem angestammten<br />

Blick, dieses »an<strong>der</strong>e« bleibt.<br />

KF: Er verliert den gewohnten Zusammenhang. De<br />

Chirico hat das beschrieben: Wenn man die Begriffe<br />

wegnimmt, kann man die Dinge nicht mehr einordnen.<br />

Wenn die Vase nicht mehr Vase heißt, ist sie keine<br />

mehr. Kin<strong>der</strong>, die noch keine Begriffe kennen, identifizieren<br />

sich mit den Gegenständen, weil sie sie nicht<br />

benennen und dadurch von sich fernhalten können.<br />

Das war bei mir als Kind auch so. Alles hatte eine Seele,<br />

alles war ich. Wenn das Sprachgefüge nicht da ist,<br />

gibt es auch kein Gesellschaftsgefüge. Alles ist Fetisch.<br />

Es gibt keine Koordinaten. Das ist für mich in<br />

meiner Arbeit wichtig: das schwarze Loch, in das man<br />

hineinschaut. Tod, Unendlichkeit – für eine Sekunde<br />

wird das sichtbar. Es ist <strong>der</strong> Sturz ins Bodenlose, weil<br />

das Vertraute weg ist. Im weiten Land ist im fünften Akt<br />

jegliches Vertrauen weg. Da wird es vollends unheimlich.<br />

Das ist die unmittelbare Vorkriegsatmosphäre, da<br />

bricht die Gewalt aus. Ab da ist dann alles möglich.<br />

Zu Beginn des Stücks stirbt schon die Musik, da bringt<br />

157


sich ein Künstler um, ein russischer Pianist, das ist<br />

sozusagen doppelt exotisch. Er musste gehen, weil er<br />

nicht mehr in diese Welt ohne Kunst passt. Sein Tod ist<br />

jedoch für niemanden eine Katastrophe.<br />

BF: Eine mitleidlose Gesellschaft. Niemand hat mit jemand<br />

an<strong>der</strong>em wirklich etwas zu tun. Man lebt in fremdartigen,<br />

unverbindlichen Verhältnissen, insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Begegnungen zwischen Frauen und Männern sind ritualisiert<br />

und routiniert.<br />

KF: Männer haben auch heute ganz an<strong>der</strong>e Bedürfnisse<br />

als Frauen. Als Kind hat mich immer das mehr interessiert,<br />

was die Jungs machten. Ich galt als burschikos,<br />

hatte nie Puppen, aber ganz viele Stofftiere. Handarbeit<br />

war mir ein Graus, ich mochte diese Mädchensachen<br />

nicht. Bei den Jungs war mehr los, die heckten immer<br />

etwas aus. Mich hat immer <strong>der</strong> Raum interessiert: rausgehen,<br />

alles erkunden, Hütte bauen, allerdings dann<br />

schon auch Prinzessin sein wegen dem Glitz.<br />

BF: Mich beschäftigt noch immer <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Seele.<br />

KF: Es ist das Identifizieren mit etwas; man macht etwas,<br />

und es bekommt einen Charakter, es wird ein Wesen.<br />

Man schätzt es, man wirft es nicht weg. Ich kann<br />

so schlecht etwas wegwerfen, weil ich immer denke:<br />

Das hat doch jemand gemacht! Das ist Material – wir<br />

sind auch Material! Der Wegwerfkonsum ist <strong>der</strong> Wahnsinn,<br />

die ständige Überschussproduktion. Das beeinflusst<br />

unseren Umgang miteinan<strong>der</strong>, mit je<strong>der</strong> Kreatur<br />

und mit <strong>der</strong> Kunst.<br />

BF: Wir entfremden uns vom Lebendigsein.<br />

KF: Das sieht man auch an <strong>der</strong> seelenlosen, zusammengewürfelten<br />

Architektur da draußen. Alles Entfremdung.<br />

Die Glühbirne bei Schnitzler hat noch so<br />

getan, als imitiere sie die Kerze. Das LED-Licht imitiert<br />

gar nichts mehr. Ein kaltes, weißes, technisches Licht.<br />

Die Städte sind aufgeräumt, sauber, da kann keine<br />

Maus in irgendein Löchlein verschwinden. Hier in Düsseldorf<br />

sind Bäume <strong>der</strong> Feind. Es heißt, die machen ja<br />

nur Dreck. Die Architektur <strong>der</strong> Städte zeigt die ganze<br />

Brutalität. Im Grunde hat das kein menschliches Maß<br />

mehr.<br />

BF: Die Frage ist ja immer, woran wir uns orientieren, wenn<br />

wir vom menschlichen Maß sprechen. Über die Duelle <strong>der</strong><br />

Schnitzler-Zeit mokieren wir uns heute. Wir sehen in ihnen<br />

das Überbleibsel einer barbarischen Gesellschaft, die einem<br />

Ehrbegriff folgte, den wir scheinbar »überwunden«<br />

haben. Dabei begegnen wir heute unglaublichen Gewaltszenarien,<br />

die sich genauso herleiten aus einer fragwürdigen<br />

und oftmals menschenverachtenden Moralität.<br />

KF: Wir pflegen den Rufmord, den Shitstorm. Viele Duelle<br />

haben sich in den digitalen Raum verlagert. Und<br />

die Sehnsucht nach Bösewichtern ist ja unverän<strong>der</strong>t.<br />

Man giert nach Geschichten über ruchlose Menschen,<br />

auch in scheinbar zivilisierten Umständen. Könntest<br />

du Theater machen, wenn es nicht so wäre?<br />

BF: Völlig ausgeschlossen. Seit Menschengedenken bevölkern<br />

Schufte und ruchlose Charaktere die Künste. Mit<br />

nur edlem Personal kommt man in keine Kunstform.<br />

KF: Der ständige Zwiespalt. In <strong>der</strong> Kunst gibt es mittlerweile<br />

so viel Political Correctness, dass man gar keine<br />

Kunst mehr machen kann. Ich verwende zum Beispiel<br />

Lacke und Farben, die man nicht mehr verwenden<br />

sollte, wenn man umweltfreundlich sein will. Es sind<br />

aber die tollsten Lacke und Farben! Als ich anfing in<br />

den 80ern, durfte man viel ambivalenter sein, da kam<br />

158


ich mit <strong>der</strong> Sprühdose in die Malklasse und irritierte<br />

einen Kommilitonen, <strong>der</strong> zu mir sagte: »Was soll eine<br />

Blume machen, die von einem Panzer überfahren wird?«<br />

Ich war <strong>der</strong> Panzer und er die Blume – und ich fand<br />

das toll. Es gab da eine Lust o<strong>der</strong> Kraft im »Bösen«. Ich<br />

habe im übrigen Stoffe verwendet, die mir auch selbst<br />

geschadet haben. Heute gibt es zum Glück auch Industriepigmente,<br />

die nicht so schädlich sind und die<br />

gleiche Leuchtkraft haben. Trotzdem: Wenn man etwas<br />

macht, macht man auch etwas falsch.<br />

BF: Wichtig ist doch, in <strong>der</strong> Kunst – und überhaupt im<br />

Leben – nicht im Vorhinein schon zu wissen, was man<br />

macht. Da müsste man es ja nicht mehr machen. Man will<br />

doch etwas herausfinden!<br />

KF: Ich weiß nie, was rauskommt, wenn ich etwas mache.<br />

Das ist ein unbekanntes Land.<br />

Fotos: Frau mit Hund, 2004, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Ivo Faber,<br />

Händler, 2001, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Nic Tenwiggenhorn,<br />

Puppen, 2016, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Ivo Faber<br />

159


DIE NATUR<br />

DES MENSCHEN?<br />

VON LUKAS BÄRFUSS<br />

DIE NATUR DES MENSCHEN — LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />

Literatur / Dialog<br />

ab 21. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 32 _______________ www.ruhr3.com/natur<br />

160


Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Der Krieg in <strong>der</strong><br />

Ukraine macht den morgigen Tag, die kommende Stunde,<br />

die nächste Minute unvorhersehbar. Je näher das Epizentrum<br />

des Kriegs, umso kürzer die Berechenbarkeit. Auf<br />

ihrem Minimum ist sie in diesen Februartagen in Kiew, in<br />

Mariupol, in Charkiw. Der nächste Augenblick kann den<br />

Tod bringen o<strong>der</strong> die Rettung, Ausbombung o<strong>der</strong> gelungene<br />

Flucht, eine Hand, die tötet, eine an<strong>der</strong>e, die den<br />

Verlorenen noch aus den Flammen zieht.<br />

Alles hat sich verän<strong>der</strong>t. Was noch gestern verrückt<br />

schien, ist heute vollkommen vernünftig. Die Möglichkeit<br />

eines Atomkriegs einzuplanen ist keine Frage des Wahnsinns<br />

mehr, jetzt es eine Frage <strong>der</strong> Verantwortung.<br />

Alles än<strong>der</strong>t sich, zuerst das Verständnis für die Dinge und<br />

die Begriffe, die wichtigen und die weniger wichtigen. Auch<br />

<strong>der</strong> Titel einer Veranstaltungsreihe steht im neuen Licht.<br />

Vor kurzem haben wir in Die Natur des Menschen zuerst<br />

die Natur gesehen, die Fragen und die Aufgaben, die sie<br />

uns stellt. Jetzt sticht uns plötzlich <strong>der</strong> Mensch ins Auge,<br />

sein innerstes Wesen, seine Möglichkeiten, die metaphysischen<br />

und irrationalen Dimensionen seiner Existenz. Ist<br />

er böse? Und war er es immer? Und wird ein Teil immer<br />

böse sein? Gibt es eine Eigenschaft, auf die wir uns verlassen<br />

können? O<strong>der</strong> bleibt alles an ihm schwankend, den<br />

Umständen geschuldet?<br />

Wie kann man sich diesen Fragen verweigern, wenn man<br />

morgens und mittags und abends den Blutdurst sieht, die<br />

Lust an <strong>der</strong> Vernichtung, <strong>der</strong> unbedingte Wille zum Krieg,<br />

<strong>der</strong> Glaube an die Bomben, an den Terror? Wir sehen zu<br />

deutlich, wozu Menschen fähig sind. Die Städte in Schutt<br />

und Asche, Millionen auf <strong>der</strong> Flucht, <strong>der</strong> Tod regiert, das<br />

menschliche Leben ist nichts wert.<br />

Alles verän<strong>der</strong>t sich, und alles bleibt sich gleich.<br />

Je<strong>der</strong> Krieg entwertet. Er makuliert Ideen, zerstampft<br />

Hoffnungen, verbrennt Träume. Er vernichtet Wirtschaftspläne,<br />

die außenpolitische Doktrin, Konjunkturerwartungen,<br />

wissenschaftliche Analysen, die Faltblätter für das<br />

Publikum. Die eigene Geschichte verliert ihre Gewissheiten.<br />

Alles steht unter einem Vorbehalt, alles muss sich erklären.<br />

Die Sprache, die Eliten, die Sprache dieser Eliten,<br />

die Modelle, die Analysen und Vorhersagen, das gesicherte<br />

Wissen und die instinktiven Vermutungen: All dies war<br />

untauglich, nutzlos gegen diesen Krieg. Kein Abkommen,<br />

keine Einschätzung, kein Plan und keine Untersuchung<br />

haben ihn verhin<strong>der</strong>t. Warum ist das so? Was haben wir<br />

nicht bedacht? Wofür waren wir blind? O<strong>der</strong> ist es bloß,<br />

weil das Böse an die Macht gekommen ist? Aber das ist<br />

nur eine Entlastungskonzentration. Aus den Irrtümern<br />

werden Entschuldigungen.<br />

Das Böse erscheint als Mensch, das irgendwie in seinen<br />

Palast gekommen ist. Auch das Böse muss sich realisieren,<br />

es braucht eine Umwelt, Bedingungen und Prozesse.<br />

Machtlos ist das Böse nur eine Möglichkeit. Wer hat dem<br />

Bösen also beim Bösesein geholfen? Wer wurde ihm Komplize?<br />

Wir? Wer ist dieses Wir? Wer hatte Einfluss, wer<br />

hatte die Verantwortung, wer hätte etwas tun können?<br />

Wer hat sich einer Unterlassung schuldig gemacht? Wo<br />

wurden die falschen Entscheidungen getroffen? In <strong>der</strong><br />

Familie? In den Schulen, den Betrieben, in <strong>der</strong> Politik? Wo?<br />

Werden wir es wagen, diese Fragen zu stellen und die<br />

Schlüsse daraus zu ziehen?<br />

DIE EIGENE<br />

GESCHICHTE VERLIERT<br />

IHRE GEWISSHEITEN.<br />

ALLES STEHT UNTER<br />

EINEM VORBEHALT,<br />

ALLES MUSS SICH<br />

ERKLÄREN.<br />

Die Glaubenssätze <strong>der</strong> westlichen Gesellschaften entpuppen<br />

sich als Lebenslügen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

führt nicht zwingend zu Integration, und Integration<br />

führt nicht zwingend zum Frieden. Was dort gelungen<br />

ist, ist an<strong>der</strong>swo ein Schaden. Das Prinzip <strong>der</strong> Montanunion<br />

hat Frieden und Wohlstand für Deutschland und<br />

Frankreich gebracht. Die Produktionsmittel sollten so eng<br />

verflochten sein, dass keine Partei sie nach territorialen<br />

Grenzen trennen kann. Das eigene fällt zusammen mit gemeinsamem<br />

Interesse: Dieses Prinzip steht am Beginn <strong>der</strong><br />

europäischen Einigung. Nach innen erfolgreich, hat es an<br />

seinen Rän<strong>der</strong>n Wi<strong>der</strong>sprüche sichtbar gemacht, die seit<br />

vielen Jahren offen auf dem Tisch lagen: in Griechenland,<br />

in <strong>der</strong> Türkei, im Mittelmeer, in Großbritannien, auf dem<br />

161


Balkan, in Russland. Aus diesen Wi<strong>der</strong>sprüchen wurden<br />

soziale, wirtschaftliche, kulturelle und schließlich, in <strong>der</strong><br />

Ukraine, ein militärischer Konflikt.<br />

Es gibt für diese Lebenslüge eine große Zahl geschichtlicher<br />

Parallelen. Jede ist fürchterlich.<br />

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Wir wissen nicht,<br />

was <strong>der</strong> morgige Tag bringt, die nächste Stunde.<br />

Und gleichzeitig verstehen wir genau, wie unsere Zukunft<br />

aussieht. Das Fenster schließt sich. Viel Zeit bleibt nicht,<br />

um die Katastrophe abzuwenden. Wir wissen alle, was getan<br />

werden muss. Das Ziel je<strong>der</strong> politischen Maßnahme<br />

muss sein, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren,<br />

und zwar jetzt, und zwar in einer Größenordnung, die unsere<br />

Wirtschaft, unsere Gesellschaft, zu einer neuen, zu<br />

einer nächsten industriellen Revolution zwingt. Woher die<br />

Energie für weniger Energie?<br />

UNSERE GESELLSCHAFT,<br />

DIE WESTLICHE,<br />

LIBERALE DEMOKRATIE,<br />

IST VERLETZLICH, WEIL<br />

SIE EINEN INNEREN<br />

WIDERSPRUCH NICHT<br />

GELÖST HAT.<br />

Wir wissen auch, dass diese Aufgabe die nächsten Generationen<br />

beschäftigten wird, und wir wissen auch, dass diese<br />

Aufgabe nur global gelöst werden kann. Aber wie soll das<br />

geschehen, in einer Welt, die in strategische Hemisphären<br />

zerfällt? In einer Welt, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung<br />

politischer Interessen nicht überwunden hat? Denken<br />

wir an eine CO2-neutrale Aufrüstung? An Panzer aus erneuerbaren<br />

Energien? Waffen werden mo<strong>der</strong>ner, <strong>der</strong> Krieg<br />

bleibt, was er war: blutig, hoffnungslos, am teuersten bezahlt<br />

von den Ärmsten, von jenen, die nicht fliehen können,<br />

nicht vor <strong>der</strong> Einberufung und nicht vor den Bomben.<br />

Brauchen wir neue Glaubenssätze, brauchen wir einen<br />

neuen Irrtum? Die Illusionen, die Erzählungen bestimmen<br />

die Geschichte. Die Projektionen, die Ängste und die<br />

Sehnsüchte <strong>der</strong> Menschen leiten ihr Tun. Wir glauben, was<br />

uns dienlich ist, was unsere Vorstellung nicht ins Wanken<br />

bringt, die Vorstellung, wie die Welt zu sein hat. In den letzten<br />

vier, fünf Generationen sollte die Welt vor allem wirtschaftlich<br />

und berechenbar sein. Wir haben Informationen<br />

gesammelt, wir haben das menschliche Leben zu einem<br />

Datensatz gemacht, wir vergleichen diese Daten und<br />

erstellen Rankings und Ratings, die wir global anwenden.<br />

Wir vermessen, wir fügen die Zahl in eine Tabelle, sie erscheint<br />

in einer Spalte und in einer Zeile, und beides bedarf<br />

<strong>der</strong> Erfindung einer Kategorie. Ohne Kategorien keine<br />

Preise, keine Werte, keine Währung, kein Vermögen und<br />

kein Status. Aber die Kategorien wie die Warte, die Spalten<br />

wie die Zeilen, die X- und die Y-Achse: Alles Modelle,<br />

nichts davon ist die Welt.<br />

Die Welt ist reich, und sie ist we<strong>der</strong> friedlich noch sicher.<br />

Frieden und Sicherheit sind betriebsökonomisch ein Mangel:<br />

Die Angestellten gewöhnen sich an Abläufe, während<br />

das Unternehmen, will es am Markt bestehen, sich beständig<br />

transformieren muss.<br />

Unsere Gesellschaft, die westliche, liberale Demokratie,<br />

ist verletzlich, weil sie einen inneren Wi<strong>der</strong>spruch nicht<br />

gelöst hat.<br />

Sie ist abhängig von Tyrannen, von Autokraten und Diktatoren.<br />

Unsere demokratische Gesellschaft ist erpressbar<br />

durch ihren Energiehunger, durch diese unstillbare Gier<br />

nach Öl, nach Gas, nach Kohle.<br />

Die westlichen Demokratien sind süchtige Gesellschaften.<br />

Auf gewisse Betriebsstoffe können sie nicht verzichten, sie<br />

kann sie höchstens ersetzen, substituieren, und dies nur<br />

mit Geduld und unter Qualen.<br />

Die Betriebsmittel unserer westlichen Demokratien werden<br />

nach Rezepten eingesetzt, nach Regeln, die heute esoterisch<br />

erscheinen. Die makroökonomischen Heilsworte<br />

lauten Wettbewerb, Wachstum, Marktdynamik. Es gibt<br />

einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft. Es<br />

gibt einen Zusammenhang zwischen dem Öl, das unsere<br />

Stuben heizt, und dem Öl, das die Waffensysteme herstellt<br />

und antreibt.<br />

Vorstellungen, wie wir aus dieser tödlichen Falle entrinnen<br />

können, in die uns die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft geführt hat,<br />

gibt es zwar, aber auch das Okapi und den Schneckenkönig<br />

gibt es, einfach sehr selten. Selbst <strong>der</strong> Gedanke,<br />

jemand könnte eine Utopie haben, wirkt utopisch. Entwürfe<br />

sind nutzlos. Die Welt ist schließlich gebaut, wir<br />

können sie im besten Fall entwickeln. Dazu brauchen wir<br />

den technologischen Fortschritt. Er ist das Äußerste an<br />

visionärer Kraft. Die Lösung muss und wird instrumentell<br />

sein, höhere Effizienz, geringere Kosten, verbesserte Produktivität.<br />

Für den Rest, für die Kolbenklemmer, für die<br />

porösen Stellen des Systems bedienten wir uns einer alten<br />

Methode, <strong>der</strong> Flickschusterei.<br />

Wie wichtig nahmen wir den Nutzen, wie nebensächlich<br />

war uns die Freude! Wer traute sich, auf ihr zu bestehen?<br />

Wer wagt es jetzt noch, aus <strong>der</strong> Fülle seiner Lebenswelt,<br />

außer <strong>der</strong> Knappheit seiner Lebenszeit zu argumentieren?<br />

Wer versucht eine Politik, die auf die guten Momente im<br />

menschlichen Leben setzt? Wer begreift die Freude als<br />

soziale Größe? Wer begreift, wie kostbar sie ist, wie selten,<br />

wie knapp? Wer darauf besteht, muss mit Kürzungen rechnen<br />

und mit dem Hohn und Spott <strong>der</strong> Macht. Die Macht<br />

verlangt Kennzahlen, und in eine solche passt die Freude<br />

nicht, <strong>der</strong> Hass nicht, die Träume nicht, nicht die süßen,<br />

nicht die Albmahre.<br />

Was berechenbar war, hielt man für realistisch, hielt man<br />

für die Wirklichkeit, aber Gleichungen sind Traumgebilde,<br />

bestenfalls Symbole, und sie neigen dazu, Fetische<br />

zu werden. Sie bilden ab, was sie fassen können, und sie<br />

162


schließen damit das meiste, das Wesentliche aus. Gleichungen<br />

schaffen Abwesenheiten, in das Fassbare kehren<br />

sie zurück als Gespenster.<br />

Das Bewusstsein des Menschen, wozu er fähig ist, im Guten<br />

wie im schlechten, nichts passt in eine Formel, in keine<br />

Evaluation, in keine Zahl. Das menschliche Wesen ist we<strong>der</strong><br />

mit Buchhaltung noch mit Rechnungsführung zu fassen,<br />

nicht mit ihren Instrumenten, nicht in den Prozessen, und<br />

alle, die glauben, das Controlling würde den Betrieb durch<br />

Kontrolle sicherer machen, sind gefährliche Phantasten.<br />

VORSTELLUNGEN,<br />

WIE WIR AUS DIESER<br />

TÖDLICHEN FALLE<br />

ENTRINNEN KÖNNEN, IN<br />

DIE UNS DIE MODERNE<br />

GESELLSCHAFT<br />

GEFÜHRT HAT, GIBT<br />

ES ZWAR, ABER AUCH<br />

DAS OKAPI UND DEN<br />

SCHNECKENKÖNIG<br />

GIBT ES, EINFACH SEHR<br />

SELTEN.<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche verursachen Spannung. Wenn diese zu groß<br />

wird, bricht jedes System. Dauerhaft kann es werden,<br />

wenn es über seine eigenen Grenzen hinausdenkt, wenn<br />

es seine Negation in die Perspektive nimmt, wenn es zur<br />

Kritik fähig bleibt und diese Kritik zur Grundlage seiner<br />

Entscheidungen macht.<br />

Viele unserer gesellschaftlichen Institutionen verfolgen<br />

einen an<strong>der</strong>en Zweck. Sie wollen Wi<strong>der</strong>sprüche nicht benennen,<br />

sie wollen sie verdecken. Und wenn das nicht gelingt,<br />

macht man sie wenigstens erträglich. Sollte gerade<br />

noch die ökonomische Logik uns vor allen Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />

retten, so flüchtet man sich jetzt übergangslos in die militärische.<br />

Aber vielleicht haben die beiden Logiken denselben<br />

Ursprung in <strong>der</strong> einen Logik, in jener des Krieges.<br />

Wir zerstören Städte, Staaten, wir zerstören das Klima, wir<br />

zerstören die natürlichen Lebensgrundlagen, wir führen<br />

Krieg gegen uns selbst.<br />

Einem beliebigen Bewusstsein das Wissen über die eigenen<br />

Defizite, Grenzen und Aporien zu tilgen, ist mit Aufwand<br />

verbunden. Menschen kennen verschiedene Strategien<br />

<strong>der</strong> Verleugnung und <strong>der</strong> Selbsttäuschung. Die Vorbedingung<br />

dazu ist <strong>der</strong> Instinkt für Brüche, für die schlechten<br />

Gerüche, wenn an einer Sache etwas faul ist. Menschen<br />

erkennen die Grenzen <strong>der</strong> eigenen Welt, die Inkohärenzen<br />

und die Paradoxien, sie wissen von <strong>der</strong> Endlichkeit <strong>der</strong><br />

Existenz, und sie stellen Fragen nach den ersten und nach<br />

den letzten Dingen.<br />

People always fight the last war. So heißt es in <strong>der</strong> englischen<br />

Redensart. Bedeutet sie, dass die Menschen die<br />

gegenwärtigen Konflikte an den geschichtlichen messen,<br />

an jenen, in denen sie schon eine Erfahrung gesammelt<br />

haben? Das würde einen Fehlschluss, aber gleichzeitig die<br />

Möglichkeit beweisen, aus <strong>der</strong> Geschichte vielleicht nicht<br />

zu lernen, aber immerhin Schlüsse zu ziehen.<br />

Wenn diese Redensart aber Blindheit für das Momentane<br />

und das Zukünftige bedeutet, dann könnte man an keine<br />

Politik glauben, nur noch an den Zufall, das Schicksal o<strong>der</strong><br />

die Vorsehung, auf Größen, die jenseits <strong>der</strong> menschlichen<br />

Einflussnahme stehen.<br />

Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Und wir wissen<br />

genau, was mit uns geschieht. Beide Sätze sind wahr. Sie<br />

beschreiben keinen Wi<strong>der</strong>spruch, sie beschreiben einen<br />

Zusammenhang. Die Natur des Menschen lässt sich nur in<br />

diesem Zusammenhang darstellen. Und Literatur ist nichts<br />

an<strong>der</strong>es, versucht nichts an<strong>der</strong>es. Wann immer Menschen<br />

geschrieben haben, haben sie über die eigene Unzulänglichkeit<br />

nachgedacht, über die Grenzenlosigkeit des Gedankens<br />

in <strong>der</strong> Beschränktheit des eigenen Daseins.<br />

In <strong>der</strong> Kunst, so steht irgendwo, sei nichts ohne sein Gegenteil<br />

wahr. Wer findet eine bessere Beschreibung für die<br />

Größe, für die Fürchterlichkeit, für die Macht und die Hilflosigkeit,<br />

für die Natur des Menschen?<br />

LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet<br />

mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und Gastgeber<br />

<strong>der</strong> musikalischen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen, die wir in dieser<br />

Festivalausgabe zu den Themen Natur und Propaganda, Natur und Demokratie und Natur<br />

und Bewusstsein fortsetzen. Sie stellt sich die Fragen <strong>der</strong> doppelten Lesbarkeit ihres<br />

Titels: »Was ist das Wesen des Menschen?« und »Mit welchem Begriff <strong>der</strong> Natur operiert<br />

<strong>der</strong> Mensch eigentlich in den gegenwärtigen Diskussionen?«<br />

Dieser Artikel für das Magazin entstand Anfang März <strong>2022</strong>.<br />

Fotos: Claudia Herzog (Lukas Bärfuss)<br />

163


EDUCATE<br />

CAPITALISM!<br />

JUDITH GERSTENBERG IM GESPRÄCH<br />

MIT JULIAN ROSEFELDT<br />

EUPHORIA<br />

Julian Rosefeldt<br />

Multidisziplinäre Installation / Uraufführung<br />

ab 25. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/euphoria<br />

164


Lieber Julian, heute ist <strong>der</strong> 14. März <strong>2022</strong>, Tag 19 eines<br />

in Europa geführten Krieges, dessen Ausbruch wir uns<br />

nicht hatten vorstellen können. Der russische Präsident,<br />

Wladimir Putin, hat am 24. Februar <strong>2022</strong> seinen Truppen<br />

den Befehl für den Einmarsch in die Ukraine gegeben.<br />

Die Arbeit an deiner neuen Filminstallation EUPHORIA<br />

wurde jäh gestoppt. Ihr wart inmitten von Dreharbeiten<br />

in Kiew, als weltweit die Regierungen ihre Bürger:innen<br />

zum sofortigen Verlassen des Landes mahnten. Wenngleich<br />

EUPHORIA auf den ersten Blick inhaltlich nichts<br />

mit diesem Konflikt zu tun hat, lässt sich auf den zweiten<br />

Blick erkennen, wie verknüpft diese Arbeit mit den<br />

gegenwärtigen Ereignissen ist – in einer Weise, in <strong>der</strong> es<br />

zu Beginn des Projektes kaum voraussehbar gewesen<br />

sein dürfte. Doch fangen wir von vorne an. Erste konzeptionelle<br />

Gedanken hattest du bereits 2013. Was war<br />

<strong>der</strong> Impuls für diese Arbeit?<br />

Fragen zur Initialzündung meiner Projekte fallen mir immer<br />

schwer zu beantworten. Meist gehen ihnen lange<br />

Prozesse voraus, Recherchen, Verlinkungen zu an<strong>der</strong>en<br />

Projektentwürfen. Bevor sich eine Idee tatsächlich konkret<br />

formuliert, ist meist viel Zeit vergangen. Allgemein<br />

lässt sich vielleicht sagen, dass ich mich in <strong>der</strong> künstlerischen<br />

Arbeit meinen Wissenslücken stelle. Ich benutze<br />

sie, um mir Themenkomplexe zu erschließen, die Fragen<br />

in mir auslösen o<strong>der</strong> über die ich schlichtweg zu wenig<br />

weiß. Die Ökonomie, zum Beispiel, war immer eine große<br />

Grauzone. Ich gehörte zu denjenigen, die den Wirtschaftsteil<br />

<strong>der</strong> Tageszeitung überblätterten, da er mir<br />

unverständlich war und das, worüber darin geschrieben<br />

wurde, undurchdringlich und suspekt erschien. Doch<br />

die Gesetze <strong>der</strong> Wirtschaft gestalten essenziell die Welt,<br />

in <strong>der</strong> wir leben, daher wollte ich mich <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Ökonomie<br />

auf Dauer nicht verschließen. Ich habe mir dann<br />

zunächst Basiswissen angeeignet und die Grundlagen<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftsgeschichte gelesen. Parallel dazu begann<br />

ich, eine Form zu suchen, die es mir erlaubt, sich<br />

mit den doch eher trockenen Wirtschaftstheorien auf<br />

sinnliche Weise auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Wie auch in Manifesto,<br />

Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes<br />

Land o<strong>der</strong> American Night gehört es seit vielen<br />

Jahren zu meiner Methode, mit vorhandenem Textmaterial<br />

zu arbeiten, das ich zerschneide, collagiere, editiere<br />

und daraus neue Texte herstelle, die ich dann in unsere<br />

Zeit transferiere und untersuche, inwieweit historisches<br />

Material o<strong>der</strong> Gegenwärtiges aus an<strong>der</strong>en Kontexten<br />

für das Heute sinnstiftend o<strong>der</strong> relevant sein können.<br />

ALLGEMEIN LÄSST<br />

SICH VIELLEICHT<br />

SAGEN, DASS<br />

ICH MICH IN DER<br />

KÜNSTLERISCHEN<br />

ARBEIT MEINEN<br />

WISSENSLÜCKEN<br />

STELLE<br />

Folgst du bei <strong>der</strong> Montage vorhandenen Materials bestimmten<br />

Kriterien? Du zwingst unterschiedliche, teils<br />

wi<strong>der</strong>sprüchliche Positionen in deinen Texten zusammen,<br />

sodass man als Zuhörer:in sehr wach sein muss.<br />

Ich recherchiere sehr breitgefächert, lese alle möglichen<br />

Texte rund um das jeweilige Thema aus verschiedenen<br />

Zeiten und Perspektiven – ob es sich nun um<br />

deutsche Geschichte, den Gründungsmythos Nordamerikas,<br />

um Künstlermanifeste o<strong>der</strong> in diesem Fall<br />

um Ökonomie handelt. Mich interessiert es, wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Stimmen aufeinan<strong>der</strong>prallen zu lassen. In<br />

EUPHORIA zum Beispiel entfalten sowohl die Positionen<br />

<strong>der</strong> neoliberalen Marktwirtschaft ihre Verführung und<br />

Überzeugungskraft als auch die ihrer Kritiker.<br />

Deine Unternehmung, den Kapitalismus zu fassen, ist eigentlich<br />

unmöglich, zum Scheitern verurteilt. Dieses »System«<br />

hat etwas Verschlingendes, auch die Kapitalismuskritik verleibt<br />

es ihm ein. Die eigene Position bekommt man zudem<br />

kaum in den Blick, weil man selbst Teil davon ist. Die neoliberale<br />

Marktwirtschaft <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte ist enorm<br />

erfolgreich, obwohl die zerstörerische Wirkung auf Umwelt<br />

und sozialen Zusammenhalt längst offen zutage liegt. Hast<br />

du Antworten in deinem Arbeiten darauf gefunden, warum<br />

dieses System noch immer so populär ist?<br />

Du hast recht. Der Kapitalismus bzw. die radikalisierte<br />

Form davon – die entfesselte, neoliberale Marktwirtschaft<br />

– hat auch die Kritik daran längst absorbiert und<br />

instrumentalisiert. Dieses System ist bis heute so erfolgreich<br />

und, abgesehen vom gescheiterten Experiment<br />

165


des Kommunismus, alternativlos geblieben, weil es sich<br />

<strong>der</strong> ureigenen menschlichen Neigung, etwas zu entwickeln,<br />

sich zu steigern, zu wachsen, besser zu werden,<br />

in den Wettbewerb mit dem Mitmenschen zu treten,<br />

bedient. Dazu kommt die euphorisierende Wirkung von<br />

neuen materiellen Besitztümern und an<strong>der</strong>er Errungenschaften.<br />

Das dabei kurzfristig ausgeschüttete Dopamin<br />

führt uns schnell in eine immer enger getaktete<br />

Abhängigkeit. Wir werden, wie Philip Slater schon 1980<br />

beschrieben hat, zu »wealth addicts«. Das verträgt sich<br />

übrigens auch bestens mit grüner Nachhaltigkeit und<br />

Sozialdemokratie. Es kann ja recycelt und gespendet<br />

werden.<br />

Ich bin kein Wirtschaftsexperte. Ich versuche daher,<br />

nicht aufzuklären – auch wenn EUPHORIA vielleicht<br />

einen gewissen aufklärerischen und informativen Charakter<br />

hat –, son<strong>der</strong>n vielmehr einen uns umgebenden<br />

vielstimmigen Choral aus verschiedenen Meinungen<br />

ertönen zu lassen – übrigens auch im wörtlichen Sinne:<br />

Es wird viel gesungen in EUPHORIA.<br />

Erzähl doch bitte, wie du Bil<strong>der</strong> und Texte zusammenbringst.<br />

Dadurch, dass ich die Textbausteine von ihren Quellen<br />

befreie, neu kombiniere, auch mit Bil<strong>der</strong>n und Handlungsorten,<br />

die scheinbar nicht zusammengehören,<br />

werden die Zuhörer:innen aktiviert. Sie müssen sich<br />

selbst in diesen Asymmetrien zurechtfinden. Das ist<br />

sehr herausfor<strong>der</strong>nd, beson<strong>der</strong>s in dieser sehr textlastigen<br />

Arbeit. Aber <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te Kontext schafft<br />

auch eine ungeheure Konzentration und Öffnung<br />

gegenüber den aus den ursprünglichen Zusammenhängen<br />

gerissenen Gedanken. Diese Methode macht<br />

mir große Freude, denn es interessiert mich, eingefahrene<br />

Erzählstrukturen sprachlicher und bildlicher Art<br />

zu unterlaufen. Die bekannten kulturellen »Gefäße«, in<br />

denen Inhalte traditionell transportiert werden, for<strong>der</strong>n<br />

viel Eigenleistung, verstellen aber auch den unvoreingenommenen<br />

Blick darauf. In Manifesto hatte ich dieses<br />

Verfahren des Neukontextualisierens von Textbausteinen<br />

auch angewendet. Durch die Montage hatte<br />

man die Chance, die in den Manifesten tradierten Gedanken<br />

komplett neu zu entdecken. Sie wurden nicht<br />

verstellt durch die auratische Aufladung <strong>der</strong> Namen<br />

ihrer Urheber:innen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en damit gewöhnlicherweise<br />

verbundenen Bildwelten.<br />

In EUPHORIA habe ich Textfragmente aus 2000 Jahren<br />

Menschheitsgeschichte versammelt, Fragmente<br />

aus theoretischen, philosophischen und fiktionalen<br />

Texten, die die Geschichte <strong>der</strong> menschlichen Gier<br />

dokumentieren. Sie öffnen den Blick auf die Genese<br />

des Kapitalismus und seiner pervertierten Form, <strong>der</strong><br />

völlig enthemmten neoliberalen Marktwirtschaft, wie<br />

wir sie heute erleben. Die meisten <strong>der</strong> verwendeten<br />

Texte stammen aber aus <strong>der</strong> Gegenwart. Gesprochen<br />

werden sie von Schauspieler:innen, denen wir in vertrauten,<br />

alltäglichen Szenerien begegnen. Die Protagonist:innen<br />

dieser Szenen sind von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

marginalisierte Menschen: Obdachlose, unterbezahlte<br />

Arbeiter:innen aus Logistikzentren, Kin<strong>der</strong> aus armen<br />

Verhältnissen, Taxifahrer – sie alle diskutieren, mit<br />

einem ungeheuren Wissen ausgestattet, über die Pro<br />

und Kontras ökonomischer Ideen, Strömungen und<br />

Systeme. Da es sich – an<strong>der</strong>s als bei Manifesto – nicht<br />

um poetische Texte handelt, bestand hier die Schwierigkeit<br />

darin, diese Gedankengänge in eine Verständlich-<br />

und Sinnlichkeit zu übersetzen. Es wird für die Besucher:innen<br />

herausfor<strong>der</strong>nd, vielleicht phasenweise<br />

aber auch nervig werden.<br />

ES INTERESSIERT<br />

MICH, EINGEFAHRENE<br />

ERZÄHLSTRUKTUREN<br />

SPRACHLICHER UND<br />

BILDLICHER ART ZU<br />

UNTERLAUFEN<br />

Du bist ein bildmächtiger Künstler. Welche Szenerien hast<br />

du für deine neue Arbeit gewählt?<br />

Die Arbeit besteht aus verschiedenen Elementen. Da<br />

ist zum einen die lebensgroße Projektion von 150 Jugendlichen<br />

des Brooklyn Youth Chorus. Sie stehen um<br />

das Publikum herum und nehmen die Rolle des Chores<br />

aus <strong>der</strong> antiken Tragödie ein, <strong>der</strong> als Gewissen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

das Geschehen kommentiert. Dieser Chor<br />

kommuniziert musikalisch mit fünf Screens, auf denen<br />

Schlagzeuger:innen zu sehen und hören sind. Großartige<br />

Jazzmusiker aus den USA und Kuba, die Algorithmen,<br />

Zahlungsströme in Musik übersetzen. Sie sind<br />

die treibende Kraft. Dann gibt es einen Hauptscreen,<br />

auf dem sechs Szenen zu sehen sein werden. In ihnen<br />

sieht man zum Beispiel einen Taxifahrer durchs nächtliche<br />

New York fahren, auf <strong>der</strong> Rückbank einen stillen<br />

Fahrgast. Er philosophiert über die Zeit, in <strong>der</strong> wir<br />

leben. Draußen ist die Welt nicht mehr intakt, etwas<br />

muss passiert sein, seltsame Figuren bevölkern die<br />

Stadt. Die zweite Szene zeigt eine Gruppe Obdachloser,<br />

die über die zwei großen konträren Wirtschaftstheorien<br />

debattieren – über einen staatlich regulierten<br />

versus einen entfesselten freien Markt. In <strong>der</strong> dritten<br />

Szene erörtern Fabrikarbeiterinnen die Ursprünge des<br />

Reichtums <strong>der</strong> westlichen Welt als Folge von Kolonialismus<br />

und Sklaverei. In <strong>der</strong> vierten finden wir uns in<br />

einer Bank wie<strong>der</strong>, in <strong>der</strong> wir einem kollektiven hypnotischen<br />

Ritual beiwohnen, das komplett außer Kontrolle<br />

gerät. In einem verlassenen Busbahnhof, <strong>der</strong> an<br />

eine <strong>der</strong> Ruinen <strong>der</strong> stillgelegten Automobilindustrie<br />

Detroits erinnert, skaten in <strong>der</strong> fünften Szene ein paar<br />

Teenager und entwerfen zukunftstaugliche Ideen, die<br />

über unsere Zeit hinausweisen. Und in <strong>der</strong> letzten Szene<br />

begegnen wir in einem geschlossenen Supermarkt<br />

einem plün<strong>der</strong>nden und marodierenden Tiger, <strong>der</strong> zynisch<br />

über die Menschheit räsoniert.<br />

Dem Tiger verleiht Cate Blanchett ihre Stimme. Sie war<br />

schon in Manifesto die großartige Protagonistin. Virginia<br />

Newcomb und Giancarlo Esposito spielen mit, neben<br />

166


vielen an<strong>der</strong>en. Du arbeitest häufig mit Filmstars. Ist das<br />

einer Verkaufslogik geschuldet?<br />

Nein, das kann ich mit Sicherheit sagen. Meine Zusammenarbeit<br />

mit Cate Blanchett ergab sich zufällig<br />

aus einem privaten Kontakt über einen gemeinsamen<br />

Freund. Bei EUPHORIA hat sich die Besetzung von Giancarlo<br />

Esposito aus <strong>der</strong> Rolle ergeben. Ich zitiere eine<br />

Filmszene aus Jim Jarmuschs Night on Earth, in <strong>der</strong><br />

Giancarlo schon einmal am Steuer eines Taxis saß, mit<br />

dem eigentlichen Taxifahrer auf dem Rücksitz, gespielt<br />

von Armin Mueller-Stahl. Mich hat es gereizt, ihn 30<br />

Jahre später wie<strong>der</strong> in dieses Taxi steigen und durch<br />

New York fahren zu lassen. EUPHORIA ist eine englischsprachige<br />

Produktion – die Park Avenue Armory<br />

in New York ist die Hauptproduzentin – und die Besetzung<br />

<strong>der</strong> Rollen lief deshalb unter an<strong>der</strong>em über eine<br />

Casting-Agentin. Da kommen dann bei einem Open<br />

Call auch mal 1000 Bewerber:innen zusammen, davon<br />

werden 100 eingeladen, die schaut man sich alle an<br />

und nimmt die besten, die im Drehzeitraum verfügbar<br />

sind. Virginia Newcomb haben wir zum Beispiel auf<br />

diese Weise gefunden. Ich kannte sie vorher gar nicht.<br />

Ich kann aber sagen, dass ich gerne mit sehr guten<br />

Schauspieler:innen zusammenarbeite. Und sogenannte<br />

Stars sind nun mal oft sehr gut.<br />

Der Aufwand für EUPHORIA ist über den Zeitraum seiner<br />

Entstehung gewachsen, ja geradezu angeschwollen –<br />

liegt das in <strong>der</strong> Natur des Themas, dem das Wuchern<br />

inhärent ist?<br />

Ich fürchte, das liegt eher an mir. Ich sage immer: Das<br />

nächste Mal wird es etwas Kleineres. Ich lüge mir da<br />

gerne in die Tasche. Wenn dann aber die Ideen langsam<br />

Form annehmen, <strong>der</strong> inneren Logik des Projektes<br />

folgend, beginnen die Projekte zu wuchern. Mein<br />

Malkasten ist <strong>der</strong> Apparat <strong>der</strong> Filmproduktion. Ich bin<br />

dankbar dafür, dass ich in diesen Maßstäben arbeiten<br />

kann und genieße das sehr. Das bedeutet aber auch,<br />

dass man mit allen Gewerken, die in die Erzeugung einer<br />

solchen Produktion involviert sind, sehr strukturiert<br />

arbeiten muss. Und da greifen dann auch die Mechanismen<br />

<strong>der</strong> Marktwirtschaft. Drehzeit ist teuer. Wenn<br />

Du Fehler machst, erhöhen sich Leihkosten für das<br />

Material, Mitarbeiter:innen müssen länger beschäftigt<br />

werden etc. Die Arbeit ist äußerst intensiv. Ich probe<br />

vorher viel – das wäre im kommerziellen Kinogeschäft<br />

gar nicht möglich. Meine Projekte können nur realisiert<br />

werden, weil die Leute, mit denen ich arbeite, sich<br />

freuen, wenn ich alle paar Jahre mit einer Idee ankomme.<br />

Die Mitwirkenden arbeiten unter ihren regulären<br />

Gagen, die Firmen zu an<strong>der</strong>en Bedingungen. An<strong>der</strong>s<br />

wäre solch eine Arbeit gar nicht möglich. Bei einem<br />

Kunstprojekt wie diesem entfällt ja quasi die kommerzielle<br />

Verwertung. EUPHORIA lässt sich vermutlich außerhalb<br />

<strong>der</strong> großen Festivals kaum verkaufen, und ob<br />

daraus jemals eine verwertbare Kinofassung entsteht,<br />

wie bei Manifesto, steht in den Sternen. Wir sind daher<br />

darauf angewiesen, dass das Team einen Teil <strong>der</strong> Honorierung<br />

aus dem gemeinsamen Erlebnis zieht. Und<br />

das ist immer ein großer Spaß, auch wenn wir dabei<br />

alle an unsere Grenzen gehen. Ich arbeite seit Jahren<br />

immer wie<strong>der</strong> mit denselben Leuten, es sind enge<br />

Freundschaften entstanden und wir freuen uns miteinan<strong>der</strong>,<br />

wenn es alle paar Jahre nach langer Recherche<br />

und Vorproduktion wie<strong>der</strong> losgeht. Ich glaube, <strong>der</strong><br />

Reiz einer solchen Produktion besteht unter an<strong>der</strong>em<br />

gerade auch darin, für etwas zu arbeiten, das sich den<br />

gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Vermarktung<br />

entzieht. Das setzt überraschen<strong>der</strong>weise ungeheure<br />

Energien frei.<br />

Die Szenen spielen alle in den USA. Gedreht habt ihr aber<br />

nicht nur dort, son<strong>der</strong>n auch in Sofia und Kiew. Das hatte<br />

keine inhaltlichen Gründe.<br />

Nein, hatte es tatsächlich nicht. Wir konnten in Bulgarien<br />

und <strong>der</strong> Ukraine einfach deutlich günstiger produzieren<br />

als in den USA. Und es gibt dort hervorragende<br />

Filmstudios und Filmproduktionsfirmen. Während<br />

<strong>der</strong> Produktion haben wir viel darüber gesprochen,<br />

wie sehr wir selbst bei <strong>der</strong> Produktion einer kapitalismuskritischen<br />

Arbeit in <strong>der</strong> Logik des Kapitalismus<br />

gefangen sind. Es gibt kein Entkommen. Wir sind alle<br />

nicht gefeit vor seinen Verlockungen und bezirzt von<br />

den Versprechungen, die dieses System jedem von<br />

uns macht, von seinen Möglichkeiten. Auch wenn das<br />

manchmal nur ganz banal heißt, etwas an<strong>der</strong>orts billiger<br />

zu bekommen. Kiew und Sofia hatten aber auch<br />

Motive und Locations zu bieten, über die wir ein etwas<br />

an<strong>der</strong>es, fiktionaleres und dystopisches Nordamerika<br />

erzählen konnten.<br />

ES BRAUCHT EINE<br />

NEUKALIBRIERUNG<br />

UNSERES<br />

WERTESYSTEMS<br />

»System« ist ja eigentlich auch ein Euphemismus, <strong>der</strong> die<br />

Verantwortung verschiebt. Wir sind das System.<br />

Das stimmt. Der Erfolgszug des Kapitalismus ist ja<br />

inzwischen längst auch in Russland und China angekommen,<br />

auch wenn dies dort ideologisch an<strong>der</strong>s<br />

verkauft wird und zu großen Friktionen führt, wie wir<br />

sie gerade erleben. Und was uns betrifft: Dass wir<br />

am Abgrund unseres Lebensentwurfs stehen, haben<br />

wir theoretisch begriffen, aber bislang ziehen wir keine<br />

Konsequenz daraus. Ich halte allerdings nicht den<br />

Kapitalismus an sich für verwerflich, son<strong>der</strong>n seine<br />

völlig entfesselte und enthemmte Pervertierung in<br />

Form einer neoliberalen Marktwirtschaft, <strong>der</strong>en Konsequenzen<br />

