Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022
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Liebes Publikum!<br />
Die wenigsten Menschen, die von außerhalb des Ruhrgebiets kommen,<br />
würden dieses als »schön« bezeichnen. Schön seien die Schwäbische Alb,<br />
das Allgäu und die Lüneburger Heide. Einig scheint man sich aber über<br />
den Umstand, dass die Menschen im Ruhrgebiet generell freundlicher und<br />
offener seien als an<strong>der</strong>swo in Deutschland; das habe womöglich – wie auch<br />
viele sagen, die selbst aus dem Ruhrgebiet stammen – mit <strong>der</strong> »Kumpelmentalität«<br />
zu tun, die noch auf die Montanindustrie zurückgehe. Im Übrigen<br />
fielen an <strong>der</strong> Ruhr aber doch die ausgedehnten grünen Flächen auf, <strong>der</strong> weite<br />
Himmel und die Auen entlang <strong>der</strong> Flüsse … Also doch Schönheit? Wo säße<br />
denn eigentlich die Instanz, die das Monopol über den Begriff des Schönen –<br />
und damit vielleicht gar über das Wahre und Gute hätte?<br />
Kaum jemandem ist es möglich, über eine Region zu urteilen, ohne Legenden<br />
und Klischees über sie ins Blickfeld zu rücken, und wir kennen die Tücken,<br />
die damit verbunden sind. Wir wissen, dass sich unsere Perspektive erheblich<br />
verengen kann, wenn wir alles, was wir über eine Gegend zu wissen glauben,<br />
fraglos als Ausgangspunkt unseres Sehens nehmen. Wie also wecken<br />
wir die Sehnsucht, die Zuschreibungen abzustreifen, diese Gegend an<strong>der</strong>s zu<br />
sehen, neu und gewissermaßen voraussetzungslos?<br />
Die Künste mögen dem Wandel <strong>der</strong> Zeit genauso unterworfen sein wie<br />
alle an<strong>der</strong>en Disziplinen. Sie können sich irren, sie können fadenscheinig<br />
werden, sie müssen sich mühsam mit ständig wechselnden Bedingungen und<br />
Beurteilungen anfreunden.<br />
Eines allerdings müssen sie immer tun, wenn sie ihre Kraft entfalten wollen:<br />
Sie müssen eine Behauptung aufstellen.<br />
Böhmen liegt am Meer betitelte Ingeborg Bachmann eines ihrer bedeutendsten<br />
Gedichte. Sie übernahm die geografisch falsche Behauptung von<br />
Shakespeares Wintermärchen, um poetisch die Möglichkeiten zu erkunden,<br />
wie eine Gesellschaft <strong>der</strong> Gegensätze zusammenrücken kann, wie sich unterschiedliche<br />
Formen <strong>der</strong> Künste annähern können und eine Perspektive auf<br />
2
einen an<strong>der</strong>en Zustand <strong>der</strong> Welt möglich wird. Das hat nichts zu tun mit utopischer<br />
Idylle, vielmehr liegt <strong>der</strong> Verschiebung Böhmens auf <strong>der</strong> Landkarte<br />
eine schmerzliche Erfahrung zugrunde. Alle, die nach Böhmen kommen<br />
sollten, müssen wissen:<br />
»… Und irrt euch hun<strong>der</strong>tmal,<br />
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,<br />
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.<br />
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags<br />
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt …«<br />
Der Gedanke, dass wir in den Künsten an einem Ort zusammenkommen<br />
können, den wir gemeinsam erfinden, ist herausfor<strong>der</strong>nd und tröstlich.<br />
Aber er hat nichts mit simpler Idealisierung zu tun. Er for<strong>der</strong>t von uns, miteinan<strong>der</strong><br />
eine Behauptung aufzustellen, den Blickwinkel zu verän<strong>der</strong>n, unsere<br />
Voreingenommenheit abzulegen. Ganz gegen unsere Gewohnheiten und<br />
unsere eingeübte Sicht.<br />
Das Ruhrgebiet, in dem vor 20 Jahren die <strong>Ruhrtriennale</strong> gegründet wurde,<br />
weiß um die Notwendigkeit <strong>der</strong> sich ständig verän<strong>der</strong>nden Perspektiven.<br />
Deshalb ist es so inspirierend. Und so unvergleichlich.<br />
Das Ruhrgebiet liegt am Meer!<br />
Wir freuen uns sehr auf Sie!<br />
Ihre Barbara Frey<br />
und das <strong>Ruhrtriennale</strong>-Team<br />
3
Dear Audience,<br />
Very few people from outside the Ruhr area would describe it as »beautiful«.<br />
They might say that the Schwäbische Alb, the Allgäu and the Lüneburger Heide<br />
are beautiful. Yet there seems to be some agreement that people in the Ruhr<br />
region are generally friendlier and more open than elsewhere in Germany;<br />
this may have something to do with – as many people who come from the Ruhr<br />
region themselves say – the »miner mentality«, which goes back to the coal and<br />
steel industry. In other respects, however, the extensive green areas, the broad<br />
sky and the meadows along the rivers are striking in the Ruhr region ... So, is it<br />
beautiful after all? Where would the authority actually be that had the monopoly<br />
on the concept of beauty – and, with that, perhaps even on the truth and good?<br />
Hardly anyone is able to judge a region without bringing legends and clichés to<br />
the fore, and we know the pitfalls of doing so. We know that our perspective<br />
can narrow consi<strong>der</strong>ably if we unquestioningly take everything we believe to<br />
know about a region as the starting point of our vision. So how do we awaken<br />
the longing to strip away the attributions, to see this region differently, anew<br />
and, as it were, without presuppositions?<br />
The arts may be as subject to the changing times as any other discipline. They<br />
may err, they may become threadbare, they must laboriously make friends<br />
with constantly changing conditions and judgements.<br />
One thing, however, they must always do, if they are to develop their power:<br />
They must make a claim.<br />
Bohemia lies by the sea is the title of one of Ingeborg Bachmann’s most<br />
important poems. She took the geographically incorrect assertion from<br />
Shakespeare’s The Winter’s Tale to explore poetically the possibilities of how<br />
a society of opposites can come together, how different forms of the arts can<br />
converge, and how a perspective on a different state of the world becomes<br />
possible. This has nothing to do with a utopian idyll; rather, the shift of<br />
Bohemia on the map is based on a painful experience. All who are to come to<br />
Bohemia must know:<br />
4
»... And err a hundred times,<br />
as I was mistaken and never passed tests,<br />
but I have passed them, one after another.<br />
How Bohemia passed them and one fine day<br />
was pardoned to the sea and now lies by the water ...«<br />
The idea that we can come together in the arts in a place we invent together<br />
is challenging and comforting.<br />
But it has nothing to do with simple idealisation. It requires us to make an assertion<br />
with one another, to change our perspective, to set aside our biases.<br />
Completely against our habits and our practiced view.<br />
The Ruhr region, where the <strong>Ruhrtriennale</strong> was founded 20 years ago, knows<br />
about the necessity of constantly changing perspectives. That is why it is so<br />
inspiring. And so incomparable.<br />
The Ruhr region lies by the sea!<br />
We look forward to welcoming you.<br />
Sincerely yours,<br />
Barbara Frey and the <strong>Ruhrtriennale</strong> team<br />
5
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Musiktheater<br />
14 ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />
Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi /<br />
Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien /<br />
Chorwerk Ruhr<br />
48 HAUS<br />
Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />
Schauspiel<br />
30 DAS WEITE LAND<br />
Arthur Schnitzler / Barbara Frey / Martin Zehetgruber<br />
62 RESPUBLIKA<br />
Łukasz Twarkowski / Bogumil Misala / Joanna Bednarczyk /<br />
Fabien Lédé<br />
68 UNA IMAGEN INTERIOR — EIN BILD AUS DEM INNEREN<br />
El Conde de Torrefiel<br />
150 In den Abgrund<br />
Rezeption Neuer Musik ohne Vorwissen<br />
Von Barbara Balba Weber<br />
207 Mein Traumhaus hat keine Wände …<br />
aber eine Heizung<br />
Sarah Nemtsov, Heinrich Horwitz,<br />
Henriette Gunkel und Johanna Danhauser<br />
im Gespräch<br />
155 Ich schau dich nur an<br />
Barbara Frey im Gespräch mit <strong>der</strong><br />
Künstlerin Katharina Fritsch<br />
170 RES<br />
Von Joanna Bednarczyk<br />
181 Ein Bild mit 1000 Wörtern<br />
Von Aljoscha Begrich<br />
Tanz<br />
18 A PLOT / A SCANDAL<br />
Ligia Lewis<br />
28 ENCANTADO<br />
Lia Rodrigues / Companhia de Danças<br />
184 Szenen für den »Ort des Sehens«<br />
und Komplotte für einen Skandal<br />
Ein Gespräch von Sarah Lewis-Cappellari<br />
mit ihrer Schwester Ligia Lewis<br />
38 HILLBROWFICATION<br />
Constanza Macras / DorkyPark<br />
Für alle ab 12 Jahren<br />
52 I AM 60<br />
Wen Hui<br />
60 PROMISE ME<br />
kabinet k & hetpaleis<br />
Für 3.– 6. Klasse und Erwachsene<br />
64 TO COME (EXTENDED)<br />
Mette Ingvartsen<br />
72 THE THIRD ROOM X RESPUBLIKA<br />
176 Die Zukunft im Rücken<br />
Tamara Saphir im Gespräch mit<br />
Nompilo Hadebe, Tshepang Lembelo,<br />
Jackson Magotlane, Tisetso Maselo<br />
und Pearl Sigwagwa<br />
188 Wohin das Leben führt, da ist unser Tanz<br />
Von Cao Kefei<br />
192 PROMISE ME<br />
Ein Gespräch mit den Choreograf:innen<br />
Joke Laureyns und Kwint Manshoven<br />
196 Freude als Form des Wi<strong>der</strong>stands<br />
Mats Staub im Gespräch mit <strong>der</strong><br />
Choreografin Mette Ingvartsen
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Konzert<br />
12 MYSTERIENSONATEN<br />
Heinrich Ignaz Franz Biber /<br />
Julia Galić / Christine Busch / Yves Ytier<br />
211 Der Klang des Unfassbaren<br />
Physik und Metaphysik im<br />
Musikprogramm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />
Von Barbara Eckle<br />
66 VERGESSENE OPFER<br />
Galina Ustwolskaja / Franz Liszt / Olivier Messiaen / Luigi Nono /<br />
Duisburger Philharmoniker / Elena Schwarz<br />
40 SCHWERKRAFT UND GNADE<br />
Lili Boulanger / Francis Poulenc / Igor Strawinsky /<br />
Chorwerk Ruhr / Bochumer Symphoniker / Florian Helgath<br />
22 ORGANICUM<br />
Iannis Xenakis / Lucia Dlugoszewski / Sarah Nemtsov /<br />
Márton Illés / Michael Pelzel /<br />
Klangforum Wien / Patrick Hahn<br />
56 CLOCK DIES<br />
George Lewis / Sarah Hennies /<br />
Musikfabrik Köln / Brad Lubman<br />
54 COFFIN BUBBLES<br />
Chaya Czernowin / Raphaël Cendo / Pierluigi Billone /<br />
Yaron Deutsch / Ensemble Linea / Yalda Zamani<br />
70 HARAWI<br />
Olivier Messiaen / Rachael Wilson / Virginie Déjos<br />
46 YUEN SHAN<br />
Michael Ranta / Schlagquartett Köln<br />
26 MASCHINENHAUSMUSIK<br />
black midi / Ava Mendoza / Charlotte Hug / Broken Spirit xx /<br />
Mouse on Mars<br />
73 FAREWELL<br />
Thomas Hojsa
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Performance / Installation<br />
16 INTIME REVOLUTION<br />
Anna Papst & Mats Staub<br />
200 Gespräche mit Pionier:innen<br />
Von Anna Papst<br />
20 THE HUDDLE<br />
Katja Aufleger<br />
221 The Huddle von Katja Aufleger<br />
Von Nora Sdun<br />
36 EUPHORIA<br />
Julian Rosefeldt<br />
24 4. HALBZEIT<br />
Wermke / Leinkauf<br />
164 Educate Capitalism!<br />
Judith Gerstenberg im Gespräch mit<br />
Julian Rosefeldt<br />
42 COCK COCK… WHO’S THERE?<br />
Samira Elagoz<br />
44 SEEK BROMANCE<br />
Samira Elagoz<br />
50 FOLLOW ME<br />
Be Flat<br />
Für 1.– 5. Klasse und Familien<br />
203 »Ist es nicht ein bisschen abgefuckt,<br />
jetzt ein Mann werden zu wollen?« –<br />
»Ist es nicht revolutionär?«<br />
Sara Abbasi im Gespräch mit<br />
Samira Elagoz<br />
34 APARICIÓN (ERSCHEINUNG)<br />
Regina José Galindo<br />
Junge Triennale<br />
74 JUNGE TRIENNALE / SCHULEN<br />
75 TEENS IN THE HOUSE II — EINE JUNGE RESIDENZ<br />
Jugendliche ab 16 Jahren<br />
Dialog / Literatur<br />
32 DIE NATUR DES MENSCHEN — LITERATUR UND DIALOG<br />
Lukas Bärfuss / Valentin Butt / Ulrike Draesner / Daniel Freitag /<br />
Sandra Hüller / Alexan<strong>der</strong> Klose / Malakoff Kowalski / Sarah<br />
Sandeh / Roland Satterwhite / Klaus Staeck / Angela Winkler<br />
160 Die Natur des Menschen?<br />
Von Lukas Bärfuss<br />
58 WOLFGANG HILBIG —<br />
MONOLOG AUS EINIGEN TAGEN MEINES LEBENS<br />
Corinna Harfouch / Felix Kroll / Catherine Stoyan<br />
78 FESTIVALCAMPUS / KULTURKONFERENZ<br />
76 PAPPELWALDKANTINE / FESTIVALBIBLIOTHEK
PROGRAMM<br />
MAGAZIN<br />
Wege<br />
82 ALTES ZU NEUEM LEBEN ERWECKEN<br />
Stefan Schnei<strong>der</strong><br />
82 EL EXTRANJERO — DER FREMDE<br />
Lisandro Rodríguez<br />
83 UNEARTH<br />
Azadeh Ganjeh<br />
83 LOS VIENTOS — DIE WINDE<br />
Lagartijas tiradas al sol<br />
84 ACHTMAL BLINZELN<br />
Anna Kpok<br />
84 NATURBÜRO 1—7<br />
loekenfranke<br />
85 ZWISCHENTAGE<br />
RUHRORTER<br />
85 INSIDE OUT<br />
tehran re:public<br />
217 Begegnungskanten II<br />
Von Aljoscha Begrich<br />
BILDSTRECKE<br />
87 BILDSTRECKE<br />
Mischa Leinkauf<br />
Mit Blackouts von Lütfiye Güzel<br />
SERVICE<br />
226 Spielstätten<br />
230 Tickets<br />
232 Ihr Besuch<br />
233 Freundeskreis & Club.Ruhr<br />
234 Team<br />
235 Dank<br />
244 Impressum
Maschinenhalle Zweckel<br />
Shuttlebus verfügbar<br />
Bottrop<br />
Gebläsehalle<br />
Schalthaus Ost<br />
Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Oberhausen<br />
Duisburg<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Mülheim<br />
SPIELSTÄTTEN<br />
Gebläsehalle/Schalthaus Ost<br />
Landschaftspark<br />
DuisburgNord<br />
Emscherstraße 71<br />
47137 Duisburg<br />
Maschinenhalle Zweckel<br />
Frentroper Straße 74<br />
45966 Gladbeck<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />
45326 Essen<br />
Salzlager<br />
UNESCOWelterbe Zollverein<br />
Areal C<br />
Arendahls Wiese /<br />
Ecke Fritz-Schupp-Allee<br />
45141 Essen<br />
Kettwig<br />
Mehr Informationen zu Spielorten, Anfahrt<br />
und Parkmöglichkeiten: Siehe ab Seite 226<br />
10
Bespielte Wege<br />
Gladbeck<br />
Fahrrad<br />
Straßenbahn<br />
Zug<br />
Zu Fuß<br />
Herne<br />
Gelsenkirchen<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Turbinenhalle<br />
Salzlager Halle 5<br />
PACT Zollverein<br />
Pappelwaldkantine<br />
Festivalbibliothek<br />
STÜH33<br />
UNESCO-Welterbe<br />
Zollverein<br />
Bochum<br />
Hauptbahnhof<br />
Bochum Innenstadt<br />
Bochum<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
Essen<br />
PACT Zollverein<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein<br />
Areal B<br />
Bullmannaue 20a<br />
45327 Essen<br />
Halle 5<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein<br />
Areal A<br />
Gelsenkirchener Str. 181<br />
45309 Essen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum / Turbinenhalle /<br />
Pappelwaldkantine/<br />
Festivalbibliothek<br />
An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />
44793 Bochum<br />
STÜH33<br />