– nämlich die himmelschreiende Ungerechtigkeit<br />

<strong>der</strong> Verteilung von Wohlstand und Zugang<br />

zu Bildung und Gesundheit, die viel zitierte immer weiter<br />

klaffende Schere zwischen Arm und Reich – sich<br />

letztlich gegen uns wenden, von außen wie von innen.<br />

Die Entfesselung auf <strong>der</strong> einen Seite verursacht eine<br />

Entfesselung auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Das manifestiert<br />

sich in <strong>der</strong> wachsenden Wut <strong>der</strong> Benachteiligten auf<br />

die Profiteure, die dann in Phänomene wie Terrorismus<br />

mündet o<strong>der</strong> dem Populismus Tür und Tor öffnet,<br />

167


letztlich auch in diesem Krieg, <strong>der</strong> auch als Krieg <strong>der</strong><br />

Systeme gelesen werden muss. Da ich dennoch an<br />

<strong>der</strong> freien Entfaltung des Einzelnen festhalten möchte,<br />

aber nicht akzeptieren will, dass solch banale Amoralitäten<br />

wie die Anhäufung unglaublicher Besitzmengen<br />

durch einige wenige Profiteure <strong>der</strong> entfesselten Marktwirtschaft<br />

unüberwindbar sind, glaube ich naiv, aber<br />

fest an einen Paradigmenwechsel. Mein Schlachtruf,<br />

<strong>der</strong> vielleicht auch so etwas wie ein Fazit in EUPHORIA<br />

ist, lautet daher: Educate capitalism!<br />

Liegt in <strong>der</strong> gegenwärtigen Erziehung das Problem? Unser<br />

Bildungssystem richtet junge Menschen von früh an auf<br />

Konsum und Wettbewerb aus, auf Konkurrenz, lehrt, wie<br />

sie ihre Lebensläufe attraktiv für den Markt gestalten,<br />

weckt Begehren und definiert die Zeichen des Erfolgs, die<br />

nahezu alle materiell sind. Die Zeit für Geistesbildung wird<br />

verknappt, das frühere Eintreten in den Arbeitsmarkt als<br />

Vorteil verkauft.<br />

Ich glaube, <strong>der</strong> Reiz einer solchen Produktion besteht<br />

unter an<strong>der</strong>em gerade auch darin, für etwas zu arbeiten,<br />

das sich den gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten<br />

<strong>der</strong> Vermarktung entzieht. Das setzt überraschen<strong>der</strong>weise<br />

ungeheure Energien frei<br />

Es ist ganz klar: Es braucht eine Neukalibrierung unseres<br />

Wertesystems. Cool und sexy sollte es bald nicht<br />

mehr sein, viel zu besitzen, son<strong>der</strong>n vielmehr gesellschaftlich<br />

verantwortlicher zu handeln und zu teilen.<br />

Der Wunsch, sich frei zu entfalten, soll dabei weiterhin<br />

nicht staatlich unterdrückt werden, eine Gleichmacherei<br />

wie im Kommunismus wünscht sich kaum jemand<br />

zurück. Und dennoch liegt für mich die Hoffnung in<br />

einem Werteverständnis, welches das Teilen über das<br />

Besitzen stellt. Es werden gegenwärtig bereits Ideen<br />

formuliert, die noch utopisch klingen, aber keine Utopie<br />

bleiben müssen. Ich bin hoffnungsvoll, ich beobachte,<br />

dass sich unsere Kin<strong>der</strong> in diese Richtung<br />

schon auf den Weg machen. Die sind im Umdenken<br />

längst weiter als ich.<br />

Warum trägt deine Arbeit den Titel EUPHORIA?<br />

Der Titel begleitet mich jetzt schon seit vielen Jahren,<br />

in denen ich Texte und Ideen für das Projekt gesammelt<br />

habe. Ich hatte nach einem Begriff gesucht, <strong>der</strong><br />

die mitreißende Energie <strong>der</strong> kapitalistischen Idee zum<br />

Ausdruck bringt, <strong>der</strong> hemmungslosen Begeisterung an<br />

Besitz und Wachstum, die nicht nur Investmentbanker:innen<br />

und Firmenchef:innen, son<strong>der</strong>n auch uns<br />

ergreift.<br />

Ist Euphorie für dich angesichts <strong>der</strong> dystopischen Bil<strong>der</strong>,<br />

mit denen du sie in deinem Projekt einfängst, negativ besetzt?<br />

Darauf gibt <strong>der</strong> Tiger zum Schluss eine Antwort, die ich<br />

nicht vorwegnehmen möchte.<br />

Wie eingangs erwähnt, wurden deine Dreharbeiten zu<br />

EUPHORIA durch den Krieg gegen die Ukraine jäh unterbrochen.<br />

Kannst du uns die Situation beschreiben?<br />

Wir waren in den letzten Monaten insgesamt vier Mal<br />

in Kiew und haben zweimal dort gedreht. Beim ersten<br />

Mal die Bankszene – wir hatten dafür die Wartehalle<br />

des Kiewer Hauptbahnhofs umgebaut. Der Dreh war<br />

wie ein surreales Fest. Während noch das Set gebaut<br />

wurde, wurden in <strong>der</strong> Halle Kostüme anprobiert, Tänze<br />

choreografiert; Magier:innen und Akrobat:innen probierten<br />

ihre Tricks und Kunststücke. Fast 200 Leute<br />

waren vor und hinter <strong>der</strong> Kamera beteiligt, die Energie<br />

war überall zu greifen, es hat bei aller Anstrengung<br />

unheimlich Spaß gebracht. Wir kehrten dann kurz vor<br />

Kriegsbeginn noch ein zweites Mal nach Kiew zurück,<br />

um weitere drei Szenen zu drehen. Eine hatten wir gerade<br />

abgedreht, als die Nachricht kam – es war die<br />

letzte Woche <strong>der</strong> Olympischen Spiele in Peking –,<br />

dass <strong>der</strong> US-amerikanische Geheimdienst Informationen<br />

hätte, denen zufolge Putin in ein paar Tagen<br />

den Angriff auf die Ukraine befehlen würde. Die USA<br />

und England riefen dann zur sofortigen Evakuierung<br />

ihrer Bürger:innen auf, Deutschland und an<strong>der</strong>e europäische<br />

Län<strong>der</strong> folgten. Unsere ukrainischen Teammitglie<strong>der</strong><br />

lebten bereits seit acht Jahren in einem<br />

Infokrieg und haben, abgestumpft durch das ständige<br />

Säbelrasseln, diese Warnung nicht ernst genommen.<br />

Aber unsere amerikanischen und englischen Schauspieler,<br />

die wir erwarteten, reisten nicht mehr an. Da<br />

wir die Verantwortung für unser Team nicht tragen<br />

konnten und wollten, schickten wir auch alle an<strong>der</strong>en<br />

aus Berlin angereisten Teammitglie<strong>der</strong> nach Hause.<br />

Ryanair hob seine Flugpreise an – Flüge für 28 Euro<br />

kosteten schlagartig 900 Euro. Auch ein Beispiel für<br />

die Wucherungen <strong>der</strong> entfesselten Marktwirtschaft<br />

– die Nachfrage nach einem gegebenenfalls lebensrettenden<br />

Sitzplatz im Flugzeug regelt den Preis. Zu<br />

dritt blieben wir dann noch einen Tag, um mit dem<br />

ukrainischen Team wenigstens noch einige Räume zu<br />

filmen und Drohnenaufnahmen zu machen. Letztlich<br />

verließen auch wir das Land: sechs Tage, bevor <strong>der</strong> zivile<br />

Luftraum geschlossen wurde, wie sich dann kurz<br />

darauf herausstellte. Ich hoffte damals noch, nach<br />

kurzer Zeit wie<strong>der</strong> zurückkehren zu können. Es fühlte<br />

sich falsch an, alles stehen und liegen zu lassen.<br />

Heute lebt die Familie unseres ukrainischen Location-Managers<br />

mit uns in unserer Wohnung in Berlin,<br />

Freunde aus unserem Team in <strong>der</strong> Nachbarschaft und<br />

bei Freunden. Es werden weitere kommen. Und an<strong>der</strong>e<br />

Teammitglie<strong>der</strong>, mit denen wir gerade noch gearbeitet<br />

und gefeiert haben, die glaubten, es würde nie so weit<br />

kommen, kämpfen jetzt und wir bangen um sie.<br />

DER DREH WAR<br />

WIE EIN<br />

SURREALES FEST<br />

Jetzt, beim Schneiden des Films, höre ich die Texte in<br />

einem neuen Resonanzraum und erschrecke, wie sie<br />

so vieles von dem, was wir gerade erleben, thematisieren<br />

und deutlich benennen. So lesen sich beispielsweise<br />

Sätze von Tacitus aus <strong>der</strong> Obdachlosen-Szene<br />

als exakte Zustandsbeschreibung: »Sie haben die Welt<br />

geplün<strong>der</strong>t und das Land in ihrem Hunger nackt ausgezogen.<br />

Sie werden von Gier getrieben. Sie verwüsten,<br />

sie metzeln nie<strong>der</strong>, sie reißen unter Vorspiegelung<br />

168


falscher Tatsachen alles an sich. Und all das bejubeln<br />

sie als den Aufbau eines Imperiums. Und wenn als Folge<br />

daraus am Ende nichts als eine Wüste zurückbleibt,<br />

nennen sie das Frieden.« Der Krieg ist ein machtvolles<br />

Mittel, sich zu bereichern, nicht nur territorial, son<strong>der</strong>n<br />

auch in monetärer Form: Erst floriert die Waffenindustrie<br />

des angreifenden Landes, und wenn das Land<br />

zerstört und die Schlacht gewonnen ist, kommen die<br />

feindlichen Bauunternehmen des vermeintlich befriedenden<br />

Aggressors, die dann alles neu aufbauen.<br />

Auch deshalb wird so erbittert um den Sieg gekämpft.<br />

Wir haben das ja vor nicht langer Zeit im Irak gesehen.<br />

Haben sich angesichts <strong>der</strong> umwälzenden, grausamen Ereignisse<br />

Zweifel eingestellt am eigenen Tun, an <strong>der</strong> künstlerischen<br />

Arbeit? O<strong>der</strong> siehst du die Hinwendung an die<br />

Kunst in diesen Zeiten als rettende Kraft?<br />

Die Ohnmacht trifft uns alle gleichermaßen. Fragen,<br />

was man mit seiner Lebenszeit macht, wofür man<br />

sich engagiert, werden natürlich vordringlicher. Aber<br />

konkret zu EUPHORIA: Wir werden dieses Projekt mit<br />

allergrößter Entschlossenheit zu Ende führen, auch<br />

wenn das jetzt an<strong>der</strong>norts geschehen muss. Jedes<br />

<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>, die wir bis jetzt gedreht haben, ist beseelt<br />

von <strong>der</strong> Leidenschaft und Hingabe unseres Teams aus<br />

Kiew und <strong>der</strong> ukrainischen Darsteller:innen. Allein zu<br />

wissen, dass alle Leute, die dort zu sehen sind, sich<br />

jetzt in den schmerzhaftesten Lebenssituationen befinden,<br />

ist Motivation genug, weiterzumachen.<br />

JULIAN ROSEFELDT, geboren 1965 in München, Filmkünstler. Seine perfekt choreografierten<br />

Filminstallationen werden weltweit gezeigt. Die Bil<strong>der</strong> scheinen aus <strong>der</strong> Welt des Kinos<br />

entsprungen, dabei greift Rosefeldt gesellschaftliche Themen, kulturelle Identitäten und<br />

Mythen in vielschichtigen Erzählformen auf und vereint Einflüsse aus bilden<strong>der</strong> Kunst,<br />

Architektur, Popkultur und Film. An <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2016 begeisterte seine Arbeit<br />

Manifesto das Publikum. Sein neues Werk EUPHORIA entstand über einen Zeitraum von<br />

fast einer Dekade. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist <strong>der</strong> Prozess noch nicht abgeschlossen,<br />

nicht zuletzt, weil Pandemie und Krieg die Fertigstellung vor immer wie<strong>der</strong> neue<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen stellen.<br />

Fotos: Veronika Bures (Julian Rosefeldt)<br />

169


RES<br />

VON JOANNA BEDNARCZYK<br />

RESPUBLIKA<br />

Łukasz Twarkowski / Bogumil Misala / Joanna Bednarczyk / Fabien Lèdè / Lithuanian National Drama Theatre<br />

Schauspiel / Rave<br />

ab 9. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 62 _______________ www.ruhr3.com/respublika<br />

170


Es ist <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Pandemie, als Łukasz anruft und<br />

sagt, dass er meine Hilfe braucht. Ich kenne ihn nicht gut.<br />

Wir haben uns einige Male in unserem Leben bei Theaterveranstaltungen<br />

gesehen. Je<strong>der</strong> kennt jeden in <strong>der</strong> Theaterwelt,<br />

aber nicht immer beson<strong>der</strong>s gut. Wir werden uns<br />

bald sehr gut kennenlernen.<br />

*<br />

Am 1. März 2019 steigt mein Partner in ein Flugzeug nach<br />

Washington. Er soll dort fünf Monate als Stipendiat verbringen.<br />

Der Plan ist, dass ich mich ihm im April anschließe.<br />

Ich schließe mich nicht an. Der Beginn <strong>der</strong> Pandemie<br />

»erwischt« mich in meinem Heimatdorf, wo ich meine<br />

Eltern besuche. Ich bleibe bei ihnen. Ich schreibe einen<br />

Roman. Ich rufe meinen Freund an. Ich lese Bücher und<br />

Nachrichten. In Zooms erzählt mir Łukasz von einer seltsamen<br />

Gruppe, <strong>der</strong> er angehört. Je<strong>der</strong> Tag verläuft gleich.<br />

*<br />

Ende März 2020 – <strong>der</strong> weltweite Lockdown dauert seit<br />

mehreren Wochen an. Die Nachrichten aktualisieren fortlaufend<br />

die Zahl <strong>der</strong> Infektionen und Opfer, am tragischsten<br />

ist es in Italien. Ich erhalte die Ergebnisse einer Untersuchung,<br />

die ich vor <strong>der</strong> Pandemie habe machen lassen.<br />

Ich bin krank. Ich benötige eine Operation. Die Ärztin sagt<br />

mir, dass die Krankenhäuser keine an<strong>der</strong>en Operationen<br />

durchführen als solche, die Leben retten. Ich muss warten.<br />

Einer meiner Lymphknoten ist geschwollen. Bei einem<br />

privaten Arztbesuch bekomme ich ein Antibiotikum. Der<br />

öffentliche Gesundheitssektor befasst sich nur noch mit<br />

Covid. Die Angst wächst. Ich mache mir Sorgen um meine<br />

Gesundheit. Ich mache mir Sorgen ums Geld. Alle Produktionen,<br />

die ich geplant hatte, wurden abgesagt. Der<br />

Kontakt mit meinem Freund in Washington über Facetime<br />

macht mich fertig. Schließlich kehre ich nach Warschau<br />

zurück, um mich mit dem Projekt von Łukasz und seiner<br />

Gruppe zu befassen. Als ich verreiste, dachte ich, ich würde<br />

nach einer Woche zurückkehren. Ich war zwei Monate<br />

weg. Die Blumen sind vertrocknet. Jemand hat mir mein<br />

Fahrrad aus dem Treppenhaus geklaut. Weiterhin werden<br />

Flüge aus Washington wenige Stunden vor dem Abflug<br />

gestrichen. Ich bin einsam, fürchte mich. Ich weiß nicht,<br />

was ich mit mir anfangen soll. Die Welt ist seltsam und<br />

fremd. Ich habe die Zeiten, in denen ich lebe, nie wirklich<br />

gemocht. Jetzt gefallen sie mir noch weniger.<br />

*<br />

Łukasz erzählt mir immer mehr von seiner Gruppe. Er<br />

nennt sie Respublika. Sie leben in <strong>der</strong> Nähe von Vilnius<br />

und verbringen ihre Tage damit, Raves vorzubereiten und<br />

verbringen die Nächte auf diesen Raves. Aus dem, was er<br />

sagt, schließe ich, dass dies keine riesigen Raves sind. Ein<br />

Dutzend Leute tanzt einfach im Wald, unter ihnen auch<br />

Łukasz. Er sagt, sie wollen raus aus dem Wald und anfangen,<br />

die Welt zu bereisen. Sie wollen Raves organisieren,<br />

aber keine gewöhnlichen Raves. An<strong>der</strong>e. Solche, die an<br />

eine Theatervorstellung erinnern. O<strong>der</strong> einen Film. O<strong>der</strong><br />

eine Ausstellung. Sie brauchen ein Skript für ihre Auftritte.<br />

Jemand, <strong>der</strong> den gesamten Weg von A bis Z aufschreibt.<br />

Ein Drehbuch, das man an verschiedenen Orten wie<strong>der</strong>holen<br />

kann. Wie eine Show. Łukasz schickt mir Aufnahmen<br />

vom Aufenthalt <strong>der</strong> Gruppe im Wald. Mehrere Dutzend<br />

Stunden, mehrere Dutzend Gigabytes. Ich bin Schriftstellerin,<br />

Textdateien nehmen wenig Platz weg. Zum ersten<br />

Mal in meinem Leben kaufe ich externe Festplatten, um<br />

weitere Aufnahmen darauf zu laden. Ich habe mir nie gerne<br />

Aufnahmen von Proben, Improvisationen und Übungen<br />

angesehen. Ich breite weitere Puzzles auf dem Boden aus<br />

und höre einfach nur zu. Die Leute auf den Aufnahmen<br />

sitzen sowieso meistens da und sprechen. Der Ausdruck<br />

ihrer Gesichter interessiert mich nicht. Ich höre alles über<br />

die Stimme. Die Worte sind kurz und knapp, weil eines <strong>der</strong><br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong> sie aus dem Litauischen übersetzt. Er<br />

ist kein professioneller Übersetzer. Ich vermute, er übersetzt<br />

»so ungefähr«, ohne Finesse.<br />

*<br />

ICH BEGINNE LANGSAM<br />

ZU VERSTEHEN, DASS<br />

ES IHNEN UM EIN<br />

ANDERES, VIELLEICHT<br />

BESSERES MODELL DER<br />

WELT GEHT. UND DASS<br />

SIE VERSUCHEN, DIESE<br />

WELT IN SICH SELBST<br />

AUFZUBAUEN, DURCH<br />

PRIVATE UND SEHR<br />

INTIME ERFAHRUNGEN.<br />

In weiteren Zooms gibt mir Łukasz mehr Informationen<br />

über die Gruppe. Ich bin unglücklich und habe Angst.<br />

Mein Partner sitzt im Ausland fest, und ich versuche mithilfe<br />

von Videoschnipseln und Łukasz’ Geschichten zu<br />

verstehen, worum es dieser Gruppe von Leuten geht, die<br />

im Wald leben und Techno auflegen. Aus Angst und Einsamkeit<br />

fange ich an, innerlich alles zu sabotieren, worüber<br />

Łukasz spricht, aber ich mache es so, dass er es nicht<br />

registriert. Er ist meine einzige Verbindung zur Gruppe.<br />

Ich habe den Eindruck, dass er kein guter Link ist. Er ist<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage, mir gut zu übermitteln, was ihre Vision<br />

ist. Was sie tun und weshalb. Ich stelle ihm viele Fragen,<br />

bohre nach, weil ich trotz allem das Gefühl habe, dass<br />

ich mich auf eine seltsame Weise zu dieser Gruppe hingezogen<br />

fühle, auch wenn seine Erklärungen unklar sind.<br />

Vielleicht kommt meine Sabotage daher, dass die Gruppe<br />

genau das macht, was ich gerne machen würde, mir aber<br />

<strong>der</strong> Mut fehlt? Also rede ich mir lieber ein, dass sie ein<br />

Haufen Freaks sind?<br />

*<br />

171


Ich merke, dass das Wesen <strong>der</strong> Gruppe empfindsam und<br />

nicht leicht zu beschreiben ist. Ich beginne langsam zu<br />

verstehen, dass es ihnen um ein an<strong>der</strong>es, vielleicht besseres<br />

Modell <strong>der</strong> Welt geht. Und dass sie versuchen, diese<br />

Welt in sich selbst aufzubauen, durch private und sehr<br />

intime Erfahrungen. Sie wollen das System nicht än<strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> gar sprengen. Sie sind keine Anarchisten. Sie verstehen<br />

die Utopie nicht als ein allgemeines, politisches System,<br />

son<strong>der</strong>n als eine zarte innere Struktur.<br />

Sie sind sensibel und manchmal übersensibel, aber sie<br />

erinnern nicht an Hipster. Eines <strong>der</strong> Mädchen in den<br />

Aufnahmen hat eine rasierte Achsel, aber die Achsel ist<br />

nicht steril und trocken. Man sieht auf ihr schwarzen, vom<br />

Schweiß zusammengeklebten, Staub.<br />

*<br />

Łukasz erzählt mir, dass eine <strong>der</strong> Ideen, die sie überprüfen,<br />

die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist. Es<br />

ist ihnen gelungen von irgendeiner kulturellen Einrichtung<br />

in Vilnius ein Grundeinkommen von 15 Euro pro Tag an<br />

Land zu ziehen – und davon leben sie. 15 Euro. Nicht mehr<br />

und nicht weniger. Wie ist das? Bezahlt zu werden, selbst<br />

wenn man nicht arbeitet. Keine riesigen Summen, aber immerhin<br />

solche, mit denen man überleben kann. Aufhören<br />

zu arbeiten, um die Tage damit zu verbringen, nach einer<br />

Erfahrung zu suchen, <strong>der</strong>en Existenz man vermutet, aber<br />

wo nicht ganz klar ist, was sie eigentlich ist. Auf <strong>der</strong> Suche<br />

nach etwas, das jenseits aller Vorstellungskraft liegt, weil<br />

man es sich nicht vorstellen kann. Es stimmt nicht, dass<br />

<strong>der</strong> Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.<br />

AUF DER SUCHE<br />

NACH ETWAS, DAS<br />

JENSEITS ALLER<br />

VORSTELLUNGSKRAFT<br />

LIEGT, WEIL MAN<br />

ES SICH NICHT<br />

VORSTELLEN KANN.<br />

Es gibt sie, aber wir können sie uns nicht vorstellen. Wir<br />

können uns nicht vorstellen, wo die Vorstellungskraft endet.<br />

Und sie endet eben an diesem Punkt, den wir uns nicht<br />

vorstellen können. Doch manchmal können wir die Faktoren<br />

aufspüren, die die Vorstellungskraft einschränken und<br />

strukturieren. Łukasz und seine Freunde entschieden sich<br />

für den Kapitalismus und setzten seine Prinzipien für eine<br />

Weile außer Kraft. Sie hörten auf zu arbeiten und began-<br />

172


nen zu tanzen, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass sich etwas in ihrem<br />

Bewusstsein erweitern würde. Dass ihr Verstand die vertrauten<br />

Grenzen <strong>der</strong> Erkenntnis überschreitet.<br />

*<br />

Ich weiß, dass ich ohne etwas Lektüre kein Drehbuch für<br />

die Gruppe schreiben kann. Ich lese Harari, Hobbes und<br />

Meillassoux. Die Pandemie entspannt sich ein wenig und<br />

die Ärztin legt einen Termin für den Eingriff fest. Flüge aus<br />

Washington sind weiterhin ausgesetzt. Ich gehe allein ins<br />

Krankenhaus. Meinen Kindle mit Hope in the Dark von<br />

Solnit nehme ich mit. Was für ein Paradox – seit vielen<br />

Wochen arbeite ich von morgens bis abends an einem<br />

Drehbuch über eine Gruppe, die überhaupt nicht gearbeitet<br />

hat. Während ich die Ideen zur neuen Sensibilität,<br />

zum Feingefühl gegenüber sich selbst, zum Untergraben<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Indikatoren von Erfolg verinnerliche,<br />

schalte ich, eine halbe Stunde nachdem ich aufwache,<br />

meinen Kindle an. Die Buchstaben springen vor meinen<br />

Augen hin und her, aber ich gebe nicht auf. Ich lese weiter.<br />

Nach zwei Stunden erscheint die Aufschrift »book<br />

completed«. Ich gehe zu den Krankenschwestern und erkläre,<br />

dass ich nun entlassen werden kann. Sie schlagen<br />

vor, dass ich noch ein paar Stunden bleiben solle, aber ich<br />

bestehe darauf, dass sie mich gehen lassen. Ich sage, es<br />

ginge mir gut, obwohl mir immer noch schwindelig ist.<br />

*<br />

Nichts, worüber Łukasz mir erzählt und was ich selbst<br />

schlussfolgere, während ich die Geschichte <strong>der</strong> Gruppe<br />

kennenlerne, überzeugt mich. Vielleicht bin ich eine<br />

Pessimistin, vielleicht hochnäsig und halte den Rest <strong>der</strong><br />

Menschheit für dümmer als mich. Ich glaube nicht, dass<br />

die Erfahrung, die die Gruppe sucht und versucht, mithilfe<br />

eines Drehbuchs einzuprogrammieren, etwas Beson<strong>der</strong>es<br />

und Schönes sei. Es riecht ein bisschen nach New Age,<br />

ein bisschen nach 68ern, jedenfalls nach nichts Frischem.<br />

Ich lese philosophische Bücher über die Technokultur.<br />

Über in Trance verbundene Körper. Über die Energie des<br />

Beats, <strong>der</strong> die Grenzen des Kapitalismus ausdehnt. Ich<br />

habe den Eindruck, dass diese Bücher von einem Algorithmus<br />

geschrieben wurden, <strong>der</strong> seinen Satzbau mit<br />

Subjekt und Prädikat aus Büchern von Foucault, Deleuze<br />

und Lacan erlernt hat. Dieses Doppel-Gemoppel, das ich<br />

in großen Mengen aufnehme, denn Weichheit, Feingefühl<br />

und es mir herauszunehmen, nur dann zu arbeiten, wenn<br />

ich Lust dazu habe, empfinde ich als Schwäche. Ich versuche<br />

diese tanzenden Menschen zu beschreiben, die an die<br />

Magie <strong>der</strong> Gemeinschaft und die multidirektionale Liebe<br />

glauben, während ich allein in einer Einzimmerwohnung<br />

sitze und mir ein Regime auferlege: jeden Tag ein Dutzend<br />

Seiten des Skripts zu schreiben. Ich fühle mich wie ein<br />

Elefant, <strong>der</strong> versucht, durch einen Porzellanladen zu gehen<br />

– ohne eine einzige Tasse zu zerschlagen.<br />

*<br />

173


Wir beschließen mit Łukasz, dass wir die Gruppe so beschreiben,<br />

als ob es sie schon seit Jahrzehnten gäbe, was<br />

bedeutet, dass ich mich in meiner Vorstellung in die Zukunft<br />

bewegen muss. Ich habe Angst, dass ich <strong>der</strong> Aufgabe<br />

nicht gewachsen bin. Dass meine Vorstellungskraft sich<br />

als recht schwach herausstellt. Dass ich keine Zukunft für<br />

eine Gruppe erfinden werde, die ich noch nicht einmal in<br />

<strong>der</strong> Gegenwart kenne. Ich habe Angst vor Klischees. Die<br />

Popkultur kennt viele Zukunftsvisionen. Zum Beispiel überall<br />

Wüste. Ich will nicht, dass diese Visionen in mein Skript<br />

einsickern. Lange weiß ich nicht, was mir noch einfallen<br />

könnte. Ich schlage Łukasz vor, dass die Welt, über die wir<br />

erzählen, frei von Tieren ist. Sie sind alle ausgestorben.<br />

Und manche Teile des menschlichen Bewusstseins lassen<br />

sich mithilfe von Pharmakologie sehr gezielt ausschalten.<br />

Der Körper schmerzt, aber das Gehirn weiß es nicht. Die<br />

Arme und Beine bewegen sich seit 72 Stunden, aber ihr<br />

Besitzer fühlt keine Müdigkeit. Ich weiß nicht, ob das originell<br />

ist, aber im Moment ist mir das egal. Ich fühle mich<br />

von <strong>der</strong> Gruppe betrogen. Sie predigen Liebe und Zärtlichkeit,<br />

aber keiner von ihnen hat mich zu sich eingeladen. Sie<br />

warten auf das Drehbuch. Wenn es in Ordnung ist, dann<br />

werde ich mich ihnen anschließen können.<br />

*<br />

WENN WIR TANZEN,<br />

ATMET DANN IN<br />

UNSEREN MUSKELN<br />

DIE ERINNERUNG VON<br />

ANDEREN TANZENDEN<br />

KÖRPERN?<br />

Es gibt eine Szene im Skript, die entstand, als ich <strong>der</strong><br />

Gruppe im August 2020 beitrat. Die Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

blicken auf ihr Ich aus <strong>der</strong> Vergangenheit zurück. Die aus<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit sind wie die Amische gekleidet. Sie machen<br />

dieselben Gesten wie jene aus <strong>der</strong> Gegenwart. Sie<br />

sprechen dieselben Sätze, als würde ein Echo zwischen<br />

den beiden Zeitperspektiven hin und her pendeln. Bei diesem<br />

Treffen haben wir versucht, die Träger des Fortbestehens<br />

zu finden. Hinterlassen Wesen, die im Laufe <strong>der</strong><br />

Zeit durch an<strong>der</strong>e Wesen ersetzt werden, Spuren im Universum?<br />

Wenn dem so ist, dann wie? In <strong>der</strong> Sprache? Im<br />

Unbewusstsein? In den Genen? In <strong>der</strong> Erinnerung? Wenn<br />

wir tanzen, atmet dann in unseren Muskeln die Erinnerung<br />

von an<strong>der</strong>en tanzenden Körpern?<br />

*<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe habe ich seit 1,5 Jahren nicht<br />

mehr gesehen. Seit unserem letzten gemeinsamen Tanz<br />

habe ich viele Male getanzt. An an<strong>der</strong>en Orten, mit an<strong>der</strong>en<br />

Menschen. Ich bin Atheistin, ich glaube nicht an Gott.<br />

Oft fällt es mir deshalb sehr schwer, beson<strong>der</strong>s jetzt. Seit<br />

Tagen wache ich auf und denke mir: Ja, du lebst noch.<br />

Ich frage mich, ob etwas von mir irgendwo bleiben wird,<br />

wenn ich sterbe?<br />

Es geht mir nicht um materielle Dinge. Ich denke vielmehr<br />

an die Kontinuität bestimmter Bewegungen, intellektueller<br />

Prozesse, an private Philosophie. Ich schätze, ich werde<br />

einfach mit meinem Tod verschwinden, das war es dann.<br />

Aber ich weiß, dass bestimmte Emotionen und Gefühle,<br />

die ich erlebe, in genau <strong>der</strong> gleichen Gestalt in einer an<strong>der</strong>en<br />

Person erscheinen werden. Eine dieser emotionalen<br />

Konstellationen, die ich spüre – und dessen bin ich mir<br />

sicher –, die in Zukunft jemand nachspüren wird, ist das<br />

Gefühl, das mich erfüllt, wenn ich mit an<strong>der</strong>en Menschen<br />

in irgendeinem Raum tanze.<br />

*<br />

Während ich diesen Text schreibe, reiße ich mich immer<br />

wie<strong>der</strong> vom geöffneten Fenster meines Schreibprogramms<br />

los und schaue auf die Nachrichten. Es ist Anfang<br />

März <strong>2022</strong>. Seit einer Woche ist Krieg in <strong>der</strong> Ukraine.<br />

*<br />

Bis 2020 hatte ich nie Angststörungen. O<strong>der</strong> ich wusste<br />

nicht, dass ich daran litt, weil ich ständig in Bewegung<br />

war und es keine Gelegenheit gab, die Angst zu spüren,<br />

die mich vielleicht manchmal erfüllte. Als die Pandemie<br />

begann und die Tage leer wurden, hatte die Angst endlich<br />

genug Raum und Zeit. Hey, ich bin hier, lernen wir uns<br />

kennen. Ich hasse sie. Ich bevorzuge gewöhnliche Angst.<br />

Sie dauert nicht so lange und man weiß, woher sie kommt.<br />

*<br />

Bewegung ist gut gegen Angst. Wenn du in Bewegung<br />

bist, hat Angst keinen Platz. Deshalb sind die Clubs am<br />

Wochenende voller tanzen<strong>der</strong> Menschen und an Wochentagen<br />

rennen die Leute zum Bus, als ob <strong>der</strong> nächste nicht<br />

in fünf Minuten käme.<br />

*<br />

In <strong>der</strong> Pandemie stellte sich heraus, dass die Einzimmerwohnung,<br />

in <strong>der</strong> ich mit meinem Partner lebte, für uns<br />

nicht ausreichte. Wir nahmen all unser Geld zusammen<br />

und kauften eine Wohnung. Ein Jahr lang haben wir sie<br />

renoviert. In Polen ist die Renovierung ein traumatischer<br />

Prozess. Ich habe zwei harte Jahre hinter mir und noch<br />

schlimmere Jahre vor mir. Die Angst ist überwältigend. Ich<br />

laufe in meiner neuen Wohnung umher und bleibe hin und<br />

wie<strong>der</strong> hängen. Ich stehe still und reglos da. Ab und zu<br />

schaue ich aus dem Fenster und beobachte das Gebäude<br />

<strong>der</strong> polnischen Spionageabwehr. Meine Wohnung befindet<br />

sich in einem Altbau, <strong>der</strong> von Regierungsgebäuden<br />

des Militärs umgeben ist. Ich stelle mir vor, dass ich eines<br />

Tages nicht aufwache und es nicht einmal merke – meine<br />

Nachbarn auch nicht.<br />

*<br />

Als Anfang 2020 in den Medien geschrieben stand, dass<br />

die Pandemie bis zu zwei Jahre andauern könne, habe ich<br />

gesagt: Das ist unmöglich. Als mich mein Vater vor drei Wochen<br />

fragte, ob ich glaube, dass es einen Krieg geben wird,<br />

sagte ich: ein gewöhnlichen nicht, vielleicht einen hybriden.<br />

*<br />

174


Ich habe den Wissenschaftlern immer geglaubt, die die<br />

Menschheit vor <strong>der</strong> Klimakatastrophe gewarnt haben.<br />

Bis vor kurzem hatte ich jedoch gehofft, dass sie nicht so<br />

schlimm werden wird, wie angekündigt. Jetzt bin ich überzeugt,<br />

dass sie sogar noch schlimmer werden wird. Und<br />

dass sie eintreten wird, bevor wir dafür bereit sind.<br />

*<br />

Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />

man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />

selbst erlebt. Ich weiß, dass die Gemeinschaft, die bei<br />

solchen Veranstaltungen entsteht, absolut real ist. Sie ist<br />

auch von kurzer Dauer. Über viele Stunden, Wochen und<br />

Monate ist man mit jemandem zusammen, mit dem man<br />

ein Gefühl <strong>der</strong> Begeisterung teilt, und dann kommt die unvermeidliche<br />

Trennung.<br />

Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />

man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />

selbst erlebt.<br />

Ich glaube jedoch daran, dass sich <strong>der</strong> Körper und das<br />

Gehirn an vieles erinnern. Die Rezeptoren speichern Erinnerungen<br />

an all das, was stark genug war, um in ihnen eingeschrieben<br />

zu werden. Respublika ist für viele Menschen<br />

eine solche Erfahrung. Die Erfahrung von Offenheit, Freiheit,<br />

Befreiung und Gemeinschaft, die bei Respublika-Teilnehmern<br />

entsteht, ist ein Schatz, den man in sich bewahren<br />

kann. Wird sich die Welt dadurch verän<strong>der</strong>n? Nein.<br />

Wird sich <strong>der</strong> einzelne Mensch dadurch verän<strong>der</strong>n? Wahrscheinlich<br />

nicht. Geht es unbedingt um die Verän<strong>der</strong>ung?<br />

Vielleicht nicht. Reicht <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung,<br />

um zu fühlen, dass man alles Mögliche dafür getan hat?<br />

Nein. Ist <strong>der</strong> Versuch das Einzige, was im Rahmen unserer<br />

Möglichkeiten liegt? Ich glaube schon. Ist das eine triviale<br />

Schlussfolgerung? Ja. Aber genau an diesem Punkt endet<br />

meine Vorstellungskraft.<br />

*<br />

Respublika war <strong>der</strong> Versuch, sich die Zukunft vorzustellen.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe leben in einer Welt ohne Tiere.<br />

Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Facebook und<br />

Ryanair gibt es nicht mehr. Die Gruppe hat ihre eigene Infrastruktur<br />

dabei – Musikausrüstung und Attrappen von<br />

Wohnräumen, in denen sie vor vielen Jahrzehnten gelebt<br />

haben. In dieser behelfsmäßigen, nomadischen Welt tauchen<br />

sie in Musik ein. Was suchen sie in ihr? Wahrscheinlich<br />

viele Dinge. O<strong>der</strong> vielleicht nichts. Die Zukunftsvision,<br />

die Łukasz und ich entwickelt haben, ist melancholisch<br />

und traurig, aber nicht ohne Liebe. Heute, fast zwei Jahre<br />

nach ihrer Entstehung, erscheint sie mir nicht feinfühlig<br />

genug, vielleicht sogar peinlich. Während ich diesen Text<br />

schreibe, wird mir klar, dass diese Vision von Anfang an<br />

durch die Zusammenarbeit zweier völlig unterschiedlicher<br />

Köpfe, Charaktere und Temperamente geprägt war. Mein<br />

Gesicht ist wie Sandstein. Ab und zu bewegt sich etwas<br />

darin, wie Sandkörner bei einem leichten Windstoß auf<br />

einem Stein. Łukasz’ Gesicht ist wie eine Handtasche,<br />

aus <strong>der</strong> in einer Sekunde alles herausquillt: Lächeln, Zähne,<br />

Französisch, Polnisch, Englisch, Russisch. Und kleiner<br />

Rauch vom Iqos. Meine Skepsis und seine Hoffnung.<br />

Wir haben etwas voneinan<strong>der</strong> gelernt, obwohl wir wahrscheinlich<br />

nie darüber nachgedacht haben, was genau es<br />

war. Wenn ich heute an die Zukunftsvision denke, die wir<br />

im Skript zu Respublika nie<strong>der</strong>geschrieben haben, versuche<br />

ich, uns nicht vorzuwerfen, dass wir den Krieg nicht<br />

vorhergesehen haben. Dass wir in unserer Zukunftsvision<br />

das Erlebnis einer Gruppe in den Mittelpunkt gestellt haben,<br />

die Techno spielt, tanzt und an<strong>der</strong>e dazu einlädt, und<br />

– selbst wenn die Teilnehmer von Melancholie erfüllt sind<br />

– niemand stirbt. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen<br />

wird. Ich weiß es genauso nicht, wie ich es vor zwei Jahren<br />

nicht wusste. Aber eines weiß ich – solange es uns gibt,<br />

werden wir immer lieben und tanzen – selbst in den allerschlimmsten<br />

Zeiten.<br />

Aus dem Polnischen von Oliver Chrzanowski<br />

JOANNA BEDNARCZYK, Dramaturgin und Autorin, studierte in Krakau Psychologie<br />

und russische Philologie. Außerdem absolvierte Sie die Fakultät für Theaterregie<br />

an <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Theaterkünste in Krakau.<br />

175


DIE<br />

ZUKUNFT<br />

IM<br />

RÜCKEN<br />

GESPRÄCHE MIT PERFORMER:INNEN<br />

VON HILLBROWFICATION<br />

HILLBROWFICATION<br />

Constanza Macras / DorkyPark<br />

Tanz<br />

ab 25. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 38 _______________ www.ruhr3.com/macras<br />

176


Hillbrowfication wurde 2018 von <strong>der</strong> Choreografin<br />

Constanza Macras in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Choreografin<br />

Lisi Estarás im Hillbrow Theater in Johannesburg<br />

produziert. In <strong>der</strong> Produktion kamen Performer:innen<br />

mehrerer Generationen zusammen; so wirkten 21 Kin<strong>der</strong><br />

und Jugendliche aus Hillbrow im Alter von 5 bis 19 Jahren<br />

und drei professionelle Tänzer:innen aus Berlin und<br />

Johannesburg mit.<br />

Vier Jahre nach <strong>der</strong> Uraufführung sind die Ensemblemitglie<strong>der</strong>,<br />

die damals Kin<strong>der</strong> waren, inzwischen Teenager.<br />

Diejenigen, die Teenager waren, sind nun junge Erwachsene.<br />

Einige wohnen immer noch in Hillbrow, an<strong>der</strong>e sind<br />

weggezogen. »Mit <strong>der</strong> Zeit wachsen wir, und ich glaube,<br />

die Inszenierung wächst mit uns. Inzwischen betrachten<br />

wir sie an<strong>der</strong>s als früher. Und die Welt sehen wir auch<br />

an<strong>der</strong>s, unsere Ansichten haben sich verän<strong>der</strong>t,« meint<br />

Nompilo Hadebe.<br />

Heute schauen wir gemeinsam auf den Entstehungsprozess<br />

zurück und denken darüber nach, wie unsere Erlebnisse<br />

<strong>der</strong> letzten vier Jahre unsere Vorstellungen von <strong>der</strong><br />

Arbeit, von Hillbrow und von einer Zukunft geprägt haben.<br />

Der folgende Text verfolgt die Spuren <strong>der</strong> Gespräche<br />

zwischen den Mitwirkenden Nompilo Hadebe, Tshepang<br />

Lembelo, Jackson Magotlane, Tisetso Maselo, Pearl Sigwagwa<br />

aus Hillbrow und mir, Tamara Saphir, einer argentinischen<br />

Künstlerin aus Berlin, die im Projekt als Dramaturgin<br />

mitgewirkt hat.<br />

Weltraumgeschichten, Zukunftsstädte<br />

Hillbrow ist ein Stadtteil von Johannesburg in Südafrika.<br />

Einst als Vorzeigebezirk geplant, wurde das Viertel während<br />

<strong>der</strong> Siebzigerjahre zu einem ausschließlich weißen<br />

Gebiet. Mit seinen herrlichen Parks, Hochhäusern und<br />

Cafés wurde es später ein eher gemischtes Viertel und<br />

ein Schwerpunkt <strong>der</strong> aufsteigenden Schwarzen Mittelklasse.<br />

Gegen Ende <strong>der</strong> Apartheid verließ die Mittelklasse<br />

das Viertel eilig und zog in die Außenbezirke. Immer mehr<br />

Gebäude wurden besetzt. Mit dem Verfall des Bezirks<br />

gingen die Preise abrupt in den Keller, und Hillbrow wurde<br />

attraktiv für Migrant:innen aus an<strong>der</strong>en afrikanischen<br />

Län<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> Suche nach günstigerem Wohnraum. In<br />

den Neunzigern wurde das Viertel entkernt, Verbrechen,<br />

Bandenaktivitäten und fremdenfeindliche Gewalt boomten.<br />

Seitdem steht Hillbrow häufig synonym für Verbrechen,<br />

Gewalt und Armut.<br />

Tshepang: An Hillbrowfication finde ich gut, dass alles<br />

wirklich dort stattfindet. In Hillbrow gibt es nämlich<br />

nicht nur Gewalt, es hat auch positive Seiten. Es<br />

gibt einen starken Zusammenhalt und viele Vereine,<br />

die den Leuten helfen. Es ist sehr vielfältig. Hier leben<br />

Menschen aus verschiedenen Län<strong>der</strong>n, vor allem aus<br />

Afrika (Mosambik, Namibia, Kongo, Nigeria …). Für uns<br />

Südafrikaner:innen ist das prima, wir können an<strong>der</strong>e<br />

Kulturen kennenlernen, sie respektieren und miteinan<strong>der</strong><br />

reden.<br />

In Hillbrow war die Gewalt vor vier Jahren schlimmer<br />

als jetzt. Ständig wurde ich auf <strong>der</strong> Straße überfallen.<br />

Das war total stressig! Aber seit dem Lockdown habe<br />

ich den Eindruck, dass es irgendwie ruhiger geworden<br />

ist … Polizei und Soldaten haben ständig patrouilliert.<br />

Nompilo und Jackson sind an<strong>der</strong>er Meinung. Wie Tshepang<br />

wohnen sie immer noch in Hillbrow, finden aber nicht, dass<br />

es sich im Vergleich beson<strong>der</strong>s verän<strong>der</strong>t hat.<br />

Jackson meint sogar: »In vieler Hinsicht ist es schlimmer<br />

geworden. Aber auch unsere Sicht auf das Viertel<br />

hat sich verän<strong>der</strong>t.«<br />

Pearl führt das aus: Als ich klein war, war Hillbrow für<br />

mich einfach ein Ort mit vielen Leuten. Aber als Teenager<br />

habe ich mit einem neuen Bewusstsein auch neue<br />

Ängste entwickelt. Man hört zum Beispiel von gefährlichen<br />

Sachen und Drogen. Man sieht, wie die Leute<br />

da leben, und kapiert, wie arm die sind! Die wohnen<br />

Tshepang Lembelo<br />

177


zusammengequetscht in kleinen Wohnungen, die meisten<br />

Gebäude sind ziemlich heruntergekommen. Die<br />

Lebensbedingungen sind ziemlich mies. Ich habe mich<br />

eher gefragt: Wieso müssen wir uns damit abfinden?<br />

Vielleicht kann man nicht viel än<strong>der</strong>n, aber wir können<br />

uns doch fragen: Wie können wir das verbessern?<br />

Solche Fragen habe ich mir damals gestellt (…) und<br />

ich glaube, ein paar von den Fragen kamen in <strong>der</strong> Produktion<br />

vor. Mit viel Fantasie und Humor vermischt,<br />

aber sie sind da …<br />

Nompilo: Als wir zum Beispiel über die Verbrechensrate<br />

hier nachgedacht haben, kamen wir schließlich auf<br />

eine Geschichte, in <strong>der</strong> uns Handys aus den Händen<br />

wachsen, so dass sie niemand klauen kann!<br />

Als Pearl und Nompilo beschreiben, wie biografische Elemente<br />

in die fiktionalen Motive <strong>der</strong> Produktion einflossen,<br />

kommen wir auf die Proben und die Zusammenarbeit<br />

zu sprechen.<br />

Die Inszenierung kommt zustande<br />

Tshepang: Ich weiß noch, wie wir am Anfang <strong>der</strong> Proben<br />

einfach zusammengesessen und miteinan<strong>der</strong> über<br />

Hillbrow gesprochen haben, über die Tänzer:innen, die<br />

hier wohnen, über die Zukunft … Das hat mir Spaß gemacht.<br />

Der Probenprozess war nicht gerade einfach,<br />

an<strong>der</strong>erseits haben wir uns richtig frei gefühlt. Wir<br />

konnten alles, was uns damals durch den Kopf ging,<br />

auf <strong>der</strong> Bühne ausprobieren und hier miteinan<strong>der</strong> besprechen.<br />

Nompilo Hadebe<br />

Jackson: Zuerst waren die Proben komisch. Wir haben<br />

so viel ausprobiert und hatten keine Ahnung, wie das<br />

nachher zusammenkommt. Aber mit <strong>der</strong> Zeit habe ich<br />

begriffen, wie das Stück von einem Thema zum an<strong>der</strong>en<br />

übergeht.<br />

Pearl: Ich habe viel über meinen Körper herausgefunden<br />

und was <strong>der</strong> so draufhat. Ich weiß noch, dass ich<br />

irgendwas einmal nicht hinbekommen habe und am<br />

nächsten Tag aufgewacht bin und es besser machen<br />

wollte. Das hat mir das Selbstvertrauen gegeben, mich<br />

nicht einzuschränken, nur weil ich kein Profi bin. Das<br />

Team hat immer unterschiedliche Fähigkeiten und Talente<br />

geför<strong>der</strong>t. Dadurch konnten wir uns weiterentwickeln<br />

und das auch zeigen und etwas Beson<strong>der</strong>es<br />

sein. Das war auch gesundheitlich gut! Nach <strong>der</strong> Inszenierung<br />

war ich nicht mehr so müde. Ich weiß nicht,<br />

wie es den an<strong>der</strong>en geht, aber ich bin mir ziemlich sicher,<br />

dass wir auch in <strong>der</strong> Schule besser wurden. Hier<br />

bei den Proben fühlten wir uns auch sicher. Wir waren<br />

praktisch eine Familie. Hier konnten wir zusammenarbeiten<br />

und uns gegenseitig respektieren.<br />

Nompilo: Die Leute, die da für dieses Stück zusammenkamen,<br />

haben sich respektiert und unterstützt,<br />

trotz und wegen aller Alters- und sonstiger Unterschiede.<br />

Oft haben die Älteren auf die Jüngeren aufgepasst.<br />

Pearl: Und diese Dynamiken, die wir im Theater entwickelt<br />

haben, reichten darüber hinaus bis in unser<br />

Privatleben hinein. Wenn jemand etwas durchmachte<br />

o<strong>der</strong> auf krumme Gedanken kam, haben wir uns zusammengetan<br />

und geholfen. Wir waren für einan<strong>der</strong><br />

da. Und irgendwie spürt man das in unserem Umfeld,<br />

bei unseren Eltern zum Beispiel. Ich will nicht sagen,<br />

dass sie Freunde wurden, aber trotzdem haben sie<br />

sich wahrgenommen: Sie haben sich geholfen, wenn<br />

die Kin<strong>der</strong> etwas brauchten, wenn jemand Corona<br />

kriegte, haben sie Essen gemacht usw. Diese Dynamiken<br />

betrafen also nicht nur uns.<br />

Pearls und Nompilos Bemerkungen über die Gruppendynamik<br />

während <strong>der</strong> Proben erinnert mich an all die Diskussionen<br />

über eine »Politik <strong>der</strong> Achtsamkeit«, die heute in<br />

<strong>der</strong> Kunstszene und <strong>der</strong> akademischen Welt so verbreitet<br />

sind. Ich staune darüber, wie die jungen Darsteller:innen<br />

die künstlerische Arbeit spontan mit einer weitergehenden<br />

Beziehung verbinden und so einige <strong>der</strong> Dauerfragen aus<br />

Kunst und Politik ganz konkret in den Vor<strong>der</strong>grund bringen.<br />

Die Zukunft schleicht sich von hinten an<br />

Jackson Magotlane<br />

In »Science fiction and the future« berichtet die Autorin<br />

Ursula Le Guin über die Vorstellung »quechuasprachiger<br />

Andenvölker […], dass man die Vergangenheit, die man<br />

178


ja kennt, sehen kann, sie liegt vor einem, direkt vor <strong>der</strong><br />

Nase. Das ist eher eine Wahrnehmung als eine Handlung,<br />

ein Bewusstsein eher als ein Vorgang. (…) Die Zukunft<br />

liegt im Rücken, über die Schulter sozusagen. Die<br />

Zukunft ist das, was man nicht sehen kann, sofern man<br />

sich nicht umdreht und quasi einen Blick erhascht. Und<br />

manchmal wünscht man sich, man hätte das nicht getan,<br />

denn man wirft einen Blick auf das, was sich von hinten<br />

an einen anschleicht.«<br />

Der futuristische Ansatz dieses Projekts hat uns einen gewissen<br />

Spielraum gegeben, Gefühle und Gedanken über<br />

unsere damalige Gegenwart zu formulieren. Vier Jahre<br />

später liegt einiges dieser »Zukunft« bereits hinter uns.<br />

O<strong>der</strong> vielmehr, um in Le Guins Bild zu bleiben, direkt vor<br />

unserer Nase – da es ja unsere Vergangenheit wurde.<br />

Wenn wir uns unterhalten, wird uns klar, dass die Zeit für<br />

uns unterschiedlich schnell vergeht. Wir lachen darüber,<br />

dass vier Jahre für jemanden im mittleren Alter wie mich<br />

nicht beson<strong>der</strong>s lang ist, während das den jungen aus <strong>der</strong><br />

Gruppe ausgesprochen lang vorkommt.<br />

Tisetso: In unserem Stück geht es um die Zukunft,<br />

aber eigentlich habe ich den Eindruck, dass die Zukunft<br />

jetzt geschieht! Wie soll ich das sagen … Wie<br />

die Technik sich entwickelt und langsam, aber sicher<br />

die Kontrolle übernimmt. Zum Beispiel haben wir früher<br />

mit unseren Lehrerinnen und Lehrern gesprochen.<br />

Jetzt holen wir uns die Hausaufgaben aus den Sozialen<br />

Medien. Hätte ich nicht gedacht, dass die Technik sich<br />

<strong>der</strong>maßen breit macht.<br />

Man kann nirgends mehr hin ohne Handy. Man geht<br />

nicht mehr zur Bank, man überweist Geld mit einer<br />

App auf dem Handy. Man besucht seine Freunde nicht<br />

mehr, stattdessen ruft man über Video an o<strong>der</strong> schickt<br />

eine SMS, wenn man sich vermisst. Und egal, wo man<br />

hingeht, man macht immer Fotos mit dem Handy. Unser<br />

Gedächtnis befindet sich jetzt auf unseren Handys<br />

anstatt in unseren Herzen und Gehirnen.<br />

Ich frage mich, ob Pearls Bild davon, dass jemand »rückwärts<br />

denkt«, in dieselbe Richtung weist, wie das Konzept<br />

<strong>der</strong> »toxischen Nostalgie« von Naomi Klein: »ein krampfhaftes<br />

Festhalten an einer toxischen Vergangenheit und<br />

die Weigerung, eine verwickeltere Zukunft mit mehr Querverbindungen<br />

zu akzeptieren« – welches <strong>der</strong> Grund für<br />

viele unserer demokratischen, geopolitischen und klimatischen<br />

Krisen ist.<br />

Pearl: Wenn ich an all die gefährlichen COVID-Varianten<br />

denke, die noch kommen könnten (…) und diesen<br />

Überlebensmodus, so »je<strong>der</strong> kämpft für sich allein« …<br />

denke ich an Zombies! Ja, ich glaube, wenn ich heute<br />

ein Stück über die Zukunft machen sollte, kämen darin<br />

Zombies vor.<br />

Als es bei uns in Südafrika noch Apartheid gab, standen<br />

die Schwarzen auf <strong>der</strong> einen Seite und die Weißen<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und so weiter … Jetzt gehen die Leute<br />

an<strong>der</strong>s miteinan<strong>der</strong>n um, je nachdem, wie sie zu dieser<br />

ganzen Impfgeschichte stehen, und niemand hört<br />

dem an<strong>der</strong>en zu. Und wenn man geimpft ist, darf man<br />

rein, aber die Ungeimpften nicht. Hierzulande weckt so<br />

etwas alte Ängste! Wir durchleben die Geschichte von<br />

Ausgrenzung und Trennung noch einmal.<br />

Pearl Sogwagwa<br />

Tshepang: Vor vier Jahren war mein Bild von <strong>der</strong> Zukunft<br />

noch weniger technologisch, weniger digital … und dann<br />

kam das Metaverse! Alles wird technischer, die zwischenmenschlichen<br />

Verbindungen gehen verloren.<br />

Pearl: Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, kriege ich<br />

richtig Angst!<br />

Als die Pandemie losging, waren wir zu Hause, das<br />

ging ja noch. Aber dann wurde meine Mutter ernsthaft<br />

krank und kam ins Krankenhaus, und zu Hause wurde<br />

meine Schwester richtig krank, und noch jemanden<br />

aus <strong>der</strong> Familie im Krankenhaus konnten wir uns nicht<br />

leisten, und ich dachte plötzlich: Jetzt kann alles Mögliche<br />

passieren!<br />

Ich höre oft, wie jemand davon spricht, dass das Leben<br />

wie<strong>der</strong> wie früher wird, aber keiner will darüber sprechen,<br />

wie wir jetzt unter diesen neuen Bedingungen<br />

leben. Ich glaube, die denken rückwärts Wir müssen<br />

akzeptieren, dass sich Dinge än<strong>der</strong>n und nach Möglichkeiten<br />

suchen, wie wir damit klarkommen.<br />

Nompilo: Für mich sieht die Zukunft jetzt düsterer aus.<br />

Mir fällt es im Moment schwerer, eine hellere Zukunft<br />

zu sehen als vor vier Jahren.<br />

Tshepang antwortet relativ optimistisch: Ich glaube, in<br />

Zukunft wird man einen viel breiteren Denkhorizont haben.<br />

Alle lernen gerade bestimmte Dinge, alle lesen …<br />

das macht Hoffnung, dass die Menschen sich ohne<br />

Stereotype verstehen. Während <strong>der</strong> letzten Jahre haben<br />

wir auf <strong>der</strong> ganzen Welt Black Lives Matter erlebt. Das<br />

hat zu einem Bewusstsein geführt, dass Schwarze angegriffen<br />

werden. Es ging aber nicht nur um Schwarze.<br />

179


Auch Weiße, die nicht Rassisten sind, fühlen sich angegriffen,<br />

weil alle sie für Rassisten halten. Alle waren<br />

also gestresst, und ich frage mich, wie das am Ende zu<br />

einer Einheit führen soll.<br />

Mir ist klargeworden, dass ich für Hillbrow eine Zukunft<br />

sehen will, in <strong>der</strong> alle friedlich und harmonisch zusammenleben<br />

… Leute mit verschiedener Herkunft leben<br />

zusammen und bilden eine Gemeinschaft. Ich will hier<br />

Liebe und Harmonie in Vielfalt sehen. Irgendwie glaube<br />

ich, dass das jetzt schon hier entsteht, aber ich finde,<br />

das könnte noch viel mehr sein.<br />

Tisetso Maselo<br />

Über Fiktionen und Realitäten<br />

»Ich will eine Zukunft sehen, in <strong>der</strong> …«: Wenn Tshepang<br />

seine Gedanken formuliert, muss ich wie<strong>der</strong> an Le Guins<br />

Bild <strong>der</strong> Zukunft als etwas denken, das per definitionem<br />

etwas ist, das wir nicht sehen können. »Wenn wir auf das<br />

schauen, was wir nicht sehen können, sehen wir nur Zeug,<br />

das wir im Kopf haben. Unsere Gedanken und Träume,<br />

die guten wie die schlechten.« Ist dieses »Zeug« <strong>der</strong>selbe<br />

Stoff, aus dem auch unsere Fiktionen sind, die Manifestationen<br />

<strong>der</strong> endlosen möglichen Kombinationen <strong>der</strong> Elemente<br />

unserer Erfahrungen und Realitäten?<br />

Wir diskutieren weiter über die beson<strong>der</strong>e Kraft von Fiktionen<br />

und fragen uns, welche Rolle sie für mögliche Realitäten<br />

spielen.<br />

Nompilo: Ich glaube, wenn ich ein Bild einer helleren<br />

Zukunft male und das irgendwo aufhänge, dann kann<br />

jemand, <strong>der</strong> das sieht, auf bestimmte Ideen kommen.<br />

In diesem Sinne glaube ich, dass Kunst tatsächlich die<br />

Welt verän<strong>der</strong>n kann!<br />

Pearl: Ich glaube, mit Vorstellungskraft und Fantasie<br />

kann man die Realität überdenken. Und allem, was<br />

schwierig und traurig und so ist, mal einen Augenblick<br />

lang entkommen. Als wir das Stück gemacht haben,<br />

hat das uns und unsere Familien, die sich das angesehen<br />

haben, verän<strong>der</strong>t. Das kam gut an, dass wir Kin<strong>der</strong><br />

uns selbst vorgestellt haben, wie alles an<strong>der</strong>s sein<br />

könnte und dass wir um uns herum etwas verän<strong>der</strong>n<br />

wollten. Davon konnten sie etwas mitnehmen.<br />

Nompilo spricht über eine Szene im Stück, die ihr gefällt;<br />

darin steht sie mit Lwadlile Thabethe (damals fünf<br />

Jahre alt) auf <strong>der</strong> Bühne:<br />

Ich spreche einen Monolog und er tanzt neben mir, er<br />

strahlt so eine weiche und intensive Energie aus. An <strong>der</strong><br />

Stelle im Stück habe ich das Gefühl, dass wir als Menschen<br />

aufgegeben haben (uns in das gefügt haben, was<br />

die Aliens in <strong>der</strong> Fiktion des Stücks von uns wollten).<br />

Das war irgendwie nostalgisch. Ich finde nämlich, dass<br />

wir Menschen in <strong>der</strong> echten Welt auch eine Menge aufgeben<br />

… Wir lassen Politiker Sachen entscheiden, die<br />

komplett sinnlos sind. Aber in dem Stück gibt es gleich<br />

nach dieser Stelle einen Kampf. Und da spüre ich die<br />

Energie, ich denke, wenn wir in echt so zusammenhalten<br />

könnten wie da auf <strong>der</strong> Bühne und zusammen kämpfen<br />

könnten, würde es so etwas wie Rassismus und Xenophobie<br />

nicht geben. Mit so etwas wie dem Coronavirus<br />

würden wir im Handumdrehen fertig!<br />

Auch für Tshepang ist das <strong>der</strong> schönste Moment im Stück.<br />

Für ihn geht es dabei um Einheit, darum, für einan<strong>der</strong> einzustehen:<br />

Verschiedene Leute aus verschiedenen Län<strong>der</strong>n<br />

– was wäre, wenn wir uns zusammentäten und für<br />

Harmonie und Frieden sorgten? Das ist für mich etwas<br />

ganz Beson<strong>der</strong>es. Einheit bleibt bestehen, trotz aller Unruhe<br />

und verschiedener Ansichten.<br />

ICH MUSS ETWAS<br />

ERLEDIGEN, ABER ES IST<br />

HOFFNUNGSLOS.<br />

ICH WILL WEG, EHE MIR<br />

DAS MORGEN UM<br />

DIE OHREN FLIEGT. HE,<br />

DAS MORGEN IST NOCH<br />

NICHT GESCHEHEN.<br />

ICH WÜRDE SAGEN, GIB<br />

IHM MAL EINE CHANCE.<br />

Andrea Hairstone, Mindscape<br />

Aus dem Englischen von Henning Bochert<br />

180


EIN BILD<br />

MIT 1000 WÖRTERN<br />

VON ALJOSCHA BEGRICH<br />

El Conde de Torrefiel (Pablo Gisbert, Tanya Beyeler)<br />

UNA IMAGEN INTERIOR / EIN BILD AUS DEM INNEREN<br />

El Conde de Torrefiel<br />

Schauspiel / Deutsche Erstaufführung<br />

ab 15. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 68 _______________ www.ruhr3.com/imagen<br />

181


Mein Kollege und Freund Mats Staub schenkte mir vor einigen<br />

Jahren ein Fünf-Jahres-Tagebuch, wo ich jeden Tag<br />

etwas eintragen kann und sich dann Jahr für Jahr neue<br />

Ringe durch das Buch ziehen. Eine schöne Erfindung. Hinten<br />

im Buch aber gibt es neben einem »Travel Log« noch<br />

einen »Book Log«, wo ich eintragen kann, welche Bücher<br />

ich im Jahr gelesen habe. Ich füllte all die Seiten pflichtgemäß<br />

aus, und neben <strong>der</strong> Erkenntnis, dass ich zwei Jahre<br />

hintereinan<strong>der</strong> am gleichen Tag in Baden-Baden war, fiel<br />

mir auf, wie viel ich gelesen hatte. Bei jedem Buch plagt<br />

mich die Angst, dass es zu Ende geht. Nun schien mir<br />

plötzlich diese Liste Angst zu machen, die gute Literatur<br />

gehe bald aus. Ich begann mir Gedanken über mein Verhältnis<br />

zur Literatur zu machen. Ich lese gern, aber was<br />

lese ich eigentlich? Plötzlich sah ich die Liste und vieles,<br />

was weit weg von je<strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Theatralisierung ist.<br />

Durch die Liste erkannte ich einerseits, dass ich eine starke<br />

Zuneigung zu einer ganz bestimmten Form von Literatur<br />

entwickelt hatte – und mir im Gegenzug gerade jene Formen<br />

des Theaters gefielen, die möglichst wenig Nähe zur<br />

Literatur hatten. Nur so konnten beide Sphären für mich<br />

glücklich und zufrieden existieren, bis ich eines Tages in<br />

das falsche Stück ging.<br />

Anfang 2019 ging ich ins HAU, das Hebbel am Ufer in<br />

Berlin. An diesem Abend stießen beide Welten aufeinan<strong>der</strong><br />

und in mir etwas zusammen. Ich ging ins Theater und<br />

musste LESEN. Ich war irritiert und schaute mich hilflos<br />

um, aber alle an<strong>der</strong>en saßen auf ihren Sitzen und lasen.<br />

Also las ich auch:<br />

Du sitzt vor einer fast völlig abgedunkelten Bühne.<br />

Du siehst LA PLAZA von El Conde de Torrefiel.<br />

Ein Stück, das simultan an 365 Tagen<br />

in 365 Theatern auf <strong>der</strong> ganzen Welt aufgeführt wird.<br />

Die Inszenierung findet in einem schwarzen,<br />

subtil beleuchteten Raum statt.<br />

Einziges Bühnenelement ist eine Landschaft<br />

aus Blumen und Kerzen, gleich einem Gedenk-Altar.<br />

So weit entfernte Städte wie Kyoto, Kairo, Medellín,<br />

Jerusalem, Seoul,<br />

Antwerpen, Barcelona, Portland, Damaskus, Gondar o<strong>der</strong><br />

Belo Horizonte<br />

haben sich angeschlossen und zeigen dieses Projekt.<br />

Irgendwie merkwürdig, aber auch faszinierend, denn ich<br />

las nicht allein, son<strong>der</strong>n alle lasen zusammen, und zwar<br />

gleichzeitig. Das Wechseln <strong>der</strong> Übertiteltafeln gab den<br />

Rhythmus des kollektiven Lesens vor:<br />

Während <strong>der</strong> Vorstellung<br />

kann das Publikum kommen und gehen, wie es möchte,<br />

und sogar die Karten an<strong>der</strong>en überlassen,<br />

sodass sie die Vorstellung besuchen können.<br />

Ein ganzes Jahr lang bist du immer wie<strong>der</strong> vorbeigekommen,<br />

um für eine kurze Weile Platz zu nehmen.<br />

In <strong>der</strong> Aufführung ist absolut nichts passiert.<br />

Ein ganzes Jahr lang jeden Tag dasselbe Bild.<br />

Während <strong>der</strong> Stunden, die du im Theater verbracht hast,<br />

hat sich deine Aufmerksamkeit automatisch auf dich<br />

selbst gerichtet.<br />

Anstatt zwischen Schauspielern,<br />

Tänzern, Videos und Lichteffekten hin und her zu wan<strong>der</strong>n,<br />

hat dein Gehirn innegehalten und dich<br />

zum Protagonisten des Stückes gemacht.<br />

So stellte sich dir unausweichlich die Frage:<br />

Wie lange bist du in <strong>der</strong> Lage, die Betrachtung<br />

ein und desselben Bildes zu genießen?<br />

Das Geschehen auf <strong>der</strong> Bühne hatte nichts mit dem im<br />

Text Beschriebenen zu tun, aber diese Überfor<strong>der</strong>ung<br />

schien langsam Spaß zu machen. Auf <strong>der</strong> Bühne gingen<br />

Menschen mit Strumpfmasken auf und ab, schoben Fahrrä<strong>der</strong><br />

und Kin<strong>der</strong>wägen herein und wie<strong>der</strong> heraus, standen<br />

herum und bewegten sich lässig. Eine interessante<br />

Mischung von Bildchoreografien – aber eben mit Text darüber.<br />

Literatur.<br />

Du beginnst abzuschweifen.<br />

Du denkst an die Zukunft.<br />

Du denkst häufig an die Zukunft.<br />

Als du jung warst, hast du Isaac Asimov und Jules Verne<br />

gelesen,<br />

und heute begeistert dich die Serie Black Mirror.<br />

Aber abschweifen war ja nicht möglich. Selten war ich so<br />

wach in einer Theaterinszenierung. Und noch danach, ich<br />

war wie elektrisiert. Selbst am nächsten Tag sprach ich<br />

noch die ganze Zeit von diesem Ereignis. Was war passiert?<br />

Konzeptuelle Literatur und postdramatische Performance<br />

sind ineinan<strong>der</strong>gefallen, aber war das wirklich<br />

die Aufregung? Ich spürte, es war etwas an<strong>der</strong>es, und<br />

fand heraus: Der Trick war eigentlich ganz einfach. Der<br />

Text sprach mich die ganze Zeit in direkter Rede an und<br />

hielt mich wach, und die Lücke zwischen Text und Darstellung<br />

sorgte für die Aktivierung meiner Fantasie. Meine<br />

Begeisterung für diese Arbeit war <strong>der</strong> ureinfachste Trick<br />

<strong>der</strong> Theatergeschichte, das Mittel aller guten Arbeiten:<br />

meine eigene Vorstellungskraft. Stücke, die alles zeigen<br />

o<strong>der</strong> alles aussprechen, gelten als langweilig, weil sie <strong>der</strong><br />

eigenen Fantasie keinen Platz lassen. Und hier wurde sie<br />

entfesselt. Ich war stolz, aber eine so große Erkenntnis war<br />

es auch wie<strong>der</strong> nicht, hieß es doch schon am Anfang <strong>der</strong><br />

Inszenierung: DIE AUFFÜHRUNG HAT DICH ZUM PROTA­<br />

GONISTEN DES STÜCKS GEMACHT.<br />

Wenig später nehme ich Kontakt zu den Künstler:innen Pablo<br />

Gisbert und Tanya Beyeler auf und es entwickelt sich<br />

eine Folge von Gesprächen über Arbeitsweisen, philosophische<br />

Ansichten und ihr aktuelles Projekt. Sie wollen die<br />

grundlegenden theoretischen, künstlichen Konstruktionen<br />

untersuchen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.<br />

Unter allem lägen verwurzelte Ideen, die als natürlich und<br />

real gelten, wie die Struktur des Marktes. Aber was bezeichnet<br />

eigentlich Realität? Wie wird sie konstruiert und<br />

zu wessen Vorteil? Ich beginne Mark Fisher zu lesen, von<br />

dem Pablo und Tanya oft zitieren: »Im kapitalistischen Realismus<br />

ist man einer Realität unterworfen, die unbegrenzt<br />

formbar ist und sich selbst jeden Moment rekonfigurieren<br />

lässt. Die höchste Form <strong>der</strong> Ideologie ist diejenige, die sich<br />

als empirische Tatsache und Notwendigkeit präsentiert …<br />

Die Realität unterdrückt das Reale. Dementsprechend<br />

sollte eine Strategie gegen den kapitalistischen Realis­<br />

182


mus sein, dass man die Formen des Realen anruft, die die<br />

Realität, die <strong>der</strong> Kapitalismus uns gegenüber präsentiert,<br />

zugrunde liegen.«<br />

Klingt nachvollziehbar und sinnvoll. Doch dann bricht die<br />

Covid-Pandemie aus und verschiebt den ganzen Diskurs.<br />

Infragestellungen <strong>der</strong> Realität und Bloßstellungen von<br />

Machtzentren, Biopolitik und kritische Lektüre sind plötzlich<br />

nicht mehr Domäne französischer Philosophen wie<br />

Baudrillard und Foucault, son<strong>der</strong>n Aussagen von esoterischen<br />

Rechtspopulist:innen aus Thüringen und völkischen<br />

Selektrionsanhänger:innen aus Baden-Württemberg. Ich<br />

merke, dass ein Diskurs nicht nur weggenommen, son<strong>der</strong>n<br />

zerstört wird, und dessen Konsequenzen noch weit nach<br />

dieser Pandemie zu spüren sein werden. Doch was tun?<br />

In ihrem Stück GUERRILLA hatten El Conde de Torrefiel<br />

die Lust am Umsturz, am Zerfall <strong>der</strong> Gesellschaft, an <strong>der</strong><br />

Unmöglichkeit <strong>der</strong> Verständigung schon thematisiert. Wie<br />

werden sie jetzt mit all diesen losen Fäden, angefangenen<br />

Gedanken und philosophischen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

umgehen? Als Vorbereitung auf das neue Stück machen<br />

sie erste Probebohrungen, ULTRAFICCIÓN 1–4. Auf dem<br />

Santarcangelo Festival läuft eine Schafherde durch das<br />

verwun<strong>der</strong>te Publikum in einer Open-Air-Aufführung, während<br />

kurz danach in einem Museum für Mo<strong>der</strong>ne Kunst<br />

Taubstumme eine Geschichte zeigen und in Barcelona Architekturstudierende<br />

ein Totem herstellen und gleich wie<strong>der</strong><br />

zerstören. Ich bin gespannt, bekomme es nicht mehr<br />

zusammen, kann auch nicht darüber schreiben, ich kann<br />

ja nur lesen:<br />

Du beschließt, dich ins Bett zu legen,<br />

nicht zu denken und in Stille zu verharren.<br />

Wegen <strong>der</strong> Stille hörst du deine Magengeräusche<br />

und spürst deinen Herzschlag.<br />

Du überlegst, dass die Substanz des Blutes, die dich am<br />

Leben erhält,<br />

das Begehren und die Ambition<br />

einer einzigen primitiven Zelle ist,<br />

die über Jahrmillionen, sich beständig transformierend<br />

und reproduzierend,<br />

in unzähligen Körpern gereist ist,<br />

damit genau diese einzelne primitive Zelle überleben kann.<br />

Diese einzelne primitive Zelle,<br />

die vor Millionen von Jahren entstand,<br />

wird nach deinem Tod in an<strong>der</strong>en Körpern überleben.<br />

Und die gleiche Zelle findet sich auch im Bettler,<br />

<strong>der</strong> dich auf <strong>der</strong> Straße um Geld bittet.<br />

Sie findet sich im Freund, den du täglich triffst,<br />

im Blinden, den du scheel anschaust,<br />

im Touristen, <strong>der</strong> deine Stadt besucht,<br />

im schlafenden Kind im Haus gegenüber,<br />

in <strong>der</strong> Mutter, die dir eines Tages diese Zelle übertrug.<br />

In all diesen anonymen Gesichtern,<br />

die dir täglich auf <strong>der</strong> Straße begegnen,<br />

bist du.<br />

Endlich kommt <strong>der</strong> Schlaf.<br />

Heute bist du aufgestanden und hast die Stadt durchquert,<br />

um im Theater das Finale eines Stücks zu sehen,<br />

das ein Jahr lang gedauert hat.<br />

Endlich schließen sich ganz langsam deine Augenli<strong>der</strong><br />

und du sinkst in einen tiefen Schlaf.<br />

Wie gut, dass <strong>der</strong> Schlaf die Tage voneinan<strong>der</strong> scheidet.<br />

Ich wache auf und gucke nach, was ich eigentlich am 22.<br />

Februar 2019, am Tag <strong>der</strong> Vorstellung von LA PLAZA, eingetragen<br />

habe. Ich erwarte etwas Gewichtiges, aber es ist<br />

leer. Ich blättere herum und finde im Juli ein schönes Zitat<br />

von Eva Maria Keller: »7000 Gedanken hat je<strong>der</strong> Mensch<br />

pro Tag.« Aber welcher bleibt hängen?<br />

ALJOSCHA BEGRICH, liest seit 1983, arbeitete das erste Mal als Assistent und<br />

Dolmetscher 2000 bei La Fura dels Baus in Castelldefels, Barcelona. Seit<br />

2021 Dramaturg bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Foto: Mario Zamora (El Conde de Torrefiel)<br />

183


SZENEN FÜR DEN<br />

»ORT DES SEHENS«<br />

UND KOMPLOTTE<br />

FÜR EINEN SKANDAL<br />

EIN GESPRÄCH VON SARAH LEWIS-CAPPELLARI<br />

MIT IHRER SCHWESTER LIGIA LEWIS<br />

A PLOT / A SCANDAL<br />

Ligia Lewis<br />

Tanz / Pre­Premiere<br />

ab 12. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 18 _______________ www.ruhr3.com/scandal<br />

184


Es ist eine ungewöhnliche Gelegenheit, <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

ein Gespräch mit meiner Schwester über das Solostück A<br />

plot / A scandal zu präsentieren. In Ligias Beschreibung<br />

handelt es sich gar nicht um ein Solo. Ich erkenne das an<br />

<strong>der</strong> Art, wie sich ihre Poetik auf <strong>der</strong> Bühne zeigt und wie<br />

für Ligia alles, was ihre Arbeit prägt – die Menschen, die<br />

Ideen, die Kunst, die Ereignisse, die Geister –, immer mit<br />

ihr in den Werken präsent ist. Gewissermaßen stehen wir<br />

schon lebenslang im persönlichen, künstlerischen und<br />

intellektuellen Dialog miteinan<strong>der</strong>. Das heißt, als Schwestern<br />

waren wir durch verschiedene Phasen unserer Leben<br />

an den Auseinan<strong>der</strong>setzungen beteiligt, die unsere jeweilige<br />

Arbeit antreiben. In unserer folgenden Unterhaltung erläutern<br />

wir einige dieser Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die in Ligias<br />

jüngstem Werk A plot / A scandal thematisiert werden.<br />

Sarah Lewis-Cappellari: Hinsichtlich deiner künstlerischen<br />

Praxis, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> jüngsten Arbeit, haben<br />

wir schon oft über diese dunkle und packende Metapher<br />

gesprochen, die mir manchmal in den Kopf kommt: von<br />

dir als Gevatter Tod, <strong>der</strong> durch die künstlerische Tötung<br />

rassistischer Logiken gegen Schwarze Menschen Raum<br />

für alternative Ausgänge schafft. Diese Logiken sind<br />

z.B. rassistische Sinneswahrnehmungen, in denen als<br />

Schwarz markierte Menschen zu visuellen Markern werden,<br />

anhand <strong>der</strong>er eine Hierarchie des Seins / <strong>der</strong> Gewichtung<br />

begründet, naturalisiert und (re)produziert wird.<br />

Ist dein neues Werk A plot / A scandal als Selbstporträt<br />

nun ein weiterer Versuch, solche Logiken zu stürzen und<br />

zu beseitigen? Willst du damit die reduzierenden Konzepte<br />

von Identität angreifen, die Rassifizierung, Klasse,<br />

Geschlecht, Sexualität, Befähigung etc. als knechtende<br />

Marker aufrechterhalten?<br />

Ligia Lewis: Wie können wir uns denn jenseits <strong>der</strong><br />

Westlichen Konzeption des Selbst auf Identität beziehen?<br />

Westliche Konzepte von Identität sind zu stark mit<br />

dem Selbst befasst. Denn es gibt eine Machtmatrix, die<br />

Schwarzsein, An<strong>der</strong>sheit, Indigenität, Nicht-Weißsein<br />

als min<strong>der</strong>wertig o<strong>der</strong> defizitär figuriert. Still Not Still<br />

spielt ziemlich ausdrücklich und grotesk mit Macht:<br />

als einem grundlegenden, sich selbst erschöpfenden<br />

Wesenszug jenes Menschen, <strong>der</strong> als europäisch,<br />

weiß rassifiziert, heteronormativ, cis-männlich, allwissend<br />

und universell konzipiert wird. Indem ich aufzeige,<br />

wie Macht so willkürlich, ohne Sinn und Verstand<br />

operiert, versuche ich einen Weg aus ihren Fängen<br />

herauszufinden. Mit diesem Stück versuche ich, mich<br />

selbst zu kartieren – mit all meinen nuancierten, begehrenden,<br />

fiktiven und imaginativen Fähigkeiten; aber<br />

nicht als ein Selbstporträt, das die Komplexität und<br />

vielschichtigen historischen Narrative reduziert, aus<br />

denen sich Identitäten zusammenfügen. Diese Identitäten<br />

müssen benannt werden, um bestimmte politische<br />

Arbeit zu ermöglichen. Ich verstehe Identität also<br />

als eine politische Positionierung, die eine Reihe von<br />

Praktiken leiten kann. Daran orientiert sich auch meine<br />

Ausrichtung von Performance und Theater als Ort<br />

des Sehens, als Raum des Erkennens. Ich kartiere eine<br />

Praxis, die von meinen Inspirationen geprägt ist, von<br />

meiner Liebe fürs Theater und den Vorstellungswelten,<br />

zu denen es einlädt; sowie von all dem, gegen das ich<br />

mich wende, sobald ich in den Bezugsraum des Theaters<br />

eintrete.<br />

SLC: Als du neulich über Bil<strong>der</strong> und Geschichten sprachst,<br />

blieb mir beson<strong>der</strong>s im Kopf, dass du im Kontext <strong>der</strong> multiplen<br />

Geschichte/n, die dazu führen, wie wir die Welt erfahren,<br />

Klangbil<strong>der</strong> erzeugen möchtest. Indem du diese<br />

musikalische Metapher nutzt, um über Visualität zu sprechen,<br />

weist du uns sinnlich bereits auf etwas an<strong>der</strong>es hin.<br />

Du führst uns nicht zu einer visuell reduktiven Praxis, son<strong>der</strong>n<br />

zu einer, die nachklingt und wi<strong>der</strong>hallt, die nicht reduziert,<br />

nicht eingefangen werden kann, richtig? Ich finde<br />

diese Vorstellung von Klangbil<strong>der</strong>n und wie du das mit <strong>der</strong><br />

Idee von Identität als politischer Positionierung zusammendenkst,<br />

wirklich interessant.<br />

LL: Ich mag diese Vorstellung eines klingenden Bildes<br />

– eines Bildes, das mehrere Ebenen aufruft, auf<br />

denen es wahrgenommen werden könnte. Ich arbeite<br />

mit multiplen Logiken <strong>der</strong> Sinnesorgane, was eine Art<br />

Chaos schafft, aus dem Dissonanz hervorgehen kann<br />

und Momente <strong>der</strong> Stille sprechen dürfen.<br />

SLC: Du näherst dich den tiefen, dunklen Angelegenheiten<br />

<strong>der</strong> Bedeutungsgebung in deinem Werk auf viele verschiedene<br />

Weisen. Eine davon ist <strong>der</strong> Humor – o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

»Unsinn«, »fuckery«, wie du es manchmal nennst. Vielleicht<br />

ist es eine Strategie, um die Absurdität von Alltagspraktiken<br />

<strong>der</strong> Beherrschung und Unterwerfung sowie die<br />

Absurdität jener politischen Architektur anzuprangern?<br />

Was findest du an Humor so produktiv? Was erzeugt o<strong>der</strong><br />

eröffnet er für dich? Welche Wege ermöglicht er dir?<br />

185


LL: Die Komödie ist die Kehrseite <strong>der</strong> Tragödie. Im<br />

besten Fall kann die Komik auf die Grenzen <strong>der</strong> Darstellbarkeit<br />

hinweisen, indem sie die Dinge auf eine<br />

gewisse Weise verflacht. Was an<strong>der</strong>nfalls tiefgreifend<br />

o<strong>der</strong> unerträglich erscheinen mag, wird durch Humor<br />

schlicht und einfach. Was passiert, wenn diese<br />

stumpfe Deutlichkeit direkt geäußert wird, als das, was<br />

niemand aussprechen will, was aber gesagt werden<br />

muss? Was passiert, wenn wir durch Humor erkennen<br />

können, wie Gewalt gar nicht weit weg von uns stattfindet,<br />

son<strong>der</strong>n in schlichten Alltagssituationen – oft<br />

durch Nebenhandlungen – geprobt wird. Ich denke<br />

also, <strong>der</strong> Rückgriff auf Humor ist mir so wichtig, weil<br />

er nicht in Gänze die Arbeit <strong>der</strong> Übersetzung erledigen<br />

kann. Humor stellt die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Übersetzung<br />

heraus, während er zugleich eng mit seinem Gegenstück,<br />

seiner Gefährtin, <strong>der</strong> Tragödie, kuschelt.<br />

SLC: Da wir verschiedene textuelle und künstlerische<br />

Quellen gemeinsam gelesen und besprochen haben,<br />

dachte ich, wir könnten über einen Text ein bisschen weiterreden,<br />

und zwar über Saidiya Hartmans Das Komplott<br />

zu ihrer Zerstörung. 1 Du spielst auf mehreren Ebenen mit<br />

dem Konzept des plot – also des Handlungsverlaufs als<br />

narrativer Plot, des Komplotts als politisches Motiv und<br />

des Grundstücks als räumlich-ökonomische Wirklichkeit. 2<br />

In Hartmans Text ist dieser Komplott die Materialisierung<br />

einer erschreckenden Fiktion: Mehrere Arten, zu sein, zu<br />

fühlen und zu wissen, werden einer einzigen Perspektive<br />

unterworfen, die von jenen gestaltet wurde, die sich<br />

als rechtmäßige Herrscher über alle Formen des Seins/<br />

Fühlens/Wissens etablieren möchten. Es handelt sich<br />

um eine Fiktion, die auf materieller und auf symbolischer<br />

Ebene die totale Gewalt einführen und jeglichen Gesamtwert<br />

ausbeuten soll. Hartman bietet uns verschiedene<br />

Beispiele, wie dieser Komplott mit <strong>der</strong> Vorstellung vom<br />

Leib als Eigentum beginnt. Etwa mit <strong>der</strong> Überzeugung,<br />

dass ›sie‹ das fehlende Bindeglied zwischen Tier und<br />

Mensch sei; mit all den Motiven, durch die die schwarz<br />

rassifizierte und weiblich vergeschlechtlichte ›sie‹ zur nie<strong>der</strong>sten<br />

und am wenigsten empfindsamen Form menschlichen<br />

Seins erklärt wird. Nachdem Hartman über den<br />

endlosen Horror dieser Zerstörung schreibt, über die unzähligen<br />

Weisen, wie dieser Komplott umgesetzt wurde,<br />

bespricht sie, wie diese verwirklichte brutale Fiktion womöglich<br />

unterlaufen und aufgehoben werden kann. Zwei<br />

Aspekte o<strong>der</strong> Strategien, die sie nennt, sind die Tarnung<br />

sowie <strong>der</strong> Hinweis, dass es nicht um Unterhaltung geht.<br />

Und dann dachte ich über deinen Plot nach, <strong>der</strong> sehr öffentlich<br />

ist. Er ist dazu bestimmt, öffentlich angesehen<br />

zu werden, was vielleicht zu dem Skandal darin führt? Ich<br />

fragte mich also, was an dieser Öffentlichkeit wichtig für<br />

deinen Plot ist o<strong>der</strong> wie du diesen Akt <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Schau konzipierst?<br />

ICH HALTE ES FÜR<br />

EIN RECHT, ZU<br />

SKANDALISIEREN;<br />

FÜR EIN VERGNÜGEN,<br />

SKANDALISIERT ZU<br />

WERDEN; UND FÜR<br />

MORALISTISCH, SICH<br />

DER SKANDALISIERUNG<br />

ZU VERWEIGERN.<br />

Pier Paolo Pasolini<br />

LL: Richtig. Mir gefällt Hartmans Idee, dass eine Zerstörung<br />

des Komplotts gegen eine rassifizierte »sie«<br />

eine Art Exorzismus erfor<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> nur unauffällig stattfinden<br />

kann; weil rassistische Gewalt in ihrer Spektakularisierung,<br />

in ihrer Öffentlichkeit, in <strong>der</strong> Leichtigkeit<br />

ihrer Darstellung so gewaltvoll ist. In <strong>der</strong> rassistischen<br />

Matrix, in <strong>der</strong> wir gegenwärtig leben, ist auf <strong>der</strong> Ebene<br />

des Sehens und Gesehenwerdens alles, was mit Rassifizierung<br />

zu tun hat, von Gewalt gefärbt. Erfor<strong>der</strong>lich<br />

ist eine Art des Sehens – o<strong>der</strong> vielmehr des Bezeugens<br />

–, wie dies funktioniert. Hartmans Erzählung des<br />

Komplotts erinnert mich an das wun<strong>der</strong>bare, nachdenkliche<br />

Lied The Revolution Will Not Be Televised –<br />

deutsch: Die Revolution wird nicht im Fernsehen laufen<br />

– von Gil Scott-Heron, weil das eben nicht geht.<br />

Ich arbeite kritisch vom Körper her. Ich umtanze die<br />

Dinge. In diesem Stück möchte ich um diesen Geist<br />

herumtanzen, dieses Begehren, indem ich seine Umrisse<br />

berühre und ihn ins Sein erträume. Welche Komplotte<br />

müssen zerstört werden, damit sich neue, umfassen<strong>der</strong>e<br />

Geschichten bilden können?<br />

Anhand dieser Metapher eines Plots, den ich als Geschichte<br />

verstehe, die erzählt werden muss, werde<br />

1 Saidiya Hartman, Das Komplott zu ihrer Zerstörung, Auszug aus Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint), aus dem amerikanischen<br />

Englisch von Yasemin Dinçer, August Verlag, <strong>2022</strong>, www.matthes-seitz-berlin.de/news/das-komplott-zu-ihrer-zerstoerung.html Originaltext:<br />

The Plot of Her Undoing, Feminist Art Coalition, 3. Nov. 2019, feministartcoalition.org/essays-list/saidiya-hartman<br />

2 Übersetzerische Anmerkung: Ligia Lewis bezieht sich auf drei Bedeutungen des englischen Wortes plot: die narrative Ebene des dramaturgischen<br />

Handlungsverlaufs (im Raum des Theaters); die politische Ebene des Komplotts als Wi<strong>der</strong>stand gegen Unterdrückungsverhältnisse (eine<br />

Wendung von Saidiya Hartmans Motiv <strong>der</strong> Zerstörung des Komplotts gegen Schwarze Frauen); sowie die geografisch-ökonomische Ebene<br />

des Grundstücks (Lewis’ Großmutter besaß als Schwarze Frau Land in <strong>der</strong> Dominikanischen Republik, was in kolonialen Verhältnissen skandalisiert<br />

wurde). In dieser Übersetzung bleibe ich bezüglich Lewis’ Werk beim eingedeutschten Plot mit dem Fokus auf <strong>der</strong> Erzählung eines<br />

Bedeutungsraums; bezüglich Hartmans Text beim Komplott wie in <strong>der</strong> bestehenden Übersetzung von Yasemin Dinçer.<br />

186


ich ein Komplott zerstören und eines neu schaffen.<br />

So will ich eine Fiktion entwerfen, eine Erzählung, die<br />

mich trägt und die auch trägt, wo ich mich konzeptionell<br />

hinbewege. Dieses Stück nimmt seinen Anfang im<br />

westlichen Teil von Hispaniola, auch bekannt als Ayiti,<br />

wo wir herkommen. 3 An diesem Ort finden und fanden<br />

viele Zerstörungen statt. Da dieser Ort mich berührt,<br />

bin ich ein Produkt von dessen Bekenntnis zum Westlichen<br />

Humanismus. Während die heutige Dominikanische<br />

Republik weiterhin in Weißsein investiert, wurden<br />

und werden die reichhaltigsten Geschichten unserer<br />

Schwarzen und Indigenen Vorfahren zu Geistergeschichten.<br />

Sie werden für irrelevant, unecht o<strong>der</strong> mythologisch<br />

erklärt; weil diese Geschichten das Potenzial<br />

bergen, Europas Komplott zu zerstören, die ganze<br />

Welt seiner eigenen Vorstellung zu unterwerfen.<br />

Ich denke, ich arbeite im Allgemeinen daran, Fiktionen<br />

zu schaffen, die furchtlos sind, die keine Angst vor <strong>der</strong><br />

Grenzüberschreitung, vor dem Regelverstoß, haben –<br />

so naiv das auch klingt. In dieser Arbeit ist <strong>der</strong> Verstoß<br />

nichts, das inszeniert, aufgeführt o<strong>der</strong> gar versprochen<br />

werden muss. Stattdessen legt das Stück nahe, dass diese<br />

Überschreitung schon da ist, dass sie entgegen aller<br />

Hürden bereits ersonnen wurde und weitergehen wird.<br />

SLC: Und diese Grenzüberschreitung kann als skandalös<br />

erachtet werden. Öffentlich gegen die Normen <strong>der</strong> Darstellbarkeit<br />

zu verstoßen und das Komplott aufzudecken,<br />

schafft die Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit eines Skandals.<br />

In diese Richtung deutete ich, glaube ich, auch, als ich die<br />

Öffentlichkeit unseres Plots thematisierte. Denn Erzählmotive<br />

sind immer von Begehren und Fantasien geprägt,<br />

die in Heimlichkeit verborgen bleiben, obwohl manche<br />

dieser Begehren und Fantasien buchstäblich prägen, wie<br />

wir uns durch die Welt bewegen. Welche Rolle spielt Begehren/Fantasie<br />

in diesem Werk?<br />

LL: Die Fantasie, ein Werk zu schaffen, in dem mein<br />

Körper Ruhe finden kann – fern von <strong>der</strong> erschöpfenden<br />

Arbeit, zu erklären und zu übersetzen. Es gibt eine<br />

Geschichte <strong>der</strong> Verwerfung und Gewalt, die mein Körper<br />

unvermeidlich in sich trägt. Könnte mein Gegenentwurf<br />

– meine Schwarze Rahmung und Erzählung<br />

– nahelegen, dass darin <strong>der</strong> Skandal liegt? Wenn ich<br />

das anerkenne, kann ich mit meinen Experimenten die<br />

grausamen Vermessungen zerstören und überschreiten,<br />

die von einem ethnisierenden Westlich-europäischen<br />

Blick aus kartiert wurden, <strong>der</strong> sich selbst für<br />

universell hält. Es macht Freude, eine an<strong>der</strong>e Spur jenseits<br />

dieses Blicks nachvollziehen zu können, die nicht<br />

kategorisch, transparent und deutlich bestimmbar ist.<br />

Dieses Stück spielt mit dem Skandal – nicht wegen seiner<br />

aufreizenden Anziehung, son<strong>der</strong>n wegen seines Potenzials,<br />

gegen gesellschaftliche Grenzziehungen aufzubegehren.<br />

Ich experimentiere hier, spiele mit performativen<br />

Codes und Manierismen, die auf komödiante Weise einige<br />

Unanständigkeiten <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft aufdecken.<br />