Stühmeyerstraße 33<br />
44787 Bochum<br />
11
MYSTERIENSONATEN<br />
HEINRICH IGNAZ<br />
FRANZ BIBER<br />
Konzert<br />
HEINRICH IGNAZ FRANZ BIBER<br />
Mysteriensonaten für Violine und Basso continuo (um 1674)<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
Violine Julia Galić<br />
Orgel, Cembalo Jens Wollenschläger<br />
Theorbe Thorsten Bleich<br />
Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Violine Yves Ytier<br />
Cembalo Marta Dotkus<br />
Violoncello, Viola da Gamba Salome Ryser<br />
Theorbe Liza Solovey<br />
Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />
Pumpenhalle Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Violine Christine Busch<br />
Orgel, Cembalo Peter Kranefoed<br />
Gambe, Violoncello Thomas Dombrowski<br />
Do. 11. Aug. <strong>2022</strong>, 19 Uhr<br />
PACT Zollverein Essen<br />
Festivalauftakt<br />
12
In <strong>der</strong> christlichen Glaubenspraxis bietet das Rezitieren des Rosenkranzes ein rituelles<br />
Gefäß für die Meditation. Ein Moment <strong>der</strong> Konzentration und <strong>der</strong> Versenkung steht am<br />
Eingang zu einem vielfältigen Festivalprogramm. Beispiellos in ihrem Formenreichtum<br />
und ihrer Virtuosität durchlaufen Heinrich Ignaz Franz Bibers Mysteriensonaten für Violine<br />
und Generalbass (auch bekannt als Rosenkranzsonaten) die drei Stadien <strong>der</strong> Jesus-<br />
Geschichte: den »freudenreichen«, den »schmerzensreichen« und den »glorreichen«<br />
Rosenkranz. Dafür nimmt Bibers Erzählung die Perspektive <strong>der</strong> Gottesmutter Maria ein.<br />
Wortlos, nie belehrend o<strong>der</strong> katechisierend, for<strong>der</strong>t seine Komposition die vollständige<br />
Hingabe <strong>der</strong> Interpret:innen. Stück für Stück wird die Violine weiter verstimmt – eine faszinierende,<br />
seinerzeit unverstandene Beson<strong>der</strong>heit. Diese Skordaturen (Verstimmungen)<br />
bringen das Instrument in wi<strong>der</strong>sprüchliche Spannungsverhältnisse, provozieren klangliche<br />
Reibungen.<br />
An den Spielorten in Bochum, Essen und Duisburg wird zeitgleich eine jeweils von den<br />
Solist:innen individuell zusammengestellte Auswahl von Sonaten aus allen drei Teilen –<br />
dem freudenreichen, dem schmerzensreichen und dem glorreichen Rosenkranz – sowie<br />
die abschließende Passacaglia zu hören sein. Sie verbinden die drei Städte des Ruhrgebiets<br />
zu einem großen, dezentralen Resonanzraum.<br />
In the practice of Christian beliefs, reciting the rosary provides a ritual vessel for meditation.<br />
A moment of concentration and contemplation features at the beginning of the<br />
festival programme. Unparalleled in their richness of form and virtuosity, Heinrich Ignaz<br />
Franz Biber’s Mysteriensonaten (Mystery Sonatas), written for violin and continuo, embrace<br />
the three stages of the story of Jesus: the »joyful« the »sorrowful« and the »glorious«<br />
Rosary. Biber’s narrative is from the perspective of Mary, the Mother of God. Wordlessly,<br />
never moralising or catechising, his composition demands absolute dedication<br />
from its performers. The violin is progressively detuned – a fascinating feature that was<br />
not un<strong>der</strong>stood in its time. These scordaturas force the instrument into contradictory<br />
tensions and provoke expressive sonic frictions.<br />
A selection of sonatas from all three parts of the Rosary, chosen individually by the soloists,<br />
as well as the concluding Passacaglia, will be played at the three venues simultaneously,<br />
thus linking Duisburg, Bochum and Essen in one big, decentralised resonant space.<br />
An drei Orten zur gleichen Zeit:<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum ;<br />
Pumpenhalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord ;<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Tickets: 17 €,<br />
erm. ab 8,50 €<br />
Do 11. August ___________________ 19.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 60min<br />
www.ruhr3.com/mysterien<br />
13
ICH GEH UNTER<br />
LAUTER SCHATTEN<br />
GÉRARD GRISEY<br />
CLAUDE VIVIER<br />
IANNIS XENAKIS<br />
GIACINTO SCELSI<br />
ELISABETH STÖPPLER<br />
PETER RUNDEL<br />
KLANGFORUM WIEN<br />
CHORWERK RUHR<br />
Musiktheater / Kreation<br />
Blick in den Abgrund<br />
→ Magazin, Seite 150<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
14
Was bestimmt das Leben mehr als <strong>der</strong> Gedanke an dessen Endlichkeit? Der kleine<br />
Schritt über die Schwelle am Ende – in Wahrheit eine Ewigkeit. In seinem letzten Werk<br />
Quatre chants pour franchir le seuil – Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten schickt<br />
<strong>der</strong> Komponist Gérard Grisey zuerst den Engel über die ominöse Schwelle, dann die<br />
Zivilisation, die Stimme und schließlich die Menschheit. Und jedes Mal erscheint die<br />
Membran zwischen Leben und Tod durchlässiger.<br />
Claude Vivier blickt in seiner letzten Komposition Glaubst du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong><br />
Seele seinem Lebensende ganz direkt ins Angesicht. Er skizziert es exakt so, wie es sich<br />
wenig später ereignete – als wäre <strong>der</strong> Tod bereits ins Leben eingezogen. Bleibt also auch<br />
das Leben im Tod präsent?<br />
Vier Frauen folgen in <strong>der</strong> Musiktheaterkreation Ich geh unter lauter Schatten den Pfaden<br />
des Übergangs, stoßen Türen zu verwandten Geistes- und Klangwelten von Giacinto<br />
Scelsi und Iannis Xenakis auf und lassen durch ihre transzendenten Übungen eine<br />
Ahnung metaphysischen Daseins im irdischen Leben aufscheinen.<br />
Griseys Musique liminale (Schwellenmusik) ist dabei selbst eine Art Transzendenzprodukt.<br />
Er übertritt die Grenze des Tons und macht aus dessen feinen Mikrotönen sein<br />
ganzes Vokabular. Scelsi hatte diese Reise ins ungreifbare Innere des Tons in meditativen<br />
Séancen begonnen und damit ein Terrain erschlossen, das sowohl für Grisey als<br />
auch für Xenakis wegbereitend war. In ihren Händen wird starre, begrenzende Materie<br />
weich und lebendig. Begriffe wie innen und außen o<strong>der</strong> diesseits und jenseits werden<br />
hinfällig. Spätestens Griseys Wiegenlied am Ende räumt ein, dass die drastische Kluft<br />
zwischen Leben und Tod vielleicht nur eine menschgemachte Angstchimäre ist, hinter<br />
die zu blicken wir verlernt – o<strong>der</strong> nie gelernt haben.<br />
What shapes life more than the idea that it is finite? In reality, that small step over the<br />
threshold at its end is an eternity. In his final work, Quatre chants pour franchir le seuil<br />
(Four Songs to Cross the Threshold), Gérard Grisey sends the angel across this ominous<br />
threshold first, then civilisation, then the voice and, finally, the human race. And each<br />
time, the magical membrane seems more porous.<br />
In his final composition, Glaubst du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele (Do You Believe in<br />
the Immortality of the Soul), Claude Vivier looks the end of his life directly in the eye. And<br />
sketches it precisely as it would later turn out – as if death had moved into his life long<br />
ago. Does life also remain present in death?<br />
In the music theatre creation Ich geh unter lauter Schatten (I walk among many shadows),<br />