Doch mein Plot endet nicht da, wo die bürgerliche<br />

Gesellschaft sich selbst erkennt. Er führt zu einem an<strong>der</strong>en<br />

Schluss, ruft zu etwas an<strong>der</strong>em auf, zu einer an<strong>der</strong>en<br />

Art von Narrativ, in einem Raum, den ich nicht benennen<br />

möchte. Ich vertraue darauf, dass er spürbar wird.<br />

3 Übersetzerische Anmerkung: Gemeint ist hier das heutige Staatsgebiet <strong>der</strong> Dominikanischen Republik. Ayiti steht im haitianischen Creole<br />

für den Staat Haiti, aber auch für die ganze Insel Hispaniola. Hier fand die erste erfolgreiche Revolution gegen die Versklavung Schwarzer<br />

Menschen statt, die zur Gründung <strong>der</strong> Republik Haiti führte (siehe auch C.L.R. James: Die schwarzen Jakobiner).<br />

SARAH M. LEWIS-CAPPELLARI ist eine Afro-Dominikanisch-Amerikanische Kulturschaffende und<br />

Fellow am UCLA, <strong>der</strong> University of California. Sie beschäftigt sich in ihrem PHD mit<br />

<strong>der</strong> Materialität und Symbolik von Rohrzucker, um dessen »Nährwert« für rassistische<br />

Imaginationen zu verdeutlichen. Für unseren Katalog hat sie mit ihrer Schwester, <strong>der</strong><br />

Choreografin und Performerin LIGIA LEWIS gesprochen, die erstmals eine Arbeit bei <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> zeigen wird, das Solo A PLOT / A SCANDAL.<br />

187


WOHIN DAS LEBEN FÜHRT,<br />

DA IST UNSER TANZ<br />

EIN PORTRÄT DER CHINESISCHEN<br />

CHOREOGRAFIN UND PIONIERIN<br />

DES DOKUMENTARTANZTHEATERS WEN HUI<br />

VON CAO KEFEI<br />

I AM 60<br />

Wen Hui<br />

Tanz<br />

ab 2. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/sixty<br />

188


Winter 1999. Im Kleintheater, das dem Beijing Volkskunsttheater<br />

angehörte, herrschte eine gespannte Atmosphäre.<br />

Es war kurz vor <strong>der</strong> Uraufführung Report on Giving Birth<br />

von <strong>der</strong> Choreografin und Tänzerin Wen Hui, einer Produktion<br />

ihres von <strong>der</strong> Regierung unabhängigen Living Dance<br />

Studios, das erstmals mitten im Zentrum <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

eine Arbeit zeigte. Der Eintritt war frei, das Theater voll, es<br />

gab keine Sitzplätze, die Zuschauer konnten sich frei bewegen.<br />

Die Spielfläche war mit bunten Bettlaken bedeckt.<br />

Eine weiße, große, wattierte Bettdecke hing im Raum. Eine<br />

Frau im Alltagskleid saß bereits am Esstisch und erzählte<br />

vor sich hin, während ein Mann unter <strong>der</strong> Bettdecke »auf<br />

<strong>der</strong> Bühne« schlief, als sei er zu Hause. Das erste Bild, dem<br />

wir begegneten, war so vertraut, als sei es aus unserem täglichen<br />

Leben gegriffen. Jede:r war äußerst gespannt, weil<br />

alles an<strong>der</strong>s aussah, als wir es im Theater gewohnt waren.<br />

Nach nunmehr über 20 Jahren kann ich mich noch immer<br />

an diesen Abend erinnern, an die eindrücklichen Bil<strong>der</strong><br />

und die Schmerzen, die durch die Bewegungen und die<br />

Erzählungen, meistens im Dialekt gesprochen, hervorgerufen<br />

wurden. Die hängende Bettdecke, aus kleinen Decken<br />

zusammengenäht, schenkte als Projektionsfläche<br />

eine mit dem Spiel verwobene dokumentarische Ebene.<br />

Auf sie wurden die Mütter <strong>der</strong> Darsteller:innen projiziert, sie<br />

berichteten über ihre Erfahrungen von Schwangerschaft,<br />

Geburt und Mutterschaft, Material, das aus Wen Huis zahlreichen<br />

Gesprächen mit ihnen entstanden war. Der Filmemacher<br />

Wu Wenguang interviewte die anwesenden Tänzerinnen<br />

während <strong>der</strong> Vorstellung mit einer Videokamera und<br />

übertrug <strong>der</strong>en Gesichter live auf die Bettdecke. Die Verwendung<br />

von Materialien aus dem Alltag – ein typisches<br />

Merkmal von Wen Huis Arbeiten – war damals außergewöhnlich.<br />

Die wattierten Bettdecken und die gebrauchten<br />

Bettlaken, die Wen Hui, von Haus zu Haus gehend, von<br />

Bewohner:innen eingesammelt hatte, wirkten wie stille<br />

Zeitzeugen. Sie wurden ein- und auseinan<strong>der</strong>gefaltet, als<br />

Gepäck o<strong>der</strong> als ein Kind auf den Körpern <strong>der</strong> Frauen getragen<br />

o<strong>der</strong> wurden zu einem Teil ihres Körpers. All das<br />

Vertraute überstieg aber das Alltägliche bei weitem, es<br />

rief in den Zuschauern persönliche Erinnerungen und poetische<br />

Bil<strong>der</strong> wach.<br />

Living Dance Studio<br />

Wen Hui ist Pionierin im dokumentarischen (Tanz-)Theater<br />

in China. Neben ihrer Arbeit für die Bühne dreht sie<br />

Dokumentarfilme, konzipiert Installationen und kuratiert<br />

künstlerische Projekte. Sie ist 1960 in <strong>der</strong> Stadt Kunming<br />

in <strong>der</strong> südwestlichen Provinz Yunnan geboren. Dort begann<br />

sie mit 13 Jahren eine klassische Tanzausbildung.<br />

Sie durfte wegen ihrer Körpergröße – klein und zierlich<br />

– nie als Solotänzerin auftreten und stand bei Gruppentänzen<br />

immer am äußersten Rand. Das waren prägende<br />

Erfahrungen in einem erstarrten System. In den 80er Jahren<br />

studierte Wen Hui Choreografie, ein gerade neu gegründetes<br />

Fach an <strong>der</strong> Beijing Tanzakademie. Nach dem<br />

Abschluss im Jahr 1989 wurde ihr eine Stelle als Choreografin<br />

im staatlichen Oriental Song and Dance Ensemble<br />

zugewiesen. 1994 verlebte Wen Hui einen halbjährigen<br />

Aufenthalt in New York, <strong>der</strong> ihren Horizont über Tanz<br />

und Kunst erweiterte und einen entscheidenden Anstoß<br />

für ihre künstlerische Entwicklung gab. Zurück in Beijing<br />

gründete sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen Partner,<br />

dem Dokumentarfilmemacher Wu Wenguang, das<br />

Living Dance Studio, um den Tanz auf den Boden <strong>der</strong> Realität<br />

und Kunst in Kontakt mit <strong>der</strong> Gesellschaft zu bringen.<br />

Wunsch war es, »das Leben zu zeigen wie das Leben<br />

selbst« und sich damit sowohl von staatlicher Ideologie<br />

als auch von <strong>der</strong> kommerziellen Manipulation abzusetzen.<br />

1995 bekam Wen Hui eine Gelegenheit, bei <strong>der</strong> Probe von<br />

Pina Bauschs Tanzgruppe in Wuppertal zuzuschauen. Die<br />

menschliche kreative Atmosphäre, die Pina Bausch dort<br />

geschaffen hatte, und <strong>der</strong> freie individuelle Ausdruck <strong>der</strong><br />

Tänzer:innen beeindruckten sie tief. Die Choreografin<br />

verabschiedete die gelernten Dogmen wie Expressivität<br />

und Virtuosität und entwickelte einen beson<strong>der</strong>en Sinn<br />

für Geschichten, Körpersprache und Materialien aus <strong>der</strong><br />

realen Welt. Die erste Performance des Studios, 100 Verbe,<br />

basierte auf alltäglichen Verben von etwa zehn Beteiligten<br />

aus unterschiedlichen Berufen und markierte eine<br />

Wende in Wen Huis kreativem Prozess. Seither arbeitete<br />

sie in ihren Produktionen gleichberechtigt mit Laien,<br />

professionellen Darsteller:innen und Künstler:innen aller<br />

Disziplinen zusammen. Ihre spätere Trilogie Report on<br />

Giving Birth, Report on the Body (2002) und Report on<br />

37,8 ˚C (2005) verknüpften dokumentarisches Material<br />

mit künstlerischen Mitteln und prägten den Stil des Living<br />

Dance Studios. Seit diesen drei Reports werden Wen Huis<br />

Werke von vielen internationalen Festivals eingeladen.<br />

2005 zog das Studio in die Chao Chang Di Workstation<br />

im Nordosten Beijings ein, eröffnete sein eigenes Theater<br />

und bildete eine geradezu familiäre Gemeinschaft. In dieser<br />

Peripherie, unabhängig vom staatlichen System, fanden<br />

zahlreiche Workshops, Aufführungen und Begegnungen<br />

statt. 2008 schlug das Living Dance Studio mit <strong>der</strong><br />

achtstündigen Performance Memory eine neue Richtung<br />

ein. Private Erinnerungen, Fotos und dokumentarisches<br />

Filmmaterial von Wen Hui, Wu Wenguang und <strong>der</strong> Schriftstellerin<br />

Feng Dehua (die Erzählerin am Esstisch in Report<br />

on Giving Birth) aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Kulturrevolution von 1966<br />

bis 1976 waren Ausgangspunkt für diese sehr persönliche<br />

und körperliche Bühnendokumentation. Darauf folgend<br />

hat das Studio 2009 das Langzeitprojekt Volksgedächtnis-Projekt<br />

(Minjian jiyi jihua) ins Leben gerufen. Es sollte<br />

tiefer in die Gesellschaft und Geschichte des Landes<br />

eingreifen. Das Projekt lud Menschen aus verschiedenen<br />

sozialen Schichten ein, mit einer Videokamera zu ihrem<br />

jeweiligen Herkunftsort zurückzukehren und zu bestimmten<br />

Perioden <strong>der</strong> jüngeren chinesischen Geschichte zu<br />

recherchieren, Perioden, die nie verarbeitet worden sind.<br />

Wen Hui begann damals, ihre eigenen Dokumentarfilme<br />

zu drehen. Aus diesem Volksgedächtnis-Projekt ging eine<br />

Serie von Dokumentationen und Bühnenstücken hervor:<br />

Memory II: Hunger (2010), Memory on the Road (2011),<br />

Listening to Third Grandmother´s Stories (2012), Memory<br />

III: Tombstone (2012).<br />

2014 kam es zu einem harten Einschnitt in Wen Huis<br />

Leben. Aufgrund rapid ansteigen<strong>der</strong> Mietpreise auf dem<br />

Immobilienmarkt musste Living Dance Studio die Chao<br />

Chang Di Workstation verlassen. Wen Hui verlor ihr Theater.<br />

189


Seitdem führt die Künstlerin ein Nomadenleben, das Living<br />

Dance Studio wan<strong>der</strong>t mit ihr überall dorthin, wo sie gerade<br />

kreativ unterwegs ist.<br />

Künstlerische Interventionen<br />

ins historische Bewusstsein<br />

Zurück zum Abend von Report on Giving Birth. Ich erinnere<br />

mich, dass, nachdem die Premiere beendet war, viele<br />

Freunde und Zuschauer noch lange im Theater blieben<br />

und aufgeregt diskutierten, bis <strong>der</strong> Nachtportier das Tor<br />

schließen musste. Es war die Zeit des künstlerischen Aufbruchs<br />

in Beijing. Dieser wurde nach einer Dekade wie<strong>der</strong><br />

gebremst und erdrosselt, das Kleintheater ist bereits im<br />

Zuge eines städtischen Umbaus abgerissen worden.<br />

Ich finde Report on Giving Birth exemplarisch für Wen<br />

Huis Interesse an individuellen Schicksalen, für ihre Suche<br />

nach persönlichen Erinnerungen und ihren Blick für<br />

konkrete Erfahrungen von Frauen. Es sind die Menschen<br />

mit ihren individuellen Geschichten, die die Geschichte<br />

des Landes wi<strong>der</strong>spiegeln, einer Geschichte, die offiziell<br />

tabuisiert ist und im kollektiven Bewusstsein dem Vergessen<br />

anheimfällt. Ein typisches Beispiel ist die Produktion<br />

Memory II: Hunger, die Wen Hui gemeinsam mit jungen<br />

Menschen erarbeitet hat, von denen die meisten in den<br />

80er Jahren geboren wurden. Sie verhandelte die sogenannte<br />

»Dreijährige Naturkatastrophe«, in Wahrheit die<br />

Hungerkatastrophe, die sich zwischen 1959 und 1961 infolge<br />

<strong>der</strong> Landreform des verordneten »Großen Sprungs<br />

nach vorn« ereignet hat. Diese jungen Menschen schickte<br />

Wen Hui in ihre Heimatdörfer zurück, um ihre Großeltern<br />

und an<strong>der</strong>e alte Menschen, die diese Zeit miterlebt hatten,<br />

zu befragen. In <strong>der</strong> Aufführung spielten diese jungen<br />

Menschen auf <strong>der</strong> Bühne und agierten ihre Interviews als<br />

wichtige Zeitdokumente vor.<br />

Die soziale Prägung des Körpers<br />

Report on Giving Birth ist aber auch exemplarisch für Wen<br />

Huis unermüdliche Erforschung des Körpers und ihre Suche,<br />

die Grenze des Tanzes zu erweitern. Sie findet, im<br />

Körper hat jede Lebensgeschichte ihre Brandmale hinterlassen.<br />

Die Choreografin äußerte anlässlich ihrer Arbeit<br />

an 100 Verbe: »Ich denke dabei nicht, wie man tanzt,<br />

son<strong>der</strong>n dass man es macht. Ich mag es, mit Menschen<br />

zusammenzuarbeiten. Ihre Körper sind real. Wir betonen<br />

keine Körpertechnik. Deine Lebenserfahrung ist deine<br />

Technik. Ich bin überzeugt, wohin das Leben führt, da<br />

ist unser Tanz.« Mit diesem Bewusstsein bringt Wen Hui<br />

verschiedenste Menschen zusammen. Seien es die Wan<strong>der</strong>arbeiter<br />

im Dance with Migrant Workers (2001), seien<br />

es ihre Third Grandmother und ihre Mutter in Listening to<br />

Third Grandmother´s Stories, sei es die Schriftstellerin in<br />

Memory o<strong>der</strong> <strong>der</strong> tschechische Ingenieur in Ordinary People,<br />

um nur einige Beispiele zu nennen. Wen Hui erforscht<br />

den Körper wie mit einem Skalpell, Schicht für Schicht<br />

macht sie das Individuelle, das Einzigartige sichtbar. Für<br />

die achtstündige Version von Memory ging die Choreografin<br />

noch weiter: Sie nahm den eignen Körper ins Visier und<br />

untersuchte die Verbindung zwischen <strong>der</strong> Körpersprache<br />

und <strong>der</strong> sozialen Prägung. Während des Probenprozesses<br />

verzichtete sie bewusst auf eine komplexe künstlerische<br />

Form, sie wählte für sich nur eine einzige Bewegungslinie<br />

und -sequenz aus: die Bewegung nach vorne, nach<br />

hinten, atmen, gehen. Eine eingeprägte Körperhaltung,<br />

die sie an ihr Erwachsenwerden als Frau erinnerte. In <strong>der</strong><br />

Performance stand Wen Hui acht Stunden lang auf <strong>der</strong><br />

Bühne, wie<strong>der</strong>holte diese Sequenz wie im Zen. Sie sagt:<br />

»Der menschliche Körper kann wirklich über sich hinauswachsen.<br />

Mit deinem Körper gehst du weiter als mit deinem<br />

Hirn.«<br />

Frauenschicksale<br />

2011. Wen Hui steckte in einer tiefen Lebenskrise. Sie<br />

nahm das Volksgedächtnis-Projekt zum Anlass und reiste<br />

zu ihrem Heimatort in die Provinz Yunnan, um eine<br />

84-Jahre alte Frau in einem abgelegenen Bergdorf namens<br />

Da He Bian (auf Deutsch: Neben dem großen Fluss)<br />

aufzusuchen. Sie war die dritte Tante von Wen Huis Vater<br />

und wurde Third Grandmother genannt. Die Künstlerin<br />

wun<strong>der</strong>te sich damals, warum ihr Vater nie von dieser Verwandten<br />

erzählt hatte. Als sie sich nach seinem Tod entschloss,<br />

ihrer eignen Familiengeschichte auf die Spur zu<br />

kommen, erfuhr sie von jener Third Grandmother, <strong>der</strong> letzten<br />

Überlebenden ihrer Generation. Die Künstlerin verspürte<br />

einen großen Drang, diese Frau kennenzulernen.<br />

In <strong>der</strong> Soloperformance I am 60 erzählt sie von dieser<br />

einzigartigen Begegnung: »Third Grandmother stand um<br />

7 Uhr auf und wartete am Eingang des Dorfes auf mich.<br />

So als hätte sie am Ende eines Tunnels 50 Jahre lang auf<br />

mich gewartet, wie auf die eigene Enkelin, die endlich<br />

nach Hause kommt. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben.«<br />

Wen Hui erfuhr zu ihrem Erstaunen, dass Third Grandmother<br />

ihrer tatsächlichen Enkelin genau den gleichen Namen<br />

gegeben hatte, wie Wen Hui ihn trug. Sie hörte Third<br />

Grandmother zu, lebte, tanzte und probte mit ihr. Third<br />

Grandmothers Erzählungen reichten von ihrer Kindheit im<br />

gut betuchten Elternhaus, <strong>der</strong> arrangierten Ehe im jungen<br />

Alter und <strong>der</strong> Scheidung vor <strong>der</strong> Befreiung bzw. Gründung<br />

<strong>der</strong> Volksrepublik im Jahr 1949 über die große Landreform<br />

danach und die Enteignung allen Familieneigentums bis<br />

hin zum traumatischen Selbstmord ihrer Mutter. Wen Hui<br />

erfuhr von zuvor nie gehörten Familiengeheimnissen. Was<br />

sie aber zutiefst bewegte, war, dass Third Grandmother<br />

trotz all dieser unvorstellbaren Schicksalsschläge ihren<br />

Humor und ihre Offenheit bewahrt hatte.<br />

Von 2011 bis 2012 fuhr die Künstlerin dreimal in jenes<br />

Dorf und hat die eindrücklichsten Momente mit dieser<br />

Frau dokumentiert. Im Film Dance with Third Grandmother<br />

(2015) sehen wir die beiden Frauen aus unterschiedlichen<br />

Generationen, wie sie sich tanzend annähern,<br />

innig berühren und umarmen. Die Jüngere sagt zu<br />

<strong>der</strong> Älteren: »Nainai (Grandmother auf Dialekt), wenn wir<br />

traurig sind, dann tanzen wir. Wenn wir tanzen, werden<br />

wir nicht mehr traurig.«<br />

Im Jahr 2013 fuhr Wen Hui das vierte Mal ins Dorf Da<br />

He Bian und erfuhr, dass Third Grandmother schon für<br />

immer gegangen war. Aber für die »Enkelin, die endlich<br />

nach Hause kommt«, ist sie nie gegangen. Ihr Geist wirkt<br />

190


seit <strong>der</strong> ersten Begegnung wie ein Leuchtfeuer für die<br />

Künstlerin fort. Er gibt ihr Kraft, nicht aufzugeben, treibt<br />

sie auch an, über die festgelegte Struktur und den miserablen<br />

Stand <strong>der</strong> (chinesischen) Frauen im patriarchalen<br />

System gründlich zu reflektieren. Diese Begegnung entfaltete<br />

Wen Huis vielseitiges Können. Sie entwickelte zwei<br />

Dokumentarfilme über Third Grandmother und ein Bühnenwerk,<br />

das aus <strong>der</strong> Perspektive von drei Frauengenerationen<br />

erzählt wurde.<br />

Die Beschäftigung mit Frauenschicksalen vertiefte Wen<br />

Hui 2015 in <strong>der</strong> Performance Rot weiter. Ein Jahr zuvorhatte<br />

das revolutionäre Modelballett Das Rote Frauenbataillon<br />

sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert, eins von acht<br />

Modeldramas, die Mao Zedongs Ehefrau Jiang Qing während<br />

<strong>der</strong> Kulturrevolution für staatliche Propaganda kreiert<br />

hatte. Vor diesem historischen Hintergrund suchte die<br />

Künstlerin die ehemaligen Tänzerinnen von dem Modelballett<br />

auf und führte Gespräche mit den Zeitzeug:innen.<br />

Schließlich dekonstruierte sie mit an<strong>der</strong>en drei Darstellerinnen<br />

die hierarchischen Bühnenauftritte, die pathetischen<br />

Tanzbewegungen, die kodierten Kostüme und<br />

Requisiten dieses Modelballetts. In <strong>der</strong> Neuinszenierung<br />

machte sie die aufopfernde Rolle <strong>der</strong> Frauen und die Lüge<br />

in <strong>der</strong> Gegenwart sichtbar.<br />

I am 60<br />

2020. Wen Hui wurde 60 Jahre alt. Sie nahm das Datum<br />

zum Anlass, um Rückschau zu halten und über ihr bisheriges<br />

Leben zu reflektieren. So ist ihre jüngste, auch ihre<br />

allererste Soloperformance I am 60 entstanden, die 2021<br />

in Weimar beim Kunstfestival uraufgeführt wurde. Für diese<br />

Performance ließ sie sich inspirieren von jenen Stummfilmen,<br />

die das ungerechte Schicksal von Frauen und <strong>der</strong>en<br />

Willen, sich daraus zu befreien, thematisierten und in<br />

den 30er Jahren in Shanghai ihre goldene Zeit feierten.<br />

Begleitet vom inneren Gespräch mit Third Grandmother,<br />

reflektiert die Künstlerin über ihre Kindheit und ihre Mutter,<br />

<strong>der</strong>en Sicht auf das Leben sie stark beeinflusst hat,<br />

und auch über ihre Lebenskrise als Frau und Künstlerin.<br />

Parallel zum Autobiografischen und Kontakt aufnehmend<br />

mit dem Körper <strong>der</strong> Performerin sehen wir historische Fotos<br />

und aktuelle Statistiken über den (prekären) Zustand<br />

<strong>der</strong> chinesischen Frauen in einem von Männern dominierten<br />

System. Das Thema <strong>der</strong> sozialen Stellung <strong>der</strong> Frau in<br />

<strong>der</strong> chinesischen Gesellschaft gewinnt zurzeit beson<strong>der</strong>s<br />

an trauriger Aktualität, nachdem Anfang Februar <strong>2022</strong><br />

die unerhörten Fotos und Videosequenzen von einer angeketteten<br />

Frau, die in einem Dorf in <strong>der</strong> Jiangsu-Provinz<br />

lebt und acht Kin<strong>der</strong> zur Welt gebracht hat, im chinesischen<br />

Internet zirkulierten. Diese Frau war gekidnappt,<br />

vergewaltigt und als Gebärmaschine brutal misshandelt<br />

worden. Dieses Ereignis hat eine <strong>der</strong> dunkelsten Seite <strong>der</strong><br />

Gesellschaft aufgedeckt.<br />

In I am 60 bedient sich Wen Hui eindrucksvoll <strong>der</strong> Darstellungsmethode<br />

»Linked Drama«, die in Shanghais Stummfilmzeit<br />

entstand und die sie bereits auch in an<strong>der</strong>en Bühnenarbeiten<br />

verwendet hatte. Filmische Bil<strong>der</strong> fungieren<br />

als Panorama und interagieren mit <strong>der</strong> Live-Performance.<br />

Die Projektion dient als Schwelle von <strong>der</strong> fiktiven zur realen<br />

Welt, von <strong>der</strong> Vergangenheit zur Gegenwart und umgekehrt.<br />

Das Wechselspiel von Liveperformance, Video und<br />

Audio schafft ein aufeinan<strong>der</strong> bezogenes Gesamtkunstwerk.<br />

Es ist Wen Huis bislang persönlichste Performance,<br />

die sich zugleich durch die Epochen <strong>der</strong> chinesischen<br />

(Frauen-)Geschichte bewegt. Ein wun<strong>der</strong>volles Geschenk<br />

für sich selbst zum Geburtstag und für uns Zuschauer.<br />

Im Film Dance with Third Grandmother gibt es einen ergreifenden<br />

Dialog zwischen Wen Hui und Third Grandmother<br />

beim Tanzen:<br />

W: Nainai, siehst du mich?<br />

T: Ich sehe dich.<br />

W: Ich sehe dich auch. Nainai, wo bist du?<br />

T: Ich bin hier. Wen Hui, siehst du mich?<br />

W: Mein Herz sieht dich.<br />

T: Ich sehe dich auch.<br />

Third Grandmother ist als eine leuchtende Lampe in dieser<br />

Soloperformance allgegenwärtig. Wen Hui gibt uns<br />

das Licht weiter. Sie glaubt, jedes Leben findet einen Zeitpunkt,<br />

sich voll zu entfalten. Ich glaube, Wen Huis Leben<br />

blüht mit 60 Jahren nochmals auf.<br />

CAO KEFEI, geb. 1964 in Shanghai, lebt in Beijing und Berlin, wo sie als Theaterregisseurin,<br />

Autorin und Übersetzerin arbeitet. Lange schon begleitet<br />

ihr Blick die künstlerische Arbeit von Wen Hui. Gemeinsam mit Sabine<br />

Heymann und Christoph Lepschy gab sie den Band Zeitgenössisches<br />

Theater in China (Alexan<strong>der</strong> Verlag, Berlin 2017) heraus.<br />

Foto: Richy Wong (Wen Hui)<br />

191


PROMISE ME<br />

EIN GESPRÄCH MIT JOKE LAUREYNS UND<br />

KWINT MANSHOVEN, DEN GRÜNDER:INNEN<br />

DER TANZKOMPANIE KABINET K UND<br />

CHOREOGRAF:INNEN VON PROMISE ME GEFÜHRT<br />

VON DER DRAMATURGIN MIEKE VERSYP<br />

PROMISE ME<br />

kabinet k & hetpaleis<br />

Tanz<br />

ab 9. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 60 _______________ www.ruhr3.com/promise<br />

192


Kwint: promise me entstand als Idee während <strong>der</strong><br />

Workshops, die wir im Sommer 2020 organisierten.<br />

Mit still playing but different wollten wir die Kin<strong>der</strong><br />

unserer früheren Kreation as long as we are playing<br />

nach einer langen Zeit <strong>der</strong> erzwungenen Untätigkeit<br />

wie<strong>der</strong> zusammenbringen. Zwei Wochen Improvisationen<br />

mit einem Team, das wir sehr gut kannten. Ohne<br />

auf eine Vorstellung hinzuarbeiten, ohne ein konkretes<br />

Ziel.<br />

Joke: Was uns bei still playing auffiel, war eine große<br />

Intimität und körperliche Hingabe. Ein Verlangen,<br />

Grenzen zu verschieben. Die wilde Begeisterung, mit<br />

<strong>der</strong> sich die Kin<strong>der</strong> in die »Arena« stürzten, die Anspannung<br />

in ihren Körpern – das fanden wir schön<br />

und inspirierend.<br />

Kwint: Aber die Thematik von promise me schlummerte<br />

schon seit Längerem in unseren Köpfen. Wir<br />

dachten an die Wörter »kippen«, »schwenken«, »verdrehen«.<br />

Vielleicht ein Ausdruck unseres Eifers, neu<br />

anzufangen, des Drangs, uns hineinzustürzen. Das<br />

war <strong>der</strong> Geist bei still playing.<br />

IN UNSERER ARBEIT<br />

GEHT ES IMMER DARUM,<br />

WAS ES HEISST, EIN<br />

MENSCH ZU SEIN, UND<br />

ZWAR IN ALL SEINEN<br />

FACETTEN.<br />

Joke: Dieser Eifer und Drang sind in unserer Arbeit eigentlich<br />

immer präsent. Genau wie gegenseitiges Vertrauen<br />

und Freiheit. In unserer Arbeit geht es immer<br />

darum, was es heißt, ein Mensch zu sein, und zwar<br />

in all seinen Facetten. Mit je<strong>der</strong> Kreation beleuchten<br />

wir eine an<strong>der</strong>e Facette. Für promise me hatten wir<br />

endlich die Zeit, uns in einen bestimmten Aspekt zu<br />

vertiefen: mit einer wachen, aufmerksamen Neugier,<br />

Offenheit, völligen Hingabe ins »Wir, Hier und Jetzt«.<br />

Kwint: Es ist eine Antwort auf die Zeichen <strong>der</strong> Zeit.<br />

Diese Zeiten sind durchdrungen von Angst, Vorsicht,<br />

dem Wunsch nach Sicherheit. Das fragt nach einer Gegenstimme.<br />

Das Verlangen entsteht, einen Zufluchtsort<br />

anzubieten, an dem man sich diesen Tendenzen<br />

entgegenstellen kann. Die Bühne ist ein perfektes Biotop,<br />

wo man diese Freiheit in Anspruch nehmen und<br />

zeigen kann.<br />

Ist promise me eine neue Etappe in eurem Schaffen?<br />

Joke: Ich sehe eine Entwicklung in <strong>der</strong> Art und Weise,<br />

wie und in welchem Kontext dieses Stück entstanden<br />

ist. Die Tatsache, dass wir mit drei Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />

Besetzung von as long as we are playing plus Kwint<br />

als Tänzer und erneut mit Thomas Devos als Musiker<br />

gearbeitet haben, bedeutet, dass fünf Menschen<br />

auf <strong>der</strong> Bühne stehen, die von Anfang an mit unserer<br />

Sprache vertraut waren. Zélie kannten wir aus les<br />

ateliers C de la B (Anm. d. Red.: einer Workshopreihe<br />

<strong>der</strong> Tanzkompanie les Ballets C de la B mit kabinet k);<br />

ihre Schwester Téa und <strong>der</strong> Tänzer Ido Batash sind<br />

neu. Die Vertrautheit eines großen Teils des Casts mit<br />

unserer Arbeit führte dazu, dass wir bei den Improvisationen<br />

schneller als sonst auf den Punkt bringen<br />

konnten, was wir mit promise me vermitteln wollen.<br />

Wir konnten die Stärken des angebotenen Tanzmaterials<br />

entdecken. Die Körper <strong>der</strong> Performer:innen fanden<br />

leicht in die Tanzsprache, die uns vorschwebte.<br />

Die Kin<strong>der</strong> waren wirklich Mitautor:innen in diesem<br />

Prozess, und das ist einzigartig. Ich sehe es als eine<br />

Vertiefung in unserer Arbeitsweise. Ich weiß nicht, auf<br />

welcher Ebene das in <strong>der</strong> Aufführung sichtbar sein<br />

wird, aber das Tanzmaterial hat sich auf eine sehr organische<br />

Weise zusammengefügt.<br />

DIESE ZEITEN SIND<br />

DURCHDRUNGEN VON<br />

ANGST, VORSICHT,<br />

DEM WUNSCH NACH<br />

SICHERHEIT. DAS<br />

FRAGT NACH EINER<br />

GEGENSTIMME.<br />

193


In all euren Auftritten schafft ihr eine Utopie als Reaktion<br />

auf die reale Welt. Ihr nennt es oft einen Freiraum. Einen<br />

Ort des Vertrauens.<br />

Joke: Ja. Utopisch und idealistisch, aber auch eine<br />

Gegenstimme, ein Kontrapunkt. Wir streben natürlich<br />

nach dem Ideal <strong>der</strong> bestmöglichen Aufführung. Wir<br />

suchen eine radikale Ehrlichkeit, wenn es um die Vielschichtigkeit<br />

des Menschseins geht. Nicht, dass wir<br />

die Dinge rosiger machen wollen. Im Gegenteil. Harmonie<br />

steht bei dieser Aufführung nicht auf <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />

Kwint: Sicherlich nicht in promise me, wo es oft rau<br />

und roh zugeht. Es herrscht eine brutale Intimität. Weniger<br />

weich und vielschichtiger als bei horses. Denn wir<br />

beleuchten eine an<strong>der</strong>e, gefährlichere Seite menschlicher<br />

Beziehungen.<br />

WIR SUCHEN EINE<br />

RADIKALE EHRLICHKEIT,<br />

WENN ES UM DIE<br />

VIELSCHICHTIGKEIT DES<br />

MENSCHSEINS GEHT […]<br />

HARMONIE STEHT BEI<br />

DIESER AUFFÜHRUNG<br />

NICHT AUF DER<br />

TAGESORDNUNG.<br />

Joke: Das erste Wort, mit dem wir bei diesem Stück<br />

hantierten, war »rücksichtslos«. Aber das deckt nicht<br />

alles ab. Deshalb war ich so froh, als wir auf den Text<br />

Ode an meine Narben des flämischen Autors David<br />

Van Reybrouck stießen. Er schreibt:<br />

»Nein, das ist nicht das richtige Wort, rücksichtslos.<br />

Was aber dann? Begeisterung, Glühen. Ja, man muss<br />

mit seinem Leib haushalten, aber deshalb muss man<br />

doch nicht mit dem Leben sparsam sein?«<br />

Das ist es für mich.<br />

»Sieben Tänzer:innen schließen einen Pakt« lautet eine<br />

Zeile auf dem Produktionsflyer. Was ist das für ein Pakt?<br />

Joke: Die Beziehung zwischen den Tänzer:innen entwickelte<br />

sich im Laufe des kreativen Prozesses zu einem<br />

absoluten Vertrauensverhältnis. Du schenkst Vertrauen<br />

und du bekommst es zurück. Das bewirkt, dass alle<br />

einan<strong>der</strong> so gut kennen, dass alle Grenzen aufgehoben<br />

sind, jede Zurückhaltung verschwindet. Solch einen<br />

Pakt wollen wir als Macher:innen immer initiieren. Oft<br />

»greift« ein solcher Pakt, und das war sicherlich bei den<br />

Darsteller:innen von promise me <strong>der</strong> Fall, aber das geschieht<br />

nicht immer. Das kannst du nicht erzwingen.<br />

Dieser Pakt des Vertrauens ist wie ein Grundton. Über<br />

Kwint sagen die Kin<strong>der</strong> beispielsweise: »Wir kennen<br />

deine Hände.« Das ist die physische Übersetzung dieses<br />

Vertrauens. Es ist die Basis, von <strong>der</strong> aus man den<br />

Grad <strong>der</strong> Hingabe, des Kümmerns, <strong>der</strong> Intimität und <strong>der</strong><br />

Stärke eines:einer jeden ablesen kann. Wenn man sich<br />

ein Duett zwischen Kwint und Ilena, Lili und Zélie o<strong>der</strong><br />

Juliette und Ido anschaut, dann sieht man stets sowohl<br />

die spezifische Dynamik zwischen zwei Tänzer:innen<br />

als auch die individuellen Eigenheiten jedes:je<strong>der</strong> Tanzenden.<br />

Man kann sehen, was sie ineinan<strong>der</strong> erwecken,<br />

und ihre Charaktere lesen durch die Art und Weise, wie<br />

sie miteinan<strong>der</strong> umgehen. Diese immerwährende Synergie<br />

generiert wun<strong>der</strong>schöne Bil<strong>der</strong>. Das ist reich.<br />

Nicht eindeutig.<br />

Kwint: In dem gegenseitigen Vertrauen zwischen diesen<br />

sieben Menschen auf <strong>der</strong> Bühne schlummert eine<br />

Dualität. Eine Vielschichtigkeit. Und das Medium Tanz<br />

eignet sich hervorragend, das sichtbar zu machen.<br />

Der Ausdruck »Dualität« taucht oft auf, wenn es um eure<br />

Arbeit geht. Könnt ihr diesen Begriff erklären?<br />

Joke: Alles hat eine Kehrseite – das ist eine Tatsache.<br />

Neben dem Wort »Lebensdrang«, das während<br />

des Entstehungsprozesses auftauchte, fiel auch das<br />

Wort »Todesverachtung«. Dem Tod die Zunge herausstrecken.<br />

Hinter dieser kindlichen Geste verbirgt sich<br />

eine tiefe Wahrheit. Jede:r erkennt die Endlichkeit,<br />

die Schwere, die Schwärze, die B-Seite des Lebens.<br />

Aber man kann sich auf unterschiedliche Weise darauf<br />

beziehen. Diese Tatsache kann dir Kraft geben<br />

und dich verwundbar machen. Gleichzeitig. Es ist kein<br />

Entwe<strong>der</strong>-o<strong>der</strong>. Nicht schwarz-weiß. Sehr oft suchen<br />

die Menschen nach einer vorgefertigten Antwort. Die<br />

Menschen for<strong>der</strong>n Klarheit. Es ist so und nicht an<strong>der</strong>s.<br />

Und dann entstehen Lager, Polemik, Slogans,<br />

Polarisierung, Identitätsschwierigkeiten. Während es<br />

nur Nuancen gibt. In <strong>der</strong> Realität und auch in einem<br />

Körper.<br />

Kwint: Es gibt die großen, trainierten Körper <strong>der</strong> erwachsenen<br />

Tänzer:innen und die kleineren, untrainierten<br />

Körper <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Dies ist an sich schon eine<br />

duale Gegebenheit. Erwachsene und Kin<strong>der</strong> können<br />

dieselbe Bewegung mit <strong>der</strong>selben Absicht ausführen<br />

und doch sind sie an<strong>der</strong>s. Und für die Tänzer:innen<br />

fühlt es sich auch an<strong>der</strong>s an.<br />

DIESER PAKT DES<br />

VERTRAUENS IST WIE<br />

EIN GRUNDTON.<br />

Joke: Und doch müssen Erwachsene und Kin<strong>der</strong> ein<br />

Gleichgewicht in <strong>der</strong> Schwerkraft finden. »Kippen« ist<br />

ein wesentliches Wort im Vokabular von promise me,<br />

ein Wort, das die Bewegungssprache stark beeinflusst<br />

hat. Aber es ist nicht so, dass man die Tänzer:innen<br />

buchstäblich kippen sieht. Es deutet vielmehr auf eine<br />

Absicht hin. Im Sinne von: sich trauen, in <strong>der</strong> Mitte<br />

von Dingen zu stehen. Nicht auszuweichen, nicht zu<br />

fliehen, son<strong>der</strong>n die Mittellinie beschreiten. Taumelnd,<br />

194


kippend, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren.<br />

Die Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Dinge erkennen. Es<br />

ist eine Kraft, auf dieser Mittellinie zu sein, in dieser<br />

immer kippenden Zwischenzone. Bei promise me geht<br />

es darum, Risiken einzugehen und Gewissheiten loszulassen,<br />

so haben wir es in Worte gefasst. Auf dem<br />

Papier klingt das hohl; in Wirklichkeit verweisen diese<br />

Sätze auf eine Haltung, eine Art, im Leben zu stehen,<br />

wofür du stark sein musst. Unser Motto für diese Leistung<br />

lautet: Stell Risiko über Stabilität. Neugierde über<br />

Angst. Zusammengehörigkeit über Selbsterhalt.<br />

Kwint: Wir improvisierten während einer Probe zu dem<br />

Slogan »Ich habe es noch nie getan, aber ich denke<br />

schon, dass ich es kann«. Dieser Satz führte in <strong>der</strong><br />

Gruppe eine Denkweise ein, die für den gesamten Entstehungsprozess<br />

des Stücks entscheidend war. Es ist<br />

ein praktischer Satz, <strong>der</strong> den Kin<strong>der</strong>n geholfen hat, die<br />

richtige Intention zu finden, mit <strong>der</strong> sie in die Aufführungen<br />

gehen. Der sie inspirierte, Bil<strong>der</strong> und Bewegungen<br />

zu kreieren. Wir sind weit entfernt von philosophischen<br />

Diskursen in den Proben. Wir sprechen mit den<br />

Kin<strong>der</strong>n kaum über die Themen, son<strong>der</strong>n übersetzen<br />

sie in Aufgaben, bei denen sie die Dinge rein körperlich<br />

erleben und verinnerlichen. Sie nähern sich allmählich<br />

den Themen, indem sie sie in ihren Körpern spüren,<br />

indem sie sie tanzen.<br />

Wir bemühen uns, unsere gesamte Arbeit in dieser<br />

Grauzone anzusiedeln. Ist es für ein junges Publikum?<br />

Ist es Tanz o<strong>der</strong> Theater? Ist es schön o<strong>der</strong> ist es grauenvoll?<br />

Ist ein zehnjähriger Körper, <strong>der</strong> tanzt, authentisch<br />

o<strong>der</strong> manipuliert? In unseren Augen sind das nicht<br />

die relevanten Fragen. Wir geben sie gerne zurück.<br />

promise me – versprich mir: Darin höre ich eine For<strong>der</strong>ung.<br />

Joke: Es handelt sich in <strong>der</strong> Tat um einen Appell. Ein<br />

Schrei nach ... Wonach genau, lässt sich nicht direkt<br />

in Worte fassen. Ich liebe das Bild einer Hand, die das<br />

Kinn eines:einer an<strong>der</strong>en ergreift, um buchstäblich seine:ihre<br />

Blickrichtung zu bestimmen, und um Aufmerksamkeit<br />

bittet. In dieser Geste steckt nicht nur eine<br />

Frage an die:den an<strong>der</strong>e:n; es ist auch eine Geste des<br />

Vertrauens, weil du nicht einfach so jemandem ins Gesicht<br />

fasst.<br />

Das ist wie<strong>der</strong> eine doppelte For<strong>der</strong>ung. »Gib mir so<br />

viel Vertrauen und Sicherheit, dass ich mich völlig frei<br />

fühlen kann.« Ich denke, die Welt braucht das wirklich,<br />

Menschen, die aus eigener Kraft stehen dürfen und<br />

können. Und ihre Stärke nicht aus einer vermeintlichen<br />

Identität beziehen, aus <strong>der</strong> Gruppe, <strong>der</strong> sie angehören,<br />

aus einer Dynamik des Wir/Sie. Wenn du dich von dieser<br />

Art des Denkens befreist, findest du vielleicht zu<br />

einer Vitalität zurück, die hoffentlich ansteckend wirkt.<br />

Seit eineinhalb Jahren bereiten wir auch ein zukünftiges<br />

Projekt mit palästinensischen Tänzer:innen und<br />

Kin<strong>der</strong>n vor. Bewohner:innen des Westjordanlands<br />

und des Gazastreifens. Auch dieses Projekt hat sich<br />

in unsere Proben geschlichen. promise me hat einen<br />

Unterton von Resilienz und Resistenz. Gib dich nicht<br />

mit dem zufrieden, was dir vorgesetzt wird, und übernimm<br />

die Verantwortung für das, was du tust.<br />

Eure Arbeit ist stets von <strong>der</strong> bildenden Kunst inspiriert.<br />

Gibt es Werke von Künstler:innen, die euch zu promise me<br />

angeregt haben?<br />

Kwint: Michaël Borremans’ Serie Fire from the Sun.<br />

Kleine Kin<strong>der</strong>, die sich gegenseitig mit Blut beschmieren.<br />

Auf dem Boden liegen menschliche Einzelteile.<br />

Was uns ins Auge fiel, war nicht <strong>der</strong> Schrecken dieser<br />

Szenen, son<strong>der</strong>n die Neugier <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf ihre<br />

eigenen Körper und die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Sehr animalisch.<br />

Daneben die Gemälde von Caravaggio, die Grauen und<br />

Schönheit vereinen.<br />

Es gibt den Film Buddha Collapsed Out of Shame <strong>der</strong><br />

iranischen Filmemacherin Hana Makhmalbaf, gedreht<br />

in dem afghanischen Dorf, wo die historischen Buddhastatuen,<br />

die in den Fels gehauen waren, von den<br />

Taliban gesprengt wurden. Der Film zeigt die Willenskraft<br />

eines Mädchens, Lesen zu lernen. Uns inspirierte<br />

die Art und Weise, wie die Filmemacherin diese Willenskraft<br />

in Bil<strong>der</strong>n dargestellt hat. Wie dieses Mädchen<br />

Kriegstraumata verarbeitet und überwindet. Ihr<br />

Lebenswille und ihre Verachtung für den Tod. Der Film<br />

endet mit spielenden Kin<strong>der</strong>n, die sich sozusagen unter<br />

Beschuss halten. »Die, and you will be free«, ruft ein<br />

Junge. Ein Satz, mit dem er eine Spielregel bestätigt:<br />

Wenn du hinfällst, kannst du weiterspielen. Es ist ein<br />

Spiel, mehr nicht, aber diese paradoxen Worte können<br />

auch so übersetzt werden: Wenn du nicht loslässt, wovor<br />

du Angst hast, kommst du keinen Meter weiter.<br />

Joke: Da ist wie<strong>der</strong> die Ode an meine Narben, in <strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Autor den Dichter Khahlil Gibran zitiert:<br />

»Deine Kin<strong>der</strong> sind nicht deine Kin<strong>der</strong>. Sie sind die<br />

Söhne und Töchter <strong>der</strong> Sehnsucht des Lebens nach<br />

sich selbst.«<br />

Auch das ist eine Dualität, mit <strong>der</strong> alle Eltern und die<br />

gesamte Gesellschaft zurechtkommen müssen.<br />

Und schließlich ist da ein Zitat des schottischen Dichters<br />

John Glenday in einem Buch über die Arbeit <strong>der</strong><br />

amerikanischen Fotografin Sally Mann: »You see it’s<br />

neither pride nor gravity, but love that pulls us back<br />

down to the world.« Die Schwerkraft ist bei einem<br />

Tanzstück sehr entscheidend, und wenn man hochgehoben<br />

wird, kann man sich »wie ein Astronaut in<br />

einer Raumkapsel« bewegen – so hat es Zélie in Worte<br />

gefasst. Sie war es auch, die behauptete, dass es in<br />

promise me um Liebe geht ...<br />

Aus dem Nie<strong>der</strong>ländischen von Golbarg Zolfaghari<br />

Die Choreografin JOKE LAUREYNS hat Philosophie studiert. Der Tänzer und Choreograf<br />

KWINT MANSHOVEN studierte Design. Gemeinsam gründeten sie die Gruppe kabinet k in Gent<br />

(Belgien), mit <strong>der</strong> sie seit über 20 Jahren Tanztheaterstücke kreieren, in denen professionelle<br />

Tänzer:innen und Kin<strong>der</strong> zusammen auf <strong>der</strong> Bühne stehen.<br />

Foto: Kurt van <strong>der</strong> Elst (Joke Laureys und Kwinst Manshoven)<br />

195


FREUDE ALS<br />

FORM DES<br />

WIDERSTANDS<br />

MATS STAUB IM GESPRÄCH MIT<br />

METTE INGVARTSEN<br />

TO COME (EXTENDED)<br />

Mette Ingvartsen<br />

Tanz<br />

ab 10. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/come<br />

196


Mats Staub: Es gibt nur sehr wenige Stücke, die mich auch<br />

Jahre später noch die Emotionen verspüren lassen, die sie<br />

in mir hervorgerufen haben – ich sah to come (extended)<br />

am 31. März 2018 in Berlin, und ich erinnere mich gut<br />

an das anschließende Gefühl des Staunens. Ja, ich war<br />

schlichtweg von Freude erfüllt. Du hast dich im Rahmen<br />

mehrerer Projekte zwischen 2014 und 2017 mit Sexualität<br />

befasst. Spielte <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Freude auch bei to come<br />