four women follow these rites of passage, pushing open doors to related worlds<br />
of sound and ideas by Giacinto Scelsi and Iannis Xenakis – and through their transcendental<br />
exercises they allow some sense of metaphysical existence to become apparent<br />
in earthly life.<br />
Grisey’s musique liminale (liminal music) is itself a product of transcendence: he enters<br />
the limits of the note and creates an entire vocabulary out of these fine microtones.<br />
Scelsi had begun this journey into the impalpable interior of the note in meditative<br />
séances and opened up a territory that paved the way for both Grisey and Xenakis. In<br />
their hands, stiff, limiting material becomes soft and lively. Concepts such as interior and<br />
exterior, or life and after-life, become redundant. In Grisey’s closing lullaby, at the latest<br />
there is an acknowledgement that the drastic gulf between life and death is perhaps only<br />
a chimera generated by human fears: one that we have lost the ability to see through – or<br />
that we never learned in the first place.<br />
Musikalische Leitung<br />
Peter Rundel<br />
Regie<br />
Elisabeth Stöppler<br />
Bühnenbild<br />
Hermann Feuchter<br />
Kostüme<br />
Susanne Maier-Staufen<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Licht Design<br />
Ulrich Schnei<strong>der</strong><br />
Dramaturgie<br />
Barbara Eckle<br />
Musikalische Studienleitung<br />
Arnaud Arbet<br />
Kyoko Nojima<br />
Einstudierung Chor<br />
Béni Csillag<br />
Regieassistenz<br />
Stefanie Hiltl<br />
Bühnenbildassistenz<br />
Antonia Kamp<br />
Kostümassistenz<br />
Sonja Schön<br />
Inspizienz<br />
Jens Fischer<br />
Stimme 1<br />
Sophia Burgos<br />
Stimme 2<br />
Kerstin Avemo<br />
Stimme 3<br />
Kristina Stanek<br />
Stimme 4<br />
Caroline Melzer<br />
Sprecher<br />
Eric Houzelot<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Klangforum Wien<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Do 11. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Fr 12. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Sa 13. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Mo 15. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Do 18. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
So 21. August ___________________ 21.00 Uhr<br />
Tickets: 82 / 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />
ermäßigt ab 11 €<br />
In französischer und deutscher<br />
Sprache mit deutschen und<br />
englischen Übertiteln<br />
Dauer: ca. 1h 40min<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Aufführungsrechte Musik:<br />
G. Ricordi & Co. Bühnen- und<br />
Musikverlag GmbH<br />
Éditions Salabert, Paris<br />
Boosey & Hawkes · Bote & Bock<br />
GmbH<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Kulturstiftung<br />
des Bundes. Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />
Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />
für Kultur und Medien.<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Alfried<br />
Krupp von Bohlen und<br />
Halbach-Stiftung.<br />
www.ruhr3.com/grisey<br />
15
INTIME<br />
REVOLUTION<br />
ANNA PAPST<br />
& MATS STAUB<br />
Eine Audio-Vinothek<br />
Gespräche mit Pionier:innen<br />
→ Magazin, Seite 200<br />
16
Sex ist zwar medial omnipräsent, aber ehrliche Gespräche darüber, wie wir begehren<br />
und was wir beim Sex emotional erleben, kommen selten vor. Fast allen fehlt das Vokabular,<br />
um zu beschreiben, was in ihnen vorgeht, wenn sie Sex haben. Die Gesprächskünstler:innen<br />
Anna Papst und Mats Staub haben sich auf die Suche nach Menschen<br />
gemacht, die es dennoch versuchen. Sie alle mussten o<strong>der</strong> wollten im Laufe ihres Lebens<br />
Sexualität neu und bewusst lernen. Ihre berührenden und tiefgründigen Geschichten<br />
werden sprachlich verdichtet und neu eingesprochen präsentiert.<br />
In <strong>der</strong> Weinbar im STÜH33 erwartet das Publikum ein kollektives und gleichzeitig intimes<br />
Hörerlebnis. Den Besucher:innen werden Getränke und Kopfhörer serviert. Jede:r kann<br />
sich aus einer Vielzahl von Stimmen und Erzählungen nach eigenem Geschmack ein<br />
auditives 4-Gänge-Menü zusammenstellen: Lieber <strong>der</strong> Rentnerin zuhören, die während<br />
25 Ehejahren keinen Spaß an Sex hatte und jetzt ›anständig ausschweifend‹ lebt? O<strong>der</strong><br />
dem schwulen jungen Mann, <strong>der</strong> nach acht Jahren Abstinenz die körperliche Liebe neu<br />
entdeckt?<br />
Anna Papst und Mats Staub arbeiten beide interviewbasiert und genreübergreifend<br />
zwischen Theater, Ausstellung und Literatur. Intime Revolution ist ihr erstes kollektives<br />
Langzeitprojekt – die Geschichtensammlung wird nach <strong>der</strong> Uraufführung bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
über zahlreiche Stationen weiterwachsen.<br />
Idee, Konzept, Leitung<br />
Mats Staub, Anna Papst<br />
Szenografie<br />
Luana Paladino<br />
Dramaturgie<br />
Nina Bade<br />
Tontechnik, Sound<br />
Philip Bartels<br />
While sex might be omni-present in the media, honest conversations about the nature<br />
of our desire and our emotional experiences during sex are rare. Almost everyone lacks a<br />
vocabulary to describe what they feel when they are having sex. However, conversation<br />
artists Anna Papst and Mats Staub have gone in search of people who are trying to do<br />
this. During the course of their lives, all of them had to or wanted to re-learn how to have<br />
sex. Their touching and profound stories are presented in an edited and re-voiced form.<br />
A collective and yet intimate listening experience awaits the public in the wine bar<br />
at Stüh33. Visitors are served drinks and headphones. Everyone can choose from a<br />
variety of voices and stories and put together their own 4-course listening menu: would<br />
you rather listen to the female pensioner who never enjoyed sex in twenty-five years of<br />
marriage and now leads a »decently dissolute« life? Or the young gay man who discovers<br />
physical love again after eight years of abstinence?<br />
Anna Papst and Mats Staub both create interview-based work that lies in between<br />
theatre, exhibitions and literature. Intime Revolution (»intimate revolution«) is their first<br />
long-term project together – after the world premiere at the <strong>Ruhrtriennale</strong>, their collection<br />
of stories will continue to grow as it is presented at numerous other venues.<br />
STÜH33, Bochum<br />
Uraufführung<br />
Fr 12. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />
Sa 13. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />
Do 18. Aug._________________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 19. Aug._________________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 20. Aug.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />
Do 08. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 09. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 10. Sep.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />
Do 15. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 16. Sep._________________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 17. Sep.______ 17.00 + 20.00 Uhr<br />
Tickets: 12 €, ermäßigt 6 €<br />
In deutscher und englischer<br />
Sprache<br />
Dauer: ca. 1h 40min<br />
Eine Produktion von<br />
zwischen_produktionen.<br />
Koproduziert mit <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />
Zürcher Theaterspektakel,<br />
Kaserne Basel, Künstlerhaus<br />
Mousonturm.<br />
www.ruhr3.com/staub<br />
17
A PLOT /<br />
A SCANDAL<br />
LIGIA<br />
LEWIS<br />
Tanz<br />
Szenen für den »Ort des Sehens« und Komplotte für einen Skandal<br />
→ Magazin, Seite 184<br />
18
Das englische Wort »plot« bezeichnet nicht nur die Handlung einer Geschichte, son<strong>der</strong>n<br />
je nach Kontext auch ein Stück Land. Zugleich steckt in diesem Begriff etwas Illegales,<br />
etwas die bestehende Ordnung Gefährdendes, was Ligia Lewis hinführt zur Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Skandal als kulturelle Erscheinungsform. Skandale sind immer auch<br />
Störungsakte, die den Raum für Fantasie und Vergnügen öffnen können. Die Choreografin<br />
und Tänzerin Ligia Lewis fragt in ihrer jüngsten Arbeit, zu wessen Gunsten und auf wessen<br />
Kosten diese Art von Vergnügen stattfindet und wo die Verbindungslinien zwischen<br />
Skandal und Plot historisch verlaufen. Dabei interessiert sich die Künstlerin genauso für<br />
John Locke wie für José Aponte o<strong>der</strong> Maria Olofa (Wolofa) im Sklav:innenaufstand von<br />
Santo Domingo von 1521, von dem noch immer Ruinen zeugen. In <strong>der</strong> Nähe dieser Ruinen<br />
lebte Ligia Lewis’ ihre Großmutter. Eine Schwarze Frau und Wi<strong>der</strong>standskämpferin, die<br />
eigenes Land besaß und als Heilerin noch heute großen Respekt genießt. Sie praktizierte<br />
dominikanischen Voodoo, was damals verboten war und zumindest aus <strong>der</strong> Perspektive<br />
<strong>der</strong> weißen Regierung und Plantagenbesitzer skandalös. Auf den Spuren ihrer eigenen<br />
Geschichte versucht Ligia Lewis aus den Fragmenten oraler familiärer Überlieferung, aus<br />
den erzählten Geschichten über ihre Großmutter, die sie nie kennenlernte, ein imaginäres<br />
Archiv zu rekonstruieren. Indem sie historische, anekdotische, politische, persönliche<br />
und mythische Narrative ineinan<strong>der</strong> verwebt, sucht sie eine Poetik <strong>der</strong> Verweigerung im<br />
Grenzbereich des Darstellbaren zu entwickeln. Ein Tanz zwischen Affekt und Darstellung,<br />
zwischen Sehen und Gesehenwerden.<br />
A plot exposed, a foul deed enacted invite scandal. In the spirit of revolution or romantic<br />
musings, scandals provoke an imagining of the impossible. Utopian or mundane, how<br />
might scandal reveal what lies unwittingly close to our fantasies? And how does it expose<br />
where society places its limits? If life is a scandal waiting to be plotted, how do we position<br />
ourselves within its matrix? Immoral and lacking propriety, scandals are incidents<br />
where fantasy and pleasure take center stage. Guided by the questions for whom this<br />
pleasure is and at what expense, Lewis’s new plot explores the stage where scandals<br />
abound. Weaving together historical, anecdotal, political and mythical narratives, Lewis<br />
constructs the poetics of refusal at the edges of representation. A dance between affect<br />
and embodiment, seeing and being seen, A Plot/A Scandal is a scene in the making,<br />
where the excitement for that which does not fit might find its place.<br />
Konzept, Choreografie,<br />
Künstlerische Leitung<br />
Ligia Lewis<br />
Choreografische Assistenz<br />
Corey Scott-Gilbert<br />
Justin Kennedy<br />
Recherche, Dramaturgie<br />
Sarah Lewis-Cappellari<br />
Outside Eye, Assistenz<br />
Da Ria Geske<br />
Recherche<br />
Michael Tsouloukidse<br />
Licht Design, Technische Leitung<br />
Joseph Wegmann<br />
Musik Komposition<br />
George Lewis Jr AKA Twin<br />
Shadow, Wynne Bennett<br />
Sound Design<br />
George Lewis Jr AKA Twin<br />
Shadow, Wynne Bennett<br />
Soundtechniker<br />
Manuel Pessoa de Lima<br />
Bühnenbild<br />
Ligia Lewis<br />
Kostüme<br />
SADAK<br />
Bühnentechnik<br />
Şenol Şentürk<br />
Produktion, Administration<br />
Sina Kießling<br />
Produktion, Distribution<br />
Nicole Schuchardt<br />
Produktionsassistenz<br />
Julia Leonhardt<br />
Mit<br />
Ligia Lewis<br />
Corey Scott-Gilbert<br />
Justin Kennedy<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Pre-Premiere<br />
Fr 12. August __________________20.00 Uhr<br />
Sa 13. August __________________20.00 Uhr<br />
So 14. August ___________________18.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
In englischer Sprache mit<br />
deutschen Übertiteln<br />
Eine Produktion von Ligia Lewis.<br />
Koproduziert mit HAU Hebbel am<br />
Ufer, <strong>Ruhrtriennale</strong>, Arsenic –<br />
Centre d’art scénique contemporain,<br />
Tanzquartier Wien,<br />
Kunstencentrum Vooruit,<br />
Kaserne Basel, The Museum of<br />
Contemporary, Los Angeles<br />
Mit Unterstützung (Residenz)<br />
von Callie’s, O Espaço do Tempo<br />
Unterstützt durch das<br />
NATIONALE PERFORMANCE<br />
NETZ Koproduktionsför<strong>der</strong>ung<br />
Tanz, geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />
Beauftragten <strong>der</strong> Bundesregierung<br />
für Kultur und Medien.<br />
Geför<strong>der</strong>t durch Berliner<br />
Senatsverwaltung für Kultur<br />
und Europa.<br />
www.ruhr3.com/scandal<br />
19
THE<br />
HUDDLE<br />
KATJA<br />
AUFLEGER<br />
Installation<br />
The Huddle von Katja Aufleger<br />
→ Magazin, Seite 221<br />
20
Urbane Künste Ruhr beteiligt sich an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> mit <strong>der</strong> skulpturalen Installation<br />
THE HUDDLE von <strong>der</strong> Künstlerin Katja Aufleger, konzipiert für den öffentlichen Raum.<br />
In THE HUDDLE lässt Katja Aufleger mehrere bewegliche Baumaschinen – funktionsentfremdet<br />
und neu definiert – in einen ungewöhnlichen Dialog treten. Im Sport verweist<br />
<strong>der</strong> titelgebende »Huddle« auf ein Zusammenkommen <strong>der</strong> Mannschaft, um eine<br />
Strategie für den nächsten Spielzug zu besprechen. Ähnlich wie in ihrer Installation<br />
Applause, 2021, die einen Bagger kraftvoll in die Hände klatschen ließ, entwickelt die in<br />
Berlin lebende Künstlerin für die Maschinen eine eigene Klangsprache, auch ihre Gesten<br />
und Bewegungen folgen einer inneren Logik. Der vertraute Anblick von Baugeräten im<br />
öffentlichen Raum erscheint verfremdet und weckt neue Assoziationen. Steht diese<br />
archaisch wirkende Gesellschaft vielleicht in einer direkten Verwandtschaftslinie zu<br />
mo<strong>der</strong>nsten Robotern? Wollen sie uns etwas sagen o<strong>der</strong> geht es gar nicht mehr um die<br />
Interaktion mit uns Menschen? Katja Aufleger ist in den letzten Jahren durch eindrucksvolle,<br />
spannungsgeladene Bil<strong>der</strong> und Skulpturen bekannt geworden, die vielfältige Interpretationen<br />
zulassen, ohne ins Beliebige abzurutschen. Wie sie diesen Balanceakt<br />
meistert und ob wir als Besucher:innen das Zusammenspiel beobachten o<strong>der</strong> auslösen,<br />
ist in Bochum zu erfahren.<br />
Künstlerin<br />
Katja Aufleger<br />
Technische Umsetzung mit<br />
Benjamin Maus (allesblinkt)<br />
BlackSchwarz<br />
Atlas von <strong>der</strong> Wehl GmbH<br />
Kuration<br />
Britta Peters<br />
Projektmanagement<br />
Larissa Koch<br />
Technische Leitung<br />
Stefan Göbel<br />