(extended) eine Rolle?<br />

Mette Ingvartsen: Ich empfand Freude damals als etwas,<br />

was von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung für uns ist. Im<br />

Laufe <strong>der</strong> Arbeit an diesem Projekt nahm die #MeToo-<br />

Bewegung allmählich an Fahrt auf; als mein Entschluss<br />

zu dieser Arbeit fiel, gab es sie noch gar nicht. Die Relationen<br />

zwischen Sexualität und politischen Begebenheiten<br />

in unserer Gesellschaft, Machtstrukturen und<br />

auch Machtmissbrauch offenbarten sich deutlich. Ich<br />

arbeitete damals an zwei Projekten. 21 pornographies<br />

betrachtet die Fragestellungen um Macht und Missbrauch<br />

und die Art und Weise, wie bereits bestehende<br />

Strukturen unser Empfinden von Intimität und Sexualität<br />

dominieren. Zur selben Zeit nahm ich die Arbeit an<br />

to come (extended) auf, das einen eher spielerischen<br />

Ansatz verfolgt und zum Imaginieren von Formen <strong>der</strong><br />

Sexualität einlädt, die in <strong>der</strong> realen Welt möglicherweise<br />

noch nicht existieren. Das letzte Segment dieses<br />

Stücks widmet sich dem Gesellschaftstanz Lindy Hop,<br />

<strong>der</strong> in den 1930er-Jahren in den Schwarzen-Communitys<br />

<strong>der</strong> USA entstand und im Laufe <strong>der</strong> Zeit von<br />

vielen unterschiedlichen Menschen über Kontinente<br />

hinweg getanzt wurde. Es handelt sich um einen energiegeladenen<br />

Tanzstil, bei dem viel gesprungen wird.<br />

Es versetzt den Körper <strong>der</strong> Tanzenden also in einen<br />

fröhlichen Zustand. Ich empfinde Freude als eine Form<br />

des Wi<strong>der</strong>stands gegen die allgemeine Unterdrückung<br />

des Körpers sowie <strong>der</strong> Freude und <strong>der</strong> Lust. Und ich<br />

empfinde sie als eine Art feministische Strategie, sich<br />

nicht in die Opferrolle zu begeben, neuartige Ansätze<br />

zuzulassen, die Dinge an<strong>der</strong>s anzugehen und sich<br />

(zumindest vorübergehend) aus gewissen repressiven<br />

Gesellschaftsstrukturen zu lösen.<br />

MS: Sexualität ist von so vielen Problemen umgeben, dass<br />

ein Fokus auf Freude und Empowerment keineswegs einfach<br />

ist. Es bedarf meiner Meinung nach einer Offenheit,<br />

die nur in einem geschützten Rahmen möglich ist. Im ersten<br />

Teil von to come (extended) tragen die 15 Tänzer:innen<br />

blaue Ganzkörperanzüge. Das erinnerte mich daran, dass<br />

die ehrlichen Unterhaltungen, die ich im Vorfeld von Intime<br />

Revolution führen durfte, nur möglich waren, weil alle Gesprächsteilnehmenden<br />

die Gewissheit hatten, dass ihre<br />

Berichterstattungen vollständig anonym bleiben würden.<br />

MI: Wenn man innerhalb einer großen Gruppe mit sexuellem<br />

Material arbeitet, muss man sehr offen eingestellt<br />

und dem Gegenüber zugewandt sein; gleichzeitig<br />

muss ein klarer Rahmen abgesteckt werden, wie man<br />

verfahren möchte. Wir haben intensiv über die Gestaltung<br />

eines geschützten Arbeitsumfelds gesprochen.<br />

Natürlich kommt man sich bei Themen wie Intimität<br />

und Sexualität sehr nah. Obwohl wir also blaue Ganzkörperanzüge<br />

tragen und unsere Körper vollständig<br />

von Stoff bedeckt sind, gibt es doch ausgesprochen<br />

intime Situationen, in denen sich alle wohlfühlen müssen.<br />

Wir haben versucht, einen fantasievollen Ansatz<br />

zu verfolgen, bei dem jede:r jede Position einnehmen<br />

und sich somit von dem eigenen Geschlecht befreien<br />

kann. Durch den blauen Anzug entsteht tatsächlich<br />

eine gewisse Anonymität, die sehr befreiend wirkt. Man<br />

muss sich keine Gedanken darüber machen, wen man<br />

berührt o<strong>der</strong> von wem man berührt wird. Darüber hinaus<br />

entsteht eine Nähe, die man im nackten Zustand<br />

eventuell als unangenehm empfinden würde. Die blauen<br />

Anzüge ermöglichen zudem einen skulpturalen<br />

Ausdruck körperlicher Verbindungen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

normalerweise nicht so leicht umzusetzen<br />

ist. Unser Projekt über die Freude fußt auf sexuellem<br />

Material und dem spielerischen Umgang damit, <strong>der</strong> es<br />

den Körpern erlaubt, jedwede Position einzunehmen,<br />

ohne dass man sich dabei als Mann o<strong>der</strong> als Frau begreifen<br />

müsste – als männlich, weiblich, nichtbinär<br />

o<strong>der</strong> als was auch immer man sich im realen Leben<br />

identifizieren würde. Innerhalb des Projekts kann man<br />

damit spielen und sich nach den eigenen Wünschen<br />

neu erfinden. Und ich denke, das war ein tolles Erlebnis<br />

für die Gruppe.<br />

MS: Der mittlere Teil macht auch Spaß. Die Performer:innen<br />

stehen nackt beieinan<strong>der</strong> und stöhnen gemeinsam –<br />

doch es ist nicht ihr individuelles Stöhnen, son<strong>der</strong>n sie<br />

imitieren die über Kopfhörer vermittelten Geräusche eines<br />

nahenden Orgasmus.<br />

MI: Ja, wir nennen das den »Orgasmus-Chor«, es ist<br />

eine Art multipler Orgasmus, <strong>der</strong> über vier o<strong>der</strong> fünf<br />

Minuten lang andauert. Darüber haben wir herausgefunden,<br />

dass Orgasmen sich in unterschiedlichen Län<strong>der</strong>n<br />

an<strong>der</strong>s anhören. Im Westen gibt es eine ähnliche<br />

197


Tendenz <strong>der</strong> Orgasmus-Geräusche, aber es scheint<br />

Unterschiede zu geben, wie einzelne Kulturen sexuelles<br />

Vergnügen ausdrücken. Das knüpft an die Frage<br />

an, inwiefern unser sexueller Ausdruck etwas ist, das<br />

kulturell vermittelt wird. Und inwiefern <strong>der</strong> Einfluss<br />

durch heutzutage leicht zugängliche Filme o<strong>der</strong> pornografische<br />

Inhalte eine Rolle spielen.<br />

MS: Ja, Pornografisches findet sich allerorts, aber durch<br />

das nochmalige Sehen von to come (extended) wurde mir<br />

bewusst, dass es einen eklatanten Mangel an Diversität in<br />

den visuellen Ausdrucksformen sexueller Akte gibt.<br />

MI: Ja, Hollywood-Sexszenen sind zu alltäglichen Eindrücken<br />

geworden, und wir haben es alle gesehen – in<br />

beinahe jedem Film gibt es eine Szene, bei <strong>der</strong> man<br />

sich denkt: »Okay, das gab es schon mal«, und es sieht<br />

immer gleich aus. Ganz am Anfang habe ich mich damit<br />

beschäftigt, wie sexuelle Bil<strong>der</strong> innerhalb kapitalistischer<br />

und kommerzieller Wirtschaften eingesetzt<br />

werden; wie sexuelle Bil<strong>der</strong> unsere visuelle Kultur überschwemmen<br />

und wie sich das auf die Art und Weise<br />

auswirkt, wie wir im realen Leben Sex haben. Es gibt<br />

nämlich definitiv eine Verbindung zwischen sexuellen<br />

Bil<strong>der</strong>n, die wir abrufen können, und dem, was sich<br />

tatsächlich in unseren Schlafzimmern abspielt. Für<br />

mich war to come (extended) also auch ein Stück über<br />

den Einfluss, den diese Mechanismen des Begehrens<br />

und <strong>der</strong> Emotion auf uns ausüben. Wie viel meines<br />

sexuellen Handelns kommt wirklich von mir? Wie viel<br />

ist erlernt, und wie viel steht unter dem Einfluss <strong>der</strong><br />

zirkulierenden Bil<strong>der</strong>, auf die wir alle Zugriff haben?<br />

Außerdem behandelt das Stück die Frage, wie man mit<br />

diesen kollektiven Bil<strong>der</strong>n umgeht, sie lenkt und wie<br />

man an<strong>der</strong>e Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Ideen entwerfen könnte, wie<br />

man es eben auch machen könnte o<strong>der</strong> wie es auch<br />

aussehen könnte.<br />

ICH EMPFINDE FREUDE<br />

ALS EINE FORM DES<br />

WIDERSTANDS GEGEN<br />

DIE ALLGEMEINE<br />

UNTERDRÜCKUNG DES<br />

KÖRPERS SOWIE DER<br />

FREUDE UND DER LUST<br />

MS: Es gibt tatsächlich viele Analogien zwischen unseren<br />

beiden Werken, und ich freue mich sehr, dass das Publikum<br />

<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> beide erleben wird – obwohl Intime<br />

Revolution sich nicht um den visuellen Aspekt dreht, son<strong>der</strong>n<br />

um Wörter, den Mangel an Sprachlichkeit im Bereich<br />

<strong>der</strong> Sexualität und den Versuch, diesen mithilfe von persönlichen<br />

Geschichten zu überwinden.<br />

MI: Wenn man sich Geschichten anhört, auf die man<br />

vielleicht nicht ganz so einfach zugreifen kann, erweitert<br />

das durchaus den Wortbestand. Denn über Sexualität<br />

zu sprechen, fällt noch immer eher schwer;<br />

selbst in kommunikativen und intakten Paarbeziehungen.<br />

Und es ist interessant, dass Wörter Wörter hervorrufen<br />

können und auch das Vernehmen von Wörtern<br />

den eigenen Wortbestand bereichert. Genau das<br />

war meine Erfahrung bei zwei meiner an<strong>der</strong>en Performances,<br />

bei denen es ebenfalls um Sexualität geht. Ich<br />

wurde danach oft von Leuten angesprochen, die mir<br />

sehr intime Einblicke gaben. Mir sind also schon einige<br />

Geschichten zu Ohren gekommen. Wenn ich auf <strong>der</strong><br />

Bühne über Sexualität spreche, dann sind das nicht<br />

zwangsläufig persönliche Erfahrungen, son<strong>der</strong>n es<br />

sind eher Geschichten. Aber allein dadurch, dass wir<br />

einen Raum geschaffen haben, um über diese Thematiken<br />

zu sprechen und sie zu versprachlichen, konnten<br />

sich entsprechende Möglichkeitsräume entfalten.<br />

MS: Durch das Schaffen eines öffentlichen Raumes unterstreichst<br />

du die Idee, dass sexuelle Praktiken nicht nur<br />

etwas Intimes und Privates sind.<br />

MI: Normalerweise ordnen wir Sexualität <strong>der</strong> privaten<br />

Sphäre zu, aber durch #MeToo ist uns bewusst geworden,<br />

dass Sexualität darüber hinaus einen großen<br />

Einfluss auf den öffentlichen Bereich ausübt und auch<br />

darauf, wie dieser organisiert wird. Machtstrukturen offenbaren<br />

sich auf sämtlichen politischen Ebenen; ob<br />

es um Krieg geht o<strong>der</strong> darum, wer das Land regiert und<br />

wie viele Frauen einen Platz im Parlament bekommen.<br />

Wirft man einen Blick auf gleichen Lohn für gleiche<br />

Arbeit o<strong>der</strong> darauf, wie viele Frauen in <strong>der</strong> Unternehmungsleitung<br />

tätig sind, dann ist doch deutlich zu erkennen,<br />

dass noch immer Männer an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />

einflussreichsten Unternehmen und Institutionen stehen.<br />

Und dieses Ungleichgewicht ist natürlich problematisch.<br />

Ich habe die Theorie, dass unser Umgang mit<br />

Sexualität innerhalb des intimen Kontextes sich stark<br />

auf Machtgefüge im öffentlichen Raum auswirkt. Die<br />

Mikro- und Makrostrukturen sind meiner Ansicht nach<br />

ausgeprägt miteinan<strong>der</strong> verwoben. Und man kann<br />

durchaus etwas lernen, wenn man sich die intimsten<br />

Strukturen auf dem Feld <strong>der</strong> Sexualität und <strong>der</strong> Emotionen<br />

ansieht. In to come (extended) behandeln wir<br />

Aktivitäten, die man üblicherweise Paaren zuschreiben<br />

würde, und wir übertragen sie auf große Gruppen.<br />

Wenn also <strong>der</strong> sexuelle Akt, <strong>der</strong> normalerweise von<br />

zwei Menschen ausgeübt wird, im Gruppenkontext<br />

umgesetzt wird, dann entsteht daraus eine Orgie. Und<br />

was bedeutet das eigentlich? Darin liegt für mich auch<br />

eine Art Kritik in Bezug auf die Strukturen, die unsere<br />

gesellschaftliche Wahrnehmung von sexuellem Vergnügen<br />

dominieren. Doch die Kritik gilt darüber hinaus<br />

auch mitunter repressiven Familienstrukturen. Wird<br />

eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Gleichberechtigung geschaffen<br />

o<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Flexibilität in Bezug auf<br />

Machtverschiebungen im intimen Raum, dann könnte<br />

sich meiner Meinung nach ein Effekt auf die Funktionsweise<br />

von Makrostrukturen einstellen.<br />

198


MS: Ich teile diese Ansichten. In einem unserer Interviews<br />

fiel <strong>der</strong> Satz: »Vielleicht begründet sich die Tragödie unserer<br />

Gesellschaft darin, dass die meisten Menschen nicht den<br />

Sex bekommen, den sie sich wünschen.« Ich denke, die Welt<br />

sähe völlig an<strong>der</strong>s aus, wenn sich das än<strong>der</strong>n würde.<br />

MI: Ja, mit Sicherheit.<br />

WIE VIEL MEINES<br />

SEXUELLEN HANDELNS<br />

KOMMT WIRKLICH<br />

VON MIR? WIE VIEL<br />

IST ERLERNT, UND WIE<br />

VIEL STEHT UNTER<br />

DEM EINFLUSS DER<br />

ZIRKULIERENDEN<br />

BILDER, AUF DIE WIR<br />

ALLE ZUGRIFF HABEN?<br />

MS: Als du vor fünf Jahren to come (extended) erarbeitet<br />

hast, war eine Pandemie bloss ein fiktives Horrorszenario<br />

und jetzt, wo wir zusammen sprechen, am 7. März <strong>2022</strong>,<br />

scheint sich diese endlich einem Ende zuzuneigen, aber<br />

die Welt sieht in Europa gerade sehr düster aus.<br />

MI: Ja, Corona wird plötzlich nebensächlich, was angesichts<br />

<strong>der</strong> aktuellen Geschehnisse auch natürlich<br />

ist, und man kann sich nur eingeschränkt darüber<br />

freuen, dass sich das Ende einer Periode einstellt, die<br />

uns lange Zeit beschäftigt hat, da die eine Krise von<br />

<strong>der</strong> nächsten abgelöst wird. In diesen Tagen gestaltet<br />

sich das Spüren <strong>der</strong> Freude, über die wir gesprochen<br />

haben, durchaus als komplexes Unterfangen; aber als<br />

ich überlegt habe, welche <strong>der</strong> älteren Gruppen-Performances<br />

ich gern noch einmal aufgreifen würde, erschien<br />

mir to come (extended) am sinnvollsten. Das<br />

Projekt weist Parallelen auf zu <strong>der</strong> Situation, in <strong>der</strong> wir<br />

uns während <strong>der</strong> letzten zwei Jahre befunden haben.<br />

Es gab keine Zusammenkünfte und keinen körperlichen<br />

Kontakt, und gegenseitiges Berühren und sogar<br />

die bloße Nähe zu an<strong>der</strong>en Menschen sind zu einer<br />

Gefahr geworden. Mein Gefühl sagt mir, dass es außerordentlich<br />

wichtig ist, wie<strong>der</strong> Freude zu empfinden<br />

und sich darüber zu freuen, wie<strong>der</strong> zusammen zu sein.<br />

Und in to come (extended) geht es genau darum; die<br />

Performance besteht aus Gruppenchoreografien und<br />

Gruppendynamiken und beschreibt, was sich nicht allein,<br />

son<strong>der</strong>n nur als Gruppe erreichen lässt. Es gibt<br />

nicht ein einziges Solo in <strong>der</strong> gesamten Performance,<br />

son<strong>der</strong>n ausschließlich kollektive Bewegungen innerhalb<br />

von Gruppenkonstellationen. Gewissermaßen<br />

lässt sich das als Statement gegenüber unserer aktuellen<br />

Situation auffassen, in <strong>der</strong> wir uns überlegen, wie<br />

wir unser Sozialleben wie<strong>der</strong> mit neuer Energie aufladen<br />

können. Ich denke nämlich, dass es genau das ist,<br />

was wir uns alle wünschen – zumindest wünsche ich<br />

es mir. Und es gibt vermutlich eine Menge Leute, die<br />

sich einen spielerischen sozialen Kontext wünschen,<br />

<strong>der</strong> ein Zusammenkommen erlaubt, weil wir darauf<br />

über einen langen Zeitraum hinweg verzichten mussten.<br />

Endlich scheint das wie<strong>der</strong> möglich zu sein, und<br />

wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, an<br />

dem wir ausarbeiten können, wie wir ein Zusammensein<br />

gestalten möchten.<br />

In to come (extended) hat sich METTE INGVARTSEN choreografisch mit <strong>der</strong> Sexualität in ihrer<br />

sozialen und politischen Sphäre beschäftigt. Auch MATS STAUB setzt sich im Rahmen seiner<br />

Arbeit Intime Revolution mit den sprachlichen Facetten von Sexualität auseinan<strong>der</strong>.<br />

Gemeinsam sprechen sie über Vergnügen, Machtstrukturen und den kulturellen Einfluss<br />

auf Orgasmen.<br />

Foto: Bea Borgers (Mette Ingvatsen)<br />

199


GESPRÄCHE<br />

MIT PIONIER:INNEN<br />

VON ANNA PAPST<br />

INTIME REVOLUTION<br />

Anna Papst & Mats Staub<br />

Audio­Vinothek / Uraufführung<br />

ab 12. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 16 _______________ www.ruhr3.com/staub<br />

200


»Wofür schämst du dich heute nicht mehr?«<br />

»Für mich.«<br />

Diese Antwort am Schluss eines langen Gespräches über<br />

Sex leuchtet mir sofort ein und verblüfft mich doch. In <strong>der</strong><br />

vergangenen Stunde hat mir Marco* seine Geschichte erzählt,<br />

die von Schikane, Einsamkeit und rohem Sex handelt.<br />

Wir haben darüber gesprochen, warum er innerhalb<br />

einer Beziehung selten bis nie Sex hatte und mit Fremden<br />

oft. Davon, wie er im Kino gemerkt hat, dass er schwul ist,<br />

und wie er panische Angst davor hatte, seine männlichen<br />

Heterofreunde zu verlieren.<br />

WENN MAN<br />

BEDENKT, DASS DIE<br />

MEISTEN MENSCHEN<br />

REGELMÄSSIG SEX<br />

HABEN, DANN IST<br />

DIE TATSACHE, DASS<br />

DAS SPRECHEN<br />

DARÜBER DENNOCH SO<br />

SELTEN STATTFINDET,<br />

EIGENTLICH<br />

UNBEGREIFLICH.<br />

Marco ist einer Einladung auf einen »Open Call« gefolgt,<br />

den Mats Staub und ich gestreut haben. Seit mehr als einem<br />

Jahr treffen wir immer wie<strong>der</strong> Menschen, um mit ihnen<br />

über Sex zu sprechen, genauer, um mit ihnen darüber<br />

zu sprechen, wann und wie sie im Lauf ihres Lebens Sex<br />

neu gelernt, entlernt, umgelernt haben. Zu Beginn hatten<br />

wir kaum mehr in den Händen als die Feststellung, dass<br />

Sex zwar medial omnipräsent ist, aber ehrliche Gespräche<br />

darüber, was Sex uns gibt und was wir von Sex erwarten,<br />

spärlich gesät sind. Selbst den Menschen, die auf uns zukamen,<br />

die also bereit waren, über Sex zu sprechen, fehlten<br />

im Lauf des Gesprächs oft die Worte, um zu beschreiben,<br />

was in ihnen vorgeht, wenn sie Sex haben. Mit jedem<br />

Gespräch trat deutlicher zutage, dass wir nie »nur« über<br />

Sex sprechen, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Angst, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Freiheit, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Vertrauen, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Rausch, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Identität, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Schmerz, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Zugehörigkeit, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Die Menschen, die mit uns sprechen, lassen sich nicht in<br />

eine Kategorie einordnen. Sie sind zwischen zwanzig und<br />

siebzig, haben eine Behin<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> haben keine Behin<strong>der</strong>ung,<br />

sind queer, hetero, bi, lesbisch, schwul, trans,<br />

fühlen sich unterschiedlichen Geschlechtern o<strong>der</strong> keinem<br />

zugehörig. Sie leben auf dem Land o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Stadt, sind<br />

Akademikerinnen, Sozialhilfeempfänger o<strong>der</strong> Angestellte.<br />

Was sie aber alle gemeinsam haben, ist, dass sie eine<br />

eigene intime Revolution erlebt haben und, dass sie bereit<br />

waren, ihre Geschichte mit uns zu teilen.<br />

Marco: »Ich habe viel Sex gehabt. Trotzdem weiß ich<br />

nicht, worauf ich eigentlich stehe. Ich habe immer gemacht,<br />

was <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wollte, weil ich für ihn interessant<br />

sein wollte. Ich will lernen, was mir selbst gefällt.<br />

Und dafür einstehen.«<br />

Mit unserem Langzeitprojekt Intime Revolution schaffen<br />

wir einen geschützten Raum, in dem unsere Gesprächspartner:innen<br />

eine Sprache suchen und erproben können,<br />

um die beflügelnden und die schmerzhaften Ereignisse<br />

ihrer sexuellen Biografie zu beschreiben. Sie tasten die<br />

Worte auf ihre Beschaffenheit ab, zögern, setzen nochmals<br />

an, suchen weiter. Damit leisten sie Pionier:innenarbeit<br />

für alle, die ihre Geschichte zu hören bekommen werden:<br />

Sie erweitern die bestehende, sehr dürftige Sprache,<br />

die uns zur Beschreibung von Sex zur Verfügung steht,<br />

um ihre eigenen Ausdrücke und Metaphern. Wenn man<br />

bedenkt, dass die meisten Menschen regelmäßig Sex haben,<br />

dann ist die Tatsache, dass das Sprechen darüber<br />

dennoch so selten stattfindet, eigentlich unbegreiflich.<br />

Eine Gesprächspartnerin hat den Vergleich zum Trinken<br />

eines guten Weins gezogen. Dafür, wie Wein schmecke,<br />

gebe es mindestens dreitausend Adjektive und Bil<strong>der</strong>,<br />

während einem auf die Frage, wie sich Sex anfühlt, oft<br />

nur die Worte »gut« o<strong>der</strong> »geil« einfielen. Diese sprachliche<br />

Armut und <strong>der</strong> Mangel an Kommunikation stehen<br />

auch dem Erreichen einer erfüllenden Sexualität im Weg.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihr Leben lang nie gefragt,<br />

ob Ihnen das Essen schmeckt, das man Ihnen vorsetzt. Es<br />

würde stillschweigend angenommen, dass es wohl gut sei<br />

o<strong>der</strong>, dass Sie es, wenn es Ihnen nicht schmecken sollte,<br />

irgendwie runterwürgen und sich an<strong>der</strong>en Dingen im Leben<br />

zuwenden würden. Und käme endlich <strong>der</strong> Tag, an dem<br />

jemand Sie fragt, ob Ihnen das Essen schmeckt, könnten<br />

Sie zwar vielleicht mit »Nein« antworten, aber nicht weiter<br />

beschreiben, was Sie gerne hätten. An <strong>der</strong> Sprache<br />

wird deutlich, dass es für Wein offensichtlich eine Wertschätzung<br />

und einen Willen zur Präzision gibt, während<br />

man Sex sprachlich <strong>der</strong> Vulgär- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Medizinalsprache<br />

überlässt. Und wem von uns wurde eine schamfreie,<br />

ermutigende Aufklärung zuteil? Während Familienrezepte<br />

für Weihnachtskekse traditionell weitergegeben werden,<br />

scheinen Rezepte für eine genussvolle Sexualität nicht<br />

vererbt zu werden. Dabei hat unser Verhältnis zu Sex viel<br />

mit sozialer Prägung zu tun.<br />

In <strong>der</strong> Sexualität eines Menschen werden die eigenen Bedürfnisse<br />

und <strong>der</strong> Umgang damit überdeutlich sichtbar.<br />

Gespräche über Sex gehen aber über die eigene Bedürftigkeit<br />

hinaus. Es geht immer auch um die strukturellen<br />

*Name geän<strong>der</strong>t.<br />

201


Verhältnisse, in denen die Person lebt: Warum habe ich<br />

geglaubt, Sex gehöre zu meinen ehelichen Pflichten? Warum<br />

glaube ich, kein »echter« Mann mehr zu sein, wenn ich<br />

keine Erektion bekommen kann? Warum können wir uns<br />

nicht zu dritt als Lebenspartner:innen eintragen lassen?<br />

Wir sprechen über Politik, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Machtverhältnisse, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Glaubenssätze, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über mediale Darstellungen, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über Religion, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Wir sprechen über das Verlangen nach einer Revolution, wenn wir über Sex sprechen.<br />

Mit Intime Revolution möchten Mats Staub und ich ein<br />

kollektives Erlebnis ermöglichen und doch einen Rahmen<br />

bieten, <strong>der</strong> den Besucher:innen genügend Privatheit bieten<br />

kann. Wir verzichten auf jegliche Bil<strong>der</strong> und konzentrieren<br />

uns ganz auf das Zuhören – alle Erzählungen werden<br />

über Kopfhörer zu hören sein, aber niemand ist beim<br />

Hören allein. Inspiriert vom Vergleich zwischen Wein und<br />

Sex, haben wir uns für die Weinbar als Präsentationsort<br />

entschieden. Die Sitzordnung an Tischen, an denen die<br />

Zuhörer:innen entwe<strong>der</strong> allein o<strong>der</strong> mit ihrer Begleitung<br />

Platz nehmen, schafft eine private Situation innerhalb<br />

eines Raumes voller frem<strong>der</strong> Menschen. Uns gefällt auch<br />

die Haltung, die mit dem Besuch einer Vinothek einhergeht.<br />

Ein Lokal aufzusuchen, um ein Glas Wein zu genießen,<br />

ist nichts Luxuriöses, aber dennoch etwas Beson<strong>der</strong>es,<br />

das man sich gönnt. Diese Vorfreude und das Gefühl,<br />

sich damit etwas Gutes zu tun, wünschen wir auch den<br />

Besucher:innen unserer Audio-Vinothek. Und dass sie<br />

beim Hören <strong>der</strong> biografischen Erzählungen zu eigenen intimen<br />

Revolutionen angestiftet werden.<br />

Zum Beispiel von Marco: »Ich habe jetzt seit Ewigkeiten<br />

zum ersten Mal wie<strong>der</strong> jemanden kennengelernt,<br />

<strong>der</strong> mir gefällt. Ich habe ihn durch mein politisches Engagement<br />

für die ›Ehe für alle‹-Initiative getroffen. Es<br />

ist ganz frisch, wir sind seit drei Wochen zusammen.<br />

Sex hatten wir bisher noch keinen.«<br />

ANNA PAPST, wuchs im Zürcher Oberland auf und arbeitet als Regisseurin, Autorin und<br />

Drama turgin. Seit dem Abschluss ihres Regiestudiums an <strong>der</strong> ZhdK arbeitet sie an diversen<br />

Theaterhäusern <strong>der</strong> Freien Szene und Stadttheatern. Neben Stücken für Erwachsene<br />

inszeniert sie regelmässig für ein junges Publikum und arbeitet kollaborativ mit Künstler:innen<br />

aller Disziplinen zusammen. Intime Revolution ist das erste kollektives Langzeitprojekt<br />

mit Mats Staub.<br />

Foto: Sabrina Weniger (Anna Papst)<br />

202


»IST ES NICHT EIN BISSCHEN<br />

ABGEFUCKT, JETZT EIN MANN<br />

WERDEN ZU WOLLEN?«<br />

—<br />

»IST ES NICHT REVOLUTIONÄR?«<br />

COCK COCK ... WHO’S THERE?<br />

Samira Elagoz<br />

Performance / Film<br />

am 26. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/elagoz1<br />

SEEK BROMANCE<br />

Samira Elagoz<br />

Performance / Film / Deutsche Erstaufführung<br />

ab 27. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 44 _______________ www.ruhr3.com/elagoz2<br />

203


Anlässlich <strong>der</strong> deutschen Erstaufführung von Seek Bromance<br />

spricht die Dramaturgin Sara Abbasi mit dem<br />

Film- und Performancekünstler Samira Elagoz über Gen<strong>der</strong>-Identität,<br />

Männlichkeitsbil<strong>der</strong> und die Frage, wie es<br />

sich anfühlt, als transmaskuliner Künstler auf die eigene<br />

Femme-Vergangenheit zurückzublicken und dieser auf <strong>der</strong><br />

Bühne wie<strong>der</strong>zubegegnen.<br />

Sara Abbasi: Im September wirst du nach eineinhalb Jahren<br />

Pause deine Performance Cock, Cock... Who’s There?<br />

wie<strong>der</strong> auf die Bühne bringen. Als diese Arbeit im Jahr<br />

2016 entstand, identifiziertest du dich als Frau, heute<br />

identifizierst dich als transmaskulin – was in deiner neuen<br />

Arbeit Seek Bromance thematisiert wird. Du wirst beide<br />

Arbeiten an aufeinan<strong>der</strong>folgenden Abenden zeigen. Was<br />

verbindest du mit dem Gedanken an die Wie<strong>der</strong>begegnung<br />

mit deiner Vergangenheit?<br />

Samira Elagoz: Cock, Cock... Who’s There? ist eine Ode<br />

an das Frausein – ich feiere es. Die Performance steht für<br />

die Tatsache, dass ich an meiner Zeit als Frau nichts hätte<br />

än<strong>der</strong>n wollen. Viele Leute denken, ich hätte mich für<br />

die Transition entschieden, weil ich als Frau nicht glücklich<br />

gewesen wäre, aber das stimmt nicht. Ich hatte eine<br />

lange, komplexe und hingebungsvolle Beziehung zum<br />

Frausein. Ich habe es umfassend erkundet, aber es entspricht<br />

nicht mehr dem, was ich heute bin. Und in diesem<br />

Sinne ist Cock, Cock... Who’s There? ein Abgesang auf<br />

mein Leben als Frau, das ich aber sehr hochhalte.<br />

In mir wächst jedoch eine Logik, die in Frage stellt, ob<br />

ich es jemals wirklich war; die anerkennt, dass ich bloß<br />

damit beschäftigt war, die Rolle gut zu spielen, sie zu<br />

beherrschen. In dieser Logik sehe ich mein Frausein als<br />

Erfahrung, aber nicht als Identität. Und wenn ich die<br />

Künstlichkeit dessen abstreife, fühlt es sich beinahe an<br />

wie ein System, das darauf programmiert war, Weiblichkeit<br />

zu performen. Mein Frausein fand in diesen Parametern<br />

statt, in den Grenzen und mit den Requisiten,<br />

sodass meinem Verhalten etwas Reaktionäres o<strong>der</strong> gar<br />

Lebloses inhärierte. Als eine Rolle, die ich nicht wirklich<br />

angenommen, son<strong>der</strong>n vielmehr aufgeklebt hatte. Und<br />

doch bleibt die Tatsache, dass meine Zeit als Frau geprägt<br />

hat, wer ich heute bin. Deshalb bleibt sie Teil meiner<br />

Biografie, auch wenn ich es nicht mehr sein möchte.<br />

Ich habe Cock, Cock... Who’s There? seit meiner Transition<br />

erst einmal aufgeführt und hatte dabei das starke<br />

Gefühl, zu zweit auf <strong>der</strong> Bühne zu sein. Und zum ersten<br />

Mal in vier Jahren auf Tour habe ich nach <strong>der</strong> Show<br />

geweint. Nicht aus Traurigkeit, son<strong>der</strong>n aus Bewun<strong>der</strong>ung<br />

für das, was ich getan habe, wer ich gewesen<br />

bin. Ich finde Cock, Cock... Who’s There? noch immer<br />

sehr gewaltig, geradezu historisch. Es zeugt von einer<br />

Heftigkeit, die kein männliches Wesen jemals haben<br />

kann – das kann nur eine Femme so machen. Und <strong>der</strong><br />

Optimismus, den ich in Cock, Cock... Who’s There? erkannte,<br />

dieser Wille, es trotzdem zu versuchen, und die<br />

Weigerung, aufzugeben, war ein Zeichen <strong>der</strong> Hoffnung.<br />

Ich war ziemlich stolz auf das Bild einer Femme, das ich<br />

geschaffen hatte.<br />

SA: In Seek Bromance wohnen wir dem Moment deiner ersten<br />

Testosteronspritze bei und bekommen den Eindruck,<br />

an etwas sehr Biografischem teilzuhaben. Natürlich ist<br />

diese Szene nicht <strong>der</strong> Beginn deiner Transition. Würdest<br />

du aus heutiger Perspektive sagen, dieser Prozess begann<br />

bereits während deiner Arbeit an Cock, Cock... Who’s<br />

There?? Wo siehst du – von heute aus betrachtet – die<br />

Verbindungslinien zwischen Cock, Cock... Who’s There?<br />

und Seek Bromance?<br />

SE: Der Prozess <strong>der</strong> Transition ist wie das Schneiden eines<br />

Films: Du weißt nicht unmittelbar, was du erschaffst.<br />

Erst in <strong>der</strong> Rückschau kannst du gewisse Muster und<br />

Gesetzmäßigkeiten eines Geschmacksurteils erkennen,<br />

kannst du sehen, was die einzelnen Schritte waren. Die<br />

Frage des »Warum« ist ein Luxus des Rückblicks und<br />

nicht die Vorbedingung <strong>der</strong> Entscheidung.<br />

Menschen basieren auf ihren Geschichten. Die Erzählung<br />

von jedem steinigen Weg lautet, dass er »mich zu<br />

dem Menschen gemacht hat, <strong>der</strong> ich heute bin«. Doch<br />

viele unserer Absichten sind wohl außerhalb unserer<br />

kleinen, fürsorglichen Zirkel nicht erkennbar. Wir erfinden<br />

Geschichten o<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Gesten, die den<br />

Begrenzungen dessen entschlüpfen, was uns mitgegeben<br />

wurde. Wir erfinden es auf dem Weg, werden zu<br />

Künstler:innen des Lebens selbst.<br />

DER PROZESS DER<br />

TRANSITION IST WIE<br />

DAS SCHNEIDEN EINES<br />

FILMS: DU WEISST<br />

NICHT UNMITTELBAR,<br />

WAS DU ERSCHAFFST.<br />

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«,<br />

schreibt Simone de Beauvoir – und dieses Wesen wird<br />

von <strong>der</strong> »Gesamtheit <strong>der</strong> Zivilisation gestaltet«.1 Daraus<br />

folgere ich, dass Männer ebenso in Geschlechternormen<br />

gefangen und selbst Opfer des verdammten Strebens<br />

nach mythischen männlichen Gewissheiten sind.<br />

In letzter Zeit habe ich überlegt, ob ich jemals eine Ode<br />

an die Männlichkeit verfassen würde. Doch wo Cock,<br />

Cock... Who’s There? das Frausein feiert und darauf<br />

besteht, sich nicht dafür zu entschuldigen, wäre ein<br />

solcher Ansatz in Bezug auf Männlichkeit skrupellos<br />

und unverschämt, weil diese voller toxischer Fallen ist.<br />

Egal wie sehr du hoffst, ein besserer Mann zu sein, du<br />

wirst in einige dieser Fallen treten. Und obwohl Seek<br />

Bromance in Teilen erkundet, was für eine Art von<br />

Mann jede:r von uns sein möchte, erkennen wir am<br />

Ende, dass bereits dem Streben nach Männlichkeit<br />

das Scheitern innewohnt.<br />

Nicht nur weil »traditionelle« männliche Eigenschaften<br />

mit Aggression, Frauenfeindlichkeit usw. verknüpft<br />

sind o<strong>der</strong> weil es <strong>der</strong> Männlichkeit an guten Vorbil<strong>der</strong>n<br />

fehlt, son<strong>der</strong>n weil die Gesellschaft mir zeigt, dass<br />

204<br />

1 Simone de Beauvoir: Das an<strong>der</strong>e Geschlecht. Sitte und Sexus <strong>der</strong> Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265.


Männlichkeit ein unerfüllbares Ideal ist, eine Halluzination<br />

von Befehl und Kontrolle und eine Illusion von<br />

Beherrschung. Mir ist klar geworden, dass diese Erfahrung<br />

– die absurde, hin<strong>der</strong>liche Angst, dass Mensch<br />

nicht Mann genug, nicht Femme genug o<strong>der</strong> queer<br />

genug sei –, diese ungewisse Verletzbarkeit etwas ist,<br />

was alle Menschen gemeinsam haben. Und die Vorstellung<br />

von männlicher Macht wird für alle Männer<br />

flüchtig bleiben, egal ob ihnen das Mannsein bei <strong>der</strong><br />

Geburt zugewiesen wurde o<strong>der</strong> nicht.<br />

SA: In Seek Bromance verfolgen wir deine Beziehung zu<br />

deiner/deinem Filmpartner:in Cade, einer/einem brasilianischen<br />

Künstler:in, die/<strong>der</strong> sich zu Beginn <strong>der</strong> Dreharbeiten<br />

noch als transmaskulin und heute als nonbinär<br />

identifiziert – im Englischen wäre das Pronomen they/<br />

them, während du he/him bevorzugst, was auch Cade<br />

anfangs tat. Im Deutschen fehlt uns die Sprache, um<br />

das angemessen auszudrücken. Du fragst Cade an einer<br />

Stelle: »Wie erlebst du Männer?«. Wie würdest du diese<br />

Frage beantworten?<br />

SE: Ich bin skeptisch gegenüber <strong>der</strong> Idee von Charaktertypen.<br />

Aber im Mannsein gibt es definitiv einen<br />

selbstzerstörerischen Aspekt, eine scheinbar unlösbare<br />

Krise <strong>der</strong> Männlichkeit. Ich habe etwa zehn Jahre<br />

meines Lebens damit verbracht, immer wie<strong>der</strong> Männer<br />

zu filmen. Und es gibt einen weichen Ort für sie in<br />

meinem Herzen, hoffnungsvoll und amüsiert. Ich habe<br />

mich oft als Vertrauensperson von Männern erlebt.<br />

Denn wenn eine Frau etwas sehr Persönliches mit dir<br />

teilt, weißt du, dass sie es wahrscheinlich auch an<strong>der</strong>en<br />

Freund:innen erzählt hat. Wenn aber ein Mann dir<br />

etwas anvertraut, hört er sich oft zum ersten Mal dabei<br />

zu, solche Dinge auszusprechen. Das war mir immer<br />

sehr wertvoll, diese Zeug:innenschaft für Dinge, die<br />

zum ersten Mal ans Licht <strong>der</strong> Welt kommen. Es hat<br />

mich erkennen lassen, dass Männer we<strong>der</strong> den Raum<br />

noch die Sprache für diese Dinge haben.<br />

Als ich das erste Mal mit einer Freundin über meine<br />

Transition sprach, sagte sie: »Ist es nicht ein bisschen<br />

abgefuckt, jetzt ein Mann werden zu wollen?« – »Ist es<br />

nicht revolutionär?«, antwortete ich: »Denn du kannst<br />

<strong>der</strong> Mann werden, von dem du dir wünschst, dass es<br />

ihn gäbe.« Darauf sagte sie: »Ja, aber du willst doch<br />

dein Leben nicht als ein Beispiel leben. Widme deine<br />

Existenz nicht <strong>der</strong> Rolle als Vorbild.«<br />

Allerdings sehe ich mich mehr als transmaskulines<br />

Wesen denn als Mann. Und schon dieser Schritt Richtung<br />

Männlichkeit birgt eine Menge Verantwortung.<br />

Cis-Männer sind in <strong>der</strong> Regel keine guten Beispiele<br />

für Männlichkeit, sie erscheinen oft etwas hoffnungslos<br />

o<strong>der</strong> lächerlich – und unwillig, sich weiterzuentwickeln.<br />

Also spüre ich als transmaskuline Person eine<br />

Bürde, es besser zu machen, während ihre Krise noch<br />

auf eine Revolution wartet.<br />

Was ist denn im Jahr <strong>2022</strong> bitte eine glaubwürdige Art<br />

<strong>der</strong> Männlichkeit? Ich sehe Männer an einem Scheideweg;<br />

es gibt einfach keine guten Vorbil<strong>der</strong> für Männlichkeit.<br />

Dennoch glaube ich fast nichts mehr von dem,<br />

was ich mal über Männer dachte. Ich habe tatsächlich<br />

angefangen, sie besser zu verstehen, seit ich Testosteron<br />

nehme.<br />

Ich habe auch herausgefunden, dass Transmaskulinität<br />

nicht gegen toxische Männlichkeit immunisiert. Es<br />

ist tatsächlich leicht, wenn nicht gar verführerisch, diese<br />

Rolle anzunehmen – es fühlt sich beinahe wie eine<br />

Karikatur an, wenn du das tust. Ich sollte klarstellen:<br />

Nicht Testosteron lässt dich toxisch werden, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Druck, stereotype Männlichkeit zu performen.<br />

Um als Mann »durchzugehen«, ist <strong>der</strong> direkteste Weg<br />

das Performen klischeehafter Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Tropen, von<br />

denen die meisten pathetische, erbärmliche und peinliche<br />

Darstellungen falscher Dominanz sind.<br />

Im besten Fall kann Transmaskulinität ein Zukunftsentwurf<br />

von Männlichkeit sein. Und im schlechtesten ahmt<br />

sie <strong>der</strong>en Scheitern nach, wie<strong>der</strong>holt schädliche Muster<br />

in einem fehlgeleiteten Bedürfnis nach Legitimität.<br />

SA: Etwas, worüber wir noch nicht gesprochen haben und<br />

was mich sehr interessiert, ist <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Selbsterfindung,<br />

<strong>der</strong> körperlichen Modifikation durch technologische<br />

Möglichkeiten: Bioengineering. Cade spricht an einer Stelle<br />

von einem Spiel, sein eigener Avatar zu werden. Kannst<br />

du mehr dazu sagen?<br />

SE: Ich nähere mich dem Konzept <strong>der</strong> Selbstgestaltung<br />

gern wie dem Schreiben von Drehbüchern. Denn<br />

du hast die Kontrolle darüber, wie dein »authentisches«<br />

Selbst sein soll. Doch während ich überzeugt<br />

bin, dass Biologie kein Schicksal ist, können wir <strong>der</strong><br />

Tatsache nicht entfliehen, dass wir im Wesentlichen<br />

ein chemisches Gebräu sind. Unsere Körper, Gedanken<br />

und Persönlichkeiten sind diesem chemischen<br />

Verhältnis fast vollständig unterworfen, das wir aber<br />

beeinflussen können. Wenn du die Chemie verän<strong>der</strong>st,<br />

verän<strong>der</strong>st du auch die Person. Die Gesellschaft hat<br />

die Vorstellung von einem cleanen, von Substanzen<br />

unbeeinflussten Körper geschaffen, doch das ist eine<br />

Fiktion – die chemische Mischung ist immer aus dem<br />

Gleichgewicht, wir sind nie neutral. Deshalb habe ich<br />

nach dem ersten Jahr meine Dosis verringert, um herauszufinden,<br />

wie viel von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung in Geist und<br />

Charakter mit <strong>der</strong> Substanz und wie viel mit meiner<br />

Umwelt und meinem neuen Platz darin zusammenhängt.<br />

Denn ein großer Teil des Transition-Prozesses<br />

ist von sozialer Natur. Wie viel kann sich tatsächlich<br />

verän<strong>der</strong>n, wenn du im Lockdown allein in Jogginghosen<br />

Hormone nimmst? An<strong>der</strong>e spiegeln uns – und<br />

die Art und Weise, wie an<strong>der</strong>e uns reflektieren, prägt<br />

unser Selbstgefühl viel stärker, als sich die meisten<br />

Menschen bewusst machen.<br />

Ein Begriff, mit dem ich viel anfangen kann ist »psychologisch<br />

androgyn«, <strong>der</strong> Ausdruck gefällt mir. Er löst das<br />

Konzept aus <strong>der</strong> physischen Welt des »Darstellens«<br />

o<strong>der</strong> des Scheins und überführt ihn in eine Metaebene<br />

des »Seins«. Ich glaube, <strong>der</strong> Begriff entspricht am genauesten<br />

meinem Blick auf mich selbst. O<strong>der</strong> »maßgeschnei<strong>der</strong>te<br />

Geschlechtsidentität« – das passt besser<br />

als Nonbinarität. Die schöpferische Macht liegt hier<br />

bei <strong>der</strong> Person selbst. Anstatt zu sagen: »Das ist eben,<br />

was ich bin«, sagst du »Das ist, wer ich sein möchte,<br />

wie ich mich gestalte«. Ich frage mich oft, ob <strong>der</strong><br />

Begriff »nichtbinär« irgendwann veraltet klingen wird.<br />

Denn wenn wir einmal anerkannt haben, dass es mehr<br />

als nur zwei Geschlechter gibt, bedeutet das, dass nie­<br />

205


mand mehr in einer Zweigeschlechterlogik einzuordnen<br />

ist, son<strong>der</strong>n einfach eine <strong>der</strong> vielen verfügbaren<br />