As a contribution of Urbane Künste Ruhr to the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>, the sculptural installation<br />
THE HUDDLE, by the artist Katja Aufleger, is conceived for public space.<br />
In THE HUDDLE, Katja Aufleger makes several pieces of construction machines – stripped<br />
of their functions and redefined – enter into an unconventional dialogue. In sport, the<br />
word »huddle«, that gives the piece its title, refers to a gathering of the team in or<strong>der</strong> to<br />
discuss strategy for its next move. In similar fashion to her 2021 installation Applause,<br />
where an excavator clapped its hands powerfully, the Berlin-based artist develops a<br />
language of her own for machines whose gestures and movements also follow their<br />
own internal logic. The familiar sight of construction machines in public spaces is made<br />
stranger and gives rise to new associations: is this archaic-seeming group perhaps directly<br />
related to the most mo<strong>der</strong>n robots? Are they trying to tell us something – or are<br />
they no longer concerned about interacting with us humans? Katja Aufleger has become<br />
well-known in recent years for her powerful pictures and sculptures loaded with tension,<br />
which permit many different interpretations without slipping towards banality. How she<br />
masters this balancing act and whether we, as spectators, observe the interplay or trigger<br />
it, can be found out in Bochum.<br />
Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
Eröffnung mit<br />
Publikumsgespräch<br />
Sa 13. August ___________________15.00 Uhr<br />
Projektlaufzeit<br />
11. August – 18. September<br />
Eine Produktion von<br />
Urbane Künste Ruhr für<br />
die <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Ohne Sprache<br />
Beson<strong>der</strong>er Dank an<br />
Reinhard von <strong>der</strong> Wehl und<br />
Eike Wollenweber<br />
Performancezeiten<br />
Mo–Fr 12–20 Uhr<br />
Sa–So 12–22 Uhr<br />
www.ruhr3.com/huddle<br />
21
ORGANICUM<br />
KLANGFORUM WIEN<br />
PATRICK HAHN<br />
Konzert<br />
IANNIS XENAKIS<br />
Thalleïn (1984)<br />
LUCIA DLUGOSZEWSKI<br />
Fire Fragile Flight (1973)<br />
SARAH NEMTSOV<br />
MOOS (2019/20)<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
MÁRTON ILLÉS<br />
Forajzok (2021)<br />
MICHAEL PELZEL<br />
Urgewalt Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation (<strong>2022</strong>)<br />
Uraufführung<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
Klangforum Wien<br />
Musikalische Leitung<br />
Patrick Hahn<br />
22
Die Faszination physikalischer Phänomene weckt immer wie<strong>der</strong> den künstlerischen<br />
Forschungsgeist. Auch wenn ihr Ergründen die Domäne <strong>der</strong> Wissenschaft ist, lässt<br />
sich auch auf klanglichem Weg ihrer Essenz nahekommen – manchmal vielleicht sogar<br />
näher. So meint man die Sonnenreflexion auf fallendem Laub im Ensemblestück Fire<br />
Fragile Flight <strong>der</strong> nahezu vergessenen amerikanischen Komponistin Lucia Dlugoszewski<br />
tatsächlich flirren zu sehen. Das weich-feste Gefühl von »Treten wie auf Moos« evoziert<br />
Sarah Nemtsov in ihrer Komposition MOOS mittels einer ausgefallen indirekten<br />
Klangerzeugungsmethode. Márton Illés versucht die unterschiedlichsten Instrumente<br />
<strong>der</strong> menschlichen Stimme anzuverwandeln, insbeson<strong>der</strong>e die urtümlichen Laute, die sie<br />
jenseits von Worten und Gesang hervorbringt. Dabei wachsen die Instrumentalklänge<br />
so organisch zusammen, dass aus dem Ensemble eine Art hochexpressive Kreatur wird.<br />
Der griechisch-französische Komponist, Ingenieur und Architekt Iannis Xenakis legte<br />
indessen nahezu all seinen Werken ganz konkrete naturwissenschaftliche Referenzsysteme<br />
zugrunde – eine in <strong>der</strong> Musikgeschichte präzedenzlose Praxis, die auch in<br />
seinem Ensemblestück Thalleïn (griechisch für »sprießen«) zum Tragen kommt. Unter<br />
Anwendung <strong>der</strong> Siebtheorie lässt er hier unterschiedlichste Kleinstmotive wachsen und<br />
wuchern, sich verwandeln und sich zu organischen Klanggeweben verzahnen. 100 Jahre<br />
nach Xenakis’ Geburt reflektiert <strong>der</strong> Komponist Michael Pelzel in seinem neuen Werk<br />
Urgewalt Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation die »rohe und archaische Wucht« <strong>der</strong> Musik,<br />
die aus solch rigorosen Prozessen erwachsen ist.<br />
The fascination for physical phenomena awakens the artistic spirit of enquiry. Even if<br />
analysing them is the domain of the natural sciences, sonic methods can also bring us<br />
close to their essence – and sometimes even closer. In the ensemble piece Fire Fragile<br />
Flight by the almost forgotten American composer Lucia Dlugoszewski, one might think<br />
one can actually see the sun’s reflection shimmering on the falling leaves. Sarah Nemtsov<br />
evokes the soft yet firm feeling of »treading on moss« in her composition MOOS by using<br />
an unusually indirect method of producing sound. Márton Illés attempts to adapt the<br />
most varied instruments to the human voice, especially those primordial noises that it<br />
produces, aside from words and song. The instrumental sounds grow together so organically<br />
that the ensemble seems to turn into some highly expressive creature.<br />
Meanwhile, the Greek-French composer, engineer and architect Iannis Xenakis based<br />
almost all his works on specific systems of reference from the natural sciences – an<br />
unprecedented practice in musical history, which also comes to fruition in his ensemble<br />
piece Thalleïn (Greek for »to sprout«): he applies sieve theory, allowing the most varied<br />
small motifs to grow and proliferate, transform and become enmeshed in organic textures<br />
of sound. A hundred years after Xenakis’ birth, composer Michael Pelzel, in his new<br />
work Urgewalt Iannis Xenakis, im Sog <strong>der</strong> Transformation, reflects »the raw and archaic<br />
power« of the music that has grown out of such rigorous processes.<br />
Salzlager, Welterbe<br />
Zollverein, Essen<br />
So 14. August____________________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 2h, 1 Pause<br />
Tickets: 42 / 32 / 22 €,<br />
ermäßigt. ab 11 €<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
durch die RAG-Stiftung<br />
Mit Unterstützung <strong>der</strong> Schweizer<br />
Kulturstiftung Pro Helvetia<br />
www.ruhr3.com/organicum<br />
23
4. HALBZEIT<br />
WERMKE /<br />
LEINKAUF<br />
Installation<br />
24
Die Installation des Künstlerduos Wermke/Leinkauf zeigt auf zwei gegenüberstehenden,<br />
grell flackernden Stadionanzeigen Szenen von Menschenmassen zwischen politischen<br />
Protesten und Fußballspielen – untermalt von einer ohrenbetäubenden Soundkulisse<br />
aus Fangesängen. Wermke/Leinkauf beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit dem Phänomen<br />
organisierter Fußballfans und Ultras im Zusammenhang gesellschaftspolitischer Aufstände.<br />
Daher auch <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Arbeit, <strong>der</strong> über das Aufeinan<strong>der</strong>treffen <strong>der</strong> Fans in<br />
einer 3. Halbzeit hinaus die 4. Halbzeit befragt: Der öffentliche Raum, in dem Fußballfans,<br />
unabhängig vom Fußballspiel, aktiv werden, um Protestbewegungen zu unterstützen.<br />