Möglichkeiten wählt. Und es ist absolut angemessen,<br />

dir dein eigenes Label zu schaffen. Diese Erfahrungen<br />

könnten subjektiver nicht sein.<br />

Repräsentationssysteme in ihrem Zerfall zu beobachten,<br />

kann sehr befriedigend sein, denn es handelt sich<br />

in einem größeren Sinne um Wachstumsschmerzen<br />

gesellschaftlicher Dissonanzen. Viele Individuen werden<br />

sich gerade <strong>der</strong> Tatsache bewusst, dass sie mehr<br />

sein können, als das System erlaubt; dass unser Bewusstsein<br />

uns Entwicklungen ermöglicht, die weit über<br />

das hinausgehen, in welche Rolle wir hineingeboren<br />

wurden. Der Akt <strong>der</strong> Selbstzerstörung ist unerbittlich<br />

verknüpft mit <strong>der</strong> Vorstellung, etwas Neues zu werden.<br />

Es handelt sich um eine sehr universelle Metapher, die<br />

Idee, dass Menschen in einem kontinuierlichen Prozess<br />

aktiv daran wirken, ihr altes Selbst zu zerstören, um<br />

neue Verknüpfungen und Möglichkeiten zu schaffen.<br />

DICH SELBST ZU<br />

PERFORMEN, IST<br />

EINFACHER, ALS DU<br />

SELBST ZU SEIN<br />

Persönlich glaube ich, dass kein Mensch Hormone<br />

braucht, um trans zu sein. Aber es ist extrem interessant,<br />

als transmaskuline Person Testosteron zu nehmen,<br />

weil wir es mit einer an<strong>der</strong>en Erfahrung vergleichen<br />

können. In meiner Utopie wäre es sehr erhellend<br />

und würde viel Gutes hervorbringen, wenn alle Menschen<br />

mal das in ihrem Körper weniger vorherrschende<br />

Hormon ausprobieren würden.<br />

SA: So persönlich, intim und uninszeniert Seek Bromance<br />

auf den ersten Blick erscheint, natürlich handelt es sich<br />

um ein gemachtes Produkt, das von einem Künstler geschaffen<br />

wurde. Es gibt also auch einen brutalen, wohlkalkulierten,<br />

inszenierten und öffentlichen Aspekt, <strong>der</strong> von<br />

<strong>der</strong> dritten Protagonistin vertreten ist: <strong>der</strong> Kamera. Ist das<br />

eine dystopische Ebene? Die Verschränkung von Privatheit<br />

und Öffentlichkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Instagram-Einfluss auf unsere<br />

Erfahrung von Intimität?<br />

SE: Dich selbst zu performen, ist einfacher, als du<br />

selbst zu sein. Und während diese Unterscheidung ein<br />

schmaler Grat ist, insbeson<strong>der</strong>e in unserer Zeit, so besteht<br />

sie doch weiterhin. Die Kamera ermöglicht uns,<br />

weniger zu sein als die Summe unserer Teile. Wir können<br />

einen Winkel fokussieren, Überflüssiges herausschneiden,<br />

einen Moment erschaffen, <strong>der</strong> vom Ganzen<br />

getrennt und nicht davon verdorben ist. Seek Bromance<br />

ist ein perfektes Beispiel dafür. Trotz Frustrationen<br />

und Streit bot jede Szene, die wir produzierten, ein<br />

neues Moment, um etwas in unserer Beziehung besser<br />

hinzubekommen. Wie ich zuvor erwähnte, denke<br />

ich, dass ein enormer Teil unseres Selbstbildes durch<br />

die Spiegelungen entsteht, die wir in an<strong>der</strong>en sehen –<br />

und die Kamera stellt die hypothetischen an<strong>der</strong>en dar.<br />

Es klingt manipulativ, aber wir befinden uns ständig in<br />

Bearbeitung, in einer Art permanentem Filmschnitt. Es<br />

gibt den »Activist-Schnitt«, den »Sexy-Schnitt«, den<br />

»Ich-bin-glücklich-Schnitt«. Und während wir das mit<br />

an<strong>der</strong>en automatisch machen (indem wir sie spiegeln),<br />

ist es schwieriger, sich selbst zu editieren.<br />

Cade und ich haben uns schon vorher viel gefilmt und<br />

in einem gewissen Maß leben wir das Leben, als sei es<br />

ein Film. Ich neige dazu, uns als unsere eigene Fallstudie<br />

zu betrachten. Ein bisschen wie ein Gemälde, das<br />

sich selbst kommentiert.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Zeit, die wir zusammen verbracht<br />

haben, denke ich bis heute, dass wir beide nicht mit<br />

Gewissheit sagen können, wie viel von unserer Begegnung<br />

echt und wie viel davon performt war. Ich glaube,<br />

wir zweifelten permanent aneinan<strong>der</strong>, mäßigten unsere<br />

Gefühle und Erwartungen, während wir zugleich<br />

den Einsatz erhöhten, um »ja« und »mehr davon« zu<br />

<strong>der</strong> improvisatorischen Qualität eines jeden Moments<br />

sagen zu können. Manchmal fühlte es sich so an, als<br />

seien wir Charaktere aus unterschiedlichen Filmen.<br />

Und beide versuchten, die an<strong>der</strong>e Figur in den eigenen<br />

Bildrahmen zu holen.<br />

SA: Virus und Ansteckung sind ebenfalls Themen in Seek<br />

Bromance. Nicht nur, weil du die letzten beiden Menschen<br />

in einer zur Wüste gewordenen, postapokalyptischen Welt<br />

eingefangen hast. Auch in <strong>der</strong> Beziehung zwischen Cade<br />

und dir scheint es eine Art infektiöses Liebesvirus zu geben<br />

o<strong>der</strong> einen ansteckenden Willen, zum Objekt <strong>der</strong> Begierde<br />

zu werden. Cade sagt an einer Stelle: »Die meisten<br />

Menschen wollen ficken, was sie begehren; ich will zu<br />

dem werden, was ich begehre.« Wie stark ist diese Form<br />

<strong>der</strong> Anverwandlung in Seek Bromance?<br />

SE: Das ist schwer zu sagen. Ich weiß, dass es Dinge<br />

gab, die wir wi<strong>der</strong>willig voneinan<strong>der</strong> übernahmen, und<br />

an<strong>der</strong>e Dinge, nach denen wir strebten, die wir aber<br />

nicht hinbekamen. Doch am Ende gab es, glaube ich,<br />

mehr Dinge, an denen wir abprallten, als solche, durch<br />

die wir uns verbinden konnten.<br />

Obwohl wir uns drei Monate so nah waren, beinahe<br />

24/7, konnten wir erst durch die Trennung ein wirkliches<br />

Verständnis füreinan<strong>der</strong> entwickeln. Nachdem<br />

ich zurückkam, musste ich mir erst wie<strong>der</strong> darüber klar<br />

werden, wer ich in Abwesenheit von Cade eigentlich<br />

bin. Es gab kein Zurück zu meinem Selbst vor Covid.<br />

Aber es ist hart, in <strong>der</strong> Isolation einer elend einsamen<br />

Quarantäne herauszufinden, wer du bist.<br />

Es geht in dem Werk viel um Isolation und Einsamkeit<br />

und den Verlust von Community. Doch es gibt viele<br />

Versionen von mir und Cade. Es gibt ein Gefühl, dass<br />

wir dem Ende <strong>der</strong> Welt nah waren. Als ob wir die letzten<br />

beiden Menschen auf einem Planeten gewesen wären,<br />

auf dem alles ausgelöscht wurde und die Bevölkerung<br />

aufgrund irgendeiner Seuche ausgestorben ist.<br />

Das hatte zur Folge, dass wir nicht von <strong>der</strong> Welt angesteckt<br />

werden konnten, son<strong>der</strong>n nur voneinan<strong>der</strong>. Die<br />

Wüste ist tatsächlich eine <strong>der</strong> Hauptfiguren in dieser<br />

Arbeit. Ein Freund, <strong>der</strong> den Schnittprozess mitbekam,<br />

erkannte in <strong>der</strong> Wüste beinahe eine Transallegorie: die<br />

Wüste als Ausgangspunkt <strong>der</strong> Vorstellungskraft.<br />

206


MEIN TRAUMHAUS HAT<br />

KEINE WÄNDE…<br />

ABER EINE HEIZUNG *<br />

SARAH NEMTSOV, HEINRICH HORWITZ<br />

UND HENRIETTE GUNKEL<br />

Komponistin Sarah Nemtsov und Regisseur:in Heinrich Horwitz im Gespräch über das<br />

Musiktheaterprojekt HAUS mit Henriette Gunkel, Professorin am Lehrstuhl Transformationen<br />

audiovisueller Medien unter <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Berücksichtigung von Gen<strong>der</strong> und<br />

Queer Theory (Ruhr-Universität Bochum), mo<strong>der</strong>iert von Dramaturgin Johanna Danhauser.<br />

HAUS<br />

Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />

Musiktheater / Szenische Uraufführung<br />

ab 31. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/haus<br />

207


Johanna Danhauser (JD): Der HAUS-Zyklus ist nicht aus<br />

einem Guss, son<strong>der</strong>n über Jahre hinweg entstanden.<br />

Sarah Nemtsov (SN): HAUS ist gewuchert. Es fing 2013<br />

mit Zimmer I–III für das Ensemble Adapter an, und immer,<br />

wenn ich dachte, jetzt ist es abgeschlossen, kamen<br />

neue Wendungen und Ebenen dazu. Mit <strong>der</strong> Einladung<br />

in die Turbinenhalle und <strong>der</strong> Inszenierung von<br />

Heinrich Horwitz haben sich neue Räume aufgetan.<br />

Dafür komponiere ich gerade die Stücke Halle, Keller,<br />

Flur und Luke. Auch die schon bestehenden Teile<br />

erhalten neue Bedeutungszusammenhänge, selbst<br />

wenn die Noten gleich bleiben. Das Werk transformiert<br />

sich durch die Personen, mit denen ich in unterschiedlichen<br />

Phasen daran gearbeitet habe und wird wahrscheinlich<br />

auch durch das Publikum nochmal ganz<br />

an<strong>der</strong>s aufgeladen werden.<br />

JD: Es ist wi<strong>der</strong>sprüchlich, eine ehemalige Industriehalle<br />

als HAUS zu bezeichnen, denn <strong>der</strong> Ort ist alles an<strong>der</strong>e als<br />

intim, häuslich o<strong>der</strong> privat. In Sarahs Komposition bleibt<br />

das HAUS ein abstraktes Gebilde. Wie löst du, Heinrich,<br />

diese Metapher in deinem Regiekonzept auf?<br />

Heinrich Horwitz (HH): In meinen Arbeiten suche ich<br />

einen queer-feministischen Ansatz. Das Haus wird<br />

im bürgerlichen Verständnis oft dem Konzept <strong>der</strong><br />

Kleinfamilie zugeordnet: Küche, Bad, Schlaf-, Wohnund<br />

Kin<strong>der</strong>zimmer. Das wollen wir aufbrechen. Im<br />

queeren Kontext gibt es an<strong>der</strong>e Visionen von Zuhausesein:<br />

Orte, an denen Begegnungen, Austausch,<br />

Care und ein feministischer Kampf stattfinden können.<br />

Doch diese Orte haben in den Pandemiejahren<br />

sehr gelitten.<br />

Die Geschichte gibt Beispiele von verlassenen Orten,<br />

die aus Mangel an Alternativen von queeren Communites<br />

mit neuer Vitalität besetzt wurden. Ich denke<br />

etwa an die Piers in New York, wo sich die Gay-PoC-<br />

Community zum Cruisen getroffen hat. Das Vakuum<br />

<strong>der</strong> Industriebrache weckt in mir ein Begehren, eine<br />

Begegnungsstätte o<strong>der</strong> ein Zuhause für marginalisierte<br />

Gruppen zu stiften. Im Rückgriff auf Virginia Woolfs Ein<br />

Zimmer für sich allein wollen wir auch auf das feministisch<br />

erkämpfte Recht verweisen, als Frau einen Ort<br />

zum Arbeiten zu haben.<br />

Indem Kunst und Kultur an diesen ehemaligen Produktionsstätten<br />

Einzug gehalten haben, finden darin ohnehin<br />

schon Transformationsprozesse statt. Der Raum<br />

mutiert immer wie<strong>der</strong> neu. Das ist eine Dynamik, die ich<br />

in <strong>der</strong> Inszenierung weitertreiben und auf eine queere<br />

Idee von Transformation und Cyberfeminismus übertragen<br />

will. Wir begreifen das Gebäude als Körper, den wir<br />

aufreißen, umstrukturieren und umbauen. In unserem<br />

Konzept steht HAUS für den Trans-Körper – wir reißen<br />

ihn auf, sortieren ihn neu, fügen Unbekanntes zusammen.<br />

In den Löchern, den Schnitten und Leerstellen<br />

können neue Räume imaginiert werden, neuen Körpern<br />

und ihren Welten Platz geschaffen werden.<br />

SN: In gewisser Weise ist <strong>der</strong> Zyklus auch musikalisch<br />

ein flui<strong>der</strong> Körper, <strong>der</strong> in verschiedenen Formen<br />

auftauchen, sich präsentieren und wie<strong>der</strong> neu zusammengesetzt<br />

werden kann.<br />

Henriette Gunkel (HG): Die Turbinenhalle befindet<br />

sich in einer Region im strukturellen Wandel. Ehemalige<br />

Industriegebäude künstlerisch zu besetzen o<strong>der</strong><br />

umzunutzen, ermöglicht die Öffnung, Aneignung und<br />

Überschreibung von Raum. Euer Konzept finde ich im<br />

Kontext des Ruhrgebiets interessant, weil es eben nicht<br />

darum geht, einen frischen Anstrich zu verpassen,<br />

um leichte Verschiebungen, son<strong>der</strong>n um grundlegende<br />

Transformationsprozesse. Die Frage, ob Reparatur<br />

überhaupt möglich ist, nachdem man machtvoll und<br />

zerstörerisch in die Natur o<strong>der</strong> eine Kultur eingegriffen<br />

hat, ist komplex und zeigt sich unter an<strong>der</strong>em in<br />

den hiesigen Renaturalisierungsansätzen. Sie wird aber<br />

auch in den Black Studies im Kontext <strong>der</strong> Sklaverei und<br />

im Postkolonialismus gestellt.<br />

Im Rückblick waren <strong>der</strong> Bergbau und die gigantische<br />

Stahlindustrie des Ruhrgebiets ein futuristisches Industrieprojekt,<br />

in dem auch eine Gewaltgeschichte steckt.<br />

Der Bochumer Verein hat von Zwangsarbeiter:innen<br />

profitiert, hinzu kommen migrantische Arbeitserfahrungen<br />

und Arbeitsunfälle. In <strong>der</strong> Turbinenhalle wurden<br />

vermehrt invalide Arbeiter eingesetzt, weil es dort Maschinen<br />

gab, die auch mit körperlichen Einschränkungen<br />

bedienbar waren.<br />

Deshalb steht das Abreißen und <strong>der</strong> damit intendierte<br />

Neuanfang für mich im Spannungsfeld mit <strong>der</strong> Frage,<br />

wie man mit den im Raum gespeicherten Erfahrungen<br />

umgeht. Wie lässt sich dieser untoten Zeugenschaft<br />

nachspüren und sie in die Zukunft mitnehmen?<br />

HH: Ich will das Publikum sinnlich aktivieren. Deshalb werden<br />

die Zuschauer:innen das HAUS in einem explorativen<br />

Teil zunächst eigenständig durchlaufen, entdecken und<br />

durchkreuzen können. Ich finde es wichtig, dass es zu einem<br />

Ort <strong>der</strong> Gemeinschaft wird, in dem Blick- und Bewegungsrichtung<br />

selbstständig entschieden werden können.<br />

HG: Das Prozesshafte scheint bei euch zentral zu sein,<br />

auch wenn es zumindest musikalisch nicht direkt um<br />

Improvisation geht.<br />

HH: Improvisation steckt für mich in je<strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />

künstlerischen Interpretation. Es geht ja nicht nur um<br />

die Erfüllung von dem, was da auf dem Notenpapier<br />

steht, son<strong>der</strong>n darum, etwas zum Leben zu erwecken.<br />

Das ist ein Gespräch o<strong>der</strong> ein Teilen von Wissen, eine<br />

feministische Geste des Beisammenseins.<br />

SN: Auch wenn ich eine feste Notation vorgebe, interessiert<br />

mich die Freiheit des Musizierens selbst: das,<br />

was durch die individuelle Interpretation entsteht. Es<br />

bereichert mich zu erleben, wie unterschiedlich Solist:innen<br />

o<strong>der</strong> Ensembles meine Werke spielen, wie<br />

an<strong>der</strong>s die Energie eines Stücks sein kann, ohne dass<br />

etwas richtig o<strong>der</strong> falsch wäre.<br />

208


JD: In einigen Werken provozierst du die Verschiebung<br />

richtiggehend: Zum Beispiel können die Stücke Zimmer I<br />

und Zimmer II entwe<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gleichzeitig als<br />

Schichtung aufgeführt werden. Außerdem ergeben sich im<br />

installativen Teil zu Beginn des Abends zufällige Korrespondenzen<br />

zwischen den Soundstationen im Raum.<br />

SN: Die Schichtung interessiert mich als eine Art musikalische<br />

Metapher für unsere geschichtete Wirklichkeit,<br />

die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten, das<br />

Virtuelle, Reale, Innere, Äußere, das Nebeneinan<strong>der</strong>,<br />

auch das Urbane. Kompositorisch entsteht da eine<br />

beson<strong>der</strong>e Form des Kontrapunkts.<br />

HAUS IST EIN FLUIDER<br />

KÖRPER, DER IN<br />

VERSCHIEDENEN<br />

FORMEN AUFTAUCHEN,<br />

SICH PRÄSENTIEREN<br />

UND WIEDER NEU<br />

ZUSAMMENGESETZT<br />

WERDEN KANN<br />

JD: In deinen Partituren sind den Stücken oft Textzitate<br />

vorangestellt, die nicht wörtlich auskomponiert<br />

sind. Vor Tür steht beispielsweise: »Je länger man vor<br />

einer Tür zögert, desto frem<strong>der</strong> wird man.« Franz Kafka<br />

SN: Die Texte begleiten mich in unterschiedlichen<br />

Intensitäten für den Zeitraum des Komponierens. Ihr<br />

Einfluss muss dann nachher aber gar nicht immer für<br />

das Publikum re-interpretierbar sein.<br />

Bestimmte literarische Figuren wie Virginia Woolf o<strong>der</strong><br />

Sylvia Plath sind schon lange wichtig für mich. Auch<br />

ihre Biografien als weibliche Künstlerinnen gehen mir<br />

nahe. Mich auf sie zu beziehen, war für mich, als ich<br />

den Zyklus vor zehn Jahren begonnen habe, auch ein<br />

feministischer Ansatz. Seither hat sich viel getan, ich<br />

habe viel dazugelernt und bin – auch durch die Begegnung<br />

mit Heinrich – viel aufmerksamer geworden<br />

für queere Positionen.<br />

HH: Wenn ich eine Choreografie entwickle, fange ich<br />

auch immer bei einem Textimpuls an o<strong>der</strong> bei Referenzen<br />

an<strong>der</strong>er Künstler:innen. Diese Ausgangspunkte<br />

verbinden sich für mich wie<strong>der</strong> in Richtung Improvisation<br />

und Begegnung. Auch in deinen Arbeiten empfinde<br />

ich die Textzitate nie als starre Definition o<strong>der</strong><br />

Programm. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass du<br />

damit viele Assoziationsräume öffnest.<br />

JD: In diesem Musiktheater gibt es keine Sängerdarsteller:innen.<br />

In HAUS konzentriert sich die theatrale Performance<br />

auf die Instrumentalist:innen.<br />

HH: In meiner Regiearbeit interessieren mich die »unprofessionellen«<br />

Körper, weil sie durch sich selbst sprechen,<br />

in ihrer eigenen Form. Körper durchbrechen Zeit- und<br />

Raumachsen und das gibt ihnen das Potenzial, sich zu<br />

transformieren. Diese Haltung hat für mich viel mit Gen<strong>der</strong><br />

zu tun, denn ich suche nicht nach Zuschreibungen,<br />

son<strong>der</strong>n nach diversen Ausdrucksmöglichkeiten, die den<br />

Körper befähigen, sich von einem Habitus zu lösen.<br />

In HAUS werde ich choreografisch mit einer Art von<br />

Glitch (Anm. d. Red. »Fehler« o<strong>der</strong> »Makel«; ein im<br />

queer-feministischen Diskurs positiv aufgeladener Begriff)<br />

arbeiten. Ich frage mich, wo die Reibung in unser<br />

aller Körper ist, die Leerstelle, und wie man diese zu einer<br />

eigenen Sprache ermächtigen kann. Damit setzte ich<br />

mich auf eine Art auch mit den versehrten Maschinisten<br />

an den Turbinen auseinan<strong>der</strong>, von denen Henriette<br />

gesprochen hat: Menschen, die vielleicht nicht mehr voll<br />

funktionstüchtig waren, aber neue Bewegungsstrukturen<br />

erfunden haben. Diese Stärke will ich freilegen.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite interessiert mich das Kollektiv,<br />

das Ensemble, die Vereinheitlichung. Was teilen wir?<br />

Was ist Gemeinschaft? Eine Gemeinsamkeit? Wie<br />

können die Organismen sich vereinigen – wie vervielfältigen?<br />

In <strong>der</strong> Choreografie werden sie zu Protagonist:innen<br />

<strong>der</strong> Zukunft.<br />

JD: In deinem Artikel Alienation and Queer Discontent<br />

stellst du, Henriette, queere künstlerische Strategien vor,<br />

(hetero-)normative Zeitkonstruktionen zu erschüttern.<br />

Könnte sich das auch in HAUS einlösen?<br />

HG: Die Desorientierung scheint mir in diesem Projekt<br />

auf mehreren Ebenen ein zentrales Element zu sein.<br />

Zum Beispiel entsteht sie durch die Videoarbeit, indem<br />

<strong>der</strong> Raum verdoppelt, verschoben, gedreht wird.<br />

Die Desorientierung bringt nicht nur unsere vermeintlich<br />

stabile Blickstruktur durcheinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n auch<br />

eine Wahrnehmung von Zeitlichkeit. Der Blick auf den<br />

Horizont stabilisiert unsere Betrachter:innenposition<br />

auf eine Zukunft hin. Unsere gewohnten Blickachsen<br />

sind häufig durch koloniale Positionen definiert, wie<br />

Hito Steyerl in ihrem Artikel In Free Fall: A Thought<br />

Experiment on Vertical Perspective schreibt. Im Moment<br />

<strong>der</strong> Desorientierung bricht etwas auf, das uns<br />

zwingt, unsere Umgebung an<strong>der</strong>s wahrzunehmen und<br />

uns an<strong>der</strong>s zu bewegen. Das beinhaltet auch ein an<strong>der</strong>es<br />

Hören, denn die Desorientierung führt immer zu<br />

einem bewussteren Verhältnis zum In-<strong>der</strong>-Welt-Sein.<br />

Das macht sich dieses Projekt in vielerlei Hinsicht zunutze,<br />

etwa, indem ihr das Setting selbst, die Wände,<br />

Geräte und herumliegenden Maschinenteile erklingen<br />

lasst. Gerade im Bereich <strong>der</strong> Infrastruktur ist Desorientierung<br />

eine interessante Methode: Wie kann man das,<br />

was sich unserem Auge o<strong>der</strong> Ohr entzieht, hör- und<br />

sichtbar machen? Also das infra (lat. »unterhalb«) ernst<br />

nehmen und diesem nachspüren? Da gibt es natürlich<br />

Grenzen, aber ich glaube, das ist auch genau das, was<br />

209


dich interessiert, Sarah, dass eben nicht immer alles<br />

erfassbar ist, dass es immer etwas gibt, das sich unserem<br />

Wissen entzieht. Eure aufgelöste Raumsituation<br />

schafft Angebote, den Raum an<strong>der</strong>s wahrzunehmen<br />

und sich darin auch zu bewegen.<br />

JD: Die Cyborg-Identität – ein Mischwesen aus Maschine<br />

und menschlichem Organismus – finde ich auch in Sarahs<br />

Musik wie<strong>der</strong>, die oft die Grenzen menschlich-analoger<br />

Klangerzeugung mit den Mitteln <strong>der</strong> elektronischen Musik<br />

zusammenlötet.<br />

SN: Das Hybride interessiert mich sehr. Das hat schon<br />

bei Zimmer begonnen, in dem die Harfe durch ein Kaosspad<br />

verfremdet wird. Es entsteht etwas, das nicht<br />

mehr ganz Harfe, aber auch nicht rein elektronische<br />

Musik ist, son<strong>der</strong>n irgendwas dazwischen. Das Undefinierte<br />

gefällt mir sehr, insbeson<strong>der</strong>e, weil an Instrumenten<br />

in <strong>der</strong> Regel eine nicht unbedingt immer<br />

schöne Kulturgeschichte hängt, die man unfreiwillig<br />

miterzählt. Durch elektronische Verfremdung kann<br />

man sie umdeuten. Analoge Effektgeräte wie das Kaosspad<br />

finde ich auch deshalb toll, weil sie intuitiv von<br />

den Musiker:innen bedient werden können. An<strong>der</strong>s als<br />

hochkomplexe Live-Elektronik, für die man eine extra<br />

Ausbildung braucht. Wenn die Geräte innerhalb des<br />

Kammermusikrahmens gespielt werden, hat das für<br />

mich auch etwas Rebellisches.<br />

Das neue Stück Halle wird auf die Geschichte <strong>der</strong><br />

Turbinenhalle Bezug nehmen. Der Pianist / Keyboar<strong>der</strong><br />

/ Synthesizerspieler Sebastian Berweck hat mich<br />

auf das virtuelle Instrument, den digitalen Synthesizer<br />

»Mysteria« aufmerksam gemacht, <strong>der</strong> mit Stimm-Samples<br />

und Chören bestückt ist, die man zum Beispiel<br />

verfremden o<strong>der</strong> damit androgyne Stimmen schaffen<br />

kann. Ich denke an einen vielstimmigen Geisterchor<br />

<strong>der</strong> Menschen, die an diesem Ort gearbeitet haben.<br />

Auch mich interessiert das Dysfunktionale, weil es sehr<br />

menschlich ist. Nach meiner Erfahrung steckt in dem,<br />

was gesellschaftlich als Schwäche aufgefasst wird, oft<br />

ein beson<strong>der</strong>es Kraftzentrum.<br />

JD: Den Makel zur Superkraft aufzuwerten, um sich aus<br />

einer marginalisierten Position heraus zu behaupten, bedarf<br />

kreativer Zukunftsvisionen. Ein Tool, das in einer extremen<br />

Form in afrofuturistischen Erzählstrategien und<br />

Ästhetiken Anwendung findet, an denen du, Henriette,<br />

schwerpunktmäßig forschst. Siehst du da Anknüpfungspunkte?<br />

HG: Ich musste eben daran denken, dass <strong>der</strong> Synthesizer<br />

ein ganz wichtiger Träger <strong>der</strong> afrofuturistischen<br />

Vision ist, <strong>der</strong> bei Sun Ra zum Beispiel mit dem Jazz<br />

o<strong>der</strong> bei George Clinton mit dem Funk fusioniert und<br />

in diverse Musikrichtungen ausgestrahlt hat.<br />

Den Afrofuturismus macht ein nicht-lineares Zeitverständnis<br />

aus. Das unterscheidet ihn von an<strong>der</strong>en Futurismen,<br />

die nur nach vorne blicken wollen. Der Afrofuturismus<br />

besteht darauf, dass die Vergangenheit Teil<br />

<strong>der</strong> Zukunft ist.<br />

Unter Einbezug <strong>der</strong> spektralen Vergangenheit ist HAUS<br />

in meinen Augen auch ein futuristisches Projekt, weil<br />

es ein Begehren danach gibt, den Raum zu transformieren,<br />

damit er offen wird für alle, ohne Ausgrenzung.<br />

Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen<br />

utopischem Denken und politischem Agieren, aber<br />

die Imagination ist ein erster Schritt. Sarah schreibt in<br />

ihren Notizen zu den Stücken auch davon, Räume zu<br />

träumen. Auch in dem in <strong>der</strong> Partitur zitierten Gedicht<br />

Dark House von Sylvia Plath geht es darum. In <strong>der</strong><br />

künstlerischen Imagination wird bereits ein Prozess<br />

<strong>der</strong> Transformation aktiviert. Das Einreißen <strong>der</strong> Wände<br />

geschieht in <strong>der</strong> Imagination von etwas Zukünftigem,<br />

hat aber bereits Auswirkungen auf das Jetzt. Es ist eine<br />

Intervention im Heute.<br />

JD: Du hast auch geheime Räume komponiert, Sarah.<br />

Willst du uns einweihen?<br />

SN: Es gibt zwei akustische Verstecke. In Amplified Imagination<br />

hat die Flötistin Kopfhörer auf, worüber eine<br />

verfremdete Bach-Collage abgespielt wird, sodass sie<br />

ihr eigenes Spiel nicht hört. Sie kann sich nur vorstellen,<br />

wie sie klingt, und kann es aber nicht kontrollieren.<br />

An<strong>der</strong>erseits kann das Publikum nicht hören, was sie<br />

hört. Einsamkeit und Vereinzelung thematisiere ich oft<br />

in meinen Stücken. In HAUS hat <strong>der</strong> Schlagzeuger seinen<br />

eigenen Raum hinter dem Donnerblech, in dem er<br />

Bil<strong>der</strong> und Fotos sieht, die er zum Teil auch mittels Live-<br />

Kamera nach außen bringt. Geheime Innenräume hat<br />

je<strong>der</strong>: Gedanken, Gefühle und Erinnerungen im Verborgenen,<br />

die man nicht teilen kann, aber vielleicht gerne<br />

mitteilen würde. Das ist jedoch auch ein Schutzraum,<br />

ein Rückzugsort, um im Positiven allein sein zu können.<br />

* Heinrich Horwitz bei einem Konzeptionstreffen.<br />

210


DER KLANG<br />

DES UNFASSBAREN<br />

PHYSIK UND METAPHYSIK IM<br />

MUSIKPROGRAMM DER RUHRTRIENNALE <strong>2022</strong><br />

VON BARBARA ECKLE<br />

MYSTERIENSONATEN<br />

Heinrich Ignaz Franz Biber<br />

Konzert<br />

am 11. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 12 _______________ www.ruhr3.com/mysterien<br />

ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />

Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi / Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien / Chorwerk Ruhr<br />

Musiktheater / Kreation<br />

ab 11. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/grisey<br />

HARAWI<br />

Olivier Messiaen / Rachael Wilson / Virginie Déjos<br />

Konzert<br />

am 17. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 70 _______________ www.ruhr3.com/harawi<br />

VERGESSENE OPFER<br />

Galina Ustwolskaja / Franz Liszt / Olivier Messiaen / Luigi Nono / Duisburger Philharmoniker / Elena Schwarz<br />

Konzerte<br />

am 11. und 13. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 66 _______________ www.ruhr3.com/vergessen<br />

ORGANICUM<br />

Iannis Xenakis / Lucia Dlugoszewski / Sarah Nemtsov / Márton Illés / Michael Pelzel / Klangforum Wien / Patrick Hahn<br />

Konzert<br />

am 14. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 22 _______________ www.ruhr3.com/organicum<br />

HAUS<br />

Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />

Musiktheater / Szenische Uraufführung<br />

ab 31. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/haus<br />

211


Heinrich Ignaz Franz Biber<br />

Das Geistliche und das Weltliche – in <strong>der</strong> Barockzeit waren<br />

es Sphären, die sich nie begegnen sollten, die sich naturgesetzartig<br />

ausschließen wie Tag und Nacht, wie Leben<br />

und Tod. Ein Leibeigener aus <strong>der</strong> böhmischen Provinz zog<br />

aus, diese scheinbar unumstößliche Regel aus den Angeln<br />

zu heben. Sein Mittel? Musik. Und zwar die virtuoseste,<br />

eigensinnigste, waghalsigste, die sich seinerzeit denken<br />

und finden ließ. Heinrich Ignaz Franz Biber, geboren 1644,<br />

gelang allein durch seine Kunst, die seinerzeit explizit als<br />

»pizar« eingestuft wurde, ein Aufstieg son<strong>der</strong>gleichen,<br />

und dies trotz seiner exzentrischen Gesinnung, die ohne<br />

Zugeständnisse an gültige Konventionen auskam. Mit<br />

Titeln wie Fidicinium Sacrum-Profanum o<strong>der</strong> Sonata die<br />

Pauern-Kirchfahrt genannt machte er unmissverständlich<br />

klar, worauf er hinauswollte: Wo Gott ist, ist auch die<br />

Welt – und wo die Welt ist, ist Gott. So war er sich auch<br />

zu einer Sonata representativa nicht zu schade: Violinistische<br />

Stimmenimitationen von Hühnern, Fröschen und<br />

Nachtigallen bilden hier den musikalischen Kern. Biber<br />

hatte we<strong>der</strong> Komik noch Klassenkampf im Sinn, so viel<br />

war auch <strong>der</strong> Obrigkeit klar, die ihn 1690 in den Adelsstand<br />

erhob. Er wollte lediglich verständlich machen, dass<br />

Gott keine Grenzen kennt. Er ist niemandem vorbehalten,<br />

keinem Klerus, keinem Adel. Er ist für alle und in allen und<br />

allem. Im Erzbischof wie im Huhn.<br />

Unter diesen Vorzeichen sind um 1674 auch seine Mysteriensonaten<br />

(auch Rosenkranzsonaten genannt) entstanden.<br />

Obschon sakrale Musik in aller Regel mit liturgischem<br />

Text einherging, während virtuose Soloinstrumentalmusik<br />

mit Unterhaltung bei Hofe und in <strong>der</strong> Kammer assoziiert<br />

war, lassen sich die fünfzehn Sonaten für Violine und Generalbass<br />

in Tanzsuitenform als sakrales Werk verstehen.<br />

Sie durchwan<strong>der</strong>n Stationen im Leben Marias und Jesu:<br />

von <strong>der</strong> Verkündigung über die Geburt, die Geißelung, die<br />

Kreuzigung, die Auferstehung, bis hin zur Krönung Mariae<br />

im Himmel. Entsprechend ist <strong>der</strong> Rosenkranz dreigeteilt<br />

in einen freudenreichen, einen schmerzhaften und einen<br />

glorreichen.<br />

Biber involviert sein Publikum direkt in den Prozess des<br />

Unfassbaren: die Transzendenz im Leben, Sterben und<br />

Auferstehen Christi. Und er tut es auf dem Weg <strong>der</strong> Sinnlichkeit,<br />

einer Kommunikationsebene potenter, unmittelbarer<br />

und konkreter als jedes Wort. So konkret bisweilen,<br />

dass man es Programmmusik nennen könnte; denn so wie<br />

dort die Hennen gackern und die Frösche quaken, schlägt<br />

hier <strong>der</strong> eiserne Hammer die Nägel ins Kreuz, bohren sich<br />

die spitzen Stacheln <strong>der</strong> Dornenkrone ins Fleisch, erschallen<br />

triumphal die Trompeten (auf <strong>der</strong> Geige), wenn<br />

Christus in den Himmel fährt.<br />

Aber Bibers sinnlicher Zugriff macht bei <strong>der</strong> Bildlichkeit<br />

nicht halt, er dringt unter die sichtbare Oberfläche in die<br />

immaterielle Welt von Spannung und Atmosphäre, von<br />

Farbe, Licht und Glanz ein, die sich über den Klang vermittelt.<br />

Dafür greift er zum damals noch kaum genutzten<br />

Mittel <strong>der</strong> Skordatur (Verstimmung <strong>der</strong> Violinsaiten) – und<br />

verfährt damit so kühn, dass es im Extremfall an Dekonstruktion<br />

und Umbau des Instruments grenzt (Kreuzung <strong>der</strong><br />

zwei mittleren Violinsaiten in <strong>der</strong> Sonate XI). Zum einen<br />

ermöglicht ihm die Skordatur gewisse Akkorde, die bei <strong>der</strong><br />

herkömmlichen Quintenstimmung kaum zu intonieren wären,<br />

zum an<strong>der</strong>en erschließt sich Biber hier durch höhere<br />

o<strong>der</strong> niedrigere Saitenspannung einen Reichtum an expressiven<br />

Klangfarben, die in <strong>der</strong> Geige verborgen sitzen.<br />

Dumpf und resonanzarm klingt demnach das Instrument<br />

auf Christus’ Kreuzgang, strahlend, hell und voller Leben<br />

wie<strong>der</strong>um bei seiner Auferstehung. Unter Verwandlung<br />

und Auflösung instrumentaler und klanglicher Substanz<br />

offenbart sich das fünfzehnstufige Exerzitium <strong>der</strong> Einkehr<br />

als große Meditation, die entlang <strong>der</strong> Christusgeschichte<br />

zusehends transzendentere Stadien erreicht, als gehe<br />

man Seite an Seite mit Jesus seinen Weg über den Tod<br />

hinaus ins ewige Leben.<br />

Gérard Grisey<br />

Bibers Suche nach dem schwer greifbaren, aber umso expressiveren<br />

Vokabular, das sich jenseits reiner Tonhöhen<br />

verbirgt, war mit diesem Skordatur-Abenteuer nicht abgeschlossen.<br />

Im Gegenteil, sie weist über viele Epochen in<br />

die Zukunft, wo dieser Wunsch immer wie<strong>der</strong> laut wurde<br />

– und bei einer Handvoll Komponisten im Paris <strong>der</strong> 1970er<br />

Jahre so laut, dass sie daraus ein neues System ableiteten:<br />

Gérard Grisey und seine Kollegen Hugues Dufourt,<br />

Michaël Levinas und Tristan Murail gründeten 1973 das<br />

Kollektiv L’Itineraire, das sich <strong>der</strong> Komposition mit dem<br />

Obertonspektrum von Tönen verschrieb. Das bedeutet:<br />

Anstelle <strong>der</strong> herkömmlichen 12 Töne, aus denen sich die<br />

chromatische Tonleiter zusammensetzt, komponieren sie<br />

mit den Obertönen, die beim einzelnen Ton mitschwingen.<br />

Diese physikalisch begründeten Naturtöne bilden<br />

eine weitläufige Skala, die immer weiter von <strong>der</strong> temperierten<br />

Stimmung in den Bereich kleinster Mikrotöne abweicht,<br />

je höher sie steigt. Sie bildet die Grundlage einer<br />

eigenen Harmonik, die hauptsächlich auf die Klangfarben<br />

(Timbres) ausgerichtet ist, die man erzielen möchte. Denn<br />

212


Dimension nach dem Tod in Aussicht; in Tod <strong>der</strong> Stimme<br />

blickt die 19-jährig verstorbene griechische Dichterin Erinna<br />

ins Reich <strong>der</strong> Schatten, wo jeglicher Schall erstickt; in<br />

Tod <strong>der</strong> Menschheit schließlich beschwört eine Passage<br />

aus dem Gilgamesch-Epos die apokalyptische Sintflut -<br />

und die Ruhe, die ihr folgt: Alles, auch die Menschheit,<br />

hat sich aufgelöst, verflüssigt. Das schlammartige Meer,<br />

das zurückbleibt, ist die Quelle neuen Lebens. So wird das<br />

Wiegenlied, mit dem Grisey seine Schwellengesänge beschließt,<br />

zum Geleit nicht in den ewigen Schlaf, son<strong>der</strong>n<br />

in ein neues Dasein. Leben ist Tod ist Leben. Anfang ist<br />

Ende ist Anfang.<br />

die spezifische Konstellation von Obertönen ist es, die<br />

die Farbe eines jeden Klangs generiert und definiert. An<strong>der</strong>s<br />

als <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>gründig erklingende Grundton wird die<br />

Klangfarbe auf einer schwer zu verortenden Ebene wahrgenommen:<br />

Es ist gewissermaßen die Aura des Tons.<br />

Spektralmusik (musique spectrale) ist die offizielle Bezeichnung,<br />

wobei Grisey den Begriff Schwellenmusik<br />

(musique liminale) bevorzugte, da ihre Domäne die hochaufgelösten<br />

Randgebiete und Binnenstrukturen <strong>der</strong> Töne<br />

sind. Dank <strong>der</strong> besagten mikrotonalen Technik werden<br />

aus harten Tongrenzen durchlässige Membrane, lebendige<br />

Gewebe, durch die man in an<strong>der</strong>e, scheinbar unzugängliche<br />

Sphären übergehen – o<strong>der</strong> metaphysisch gesprochen:<br />

transzendieren kann. In keinem seiner Werke erfüllt sich<br />

dieses Potenzial musikalisch wie inhaltlich so umfassend<br />

und explizit wie in seinen Quatre chants pour franchir le<br />

seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von 1998,<br />

Griseys letztem Werk, bevor er 52-jährig plötzlich an einem<br />

Aneurysma starb. Die Schwelle, die er hier viermal<br />

passiert, ist jene ultimative zwischen Leben und Tod. Die<br />

Gesänge sind poetische, metaphysische Manifestationen<br />

von Leere, Stille, Verschwinden, von Echos und Schatten<br />

im existenziellen wie im akustischen Sinne. Tatsächlich<br />

sah Grisey in den Obertonspektren eine Art immaterielles<br />

Schattenreich: »Mit dem Schatten <strong>der</strong> Klänge zu komponieren,<br />

bedeutet das Imaginieren einer Instrumentierung,<br />

die die Tiefen beleuchtet, in denen die verschiedenen Farben<br />

(timbres) zum Leben erwachen«, schreibt er in seinem<br />

Buch Ècrits ou l’invention de la musique spectrale. Vier<br />

poetische Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten und<br />

Kulturen führen in den Quatre chants über die Schwelle:<br />

in Tod des Engels offenbart <strong>der</strong> Dichter Christian Guez-<br />

Ricord, dass die Lebensaufgabe eines jeden in seinem<br />

Sterben liegt; in Tod <strong>der</strong> Zivilisation stellen altägyptische<br />

Sarkophaginschriften den Eingang in eine astrale<br />

Olivier Messiaen<br />

Auch Griseys Lehrer Olivier Messiaen, 1908 geboren, assoziierte<br />

mit dem Tod des Leibes nicht eine Begrenzung<br />

o<strong>der</strong> gar das Ende. Ganz im Gegenteil – wie schon seine<br />

Antwort auf die Frage, ob er sich für Raumfahrt interessiere,<br />

nahelegt: »Ja, das ist wun<strong>der</strong>bar, aber ich denke,<br />

dass sie mir nach meinem Tod auf ganz natürliche Weise<br />

ermöglicht werden wird, wenn we<strong>der</strong> Entfernungen noch<br />

die Materie mich mehr werden aufhalten können.« Messiaen<br />

ist ein Mann des Überzeitlichen. Der Tod ist kein<br />

grimmiger Schnitter, <strong>der</strong> allem Schönen und Lebendigen<br />

ein Ende setzt. In Messiaens Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi (1945)<br />

bringt <strong>der</strong> Tod wahre Liebe überhaupt erst zur Erfüllung.<br />

Inspiriert von <strong>der</strong> transzendenten Idee des Liebestods aus<br />

dem Tristan-Mythos schuf Messiaen eine ganze Werktrilogie.<br />

Und Harawi, <strong>der</strong>en erster Teil, beschwört einen Typus<br />

Liebeslied aus <strong>der</strong> Andenregion, bei dem <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong><br />

Liebenden das definierende Element ist.<br />

Messiaens sublimierter Liebesbegriff geht aus seinem<br />

christlichen Glauben hervor, <strong>der</strong> die göttliche Liebe als<br />

213


die einzig wahre anerkennt. Und im Liebestod wird die<br />

menschliche Liebe quasi von <strong>der</strong> göttlichen berührt, wodurch<br />

sie selbst zu einer ewigen wird. Ob als Komponist,<br />

Ornithologe o<strong>der</strong> Organist – Messiaen widmete sein ganzes<br />

Schaffen <strong>der</strong> Fassbarmachung des Heiligen, Immateriellen,<br />

Spirituellen. Ekstase und Exzess, die notwendig<br />

sind, um den Menschen seiner alltäglichen spirituellen<br />

Begrenztheit zu entheben, sind daher Schlüsselmomente<br />

seiner Musik. Häufig dienen ihm Kontemplation und Meditation<br />

als Mittel, die christlichen Mysterien musikalisch<br />

erlebbar zu machen. Aber auch <strong>der</strong> indirekte, oft rauschhafte<br />

Weg über vermittelnde Instanzen wie Farben (als<br />

Synästhet sah er Klänge tatsächlich als konkrete Farben<br />

vor Augen) o<strong>der</strong> Vogelgesang (er übertrug dessen melodische<br />

und rhythmische Strukturen in Musik) ermöglichte<br />

ihm, das Unbegreifliche hörbar zu machen. Dass er in seiner<br />

Musik als zutiefst Gläubiger meist Ungläubigen von<br />

Gott kündete, empfand er als Tragödie seines Lebens. Bereits<br />

in seinem frühen Orchesterwerk Les offrandes oubliées<br />

(Die vergessenen Opfer) von 1930 klingt diese verzweifelte<br />

Erkenntnis Messiaens an. In dieser sinfonischen<br />

Meditation ruft er das Opfer Christi, <strong>der</strong> für die Menschheit<br />

am Kreuz gestorben ist, in Erinnerung. Ein sanfter<br />

Farbenrausch, in dem er den Zuhörer ertrinken lässt, um<br />

die Liebe Christi spürbar zu machen, rahmt das Werk. Im<br />

Zentrum aber steht <strong>der</strong> Schmerz, die musikalische Inkarnation<br />

<strong>der</strong> Sünde, die diese Atmosphäre scharf und jäh<br />

zerschneidet, das göttliche Liebesopfer quasi schändet.<br />

Galina Ustwolskaja<br />

Eine Frau, die Messiaen in seinem Schmerz und seiner<br />

Verzweiflung verstanden hätte, ist Galina Ustwolskaja, die<br />

vielleicht kompromissloseste Komponistin des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

So kompromisslos, dass sich ihre Musik in <strong>der</strong><br />

Welt, in <strong>der</strong> sie lebte, gänzlich verbat. Und sie sie trotzdem<br />

schrieb. Und sei es für die Schublade. Fremd und<br />

ungestüm schlug ihre Klangsprache, die keiner Schule<br />

und keiner Strömung folgte, in die zeitgenössische Musiklandschaft<br />

im Russland <strong>der</strong> Nachkriegszeit ein. Das Handwerk<br />

hatte sie von Dmitri Schostakowitsch erlernt, dessen<br />

Schüler:innen für ihre Schostakowitsch-Mimesis bekannt<br />

waren. Nicht so Galina Ustwolskaja. Ihr Lehrer bewun<strong>der</strong>te<br />

ihre Eigenständigkeit, hielt sogar um ihre Hand an,<br />

ohne Erfolg.<br />

Mit ihrem unbestechlichen Charakter war Galina Ustwolskaja<br />

1919, zwei Jahre nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution, in<br />

eine denkbar ungünstige Zeit hineingeboren. Die Familie<br />

lebte in materieller Not, ihre Kindheit und Jugend waren<br />

von profundem Einsamkeitsgefühl überschattet. Einzelgängertum<br />

pflasterte ihren Lebensweg, auch wenn dies<br />

<strong>der</strong> normierenden Staatsdoktrin des Sozialistischen Realismus,<br />

<strong>der</strong> seit Anfang <strong>der</strong> 30er Jahre den Kulturbetrieb<br />

bestimmte, quer entgegenstand. Religiöse, spirituelle Inhalte<br />

in Musik zu verarbeiten, wofür Ustwolskaja bekannt<br />

wurde, war selbst nach Stalins Tod 1953 jahrelang tabu.<br />

Die meisten ihrer Werke <strong>der</strong> 40er und 50er Jahre, die <strong>der</strong><br />

Staatsdoktrin zumindest äußerlich Rechnung tragen (darunter<br />

ihre 1. Sinfonie von 1955), wollte die Komponistin<br />

später aus ihrem Werkkatalog, <strong>der</strong> nur 25 gültige Stücke<br />

zählt, verbannt wissen.<br />

Zwischen 1960 und 1970 ergriff Ustwolskaja die konsequent<br />

drastische Maßnahme, praktisch gar keine neuen<br />

Kompositionen mehr an die Öffentlichkeit zu bringen.<br />

Nach ihrem Wie<strong>der</strong>auftauchen im sowjetischen Musikleben<br />

weisen ihre Werke fast ausnahmslos religiöse, liturgische<br />

Titel und Texte auf. Im Unterschied zu Messiaen ist<br />

Ustwolskajas Religiosität aber an eine abstrakte göttliche<br />

Macht gerichtet, stellt sich nicht in den Dienst einer Glaubensinstitution.<br />

Auch ästhetisch dominiert bei ihr eine<br />

ganz an<strong>der</strong>e Sprache: Anstelle von Entwicklung, Fluss und<br />

Farbenrausch stehen hier Klarheit, Bruch und Kollision.<br />

Harmonik kennt ihre vollkommen horizontal konzipierte<br />

Musik höchstens in Form von Clustern (dichten Tonballungen),<br />

wie sie etwa die 3. Sinfonie in eindringlicher Wie<strong>der</strong>holung<br />

eröffnen.<br />

Während das politische Tauwetter <strong>der</strong> 70er Jahre viele<br />

russische Komponist:innen veranlasste, die westliche<br />

Avantgarde zu erforschen und für ihre Arbeit fruchtbar zu<br />

machen, verän<strong>der</strong>te sich Ustwolskajas Musik nur dahingehend,<br />

dass sie charakteristische Eigenschaften noch<br />

radikalisierte: dynamische Extreme, Reduktion <strong>der</strong> Mittel<br />

und ungewöhnliche Konstellationen von Instrumenten.<br />

Dazu kommt die Eigenart, in ihren Sinfonien kein volles<br />

Orchester mehr einzusetzen. Nicht einmal annähernd:<br />

Instrumente <strong>der</strong> Mittellage entfallen typischerweise,<br />

manchmal sogar ganze Instrumentenfamilien: in <strong>der</strong> 2.<br />

Sinfonie etwa die gesamte Streichersektion. Mit je<strong>der</strong><br />

Sinfonie wird die Besetzung kammermusikalischer und die<br />

klangliche Kontrast- und Konturschärfung intensiver, was<br />

Ustwolskaja mit ihrer Tendenz zu schmerzhaft scharfen,<br />

harten Einsätzen noch potenziert.<br />

Schmerz ist nicht nur ihr Begleiter im Rückzug von <strong>der</strong> Welt,<br />

Schmerz ist auch das Transportmittel, das Galina Ustwolskaja<br />

in ihrer Musik in eine an<strong>der</strong>e Sphäre beför<strong>der</strong>t.<br />

214


Das Gefühl <strong>der</strong> Überwältigung wird bisweilen zu einem<br />

geradezu körperlichen Erlebnis, hinter dem sich eine<br />

metaphysische Dimension auftut – und um diese scheint<br />

es <strong>der</strong> Komponistin zu gehen. Der Schmerz, <strong>der</strong> in die<br />

wie<strong>der</strong>holten Faustschläge auf das Klavier und die brachialen<br />

Paukenschläge eingeschrieben ist, evoziert in <strong>der</strong><br />

3. Sinfonie Gedanken an Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung<br />

angesichts <strong>der</strong> höchsten, rettenden Macht, die<br />

sie im Text anruft. Es ist, als würde im Schmerz <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Realität gefangene Körper zum Fluchtweg in eine überkörperliche,<br />

sublimierte – o<strong>der</strong> eben metaphysische Sphäre.<br />

Iannis Xenakis<br />

Dass auch die physische Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten<br />

mehr als nur eine Fessel sein kann, die uns in <strong>der</strong><br />

irdischen Realität verhaftet hält, hat ein Komponist bewiesen,<br />

<strong>der</strong> Schmerz ebenso kannte wie Galina Ustwolskaja.<br />

Als politischer Flüchtling kam Iannis Xenakis mit<br />

schwerer Gesichtsverletzung 1947 in Paris an. In Griechenland<br />

hatte er im Wi<strong>der</strong>stand gegen die Okkupation<br />

durch die Deutschen gekämpft, war verwundet worden,<br />

im Gefängnis gesessen, zum Tode verurteilt. Im Pariser<br />

Exil fand er in seinem erlernten Beruf als Architekt und<br />

Ingenieur im Atelier von Le Corbusier Anstellung. Komponiert<br />

hatte er bis dahin nur autodidaktisch, um nun aber<br />

das Handwerk systematisch zu erlernen. Seine naturwissenschaftlich<br />

geprägte Biografie hatte ihn mit einer<br />

Denkstruktur ausgestattet, die in Komponistenkreisen zunächst<br />

fremd anmutete. Ausgerechnet Olivier Messiaen,<br />

musikalisches Sprachrohr <strong>der</strong> christlichen Mysterien, erkannte<br />

das Potenzial in <strong>der</strong> Voraussetzung seines Schülers<br />

und ermutigte ihn, exakt dieses Denken und Wissen<br />

für seine Musik kreativ zu nutzen. Das Resultat: eine in<br />

<strong>der</strong> Musikgeschichte einzigartige, fulminante Stimme, die<br />

über ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t zahllose Konventionen (auch<br />

die eigenen) produktiv in Frage gestellt hat und für zahllose<br />

Komponist:innen ein Quell <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung und Inspiration<br />

wurde.<br />

Die Werke seines umfangreichen Oeuvres beziehen sich<br />

nahezu ausnahmslos auf mathematische o<strong>der</strong> physikalische<br />

Gesetze und Phänomene wie Stochastik, Spieltheorie,<br />

Mengentheorie, Chaostheorie o<strong>der</strong> Siebtheorie.<br />

Letztere liegt auch seinem Ensemblestück Thalleïn zugrunde.<br />

Die ungestüm rohe Kraft seiner glissandostarken,<br />

gestischen Musik deutet an, dass hinter diesen scheinbar<br />

kühl analytischen Vorgängen emotional prägende<br />

Erinnerungen stecken, die für einen musikalischen Ausdruckswillen<br />

ausschlaggebend sind, und folge die Komposition<br />

auch noch so abstrakten Prinzipien. So lieferte<br />

ihm etwa das konkrete Erlebnis <strong>der</strong> Demonstrationen und<br />

Straßenschlachten die gedankliche Substanz zu seinem<br />

mathematisch streng durchkalkulierten Durchbruchsstück<br />

Metastaseis (im Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021).<br />

»Ich hörte den Klang <strong>der</strong> Massen, wie sie auf das Zentrum<br />

Athens zumarschierten, die Parolenrufe, und dann, als sie<br />

auf die Panzer <strong>der</strong> Nazis trafen, die unregelmäßigen Schüsse<br />

<strong>der</strong> Maschinengewehre, das Chaos«, schil<strong>der</strong>te er dem<br />

Musikverleger Bálint András Varga in einem Gespräch.<br />

»Ich werde niemals diese Verwandlung des regelmäßigen,<br />

rhythmischen Lärms hun<strong>der</strong>ttausen<strong>der</strong> Menschen<br />

in ein fantastisches Durcheinan<strong>der</strong> vergessen... Nie hätte<br />

ich gedacht, dass das alles eines Tages wie<strong>der</strong> hochkommen<br />

und zu Musik werden würde.« In diesem Wissen erscheinen<br />

auch die sumerischen und assyrischen Silben<br />

und Phoneme in seinem Chorstück Nuits als direkte, klar<br />

artikulierte Schreie <strong>der</strong> Widmungsträger dieses Nachtstücks:<br />

politischer Gefangener dieser Welt, wie Xenakis<br />

selbst einer war, denen die Stimme geraubt wurde.<br />

So wie die Kriegserlebnisse hatten sich aber auch Natureindrücke<br />

aus Vorkriegszeiten in sein Bewusstsein eingraviert,<br />

wie er sich später in demselben Gespräch erinnert:<br />

»Ich machte oft Ausflüge aufs Land in <strong>der</strong> Nähe<br />

von Athen. Ich nahm dann mein Fahrrad, suchte mir einen<br />

Ort aus, wo ich mein Zelt aufstellte, und hörte den Klängen<br />

<strong>der</strong> Natur zu. Zikaden zum Beispiel: Ihr Zirpen kam<br />

aus allen Richtungen und verän<strong>der</strong>te sich ständig. Auch<br />

das sind Massenklänge, verstehen Sie?« Paradoxerweise,<br />

aber auch faszinieren<strong>der</strong>weise, erlaubt ihm das Mittel,<br />

das ihn einschneidende Erfahrungen mathematisch systematisieren<br />

und analysieren lässt, auch ihre emotionale<br />

Gewalt deutlicher zum Vorschein zu bringen.<br />

Sarah Nemtsov<br />

Die Essenz einer Sache aus ihrem natürlichen Habitat<br />

herauszulösen und auf an<strong>der</strong>er Ebene sinnlich erfahrbar<br />

und tiefer verstehbar zu machen, ist eine Eigenschaft, die<br />

auch die Musik <strong>der</strong> Berliner Komponistin Sarah Nemtsov<br />

auszeichnet – wenn auch auf gänzlich an<strong>der</strong>e Weise. Den<br />

Impuls zu ihrem Ensemblestück MOOS gewann sie tatsächlich<br />

aus einem Naturphänomen, das oberflächlich<br />

jedem bekannt ist. Je<strong>der</strong> kennt das Gefühl, auf Moos zu<br />

gehen, wie es dem Fuß den festen Tritt auf dem Boden versagt,<br />

wie <strong>der</strong> luftig weiche Pflanzenteppich ein angenehm<br />

215


Moos: Er reguliert Lautstärke und Verfremdung <strong>der</strong> Verstärkung,<br />

schlägt selbst auf seinen Instrumenten jedoch keinen<br />

Ton an.<br />

Zugleich greift Nemtsov die scheinbar unzerstörbare und<br />

kaum nachvollziehbare Wucherstruktur von Moos auf an<strong>der</strong>er<br />

Ebene auf: »Kompositorisch sind verschiedene musikalische<br />

Elemente horizontal verwoben, momentweise<br />

vertikal ›zertreten‹, werden entwickelt und wie<strong>der</strong> vergessen«,<br />

beschreibt sie die Struktur ihrer Komposition und<br />

lässt darin das Prinzip Überleben durch Vergessen anklingen<br />

– eine Gnade, zu <strong>der</strong> nicht nur Moos, son<strong>der</strong>n auch<br />

das menschliche Gehirn in <strong>der</strong> Lage ist.<br />

instabiles, fast märchenhaftes Gefühl hervorruft. Sarah<br />

Nemtsov hat das Gewächs von Nahem betrachtet. Aus<br />

<strong>der</strong> scheinbar chaotischen Verästelung, die sich horizontal<br />

nach allen Seiten ausbreitet, hat sie für ihre Komposition<br />

ein System abgeleitet, bei dem die Schlaginstrumente<br />

reine Resonatorenfunktion haben. Durch sie erklingen die<br />

Instrumente des Ensembles, <strong>der</strong>en Klang durch Mikrofone<br />

abgenommen und über Transducer an sie übertragen wird.<br />

Das indirekte Spiel des Schlagzeugers gleicht dem Gang auf<br />

Immer wie<strong>der</strong> und in unterschiedlichsten Kontexten übersetzt<br />

Sarah Nemtsov ein System auf ein an<strong>der</strong>es: ein<br />

verbales auf ein musikalisches, ein organisches auf ein<br />

künstliches, ein psychisches auf ein akustisches. Und<br />

so wie sie 2012 in ihrem instrumentalen Musiktheater<br />

A Long Way Away Geschichten über Erinnerung von Marcel<br />

Proust, W. G. Sebald, Walter Benjamin und Mirko Bonnés<br />

ohne Worte, nur durch Instrumente und den Klang von<br />

Alltagsgegenständen erzählte, sodass man meint, man<br />

hätte die Geschichten gehört, geradezu in ihnen gelebt,<br />

beschreibt sie gemeinsam mit <strong>der</strong> Regisseur:in Heinrich<br />

Horwitz in ihrem inszenierten Instrumentalzyklus HAUS<br />

durch die Bochumer Turbinenhalle hindurch den Prozess<br />

des sich verwandelnden Transkörpers. Wer o<strong>der</strong> was ermöglicht<br />

ihr, allein kraft ihrer Musik den Verwandlungsprozess<br />

eines Körpers durch ein altes Industriegebäude<br />

hindurch erlebbar zu machen, wenn nicht das Vertrauen<br />

in die Macht <strong>der</strong> Imagination? Das Haus <strong>der</strong> Imagination<br />

ist das Gehirn, das mit Sicherheit metaphysischste Organ<br />

innerhalb <strong>der</strong> menschlichen Physik.<br />

BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23. Als Autorin und Mo<strong>der</strong>atorin im Bereich Neuer<br />

Musik ist sie seit vielen Jahren für den Deutschlandfunk und die verschiedenen<br />

Programme des ARD-Hörfunks tätig. 2018–2020 war sie Dramaturgin<br />

für Oper und Konzert an <strong>der</strong> Staatsoper Stuttgart.<br />

Fotos: Gérard Grisey Estate (Gérard Grisey), Malcolm Ball (Olivier Messiaen), Ralph Fassey (Iannis Xenakis), Neda<br />

Navaee (Sarah Nemtsov)<br />

216


BEGEGNUNGS-<br />

KANTEN<br />

II<br />

DREI GESPRÄCHE<br />

WEGE<br />

Aljoscha Begrich, Lagartijas tiradas al sol, Azadeh Ganjeh, Lisandro Rodriguez,<br />

Stefan Schnei<strong>der</strong>, Anna Kpok, loekenfranke, RUHRORTER, tehran re:public<br />

12. August – 18. September <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 80 _______________ www.ruhr3.com/wege<br />

217


Die 2021 begonnene künstlerische Bespielung <strong>der</strong> Wege zwischen den Spielorten <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> wird auch in diesem Jahr fortgesetzt. Drei internationale Künstler:innen entwickeln<br />

Begleitformate für drei neue Strecken und ergänzen das bestehende Angebot <strong>der</strong> fünf<br />

lokalen Wege. Als beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung – auch im Sinne des Klimaschutzes – entwickelten<br />

die Künstler:innen dieses Jahr ihre Werke ohne Anreise, stattdessen versuchten sie das<br />

Ruhrgebiet nur durch Gespräche, Videokonferenzen, Fotostapel und Statistiken zu verstehen.<br />

Ein wichtiger Baustein war aber auch <strong>der</strong> direkte Austausch mit den lokalen Künstler:innen<br />

und ihren Erfahrungen. So wie im Ruhrgebiet permanent unterschiedliche Raumnutzungskonzepte<br />

aufeinan<strong>der</strong>stoßen (Fel<strong>der</strong> auf Wohnsiedlungen, Autobahnen auf Industrieviertel und<br />

Schienen wege auf Erholungsgebiete) – Wissenschaftler:innen sprechen dabei von Begegnungskanten<br />

–, so kommen unterschiedliche Arbeits- und Denkweisen zueinan<strong>der</strong>.<br />

LISANDRO RODRIGUEZ<br />

& RUHRORTER<br />

Lisandro Rodriguez aus Buenos Aires begann seine Annäherung<br />

damit, dass er uns Fragen schickte, listenweise.<br />

Zunächst beantworteten wir sie ihm mithilfe von Statistiken<br />

und Grafiken, dann mit immer persönlicheren Einschätzungen<br />

und später auch mit Fantasie und Quatsch.<br />

Lisandro merkte irgendwann, dass das Fragenstellen seine<br />

eigentliche Kunst werden würde. Er probierte die Fragen<br />

an den Straßenrän<strong>der</strong>n in Buenos Aires aus und entwarf<br />

einen Fragenkatalog für den Weg vom Duisburger Hauptbahnhof<br />

zum Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Passant:innen<br />

werden sie entdecken, still auf sie antworten, sie<br />

als Frage weitergeben o<strong>der</strong> als Infragestellung behalten.<br />

RUHRORTER aus Mülheim umschreiben anlässlich dreier<br />

seiner Fragen ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Arbeitsansätze.<br />

Lisandro Rodríguez: Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?<br />

RUHRORTER: Bergbau ist die arbeits- und technologieintensive<br />

Extraktion von Rohstoffen zur Energiegewinnung.<br />

Mit deiner Frage können wir darauf<br />

schauen, inwiefern Kunst hier in <strong>der</strong> Gegend eine neue<br />

Arbeitsform des Abbaus von Rohstoffen und dementsprechend<br />

<strong>der</strong> Gewinnung neuer Energien darstellt.<br />

Anhand <strong>der</strong> Gründung von Kunstinstitutionen, ungefähr<br />

ab Ende <strong>der</strong> 1990er-Jahre, lässt sich beobachten,<br />

dass das Ruhrgebiet seit rund 20 Jahren immer dichter<br />

von Künstler:innen und Kunstinstitutionen beackert<br />

wird. Zu sehen ist das etwa an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, bei<br />

PACT Zollverein, Maschinenhaus Essen, Zeche Eins<br />

Bochum, Urbane Künste Ruhr, Hartware KunstMedien­<br />

Verein Dortmund usw. Sie gesellen sich zu den schon<br />

älteren Institutionen, den Stadttheatern, Museen und<br />

Konzerthäusern.<br />

Es scheint gute Bedingungen für die Produktion von<br />

Kunst zu geben: Geld und Räume für die Institutionen,<br />

auch für die Künstler:innen.<br />

Lisandro Rodríguez: Wessen Arbeit ist das?<br />

RUHRORTER: Künstlerische Arbeit ist etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />

als <strong>der</strong> industrielle Abbau von Steinkohle. Sie ist<br />

in <strong>der</strong> Regel weniger körperlich anstrengend und stellt<br />

eine geringere Gefahr für das Leben dar. Auch die<br />

langfristigen Umweltfolgen sind weniger schwerwiegend.<br />

Ohne die Montanindustrie wären aber wir alle,<br />

die diese Antwort schreiben, und diejenigen, die sie lesen,<br />

das Magazin, in dem <strong>der</strong> Text steht und auch das<br />

Festival <strong>der</strong> schönen Künste, das das Magazin herausbringt,<br />

gar nicht hier. Nun ist die Kohleindustrie schon<br />

lange weg, dorthin, wo die Arbeit billiger ist. Viele Leute<br />

bedauern das, weil damit auch ein bestimmtes Lohnniveau<br />

verschwunden ist. Es gibt hier einfach nicht<br />

ausreichend gut bezahlte Arbeit. Und die Kulturinstitutionen<br />

beschäftigen nicht all die Leute.<br />

Die Kultur soll trotzdem einlösen, was <strong>der</strong> Begriff<br />

Strukturwandel (und die sozialdemokratischen Politiker:innen,<br />

die ihm das Wort reden) verspricht. Ersetzen,<br />

was nicht gleichwertig ersetzt werden kann. Sie<br />

sollen einen neuen Raum beschreiben, im Zusammenhang<br />

mit Universitäten, Einkaufshäusern und so weiter.<br />

Wie das genau geht, ist immer noch nicht ganz klar.<br />

Was dann passiert, auch nicht.<br />

Lisandro Rodríguez: Was möchtet ihr zu Tage för<strong>der</strong>n?<br />

RUHRORTER: Im Zuge unserer Arbeit sind wir ständig<br />

mit Situationen, Menschen und Problemen konfrontiert,<br />

auf die wir erst mal keine Antwort haben. Das ist<br />

manchmal unangenehm, aber immer eine gute Ausgangsbasis,<br />

etwas nicht zu wissen. Es klingt vielleicht<br />

kitschig, aber wir lernen und verän<strong>der</strong>n uns dadurch,<br />

wenn wir mit Menschen sprechen; etwas aufnehmen<br />

und wie<strong>der</strong> hören.<br />

Unsere Gruppe RUHRORTER hat sich gegründet, um<br />

Menschen mit Fluchterfahrung in Mülheim an <strong>der</strong> Ruhr<br />

ein Theaterangebot zu machen. Zum Zuschauen und<br />

Selberspielen. Unsere Proben sind Möglichkeiten, zusammenzukommen<br />

und sich auszutauschen, sie basieren<br />

auf gemeinsamen Improvisationen und nicht<br />

auf <strong>der</strong> Verwendung von Biografien.<br />

Was wir aus <strong>der</strong> Arbeit ziehen, ist ein an<strong>der</strong>er Blick auf<br />

uns selbst, unsere Nächsten und die Umgebung. Und<br />

das möchten wir teilen.<br />

218


AZADEH GANJEH &<br />

TEHRAN RE:PUBLIC<br />

Azadeh Ganjeh und die beiden Künstler des Kollektivs<br />

Tehran Re:public kennen sich bereits aus früheren Tagen,<br />

als sie noch im Iran lebten. Da sie alle Farsi sprechen und<br />

gegenseitig ihre performativen Arbeiten schätzen, fiel es<br />

ihnen nicht schwer, in einem gemeinsamen Gespräch über<br />

das Ruhrgebiet, das Projekt, die Routen und ihre Erfahrungen<br />

im vergangenen Jahr zu sprechen. Azadeh Ganjeh<br />

hat daraus wichtige Erkenntnisse für ihre Hörstationen<br />

ziehen können, die für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> auf dem<br />

Weg zwischen Essen und Duisburg eingerichtet werden.<br />

In ihrer Arbeit schärfen Audiospuren den Blick auf Flusslandschaften<br />

in Mülheim Styrum. Eine Perspektive, die von<br />

konkreten Geschichten aus dem Iran überlagert wird. Der<br />

hier abgedruckte Austausch vermittelt einen Eindruck von<br />

<strong>der</strong> Arbeit, die Amirhossein Mashaherifard und Shahab<br />

Anousha für Bochum entwickelt haben.<br />

Azadeh Ganjeh: Ihr seid Tehran Re:public. Wie empfindet<br />

ihr die Verbindung zwischen Teheran und Bochum? Gibt<br />

es eine Verbindung?<br />

Tehran Re:public: Für uns ist das eine organische Verbindung,<br />

aber abhängig von dem jeweiligen Projekt.<br />

Natürlich kommt es vor, dass wir uns bei einem bestimmten<br />

Projekt bewusst für ein Thema entscheiden,<br />

das sich auf die Beziehung zwischen Teheran und Bochum<br />

o<strong>der</strong> Berlin bezieht, doch meistens entwickelt<br />

sich das ganz natürlich. Denn selbst wenn wir über die<br />

Berliner Mauer reden, reden wir ja als Menschen, die<br />

aus Teheran stammen. Für uns ist es selbstverständlich,<br />

unseren Herkunftshintergrund in unsere Kunst<br />

einfließen zu lassen. Wir sehen keine Notwendigkeit,<br />

das stets aktiv zu betonen.<br />

Azadeh Ganjeh: Der Audiowalk hat mich sehr bewegt. Ich<br />

hatte das Gefühl, als Fremde vollständig verstanden zu<br />

werden. Ich hörte die Beschreibung eines Ortes, an dem<br />

ich mich gar nicht befand, aber <strong>der</strong> detaillierte Text, seine<br />

Länge und die Pausen erlaubten mir, mir die Landschaft<br />

vorzustellen, die ich vor mir hätte sehen sollen. Darin lag<br />

für mich eine Botschaft. Ihr könnt euch in die Lage eines<br />

Fremden in einer Stadt einfühlen. Das hat sicherlich damit<br />

zu tun, dass ihr an<strong>der</strong>s seid. Ihr wisst aus Erfahrung, wie<br />

es ist, fremd zu sein.<br />

Tehran Re:public: Ich denke, das hat zwei Gründe: Zum<br />

einen sind wir nicht aus Deutschland, und Shabab hat<br />

nie in Bochum gelebt. Wir sind also gewissermaßen<br />

Fremde o<strong>der</strong> »die An<strong>der</strong>en« in dieser Stadt. Das gab<br />

uns die Möglichkeit, unsere Umgebung auf eine neutralere<br />

Art und aus gewisser Distanz zu beschreiben. Zum<br />

an<strong>der</strong>en haben wir versucht, die Bewohner:innen <strong>der</strong><br />

Stadt in Fremde zu verwandeln. Durch die Strategie <strong>der</strong><br />

Verfremdung hofften wir, unserem Publikum die Möglichkeit<br />

geben zu können, die Stadt in einem an<strong>der</strong>en<br />

Licht betrachten zu können – wie jemand, <strong>der</strong> sie zum<br />

ersten Mal besucht. Vielleicht ist das <strong>der</strong> Grund, wieso<br />

du dich angesprochen gefühlt hast, da auch du fremd<br />

in <strong>der</strong> Stadt bist. Du bist gewissermaßen in <strong>der</strong>selben<br />

Situation wie die Teilnehmer:innen des Audiowalks.<br />

Azadeh Ganjeh: Meine letzte Frage bezieht sich auf eure<br />

Intention, einen Blick hinter die Dinge zu werfen, wie es<br />

auch in den Audioaufnahmen von Inside Out zu erleben<br />

ist. Ihr führt die Teilnehmer:innen in den Bedeutungsraum<br />

hinter den Dingen. Ich fand es sehr interessant, wie ihr<br />

diesem Phänomenen auf den Grund geht. Wenn urbane<br />

Körper Phänomene im Raum sind, in welcher Form tauchen<br />

sie in eurer Performance auf?<br />

Tehran Re:public: Der Ansatz des Dahinterblickens<br />

kam aus <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Thematik. Wenn wir über soziales<br />

Design sprechen – beispielsweise über das Design<br />

einer Sitzbank in <strong>der</strong> Innenstadt –, dann geht es nicht<br />

nur um ästhetische Aspekte, son<strong>der</strong>n auch um die<br />

Doppelfunktionalität dahinter. In diesem Fall bedeutet<br />

das, dass man auf <strong>der</strong> Bank sitzen kann, sich jedoch<br />

nicht darauflegen o<strong>der</strong> sie als Skateboar<strong>der</strong> befahren<br />

kann. Die Dualität des Davor und Dahinter hat hier<br />

ihren Ursprung.<br />

LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />

& LOENKENFRANKE<br />

Bei dem Performancekollektiv Lagartijas tiradas al sol aus<br />

Mexiko-Stadt und den Dokumentarfilmer:innen loenkenfranke<br />

aus Witten sind Sprache, Form und Arbeitsweise<br />

sehr unterschiedlich, aber sie eint vielleicht das Interesse<br />

an den konkreten individuellen Tragödien im Alltag, ein humorvoller<br />

Blick auf Details sowie <strong>der</strong> Wille zur Verarbeitung<br />

des Realen beziehungsweise ihr Ansatz, das Reale<br />

verarbeiten zu wollen. Und so ist es kein Zufall, dass, nachdem<br />

loenkenfranke die Besucher:innen auf einen Ausflug<br />

ins Grüne zwischen Gelsenkirchen und Essen einluden,<br />

Lagartijas tiradas al sol nun zu einer Partie in den Süden<br />

Essens laden, um ein Ruhrgebiet jenseits des Gewohnten<br />

zu zeigen.<br />

Lagartijas tiradas al sol: Wer seid ihr?<br />

loenkenfranke: Wir richten unseren Blick konkret auf<br />

Menschen und ihre Lebenslagen, Lebensumstände<br />

und auf gesellschaftliche Phänomene. Wir spiegeln in<br />

unseren Filmen das Politische im Privaten wi<strong>der</strong> und<br />

machen große gesellschaftliche Themen im Erleben<br />

Einzelner sichtbar.<br />

Wenn wie bei <strong>der</strong> Montagsdemo in Leipzig von <strong>der</strong><br />

Menge skandiert wird: »Wir sind das Volk« und plötzlich<br />

ein einzelnes Schild »Ich bin Volker« auftaucht,<br />

dann beginnt es für uns spannend zu werden.<br />

Lagartijas tiradas al sol: Glaubt ihr, dass die Zukunft besser<br />

sein wird als die Gegenwart?<br />

loenkenfranke: Wir halten es da sehr mit Alexan<strong>der</strong><br />

Kluge: »Ich hüte mich als Schriftsteller, Cassandra zu<br />

sein. Wir wissen über die Zukunft nichts. Ich kann nur<br />

über Vergangenheiten o<strong>der</strong> Gegenwarten reden und<br />

ich kann über Möglichkeiten sprechen – im Konjunktiv<br />

und selbst Futur 2 kann ich noch: Ich werde gewesen<br />

sein. Aber mit <strong>der</strong> Zukunft habe ich es nicht im Sinn.«<br />

Wir beschäftigen uns mit den Gegenwarten, Vergangenheiten<br />

und Möglichkeiten in den letzten 15 Jahren,<br />

bezogen auf den Wandel <strong>der</strong> Ruhrgebietslandschaft<br />

219


und <strong>der</strong> Welt, und wie dieser Wandel die Lebensrealität<br />

<strong>der</strong> Menschen beeinflusst. Unsere Arbeitsweise<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass wir viele situative<br />

Momente drehen, begleiten, genau hinsehen und zuhören.<br />

So versuchen wir stets, den Dingen von ihrem<br />

Wesen her näherzukommen. Die Gegenwart ist ohne<br />

das Bewusstsein über die Vergangenheit nicht denkbar.<br />

Die Frage, ob die Zukunft besser sein wird als die<br />

Gegenwart, gehört ins Reich <strong>der</strong> Spekulation. »Besser<br />

als etwas sein« ist eine Bewertung – wir versuchen,<br />

nicht zu werten …<br />

Lagartijas tiradas al sol: Worauf können die Menschen in<br />

<strong>der</strong> Region stolz sein?<br />

loenkenfranke: Die Menschen in <strong>der</strong> Region haben in<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit ungeheure Umbrüche gemeistert<br />

und sind gegenwärtig wie<strong>der</strong> mit einer großen Transformation<br />

konfrontiert. Kollektiver Stolz hat immer<br />

auch mit Identität zu tun. Hier in <strong>der</strong> Region wurde diese<br />

Identität maßgeblich durch ihre gemeinsame Arbeit<br />

in <strong>der</strong> Großindustrie geprägt. Wir glauben allerdings an<br />

das Individuum. Kollektiver Stolz einer ganzen Gesellschaft<br />

hat für uns einen Beigeschmack.<br />

Lagartijas tiradas al sol: Wo sind die Minen geblieben?<br />

loenkenfranke: Die Minen sind, wo sie sind, nämlich<br />

hun<strong>der</strong>te Meter unter <strong>der</strong> Erdoberfläche. Aber ihre Bedeutung<br />

für die Menschen hat sich grundlegend geän<strong>der</strong>t.<br />

Sie dienen nicht mehr dazu, den Menschen in<br />

<strong>der</strong> Region einen (hohen) Lebensstandard zu sichern,<br />

son<strong>der</strong>n die Menschen müssen sich um ihre Folgen als<br />

Ewigkeitsschäden kümmern.<br />

Lagartijas tiradas al sol: Wie geht man mit dem Gefühl um,<br />

dass das Leben woan<strong>der</strong>s stattfindet?<br />

loenkenfranke: Das Leben findet immer im Hier und<br />

Jetzt und in <strong>der</strong> Kunst statt. Das, was uns originär interessiert,<br />

ist, Momente und Augenblicke festzuhalten,<br />

sie zu archivieren und sie in Beziehung zueinan<strong>der</strong><br />

zu bringen. So entstehen Filme, die ein Stück Zeitgeschichte<br />

sind und immer nur im Moment ihrer Rezeption<br />

im Verhältnis zur Gegenwart Bedeutung und Sinn<br />

ergeben. Große Umbrüche, die immer einhergehen mit<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung. Zeitenwende, Wandel, Verschwinden.<br />

Neue Möglichkeiten tun sich auf, mit ihnen neue<br />

Identifikationen – alte brechen weg. In einer Zeit, in<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Alltag immer digitaler wird, in <strong>der</strong> alles je<strong>der</strong>zeit<br />

online verfügbar ist, in <strong>der</strong> das Internet alle Fragen<br />

zu beantworten scheint, entsteht die Sehnsucht nach<br />

einer alternativen Realität. Offensichtlich eröffnet die<br />

Hinwendung zur Natur (die es ja im ursprünglichen<br />

Sinn in unseren Breiten gar nicht mehr gibt) für viele<br />

Menschen aktuell den Zugang zu dieser alternativen<br />

Realität. Beim Wege- Projekt haben wir uns aus diesem<br />

Grund für den ornithologischen Blick entschieden.<br />

Ganz allein mit sich und <strong>der</strong> Natur lässt <strong>der</strong> Blick<br />

durch das Fernglas o<strong>der</strong> Spektiv die Welt klein und<br />

übersichtlich erscheinen. Ein geeigneter Zufluchtsort,<br />

um den Herausfor<strong>der</strong>ungen und Einschränkungen des<br />

Alltags zu begegnen – und ihnen etwas entgegenzusetzen.<br />

Dadurch wird <strong>der</strong> Blick auf das Wesen des<br />

Menschen geschärft, auf seine Eigenarten, seine Träume<br />

und Ängste. Und damit zu einem Indikator für den<br />

Zustand <strong>der</strong> Gesellschaft. Unweigerlich wird man mit<br />

dem konfrontiert, was das Menschsein ausmacht.<br />

Lagartijas tiradas al sol: Wie Fortschritt denken in einer<br />

Region, die selbst vergessen wurde?<br />

loenkenfranke: Unseren letzten Film haben wir mit<br />

einem Gedicht von Andreas Gryphius begonnen:<br />

Alles ist eitel (1640)<br />

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.<br />

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:<br />

Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,<br />

Auf <strong>der</strong> ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.<br />

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.<br />

Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,<br />

Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.<br />

Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.<br />

Wandel als ein nie enden<strong>der</strong> Prozess. Ihn nicht als<br />

Grundlage allen Denkens zu akzeptieren, käme einer<br />

Hybris gleich.<br />

Aus dem Englischen und Deutschen von Cornelia Enger<br />

220


THE HUDDLE<br />

VON<br />

KATJA AUFLEGER<br />

VON NORA SDUN<br />

THE HUDDLE<br />

Katja Aufleger<br />

Installation<br />

ab 13. August <strong>2022</strong><br />

Siehe S. 20 _______________ www.ruhr3.de/huddle<br />

221


(…) SCHLÖTE, JAHRHUNDERTEALT, STEHEN AUF,<br />

RINGELN SICH, BIEGEN SICH KATZENHAFT,<br />

FLIEGEN AUF UND DAVON. EISENBAHNWAGEN,<br />

NICHTRAUCHER, DIENSTABTEIL, HOLM UND SPANT,<br />

WERDEN ZU RIPPENKÖRBEN, STÄHLERNE SCHIENEN<br />

REISSEN SICH VON DEN DÄMMEN LOS<br />

UND SPRINGEN WIE SCHOTEN IM HERBST.<br />

DIE NEVA-BRÜCKE BRICHT VON DEN UFERN,<br />

EIN STÄHLERNER STRUDEL IM STROM.<br />

MENSCHENFRUCHT, WANDERNDER KÜRBIS,<br />

WAS FÜR EINE SAAT IST DA IN DIR AUFGEGANGEN,<br />

WAS SCHWIMMT DA AUF DICH ZU, IM AUFRUHR:<br />

NIE GESEHENE GESCHÖPFE MIT SCHRECKLICHEN SOHLEN,<br />

UND UNTER DEN SOHLEN: MATSCH. EIN NICHTS,<br />

EINE NICHTIGE DRÜSE SIND MENSCHEN UND TIERE<br />

VOR DIESEM SKELETT AUS KUPFER UND STAHL,<br />

DAS DROHEND ÜBER DER STADT STEHT.<br />

DIE SCHLINGERNDEN SCHLOTE SAGEN<br />

DER MENSCHHEIT DEN UNTERGANG AN,<br />

SIE SINGEN, DIE GEISTERSCHLOTE,<br />

VOM SCHLANGENNEST, DER MENSCHENBRUST,<br />

VOM TODESKUSS, VOM KNOCHENMANN.<br />

DIE DINGE HABEN EURE AFFENLIEBE SATT,<br />

DIE DINGE MEUTERN GEGEN EUCH!<br />

Velimir Chlebnikov, Der Kranich (1914), in: Anke Hennig, Über die Dinge, Texte <strong>der</strong> russischen Avantgarde, 2010.<br />

222


Ich gebe Applaus für alle und zu allem, egal, wer kommt.<br />

Ich bin <strong>der</strong> Facebook-Like in Stahl. Ich klatsche, je mehr<br />

Likes desto besser. Ich kann es, also tue ich es. Meine<br />

Materialität gibt es her, ich kann das noch sehr lange<br />

fortführen. Meine Verwandtschaft kommt aus dem Arbeitermilieu<br />

und ich kann meine Herkunft nicht leugnen.<br />

Ich will es auch gar nicht, trotzdem bin ich natürlich nicht<br />

mehr damit befasst, in <strong>der</strong> Erde zu wühlen – das macht<br />

dann eben doch einen Unterschied. Ich beschäftige mich<br />

jetzt mit ganz an<strong>der</strong>en, ungeahnten Dingen, zum Beispiel<br />

mit dem Beifall, denn ich kann klatschen.<br />

Das ist laut und hört sich nach wie vor nach Baustelle an.<br />

Mein Äußeres und dieser Sound erhalten die Illusion von<br />

schwerer Arbeit aufrecht, auch wenn ich längst ganz an<strong>der</strong>e<br />

Fähigkeiten besitze. Meine Größe ist unverän<strong>der</strong>t.<br />

Ich flöße Respekt ein. Menschen lachen womöglich über<br />

meine Begrüßung, fürchten sich aber auch, nicht nur vor<br />

meiner Größe, son<strong>der</strong>n vor allem vor den Bewegungen,<br />

die ich potenziell auszuführen in <strong>der</strong> Lage bin. Die Furcht<br />

vor uns Maschinen ist schon sehr alt, <strong>der</strong> Aufstand <strong>der</strong><br />

Dinge wird bereits seit Jahrhun<strong>der</strong>ten immer mal prognostiziert.<br />

Ich habe einen natürlichen Hoheitsbereich:<br />

Abhängig von <strong>der</strong> Vorstellungskraft <strong>der</strong> Passant:innen<br />

wird ein jeweils an<strong>der</strong>er Sicherheitsabstand eingenommen.<br />

Strecke ich meinen Gelenkarm voll aus, habe ich<br />

einen Aktionsradius von mehreren Metern.<br />

Sicherheit o<strong>der</strong> Sicherheitsabstand ist auch ein wichtiges<br />

Thema, das mich stolz auf meine Herkunft macht. Und<br />

damit spreche ich für uns alle, momentan sind wir hier ja<br />

nur zu dritt, aber wir sind viele. Wir sind keine Trendroboterchen<br />

mit designtem Kindchenschema und allseits abgerundeten<br />

Ecken, die zu vertuschen versuchen, dass sie<br />

überhaupt eine Arbeit verrichten. Und obendrein sofort<br />

kleinlaut stoppen, sobald sie sich zum Beispiel als Staubsaug-<br />

o<strong>der</strong> Rasenmähroboter zwischen zwei Stuhlbeinen<br />

verklemmen und dann jämmerlich piepsen.<br />

»Das cute Objekt hat Macht über seinen Guardian. In <strong>der</strong><br />

hyperkommodifizierten Realität können wir den cuten Augen,<br />

dem cuten Blick nicht entkommen, er sucht sich uns.<br />

Die dummen Roboterhunde, <strong>der</strong> glupschäugige Avatar<br />

eines VTubers, <strong>der</strong> Wolf auf den Cornflakes-Schachteln.<br />

Überall simulieren wir hilflose Wesen wie eine umgedrehte,<br />

globale Pareidolie, in <strong>der</strong> nicht Gesichter in zufälligen<br />

Mustern herbeihalluziniert werden, son<strong>der</strong>n die Welt zugekleistert<br />

wird mit Wesen, die uns anstarren, damit wir<br />

uns nicht so einsam fühlen. Der Niedlichkeit können wir<br />

nicht entkommen.«<br />

Rudi Nuss, Unwesen <strong>der</strong> Asche o<strong>der</strong>: von <strong>der</strong> niedlichen, toten<br />

Welt schreiben, in: Kapsel Magazin, 2021.<br />

Wir sind da an<strong>der</strong>s. Wir nehmen keine Rücksicht auf Gegenstände<br />

o<strong>der</strong> Körperteile, die in unseren Radius geraten<br />

und uns zu stoppen versuchen. Wir sind von robuster<br />

Natur und müssen Verletzungen nicht fürchten. An<strong>der</strong>s<br />

als diese Plastikfreunde, die noch nicht einmal im Regen<br />

stehen können.<br />

Ich sage ja nicht, dass wir Leuten absichtlich den Kopf<br />

abreißen. Für eine dem Menschen ähnliche Kurzschlusshandlung<br />

fehlt uns ohnehin die nötige Wut. In <strong>der</strong> Unklarheit<br />

unserer Anliegen vibriert eine Beunruhigung, ob<br />

sich hier eine Maschinenspezies aus den Abhängigkeiten<br />

und Klassifikationsweisen zu entfernen gedenkt. Mit<br />

Pierre Bourdieu gesprochen sind wir Emporkömmlinge,<br />

haben den Aufgabenbereich unserer Maschinengruppe<br />

verlassen. Wir sind die Patenkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Readymades und<br />

haben uns von <strong>der</strong> funktionalen Eindeutigkeit emanzipiert.<br />

Wir performen. Man vergleicht uns sogar mit Balletttänzer:innen<br />

o<strong>der</strong> Storchenfamilien, die klappernd in<br />

ihren Nestern stehen.<br />

Was wir besprechen, wenn wir unsere Köpfe zum Huddle<br />

zusammenstecken, weiß kein Mensch.<br />

NORA SDUN, geboren 1974, hat zunächst Freie Kunst an <strong>der</strong> HFBK Hamburg<br />

bei Werner Büttner studiert und absolvierte daran anschließend den<br />

Studiengang Germanistik. Heute arbeitet Nora Sdun als Autorin und<br />

unterrichtet gelegentlich an <strong>der</strong> Hochschule für Künste in Bremen. Vor<br />

allem aber ist sie Verlegerin und Lektorin beim Textem Verlag, Hamburg,<br />

und dort u.a. Mitherausgeberin des Magazins Kultur & Gespenster und <strong>der</strong><br />

Schriftenreihe Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden.<br />

223


224


225SERVICE


SPIELSTÄTTEN / VENUES<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle und<br />

Turbinenhalle, Bochum<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum beginnt im Jahr 1902, als<br />

die Halle dem Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation<br />

auf einer Industrie- und Gewerbeschau in Düsseldorf, <strong>der</strong> sogenannten<br />

»kleinen Weltausstellung«, als Ausstellungshalle diente. Über den Winter<br />

1902/1903 wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die<br />

Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als<br />

Gaskraftzentrale auf. Die Gaskraftzentrale verarbeitete das in den Hochofen<br />

anfallende Gichtgas und versorgte über 60 Jahre lang das Werk und<br />

umliegende Siedlungen mit Energie. 100 Jahre nach ihrer Errichtung in<br />

Bochum – am 30. April 2003 – wurde die durch einen funktionalen Vorbau<br />

erweiterte und nunmehr denkmalgeschützte Jahrhun<strong>der</strong>thalle im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> zweiten Saison <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> ihrer neuen Bestimmung<br />

als »Montagehalle für die Kunst« (Gerard Mortier) übergeben.<br />

The story of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum begins in 1902, when the hall<br />

served as an exhibition hall for the Bochumer Verein für Bergbau und<br />

Gußstahlfabrikation (Bochum Association for Mining and Steel Casting)<br />

at an industrial and trade show in Düsseldorf, the »small world exhibition«.<br />

The monumental steel construction was transported from the Rhine<br />

to the Ruhr over the winter of 1902/1903 and assumed and assumed its<br />

function as a gas power station in the heart of the steelworks. The gas<br />

power station processed the blast furnace gas and supplied the plant and<br />

surrounding settlements with energy for over 60 years. 100 years after its<br />

construction in Bochum – on 30 April 2003 – the Jahrhun<strong>der</strong>thalle, which<br />

was extended by a functional porch and is now a listed building, was given<br />

a new purpose as an »assembly hall for art« (Gerard Mortier) during the<br />

opening of the second season of the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />

44793 Bochum<br />

ruhr3.com/jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 302, 305 o<strong>der</strong> 310 bis<br />

Haltestelle Bochumer Verein /<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />

Tram 302, 305 or 310 to Bochumer Verein /<br />

Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Approx. 5 min. walk.<br />

Pkw / By Car<br />

Navigation: An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle,<br />

44793 Bochum<br />

Parkhaus Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

Im Parkhaus stehen zwei Parkplätze mit Ladestation<br />

für E-Fahrzeuge sowie fünf Behin<strong>der</strong>tenparkplätze<br />

zur Verfügung.<br />

Car park Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />

The multi-storey car park has two parking spaces<br />

with charging stations for e-vehicles and five<br />

disabled parking spaces.<br />

STÜH33, Bochum<br />

Das Café STÜH33 ist Teil <strong>der</strong> KoFabrik, einem Ort für Begegnungen im<br />

Bochumer Stadtteil Gleisdreieck, und befindet sich im ehemaligen Magazin<br />

<strong>der</strong> Eisenhütte Heinzmann. Seit 2018 wurde das Backsteingebäude<br />

aus dem Jahr 1899 zur KoFabrik umgewandelt und beherbergt heute neben<br />

dem Café Coworkingflächen, Veranstaltungsräume, Büros und variabel<br />

nutzbare Räume für kreativen Austausch. Das Nachbarschaftscafé eröffnete<br />

2020 und ist <strong>2022</strong> erstmalig Spielstätte <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Café STÜH33 is part of the KoFabrik, a gathering place in the Gleisdreieck<br />

district of Bochum, and is located in the former warehouse of the<br />

Heinzmann ironworks. Since 2018, the brick building from 1899 has been<br />

transformed into the KoFabrik and, in addition to the café, now houses<br />

co working spaces, event spaces, offices and variable-use spaces for creative<br />

exchange. The neighbourhood café opened in 2020 and will be a<br />

venue for the <strong>Ruhrtriennale</strong> for the first time in <strong>2022</strong>.<br />

Stühmeyerstraße 33<br />

44787 Bochum<br />

ruhr3.com/stueh33<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 302, 305, 306, 310, 316 o<strong>der</strong> U-Bahn<br />

U35 bis Haltestelle Bochum Rathaus. Fußweg<br />

ca. 8 Minuten.<br />

Tram 302, 305, 306, 310, 316 or Un<strong>der</strong>ground U35<br />

to Bochum Rathaus. Approx. 8 min. walk.<br />

Leihfahrrad / Rental bike<br />

metropolradruhr Radstation 7107 Rathaus /<br />

Willy-Brandt-Platz 2. Fußweg ca. 6 Minuten.<br />

Bike station 7107 Rathaus (town hall) /<br />

Willy-Brandt-Platz 2. Approx. 6 min. walk.<br />

PKW / By Car<br />

Tiefgarage P3 Rathaus (kostenpflichtig), Fußweg<br />

ca. 4 Minuten. Im Parkhaus stehen Ladepunkte<br />

für E-Fahrzeuge sowie Behin<strong>der</strong>tenparkplätze zur<br />

Verfügung.<br />

Car park P3 Rathaus (chargeable), approx. 4 min.<br />

walk. Charging points for e-vehicles and disabled<br />

parking spaces are available in the car park.<br />

Paid parking in front of STÜH33.<br />

Kostenpflichtige Parkplätze vor dem STÜH33.<br />

226


Landschaftspark Duisburg-Nord,<br />

Gebläsehalle und Schalthaus Ost<br />

Das Stahlwerk im Duisburger Norden wurde 1902 von August Thyssen<br />

als Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb gegründet. Bis zum Jahr 1908<br />

wurden fünf Hochöfen in Betrieb genommen. Außer dem Hüttenwerk<br />

gab es auf dem 200 Hektar großen Gelände noch eine Schachtanlage,<br />

eine Sinterei, eine Kokerei und eine Gießerei. Die Gebläsehalle ist Teil des<br />