Von <strong>der</strong> Istanbuler Gezi-Park-Revolte über den sogenannten Arabischen Frühling bis<br />
hin zu den Protesten am Majdan in Kyiv spielten Fußballfans eine zentrale Rolle. Aus<br />
einem eher unpolitischen, oft destruktiven Sammelbecken von fanatischen Fußballanhänger:innen<br />
entstanden teilweise neue, vielfältige Gruppen, die jenseits <strong>der</strong> Stadien<br />
mit ihren Techniken des Wi<strong>der</strong>stands politisch progressive Aktionen unterstützten.<br />
Wermke/Leinkauf setzen das Mobilisierungspotenzial dieser Gruppierungen, die bereits<br />
seit den 1970er Jahren existieren und die größte Jugend-Subkultur in Deutschland darstellen,<br />
bildmächtig zwischen Faszination und Schrecken in Szene.<br />
Wermke/Leinkauf<br />
Matthias Wermke<br />
Mischa Leinkauf<br />
Sound<br />
Ed Davenport<br />
This spatial installation by the artist duo Wermke/Leinkauf uses two brightly flickering<br />
stadium displays facing each other, to present scenes of crowds attending political protests<br />
and football matches – un<strong>der</strong>scored by an ear-splitting soundscape of football<br />
chants. In their work, Wermke/Leinkauf explore the phenomenon of organised football<br />
fans and ultras in the context of socio-political protests. Hence the title of the work,<br />
which goes beyond the ultras arrangement of a third half – for celebration but also for<br />
riots outside the stadium – to ask for a fourth half: an expanded space where football<br />
can be activated, independent of football matches, for the purposes of protest.<br />
Football fans played a key role in the protests in Istanbul’s Gezi Park, in the so-called<br />
Arab Spring and the Maidan demonstrations in Kyiv. Out of a largely apolitical, often<br />
destructive pool of fanatical football fans, new and multi-faceted groups sometimes<br />
emerged who supported political protest beyond the stadium with their techniques of<br />
resistance. Wermke/Leinkauf demonstrate how these groups, which have existed since<br />
the 1970s and represent Germany’s largest youth subculture, are capable of being<br />
mobilised in graphic images veering between fascination and horror.<br />
Landschaftspark Duisburg-<br />
Nord, Schalthaus Ost<br />
Eröffnung: 17. August <strong>2022</strong><br />
Eintritt frei<br />
Ohne Sprache<br />
Laufzeit<br />
18. August – 11. September<br />
Öffnungszeiten:<br />
Mi. – Fr. 16–20 Uhr<br />
Sa. – So. 12–20 Uhr<br />
www.ruhr3.com/halbzeit<br />
25
MASCHINENHAUSMUSIK<br />
BLACK MIDI<br />
Virtuos, impulsiv und ohne stilistische Leitplanken braust<br />
die blutjunge britische Avantgarde-Rockband black midi<br />
über eine kurvenreiche Straße, gesäumt von den vielfältigsten<br />
Assoziationen: Free Jazz, Punk, Hardcore, zeitgenössische<br />
Kunstmusik – multiple Referenzen rauschen<br />
vorbei, keine bleibt konstant, alles befindet sich im Fluss<br />
<strong>der</strong> steten Verän<strong>der</strong>ung. Expressive Schönheit und harten,<br />
rohen Noise vereinbaren sie ebenso versiert wie das<br />
Ein gängige mit dem Obskuren. Mit Tempo rasen sie in<br />
die Kurven, ohne zu wissen, was sich dahinter auftut.<br />
Abenteuerliche Akkordfolgen, vertrackte Rhythmen, wilde<br />
Wendungen und die ständige Bereitschaft, in Improvisation<br />
auszubrechen, machen die Performance ihres neuen<br />
Albums Cavalcade zu einem sensationellen Ritt, wie man<br />
ihn in <strong>der</strong> avancierten Rockszene selten erlebt.<br />
Brilliant, impulsive and without any stylistic guard rails,<br />
the young British avant-garde rock band black midi roar<br />
down a road full of twists and turns, dotted with a wide<br />
range of associations: free jazz, punk, hardcore, contemporary<br />
art music – multiple references race past, none of<br />
them remaining constant, everything a stream of constant<br />
change. Expressive beauty and hard, raw noise are united<br />
as skilfully as the catchy and the obscure. They enter<br />
the turns at speed, not knowing where they are about to<br />
lead. Adventurous chord sequences, intricate rhythms,<br />
wild shifts and a constant readiness to break into improvisation<br />
make the band’s performance of the new album<br />
Cavalcade a sensational ride of a kind rarely experienced<br />
on the advanced rock scene.<br />
Vocals, E-Gitarre Geordie Greep<br />
Vocals, E-Bass, Synthesizer Cameron Picton<br />
Schlagzeug Morgan Simpson<br />
Mi 17. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />
Maschinenhaus Essen<br />
AVA MENDOZA<br />
Der Kaktus – er wächst, wo er will, auch unter widrigsten<br />
Bedingungen, er nimmt sich seinen Raum, ungeachtet<br />
aller Grenzen. Im Geiste des Kaktus hat die lange in den<br />
südlichsten US-Staaten beheimatete E-Gitarristin Ava<br />
Mendoza gemeinsam mit ihren Freund:innen ein Soloprogramm<br />
komponiert, das sie durch die Pandemie in ein<br />
neues Zeitalter getragen hat. »Zaubersprüche, Hoffnungen<br />
und Gebete am Tor zwischen zwei Welten«, nennt sie die<br />
Stücke ihres Programms New Spells. Wi<strong>der</strong>ständigkeit<br />
und Hitze sind dem abenteuerlich expressiven Spiel dieser<br />
jungen Musikerin ebenso eingeschrieben wie eine geheimnisvoll<br />
trockene Nostalgie.<br />
The cactus – it grows where it wants, even in the most<br />
adverse conditions, it takes its space, regardless of all<br />
boundaries. In the spirit of the cactus, electric guitarist<br />
Ava Mendoza, long a resident of the southernmost U.S.,<br />
has composed a solo program with her friends that has<br />
carried her through the pandemic into a new age. »Spells,<br />
hopes and prayers at the gateway between two worlds«,<br />
she calls the pieces in her program New Spells. Resistance<br />
and heat are inscribed in this young musician’s adventurously<br />
expressive playing, like a mysteriously dry nostalgia.<br />
E-Gitarre, Vocals Ava Mendoza<br />
CHARLOTTE HUG<br />
Zum Übertritt in »An<strong>der</strong>welten« setzt die Schweizer Bratschistin,<br />
Bildende Künstlerin, Komponistin und Vokalperformerin<br />
Charlotte Hug ihre gesammelten Medien ein. In<br />
Irland studierte sie den Gesang <strong>der</strong> Grabsänger, die mit<br />
einer eigenartigen Vokaltechnik Ober- und Unterwelt in<br />
Kontakt bringen. In China veranlasste sie die schamanische<br />
Praxis, bei Verstorbenen eine Jadefigur einer Zikade<br />
in den Mund zu legen, zu einer Untersuchung <strong>der</strong> Mundinnenraumarchitektur.<br />
Dabei liegen großflächige, filigrane<br />
Zeichnungen, die sie Son-Icons nennt, ihrer verzaubernden<br />
Performance In Resonance with Elsewhere (Uraufführung)<br />
als Raum-Partitur zugrunde.<br />
To cross over into »otherworlds«, Swiss violist, painter,<br />
composer and vocal performer Charlotte Hug uses her<br />
collected media. In Ireland she studied the chanting of<br />
grave diggers, who bring upper and lower worlds into contact<br />
with a peculiar vocal technique. In China, the shamanic<br />
practice of placing cicadas in the mouths of the<br />
deceased prompted her to study the mouth’s interior<br />
architecture. In the process, large-scale filigree drawings<br />
she calls Son-Icons un<strong>der</strong>lie her enchanting performance<br />
In Resonance with Elsewhere (world premiere) as a score.<br />