Dampf gebläse hauses, einem Gebäudekomplex aus <strong>der</strong> Gründungsphase<br />

des Werkes. Noch heute befinden sich hier vier Elektroturbogebläse, mit<br />

denen Hoch ofenwind erzeugt wurde, <strong>der</strong> zur Erschmelzung des Roheisens<br />

notwendig war.<br />

The steelworks in the north of Duisburg was founded in 1902 by August<br />

Thyssen as a joint stock company for metallurgical operations. Five blast<br />

furnaces were put into operation by 1908. In addition to the iron and<br />

steelworks, the 200-hectare site also included a pit, a sintering plant, a<br />

coking plant and a foundry. The Gebläsehalle (blower hall) is part of the<br />

steam blower house, a building complex from the founding period of the<br />

plant. Today, four electric turbo blowers still remain, which were used to<br />

generate the blast furnace wind needed to smelt the pig iron.<br />

Landschaftspark Duisburg-Nord<br />

Emscherstraße 71<br />

47137 Duisburg-Mei<strong>der</strong>ich<br />

ruhr3.com/landschaftspark<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 903 bis Landschaftspark-Nord.<br />

Fußweg ca. 12 Minuten.<br />

Tram 903 to Landschaftspark-Nord stop.<br />

Approx. 12 min. walk.<br />

Leihfahrrad / Rental bike<br />

metropolradruhr<br />

Radstation 7417 Eingang Landschaftspark.<br />

Fußweg ca. 4 Minuten.<br />

Bike station 7417 main entrance Landschaftspark<br />

Approx. 4 min. walk.<br />

Pkw / By Car<br />

Navigation: Emscherstraße 71, 47137 Duisburg<br />

(Mei<strong>der</strong>ich)<br />

Auf dem Parkplatz stehen zwei Ladepunkte für<br />

E-Fahrzeuge zur Verfügung.<br />

There are two charging points for e-vehicles in<br />

the car park.<br />

PACT Zollverein, Essen<br />

Mit <strong>der</strong> 1907 fertiggestellten Waschkaue <strong>der</strong> größten Zeche des Ruhrgebietes<br />

wurde Schacht 1/2/8 zum Dreh- und Angelpunkt <strong>der</strong> Bergleute <strong>der</strong><br />

Zeche Zollverein. Die Kaue ist ein Umklei<strong>der</strong>aum mit Duschen, ausgelegt<br />

für 3.000 Bergleute. In <strong>der</strong> Weißkaue legten die Bergleute ihre Straßenkleidung<br />

und in <strong>der</strong> Schwarzkaue ihre Arbeitskleidung in Körben ab, die<br />

sie dann unter die Decke zogen. Im Jahr 1964 mo<strong>der</strong>nisiert, war die Kaue<br />

bis zur Einstellung <strong>der</strong> Kohleför<strong>der</strong>ung 1986 in Betrieb.<br />

Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre entdeckten Choreograph:innen <strong>der</strong> Region die<br />

Kaue als Aufführungsort für den Tanz. In den Folgejahren wurde die Verwandlung<br />

in ein Haus für den zeitgenössischen Tanz auf Zollverein vorangetrieben,<br />

die Anfang 2002 im Zusammenschluss des Choreographischen<br />

Zentrums NRW und <strong>der</strong> Tanzlandschaft Ruhr zu PACT Zollverein<br />

ihren vorläufigen Hohepunkt und Abschluss fand.<br />

Completed in 1907, the washhouse of the largest colliery in the Ruhr region<br />

made shaft 1/2/8 the linchpin of the miners at the Kokerei Zollverein<br />

(Zollverein colliery). The baths are a changing room with showers designed<br />

for 3,000 miners. The white bath is where miners put their street clothes<br />

and the black bath is where they put their work clothes in baskets, which<br />

they then pulled un<strong>der</strong> the ceiling. Mo<strong>der</strong>nised in 1964, the bath was in<br />

operation until coal mining ceased in 1986.<br />

In the early 1990s, choreographers from the region started using the pithead<br />

as a performance space for dance. In the following years, its transformation<br />

into a house for contemporary dance at Zollverein was driven<br />

forward, which reached its temporary climax and conclusion at the beginning<br />

of 2002 with the merger of the Choreographisches Zentrum NRW<br />

and the Tanzlandschaft Ruhr to form PACT Zollverein.<br />

Welterbe Zollverein, Areal B<br />

Bullmannaue 20a, 45327 Essen<br />

ruhr3.com/pact<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 107 bis Haltestelle Abzweig<br />

Katernberg. Fußweg ca. 6 Minuten<br />

RB 32/35 bis Bahnhof Essen Zollverein Nord.<br />

Fußweg ca. 7 Minuten.<br />

Tram 107 to Katernberg stop. Approx. 6 min. walk.<br />

RB 32/35 to Essen Zollverein Nord<br />

station. Approx. 7 min. walk<br />

Leihfarrad / Rental bike<br />

metropolradruhr<br />

Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />

sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />

Fußweg ca. 7 Minuten.<br />

Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />

behind the Ruhr Museum. Approx. 7 minutes’ walk.<br />

Pkw / By Car<br />

Bitte nutzen Sie den Parkplatz B, Zufahrt über die<br />

Bullmannaue. Es stehen keine Ladepunkte für<br />

E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />

Please use car park B, access via Bullmannaue.<br />

There are no charging points available for<br />

e-vehicles in the immediate vicinity.<br />

227


Salzlager und Halle 5, Welterbe<br />

Zollverein, Essen<br />

Mit einer För<strong>der</strong>leistung von mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle täglich<br />

war die Zeche Zollverein einst die leistungsfähigste Zeche <strong>der</strong> Welt. Die<br />

Zentralschachtanlage XII, von 1928–1932 nach Plänen von Fritz Schupp<br />

und Martin Kremmer gebaut, gilt als technisches und ästhetisches Meisterwerk<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Im Jahr 2001 wurde das Areal offiziell als Industriekomplex<br />

Zeche Zollverein in die Welterbeliste <strong>der</strong> UNESCO aufgenommen.<br />

Die Kokerei Zollverein entstand 1957–1961 in Anbindung an die Zeche Zollverein.<br />

Aus rund 10.000 Tonnen Kohle konnten hier täglich circa 7.500<br />

Tonnen Koks gewonnen werden. Auf diesem Areal liegt das Salzlager, in<br />

dem bis in die 1980er Jahre Dünger hergestellt wurde – gewonnen aus<br />

Ammoniak und Schwefelsäure. Die Kokerei wurde 1993 stillgelegt. Seit<br />

2001 befindet sich hier die begehbare Rauminstallation Palast <strong>der</strong> Projekte<br />

<strong>der</strong> Künstler Ilya und Emilia Kabakov.<br />

Auf Schacht XII befand sich auch die Zentralwerkstatt für alle Zollverein-<br />

Betriebe. In <strong>der</strong> Halle 5 waren die Schmiede und die Schlosserei untergebracht.<br />

Die schlichte Architektur beeindruckt durch ihre großzügigen<br />

Dimensionen und grafischen Strukturen. Nach Abschluss des Umbaus im<br />

Jahr 1992 wird die Halle heute für Ausstellungen, Konzerte und Events<br />

genutzt.<br />

With an output of more than 23,000 tonnes of raw coal per day, the Kokerei<br />

Zollverein (Zollverein colliery) was once the most efficient colliery in the<br />

world. The central shaft XII, built between 1928 and 1932 according to plans<br />

by Fritz Schupp and Martin Kremmer, is consi<strong>der</strong>ed a mo<strong>der</strong>n technical<br />

and aesthetic masterpiece. In 2001, the site was officially listed as Zollverein<br />

Coal Mine Industrial Complex on the UNESCO World Heritage List.<br />

The Kokerei Zollverein (Zollverein coking plant) was built between 1957<br />

and 1961 in connection with the Zollverein colliery. Approximately 7,500<br />

tonnes of coke could be produced here daily from around 10,000 tonnes<br />

of coal. The Salzlager (salt warehouse) where fertiliser– made from ammonia<br />

and sulphuric acid – was produced until the 1980s is located on this<br />

site. The coking plant was shut down in 1993. Since 2001, it has housed<br />

the walk-in installation Palace of Projects by the artists Ilya and Emilia<br />

Kabakov.<br />

Shaft XII was also home to the central workshop for all Zollverein operations.<br />

Halle 5 (Hall 5) housed the forge and the locksmith’s shop. The<br />

simple architecture impresses with its generous dimensions and graphic<br />

structures. After the reconstruction was completed in 1992, the hall is now<br />

used for exhibitions, concerts and events.<br />

Salzlager<br />

Welterbe Zollverein,<br />

Areal C Heinrich-Imig-Straße 11<br />

45141 Essen<br />

Halle 5<br />

Gelsenkirchener Straße 181<br />

45309 Essen<br />

ruhr3.com/zollverein<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Straßenbahn 107 bis Haltestelle Zollverein. Fußweg<br />

Salzlager ca. 15 Min. / Fußweg Halle 5 ca. 2 Min.<br />

Bus 183 bis Haltestelle Kokerei Zollverein<br />

(Salzlager) / Haltestelle Kohlenwäsche (Halle 5)<br />

Tram 107 to Zollverein stop. Approx. 15 minutes’<br />

walk. to Salzlager / 2 minutes’ walk to Halle 5.<br />

Bus 183 to Kokerei Zollverein stop. Approx.<br />

3 minutes’ walk. (Salzlager) / Kohlenwäsche stop<br />

(Halle 5)<br />

Leihfarrad / Rental bike<br />

metropolradruhr<br />

Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />

sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation<br />

7597. Fußweg ca. 10 Minuten.<br />

Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />

behind the Ruhr Museum. Approx. 10 min. walk.<br />

Pkw / By Car<br />

Salzlager<br />

Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz C<br />

Verfügung, Zufahrt über Arendahls Wiese. Ca. 5<br />

Minuten Fußweg.<br />

Free parking is available in Area C (Kokerei), car<br />

park C: approach via Arendahls Wiese. Approx.<br />

5 minutes’ walk.<br />

Halle 5<br />

Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz A1<br />

und A2 zur Verfügung, Anfahrt über Fritz-Schupp-<br />

Allee o<strong>der</strong> Bullmannaue. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />

Free parking is available in carparks A1 or A2,<br />

approach via Fritz-Schupp-Allee or Bullmannaue.<br />

Approx. 5 minutes’ walk.<br />

228


Maschinenhaus Essen<br />

Das Maschinenhaus Essen ist Teil <strong>der</strong> ehemaligen Schachtanlage Carl,<br />

die ab 1855 errichtet wurde. Erbaut wurde das Backsteingebäude im Jahr<br />

1900 als Standort für die Dampfmaschine, die den För<strong>der</strong>korb bewegte.<br />

1929 wurde die Kohleför<strong>der</strong>ung eingestellt. Bis 1970 war Schacht Carl<br />

noch für Seilfahrt, Materialför<strong>der</strong>ung und Bewetterung in Betrieb, und die<br />

oberirdischen Gebäude wie das Maschinenhaus wurden als Werkstätten<br />

genutzt. Seit 1985 wird das Maschinenhaus als Produktions- und Veranstaltungshaus<br />

von dem Kunstverein Carl Stipendium e. V. getragen.<br />

The Maschinenhaus Essen (Essen engine house) is part of the former Zeche<br />

Carl (Carl pit), which was built from 1855 onwards. The brick building<br />

was built in 1900 to house the steam engine that moved the pit cage. Coal<br />

production ceased in 1929. Until 1970, Carl shaft was still in operation for<br />

rope haulage, material handling and ventilation, and the buildings above<br />

ground, such as the engine house, were used as workshops. Since 1985,<br />

the Maschinenhaus has been used as a production and event centre by<br />

the Carl Stipendium e. V. art association.<br />

Maschinenhalle Zweckel<br />

Gladbeck<br />

Die imposante Maschinenhalle <strong>der</strong> einstigen Zeche Zweckel in Gladbeck<br />

wurde 1909 errichtet. Das Gebäude bildete die »elektrische Centrale« <strong>der</strong><br />

Zeche und beherbergte Kompressoren, Generatoren und Umformer zur<br />

Erzeugung von Druckluft und elektrischer Energie. Die Zechengebäude<br />

sowie die Schornsteine und Kühltürme sind verschwunden, lediglich die<br />

stählernen För<strong>der</strong>gerüste von 1911/1912, die über die Halle hinausragen,<br />

verweisen unmittelbar auf die Zeit des Bergbaus. 1963 wurde die Zeche<br />

Zweckel stillgelegt, die Maschinenhalle diente noch bis in die 1990er Jahre<br />

als Wasserspeicher für umliegende Zechen. Wie groß die Wertschätzung<br />

<strong>der</strong> Maschinenhalle war, lässt die repräsentative Innenausstattung<br />

noch heute erahnen. Seit 1997 ist die Maschinenhalle Zweckel einer <strong>der</strong><br />

Standorte <strong>der</strong> Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur und<br />

seit 2002 regelmäßiger Spielort <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

The imposing Maschinenhalle (machine hall) of the former Zeche Zweckel<br />

(Zweckel colliery) in Gladbeck was built in 1909. The building formed the<br />

colliery’s »electrical centre« and housed compressors, generators and<br />

converters to produce compressed air and electrical energy. The colliery<br />

buildings have disappeared, along with the chimneys and cooling towers;<br />

only the steel winding frames from 1911/1912, which protrude above the<br />

hall, serve as a direct remin<strong>der</strong> of the mining era. Zeche Zweckel was<br />

closed down in 1963, but the machine hall continued to serve as a water<br />

reservoir for surrounding collieries until the 1990s. The high esteem in<br />

which the machine hall was held can still be seen today in the impressive<br />

interior design. Since 1997, the Maschinenhalle Zweckel has been one<br />

of the sites of the Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur<br />

(Foundation for the Preservation of Industrial Monuments and Historical<br />

Culture) and has been a regular venue of the <strong>Ruhrtriennale</strong> since 2002.<br />

Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />

45326 Essen<br />

ruhr3.com/maschinenhaus<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

U17 o<strong>der</strong> U11 bis Haltestelle Altenessen Mitte,<br />

Ausgang in Richtung Zeche Carl, Beschil<strong>der</strong>ung<br />

Zeche Carl folgen. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />

U17 or U11 to Altenessen Mitte stop, exit in the<br />

direction of Zeche Carl, follow signs to Zeche Carl.<br />

Approx. 5 min. walk.<br />

Leihfarrad / Rental bike<br />

metropolradruhr<br />

Radstation 7554 Altenessen Mitte Fußweg ca.<br />

5 Minuten.<br />

Bike station 7597 Altenenssen Mitte<br />

Approx. 5 min. walk.<br />

PKW / By car<br />

Navigation: Wilhelm-Nieswandt-Allee 100,<br />

45326 Essen.<br />

Der Besucherparkplatz befindet sich direkt am<br />

Eingang zum Gelände. Es stehen keine Ladepunkte<br />

für E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />

The car park is located directly at the entrance<br />

to the grounds. There are no charging points<br />

available for e-vehicles in the immediate vicinity.<br />

Frentroper Straße 74<br />

45966 Gladbeck<br />

www.ruhr3.com/zweckel<br />

Nahverkehr / Public Transport<br />

Bus 188 von Gladbeck West Bf bis<br />

Maschinenhalle Zweckel<br />

Bus 188 from Gladbeck West Bf to<br />

Maschinenhalle Zweckel<br />

Shuttle Service<br />

Ein kostenloser Shuttle-Service verkehrt von Essen<br />

Hbf und Gladbeck West Bf zur Maschinenhalle<br />

Zweckel in Gladbeck und zurück. Weitere<br />

Informationen und Buchungsmöglichkeiten finden<br />

Sie online unter www.ruhr3.com/shuttle<br />

A free shuttle service runs from Essen Hbf and<br />

Gladbeck West Bf to Maschinenhalle Zweckel<br />

in Gladbeck and back. Further information and<br />

booking options can be found online at<br />

www.ruhr3.com/shuttle<br />

Pkw / By Car<br />

Navigation: Frentroper Straße 74,<br />

45966 Gladbeck.<br />

Es stehen keine Ladepunkte für E-Fahrzeuge<br />

in direkter Nähe zur Verfügung.<br />

There are no charging points available for<br />

e-vehicle in the immediate vicinity.<br />

229


TICKETS<br />

Online<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

Beim Online-Ticketkauf können Sie zwischen zwei Versandoptionen<br />

wählen.<br />

print@home: Drucken Sie Ihre Tickets bequem zu Hause<br />

aus. Die Buchung ist bis drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn<br />

möglich.<br />

Tickets per Post: Erhalten Sie Tickets per Post an Ihre<br />

Wunschadresse. Eine Buchung ist bis vier Tage vor Veranstaltung<br />

möglich, für den Versand wird eine Gebühr von<br />

4,50 € pro Sendung erhoben. Online steht Ihnen die Zahlung<br />

per PayPal, Kreditkarte o<strong>der</strong> Lastschrift zur Verfügung.<br />

Telefonisch<br />

Lassen Sie sich durch die Mitarbeiter:innen <strong>der</strong> Telefonhotline<br />

beraten o<strong>der</strong> buchen Sie hier Ihre Tickets. Der Versand<br />

kostet 4,50 € pro Sendung, die Zahlung erfolgt per<br />

Lastschrift o<strong>der</strong> Kreditkarte.<br />

+49 (0)221 280-210<br />

Mo–Fr 8–20 Uhr / Sa 9–18 Uhr / So 10–16 Uhr<br />

Allgemeine Vorverkaufsstellen<br />

An über 2.500 Vorverkaufsstellen erhalten Sie deutschlandweit<br />

Tickets für die Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Bitte erkundigen Sie sich online über die Erreichbarkeit<br />

und die Öffnungszeiten Ihrer Vorverkaufsstelle:<br />

www.eventim.de<br />

Abendkasse<br />

Die Abendkassen an den Spielorten öffnen jeweils eine<br />

Stunde vor Vorstellungsbeginn. Unsere Tickethotline informiert<br />

Sie unter +49 (0)221 280-210 gerne vorab über<br />

verfügbare Karten. An den Abendkassen können Sie bar<br />

o<strong>der</strong> per EC-Karte zahlen.<br />

KombiTicket<br />

Die Eintrittskarten zur <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> gelten am Tag <strong>der</strong><br />

Veranstaltung im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />

(VRR) in allen Bussen und Nahverkehrszügen (2. Klasse) für<br />

Hin- und Rückfahrt zum bzw. vom Veranstaltungsort. Die<br />

Tickets gelten am Besuchstag bis 3.00 des Folgetages. Die<br />

Tickets sind nicht übertragbar.<br />

Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />

Die Allgemeinen Geschäftsbedinungen <strong>der</strong> Kultur Ruhr<br />

können Sie unter folgendem Link finden ruhr3.com/agb<br />

Online<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

You can choose between two delivery options when purchasing<br />

tickets online.<br />

print@home: Print your tickets in the comfort of your own<br />

home. Booking is possible up to three hours before the<br />

start of the event.<br />

Tickets by post: Receive tickets by post to your preferred<br />

address. Bookings can be made up to four days before the<br />

event. A fee of €4.50 per item will be charged for postage.<br />

You can pay online by PayPal, credit card or direct debit.<br />

By phone<br />

Let the staff on the telephone hotline advise you or book<br />

your tickets here. Shipping costs € 4.50 per shipment, payment<br />

is done by direct debit or credit card.<br />

+49 (0)221 280-210<br />

Mon–Fri 8am–8pm / Sat 9am–6pm / Sun 10am–4pm<br />

General advance booking offices<br />

Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events are available at over 2,500<br />

advance booking offices throughout Germany. Please<br />

enquire online about the availability and opening hours of<br />

your advance booking office: www.eventim.de<br />

Box office<br />

The box offices at the performance venues open one hour<br />

before the performance begins. Our ticket hotline will be<br />

happy to inform you in advance about available tickets on<br />

+49 (0)221 280-210. You can pay cash or by EC card at<br />

the box office.<br />

KombiTicket<br />

Tickets for the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> are valid on the day<br />

of the event in the entire Rhine-Ruhr transport network<br />

(VRR) on all buses and local trains (2nd class) for the outward<br />

and return journey to and from the venue. The tickets<br />

are valid on the day of the visit until 3am the following<br />

day. The tickets are not transferable.<br />

General Terms and Conditions<br />

The General Terms and Conditions of Kultur Ruhr GmbH<br />

can be found at www.ruhr3.com/agb<br />

230


Ermäßigungen<br />

50% Rabatt<br />

auf Karten im Vorverkauf erhalten Schüler:innen, Auszubildende,<br />

Studierende sowie Bundesfreiwilligendienstleistende<br />

und Erwerbslose. Bitte halten Sie Ihre Berechtigung<br />

am Einlass bereit.<br />

Last-Minute-Ticket<br />

Ab 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn können Ermäßigungsberechtigte<br />

nach Verfügbarkeit Last-Minute-Tickets<br />

für 10 € an <strong>der</strong> Abendkasse erwerben. Ausgenommen ist<br />

die Veranstaltung The Third Room X Respublika.<br />

Professional Tickets<br />

Professionals erhalten 50% Ermäßigung auf Tickets.<br />

Akkreditierung unter www.ruhr3.com/professionals<br />

RuhrKultur.Card<br />

Inhaber:innen <strong>der</strong> RuhrKultur.Card erhalten bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ein Veranstaltungsticket nach Wahl zum halben<br />

Preis. Diese Regelung gilt nicht für Premierenveranstaltungen.<br />

Einlösbar über die Tickethotline, an den Vorverkaufsstellen<br />

und an <strong>der</strong> Abendkasse.<br />

Informationen und Buchung <strong>der</strong> RuhrKultur.Card unter<br />

www.ruhrkulturcard.de.<br />

Familienticket<br />

Familien, bestehend aus mindestens einem Kind in Ausbildung<br />

und einer erwachsenen Person, mit insgesamt<br />

bis zu fünf Mitglie<strong>der</strong>n, erhalten bei den Produktionen<br />

promise me und Hillbrowfication vergünstigten Eintritt.<br />

Schulklassen<br />

Nach Verfügbarkeit können Tickets für Schulklassen<br />

und -kurse bis nach den Sommerferien (spätestens<br />

14 Tage vor <strong>der</strong> Vorstellung) reserviert werden. Klassen<br />

und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets für<br />

5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei pro<br />

Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen. Ein Besuch <strong>der</strong><br />

Performance Follow me kostet 3,50 € pro Person für<br />

Schüler:innen und begleitende Lehrkräfte.<br />

Bei direkter Buchung ohne vorherige Reservierung müssen<br />

Karten für Schulgruppen mindestens sieben Werktage<br />

vor <strong>der</strong> Veranstaltung gebucht werden.<br />

Schulen reservieren und bestellen Tickets bitte unter<br />

jungetriennale@ruhrtriennale.de o<strong>der</strong> +49 (0)234 97483375<br />

Discounts<br />

50% discount<br />

on advance tickets are available to schoolchildren, trainees,<br />

students, volunteers and the unemployed. Please have your<br />

authorisation ready at the entrance.<br />

Last-Minute-Ticket<br />

Starting 30 minutes before the performance, concession<br />

hol<strong>der</strong>s can purchase last-minute tickets for €10 at the<br />

box office, subject to availability. The Third Room X Respublika<br />

event is excluded.<br />

Professional tickets<br />

Professionals also receive a 50% discount on tickets.<br />

Accreditation at www.ruhr3.com/professionals<br />

RuhrKultur.Card<br />

RuhrKultur.Card hol<strong>der</strong>s receive an event ticket of their<br />

choice at half price at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. This rule does<br />

not apply to premiere events. Redeemable via the ticket<br />

hotline, at advance booking offices and at the box office.<br />

Information and booking of the RuhrKultur.Card at<br />

www.ruhrkulturcard.de.<br />

Family ticket<br />

Families consisting of at least one child in education<br />

and one adult, with up to five family members in total,<br />

receive a discount for the productions promise me and<br />

Hillbrowfication.<br />

School classes<br />

Subject to availability, Tickets for school classes and<br />

courses can be reserved until after the summer holidays<br />

(14 days before the performance at the latest). Classes<br />

and school courses of 10 or more receive tickets for €<br />

5 per pupil and per accompinying person (max. two per<br />

class/course) for all events. A ticket for the performance<br />

Follow me costs €3.50 per pupil and accompinying<br />

teachers.<br />

When booking the tickets without a previous reservation<br />

tickets for school classes and courses need to be booked<br />

seven business days prior to the performance. Reservation<br />

and booking at jungetriennale@ruhrtriennale.de or<br />

+49 (0)234 97483375<br />

231


IHR BESUCH<br />

Corona Information<br />

Aufgrund <strong>der</strong> aktuellen Situation kann es noch zu COVID-<br />

19-bedingten Maßnahmen und Programmän<strong>der</strong>ungen kommen.<br />

Die Gesundheit des Publikums, <strong>der</strong> Künstler:innen<br />

und aller Mitwirkenden steht dabei immer an erster Stelle.<br />

Auch für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> wurde ein umfangreiches<br />

Hygiene- und Infektionsschutzkonzept erarbeitet.<br />

Bitte informieren Sie sich vor dem Veranstaltungsbesuch<br />

auf unserer Website über die aktuell geltenden Bestimmungen.<br />

Sie haben darüber hinaus Fragen? Dann senden<br />

Sie eine E-Mail an service@ruhrtriennale.de o<strong>der</strong> informieren<br />

Sie sich unter ruhr3.com/faq.<br />

Audioeinführungen<br />

Auch in diesem Jahr werden Einführungen zu vielen Produktionen<br />

vorab als Audioeinführungen bereitgestellt. Über den<br />

gesamten Festivalzeitraum liefert das künstlerische Team<br />

des Festivals spannende Hintergrundinformationen, spricht<br />

mit Künstler:innen und Beteiligten und gewährt Einblicke in<br />

berauschende Musikstücke. Alle Audioeinführungen unter<br />

ruhr3.com/audio<br />

Rollstuhlplätze<br />

In fast allen Veranstaltungen stehen Rollstuhlplätze zur<br />

Verfügung. Die Eintrittskarte für eine Begleitperson ist frei.<br />

Buchung und weitere Informationen über die Tickethotline<br />

+49 (0) 221 280-210.<br />

Nacheinlass<br />

Bitte beachten Sie: je nach Produktion ist ein Einlass nach<br />

Vorstellungsbeginn nicht immer möglich.<br />

Übernachtung<br />

Besucher:innen, die für ihren Aufenthalt während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

ein Hotel buchen möchten, empfehlen wir eine<br />

Nacht in einem <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-Partnerhotels zu exklusiven<br />

Konditionen. Alle Partnerhotels und Informationen zu<br />

den Konditionen und zur Buchung unter ruhr3.com/reisen<br />

Metropole Ruhr<br />

Kostenfreies Informationsmaterial rund um die Metropole<br />

Ruhr, weitere Hotelangebote und Unterkünfte erhalten Sie<br />

auch bei unserer Partnerin, <strong>der</strong> Ruhr Tourismus GmbH unter<br />

ruhr-tourismus.de. Infohotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0,20<br />

€ pro Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunkpreise<br />

max. 0,60 € pro Anruf<br />

Corona Information<br />

Due to the current situation, COVID-19-related measures<br />

and programme changes may still occur. The health of the<br />

audience, the artists and all participants is always the top<br />

priority. A comprehensive hygiene and infection prevention<br />

concept has also been drawn up for the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

<strong>2022</strong>. Please familiarise yourself about the current regulations<br />

on our website before attending the event. Do you<br />

have any further questions? If so, please send an e-mail to<br />

service@ruhrtriennale.de or visit ruhr3.com/corona for the<br />

latest information.<br />

Audio introductions<br />

Once again this year, audio introductions to many productions<br />

will be made available in advance. Throughout the<br />

festival, the artistic team of the festival will provide exciting<br />

background information, talk to artists and participants and<br />

offer insights into exhilarating pieces of music.<br />

All audio introductions are available at<br />

ruhr3.com/audio<br />

Wheelchair spaces<br />

Wheelchair spaces are available at almost all events. The<br />

ticket for an accompanying person is free.<br />

Booking and further information via the ticket hotline<br />

+49 (0) 221 280-210.<br />

Late admission<br />

Please note: depending on the production, admission after<br />

the start of the performance may not always be possible.<br />

Accommodation<br />

Visitors who would like to book a hotel for their stay during<br />

the <strong>Ruhrtriennale</strong> are recommended to spend the night in<br />

one of the <strong>Ruhrtriennale</strong> partner hotels at special rates. All<br />

partner hotels and information on rates and booking are<br />

available at ruhr3.com/reisen<br />

Metropole Ruhr<br />

Free information material about the Metropole Ruhr, further<br />

hotel offers and accommodation is also available from<br />

our partner, Ruhr Tourismus GmbH at ruhr-tourismus.de.<br />

Information hotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0.20 € per call<br />

from the German fixed network; mobile phone prices max.<br />

€ 0.60 per call<br />

232


FREUNDESKREIS & CLUB.RUHR<br />

Der Freundeskreis ist näher dran!<br />

Der <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis versteht sich als Gemeinschaft<br />

von Kunstbegeisterten, die sich aktiv in das<br />

Festival einbringen und die Kulturlandschaft <strong>der</strong> Region<br />

gemeinsam erleben möchten. Als För<strong>der</strong>verein engagiert<br />

sich <strong>der</strong> Freundeskreis für die <strong>Ruhrtriennale</strong> und ihre<br />

Künstler:innen und för<strong>der</strong>t die Realisierung von ausgewählten<br />

Festivalproduktionen. Durch Ticketpatenschaften<br />

setzt sich <strong>der</strong> Verein dafür ein, einem vielfältigen<br />

Publikum den Zugang zum Festival zu ermöglichen. Ein<br />

weiteres zentrales Anliegen ist die Vermittlung des Festivalprogramms<br />

an junge Menschen und Studierende.<br />

The Freundeskreis is up close and personal!<br />

The <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis is a community of art enthusiasts<br />

who want to be actively involved in the festival<br />

and would like to experience the cultural landscape of the<br />

region together. As a support association, the Freundeskreis<br />

is committed to the <strong>Ruhrtriennale</strong> and its artists and<br />

promotes the realisation of selected festival productions.<br />

The association is committed to providing access to the<br />

festival for a diverse audience through ticket sponsorships.<br />

Communicating the festival programme to young people<br />

and students is another core objective of the association.<br />

Club.Ruhr<br />

Kunstbegeisterte Menschen bis 35 Jahre können sich für<br />

eine Mitgliedschaft im jungen Freundeskreis entscheiden:<br />

Der Club.Ruhr erlebt nicht nur die <strong>Ruhrtriennale</strong> jedes<br />

Jahr gemeinsam, son<strong>der</strong>n trifft sich auch außerhalb des<br />

Festivals, um gemeinsam die Kulturinstitutionen <strong>der</strong> Region<br />

zu erkunden.<br />

Möchten Sie Mitglied werden o<strong>der</strong> mehr erfahren? Weitere<br />

Informationen und das Antragsformular finden Sie unter:<br />

freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />

Art enthusiasts up to 35 years of age can choose to become<br />

members of the young Freundeskreis: The Club.Ruhr<br />

does more than just experience the <strong>Ruhrtriennale</strong> together<br />

every year, it also meets outside the festival to explore<br />

the region’s cultural institutions together.<br />

Ihre Vorteile<br />

Exklusives Vorkaufsrecht<br />

Kaufen Sie Ihre Tickets für die <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits eine<br />

Woche vor dem offiziellen Vorverkaufsstart.<br />

Persönliche Vorstellung des Festivalprogramms<br />

Bei <strong>der</strong> jährlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlung erhalten Sie<br />

schon vor allen an<strong>der</strong>en Einblicke in das Programm <strong>der</strong><br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> und haben die Gelegenheit, die Intendanz<br />

und das künstlerische Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> persönlich<br />

zu treffen.<br />

Einladung zum Prolog<br />

Für den Freundeskreis startet das Festival bereits früher:<br />

Beim Prolog erhalten Sie vor <strong>der</strong> Eröffnung einen beson<strong>der</strong>en<br />

Blick hinter die Kulissen des Festivals.<br />

Generalprobenbesuche<br />

Besuchen Sie gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n des Freundeskreises<br />

öffentliche Generalproben <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />

Mitglie<strong>der</strong>brief<br />

Mit dem Newsletter erhalten Sie alle Informationen rund<br />

um die <strong>Ruhrtriennale</strong> als Erste.<br />

Wir sagen Danke!<br />

Wir bedanken uns bei allen Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />

und insbeson<strong>der</strong>e bei den För<strong>der</strong>:innen des Jahres <strong>2022</strong>,<br />

Ingeborg El Dib, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula<br />

Müller, N. N. und Andrea Steinle für ihr Engagement!<br />

Freundeskreismitglie<strong>der</strong>n stehen verschiedene För<strong>der</strong>modelle<br />

zur Auswahl:<br />

Club.Ruhr: bis 35 Jahre, ab 20 € / Jahr<br />

Freund:in, Einzelperson: ab 95 € / Jahr<br />

Freund:in, Paare: ab 140 € / Jahr<br />

För<strong>der</strong>:in: ab 1.000 € / Jahr<br />

Partner:in: ab 5.000 € / Jahr<br />

Would you like to become a member or find out more?<br />

You can find more information and the application form at:<br />

freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />

233


TEAM<br />

Intendanz und Geschäftsführung /<br />

Artistic Direction and General Management<br />

Barbara Frey<br />

Geschäftsführerin / General Management<br />

Dr. Vera Battis-Reese<br />

Assistent <strong>der</strong> Intendantin /<br />

Assistant to the Artistic Director<br />

Maximilian Brands<br />

Mitarbeiterin <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />

und Sponsoring / Assistant to the<br />

managing director and sponsoring<br />

Regina Weidmann<br />

Justiziariat / Legal Adviser’s Department<br />

Valentina Lori, Melina Schimmöller,<br />

Annika Trockel<br />

Controlling<br />

Birgit Schuurman<br />

Künstlerisches Betriebsbüro / Produktionsbüro /<br />

Artistic Management / Production Office<br />

Lisa Katharina Holzberg, Christiane Biallas,<br />

Katharina Flick, Stephanie Morawietz,<br />

Denise Oppenberg, Katharina Rückl, Karina Wozniak<br />

Künstlerische Beratung Sounddesign: Thomas Wegner<br />

Künstlerische Programmgestaltung /<br />

Artistic Curation<br />

Barbara Eckle, Judith Gerstenberg, Sara Abbasi,<br />

Nina Bade, Aljoscha Begrich, Johanna Danhauser (Gast),<br />

Mats Staub (Scouting), Andri Hardmeier (Autor/Lektor)<br />

Junge Triennale<br />

Anne Britting, Timo Kemp, Alicia Ulfik (FSJ Kultur)<br />

Konzept Internationaler Festivalcampus /<br />

Concept International Festival Campus<br />

Philipp Schulte, Carla Gesthuisen<br />

Presse / Press<br />

Angela Vucko, Stefanie Matjeka, Julia Nückel<br />

Grafikdesign / Graphic Design<br />

Dominik Blase, Sophie Schäfer<br />

Ticketing<br />

Ulrike Graf, Barbara Frie<strong>der</strong>ichsen-Mehta, Anja Nole<br />

Technik und Ausstattung / Technical Department<br />

Max Schubert, Mirko Bartoš, Marie Gäthke,<br />

Georg Kolacki, Tanja Martin, Lina Nole,<br />

Veronika Obermeier, Anne Prietzsch, Julia Reimann,<br />

Ioannis Siaminos, Saskia Tappe, Erik Trupin,<br />

Holger Vollmert, Anke Wolter<br />

Kostüm und Maske / Costumes and Make-up<br />

Anna Dressendörfer, Christina Hillinger, Pia Norberg<br />

Verwaltung / Administration Department<br />

Vanessa Sán Roman Domínguez, Tanja Alstede,<br />

Joanne Budzier, Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger,<br />

Nick Hosberg, Dominika Hourtz, Rebecca Heinzelmann,<br />

Stefanie Kusenberg, Franz-Josef Lortz,<br />

Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel,<br />

Max Schomann, Julia Schmidt, Roland Sieberg,<br />

Michael Turrek<br />

Veranstaltungsorganisation / Event Organisation<br />

Claudia Klein, Eileen Berger, Sven Mesterjahn<br />

Chorwerk Ruhr<br />

Jürgen Wagner, Martina Ossoble, Marcus Fuchs<br />

Urbane Künste Ruhr<br />

Künstlerische Leitung: Britta Peters; Projektleitung:<br />

Daniel Klemm; Technische Leitung: Stefan Göbel;<br />

Kuratorische Assistenz: Alisha Raissa Danscher;<br />

Leitungsassistenz: Tanja Borchert; Projektmanagement:<br />

Anna Dobrucki (in Elternzeit), Roy Huschenbeth,<br />

Larissa Koch; Kunstvermittlung: İpek Gençtürk,<br />

Jose phine Hofmann, Kim Lempelius; Marketing:<br />

Leonie Böhmer; Presse: Ana Djokic, Laura Konert<br />

Auszubildende / Trainees<br />

Abdulrahman Alajati, Katharina Härtling<br />

Marketing und Vertrieb / Marketing and Sales<br />

Franca Lohmann, Daniel Eißing, Fabio Gorchs,<br />

Moritz Kappen<br />

234


DANK<br />

Unser beson<strong>der</strong>er Dank gilt den För<strong>der</strong>nden, Sponsor:innen<br />

und Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Ohne sie könnten wir<br />

so ein ambitioniertes Programm nicht realisieren. Mit ihrer<br />

Unterstützung ermöglichen sie uns die Freiheit, Ideen zu<br />

verwirklichen und Ort für außergewöhnliche künstlerische<br />

Produktionen und Erfahrungen zu sein.<br />

Our special thanks goes to the supporters, sponsors and<br />

partners of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. Without them, we could<br />

not realise such an ambitious programme. With their<br />

support, they give us the freedom to realise ideas and<br />

provide a place for extraordinary artistic productions and<br />

experiences.<br />

GESELLSCHAFTER UND ÖFFENTLICHE FÖRDERER / ASSOCIATES AND PUBLIC SECTOR SUPPORTERS<br />

GEFÖRDERT DURCH DIE /<br />

FUNDED BY THE GERMAN FEDERAL<br />

CULTURAL FOUNDATION<br />

GEFÖRDERT VON / FUNDED BY THE<br />

FEDERAL GOVERNMENT COMMISSIONER<br />

FOR CULTURE AND THE MEDIA<br />

PROJEKTFÖRDERUNG / PROJECT SUPPORTERS<br />

RUHRTRIENNALE<br />

FREUNDESKREIS<br />

MEDIENPARTNERSCHAFTEN / MEDIA PARTNERS<br />

KOOPERATIONSPARTNER:INNEN / CO-OPERATION PARTNERS<br />

Bochum Marketing / Buchhandlung Proust / kritik-gestalten / Kultur.Pott Ruhr / Publicity Werbung GmbH /<br />

RuhrBühnen / Ruhr Tourismus GmbH / Stiftung Zollverein / Ströer Media GmbH<br />

235


NOW!<br />

DAS FESTIVAL<br />

FÜR NEUE MUSIK<br />

27.10.-6.11.<strong>2022</strong><br />

Horizonte<br />

NOW FESTIVAL<br />

BURKINA ELECTRIC – ENSEMBLE MUSIKFABRIK – JAGYEONG RYU<br />

FRED FRITH – FOLKWANG UNIVERSITÄT DER KÜNSTE – RYOKO AOKI<br />

WDR SINFONIEORCHESTER – VARIJASHREE VENUGOPAL – KYAI<br />

FATAHILLAH ENSEMBLE – ALEXEJ GERASSIMEZ – CLAUDE VIVIER<br />

BOCHUMER SYMPHONIKER – JOONGBAE JEE – TAN DUN – DUISBURGER<br />

PHILHARMONIKER – IWAN GUNAWAN – UNSUK CHIN – PETER RUNDEL<br />

RICCARDO NOVA – ENSEMBLE BRUCH – LUKAS LIGETI – BRIAN<br />

FERNEYHOUGH – ARDITTI QUARTET – NORIKO BABA – YOUNGHI<br />

PAGH-PAAN – GÜNTER STEINKE – MARTIN VON DER HEYDT<br />

PHILIPPE MANOURY – XU ZHIBIN – BENJAMIN LEUSCHNER<br />

ENSEMBLE S201 – HANNA EIMERMACHER – FELIZ ANNE MACAHIS<br />

PIERLUIGI BILLONE – DIETER MACK – JONATHAN STOCKHAMMER<br />

TOSHIO HOSOKAWA – MALIKA KISHINO – ENSEMBLE FONS<br />

ACHIM BORNHÖFT – MARC BARDEN – SEBASTIAN R. A. WENDT<br />

EMILIO POMÀRICO – ISANG YUN – GEORG FRIEDRICH HAAS U. A.<br />

Die Philharmonie Essen richtet NOW! gemeinsam mit <strong>der</strong> Folkwang Universität <strong>der</strong> Künste,<br />

<strong>der</strong> Stiftung Zollverein und dem Landesmusikrat NRW aus.<br />

Das Festival NOW! wird ermöglicht durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung<br />

und die Kunststiftung NRW.<br />

Das komplette Festivalprogramm mit allen Konzerten unter<br />

www.philharmonie-essen.de | Tickets 02 01 81 22-200


# MusikfestBerlin<br />

27.8. –<br />

19.9.<br />

<strong>2022</strong><br />

Concertgebouworkest<br />

Amsterdam<br />

Klaus Mäkelä<br />

Orchestre Révolutionnaire<br />

et Romantique /<br />

Monteverdi Choir<br />

John Eliot Gardiner<br />

The Philadelphia Orchestra<br />

Yannick Nézet-Séguin<br />

London Symphony<br />

Orchestra<br />

Sir Simon Rattle<br />

The Cleveland Orchestra<br />

Franz Welser-Möst<br />

In Zusammenarbeit mit<br />

und viele weitere Gastorchester,<br />

Ensembles und Solist*innen<br />

MFB22_Anz_<strong>Ruhrtriennale</strong>__200x150mm__psoUncoatedV3__RZ.indd 1 16.05.<strong>2022</strong> 17:39:42<br />

Bereits im 20. Jahr begleiten wir die<br />

<strong>Ruhrtriennale</strong> an fast allen Spielstätten<br />

mit unseren Bücher- und CD-Tischen.<br />

Wir freuen uns auf Barbara Frey,<br />

ihr Team und das Programm.<br />

proust . Wörter. Töne<br />

Am Handelshof 1 / 45127 Essen<br />

Tel. 0201 / 839 68 40<br />

www.buchhandlung-proust.de<br />

Mo. – Fr. 10.00 – 18.00, Sa. 10.00 – 16.00


Save the Date!<br />

30.09. &<br />

01.10.<strong>2022</strong><br />

www.pact-zollverein.de<br />

20 Jahre PACT<br />

Jubiläumsfest<br />

Part 2<br />

Wir sind 20! <strong>2022</strong> feiern wir zusammen die Begegnung und<br />

die Kraft <strong>der</strong> Kunst – mit einem vielfältigen Programm<br />

und zahlreichen Überraschungen. Wir freuen uns auf Euch!<br />

xx, PACT<br />

PACT ZOLLVEREIN<br />

Choreographisches Zentrum<br />

NRW Betriebs-GmbH<br />

Bullmannaue 20 a<br />

45327 Essen<br />

Öffentliche För<strong>der</strong>er


Das Feuilleton<br />

im Radio.<br />

Deutschlandfunk Kultur berichtet<br />

von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> Rang 1<br />

Das Theatermagazin<br />

Samstag, 14.05 Uhr<br />

Kompressor<br />

Das Popkulturmagazin<br />

Montag – Freitag, 14.05 Uhr<br />

bundesweit und werbefrei<br />

UKW, DAB+, Online und<br />

in <strong>der</strong> Dlf Audiothek App<br />

deutschlandfunkkultur.de<br />

Fazit<br />

Kultur vom Tage<br />

Montag – Sonntag, 23.05 Uhr<br />

14 TAGE GRATIS:<br />

Jetzt lesen: waz.de/testen<br />

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+ WAZ PLUS<br />

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6 Uhr in Ihrem Briefkasten<br />

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Sonntag bereits vor 20 Uhr<br />

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Reportagen auf WAZ.de<br />

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PINA BAUSCH


eiheit<br />

beginnt im Kopf.<br />

Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.<br />

Sie steht für die Vielfalt <strong>der</strong> Perspektiven. Für die Kraft<br />

<strong>der</strong> Fakten. Mit Tiefe und Intelligenz, mit sach lichem Blick<br />

und besonnenem Stil analysiert die Frankfurter Allgemeine<br />

das Geschehen und ordnet es ein. Demokratie beruht<br />

auf Freiheit. – Freiheit beginnt im Kopf.<br />

Freiheit hat viele Seiten –<br />

Mehr erfahren auf freiheitimkopf.de


VON HERZEN UND VON HIER.


IMPRESSUM<br />

Herausgeberin<br />

Kultur Ruhr GmbH<br />

Gerard-Mortier-Platz 1<br />

44793 Bochum<br />

Geschäftsführung<br />

Barbara Frey, Dr. Vera Battis-Reese<br />

Kontakt<br />

Tel.: +49 (0)234 97483-300<br />

info@ruhrtriennale.de<br />

www.ruhrtriennale.de<br />

Redaktion<br />

Dramaturgie, Junge Triennale,<br />

Künstlerisches Betriebsbüro,<br />

Marketing und Pressestelle<br />

Bildserie<br />

Mischa Leinkauf / VG Bild-Kunst<br />

Übersetzungen<br />

David Tushingham, Bochert Translations,<br />

Tess Lewis, PANTHEA – Oliver Chrzanowski,<br />

Rose-Anne Clermont, Cornelia Enger,<br />

Jen Theodor, Golbarg Zolfaghari<br />

Art Direction und Grafik Design<br />

María José Aquilanti &<br />

Ann Christin Sievers<br />

Satz<br />

María José Aquilanti, Dominik Blase,<br />

Sophie Schäfer, Ann Christin Sievers<br />

Druck und Herstellung<br />

Kunst- und Werbedruck GmbH & Co. KG,<br />

Bad Oeynhausen<br />

Redaktionsschluss<br />

19. Mai <strong>2022</strong><br />

Än<strong>der</strong>ungen vor be halten.<br />

Das Gespräch Promise me (S.192) mit<br />

den Choreograf:innen Joke Laureyns<br />

und Kwint Manshoven entnahmen wir<br />

ihrem Programmflyer.<br />

Wir haben uns bemüht, alle Urheberrechte<br />

zu ermitteln. Sollten darüber hinaus<br />

Ansprüche bestehen, bitten wir, uns diese<br />

mitzuteilen.<br />

Korrektorat<br />

Supertext<br />

Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–2023 ist Partnerin des Aktionsnetzwerkes Nachhaltigkeit in Kultur und Medien.<br />

Die Programmübersicht wurde klimaneutral gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.<br />

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