Viola, Stimme, Performance Charlotte Hug<br />
Do 01. September_______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />
26<br />
Maschinenhaus Essen
Ikonen und Ikonoklasten, Geisterbeschwörerinnen und Freigeister, Raumfahrer und Rockstars<br />
– das sind die Künstler:innen <strong>der</strong> MaschinenHausMusik <strong>2022</strong>. Mit <strong>der</strong> Avantgarde-<br />
Rockband black midi weht ein wil<strong>der</strong>, klischeebefreiter Wind von <strong>der</strong> britischen Insel<br />
herüber, die E-Gitarristin Ava Mendoza besiegelt mit Zaubersprüchen den Übergang<br />
zwischen zwei Welten und Zeitaltern, die Schweizer Künstlerin Charlotte Hug bringt auf<br />
unterschiedliche Weise Stimmen aus dem Jenseits zum Klingen, das Elektronik-Duo<br />
Mouse on Mars bricht zum Planeten Künstliche Intelligenz auf, und E-Gitarren-Legende<br />
Caspar Brötzmann stellt erstmals seine brandneue Band Broken Spirit xx vor – nun von<br />
<strong>der</strong> Long Scale Electric Guitar aus!<br />
Icons and iconoclasts, necromancers and free spirits, space travellers and rock stars –<br />
these are the artists playing at MaschinenHausMusik <strong>2022</strong>. The Avant-garde band black<br />
midi brings a wild and cliché-free wind blowing in with them from their island home; e-<br />
guitarist Ava Mendoza seals the transition between two worlds and eras with spells; the<br />
Swiss artist Charlotte Hug articulates voices from beyond the grave in different ways; electronic<br />
duo Mouse on Mars set off for the planet of Artificial Intelligence; and guitar legend<br />
Caspar Brötzmann introduces his new band Broken Spirit xx for the very first time – and<br />
he’s now playing the Long Scale Electric Guitar!<br />
www.ruhr3.com/mhm<br />
Die Konzerte von Ava Mendoza<br />
und Charlotte Hug am 1.9. und<br />
Broken Spirit xx am 7.9. werden<br />
vom WDR für den Hörfunk aufgezeichnet<br />
und zu einem späteren<br />
Zeitpunkt in WDR 3 Konzert<br />
gesendet.<br />
BROKEN SPIRIT XX<br />
Vier Jahre hat <strong>der</strong> E-Gitarrist Caspar Brötzmann darauf<br />
verwendet, sein Gitarrenspiel auf eine Sandberg California<br />
VM4 Bass Guitar zu transponieren, sodass man den Bass<br />
für ein tiefe E-Gitarre halten könnte. Aus den Übungen,<br />
an denen er seine Hände trainierte, wurden Songs, aus<br />
<strong>der</strong> solistischen Askese eine Band: Broken Spirit xx heißt<br />
die neue Formation – seine erste seit <strong>der</strong> Kultband Caspar<br />
Brötzmann Massaker. Nach gebrochenem Spirit klingt die<br />
Musik allerdings keineswegs, mehr nach apokalyptischem<br />
Hendrix-Sound des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Bei <strong>der</strong> Ruhrtiennale<br />
<strong>2022</strong> stellt sich Broken Spirit xx zum ersten Mal <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
vor!<br />
Electric guitarist Caspar Brötzmann spent four years transposing<br />
his guitar playing to a Sandberg California VM4 bass<br />
guitar, so that the bass would sound like a deep electric<br />
guitar. The exercises he used to train his hands turned into<br />
songs, the bass guitar turned into a Long Scale Electric<br />
Guitar and his ascetic solo sessions grew to become a new<br />
band: Broken Spirit xx. However, the spirit of the music<br />
sounds anything but broken – more like the apocalyptic<br />
Hendrix sound of the 20th century. Broken Spirit xx will be<br />
making their first public appearance at <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>.<br />
Long Scale E-Gitarre, Vocals Caspar Brötzmann<br />
Schlagzeug Tim Wyskida<br />
E-Bass, Vocals Rebecca Burchette<br />
Mi 07. September__________________ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />
Band-Premiere<br />
MOUSE ON MARS<br />
Undogmatisch und abenteuerlustig durchstreift das Duo<br />
Mouse on Mars seit 25 Jahren den Kosmos <strong>der</strong> Elektronik,<br />
immer auf <strong>der</strong> Suche nach neuen Experimenten am<br />
Puls technologischer Entwicklung. In ihrer Performance<br />
AAI (Anarchic Artificial Intelligence) tauchen sie gemeinsam<br />
mit ihrem langjährigen künstlerischen Partner, dem<br />
Schlagzeuger Dodo Nkishi, in die Sphäre <strong>der</strong> Künst lichen<br />
Intelligenz ein, treiben ihr Spiel mit ihren narrativen und<br />
klanglichen Möglichkeiten und segeln lässig durch das<br />
unbeherrschbare, unberechenbare Kräftefeld, das sich<br />
zwischen Mensch und Maschine auftut.<br />
Avoiding dogma and eager for adventure, the duo Mouse<br />
on Mars have spent 25 years roaming the cosmos of electronica,<br />
in a constant search for new experiments to the<br />
beat of technological developments. In their performance<br />
AAI (Anarchic Artificial Intelligence), together with their<br />
long-time artistic partner, the percussionist Dodo Nkishi,<br />
they immerse themselves in the sphere of artificial<br />
intelligence, playing with its narrative and sonic possibilities<br />
and sailing nonchalantly through the unpredictable<br />
forcefield that emerges between man and machine.<br />
Elektronik Jan St. Werner<br />
Elektronik, E-Gitarre Andreas Thomas<br />
Schlagzeug Jean-Dominique Nkishi<br />
Mi 14. September__________________ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €, ermäßigt ab 8,50 €<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Maschinenhaus Essen<br />
27
ENCANTADO<br />
LIA RODRIGUES<br />
COMPANHIA<br />
DE DANÇAS<br />
Tanz<br />
28
Lia Rodrigues verwandelt die Bühne auf PACT Zollverein in die blühende und magische<br />
Welt <strong>der</strong> Encantados: Wesen, die sich dem Glauben indigener Kulturen zufolge zwischen<br />
Erde und Himmel, Sanddünen und Felsblöcken sowie Mensch und Tier in <strong>der</strong> Welt bewegen<br />
und diese durch mystische Kräfte beseelen. Eben diese Gegensätzlichkeiten,<br />
zwischen denen sie stehen, werden auf <strong>der</strong> Bühne sichtbar. Mit denkbar einfachen Mitteln<br />
öffnen sich karnevaleske Bil<strong>der</strong> zwischen Tanz und Ritual. Hun<strong>der</strong>t farbenfrohe<br />
und gemusterte Decken von den Märkten Rio de Janeiros kleiden und verwandeln die<br />
nackten Körper <strong>der</strong> Tänzer:innen. Diese verbinden in ihrer Körperlichkeit immer wie<strong>der</strong><br />
Bewegungen und Grimassen und treten wie<strong>der</strong>holt einzeln o<strong>der</strong> in kleinen Gruppen aus<br />
<strong>der</strong> Gemeinschaft heraus. Die Performance wird von <strong>der</strong> Musik <strong>der</strong> indigenen Gemeinschaft<br />
<strong>der</strong> Guarani Mbya angefeuert: sich wie<strong>der</strong>holende Rhythmen, die im vergangenen<br />
Jahr von <strong>der</strong> indigenen Gemeinschaft als Zeichen des Wi<strong>der</strong>standes auf den Straßen<br />
Brasiliens gesungen wurden.<br />
Lia Rodrigues ist eine <strong>der</strong> wichtigsten künstlerischen Stimmen Brasiliens. Gemeinsam<br />
mit <strong>der</strong> Companhia de Danças, welche sie in <strong>der</strong> größten Favela Rio de Janeiros, gründete,<br />
entwickelt sie einen Abend, <strong>der</strong> die Bühne in ein hochaufgeladenes Energiefeld umwandelt<br />
und <strong>der</strong> Bedrohung von Mensch und Natur trotzt. Encantado ist die Einladung,<br />
die Gemeinschaft zu feiern, jedes Individuum darin zu wertschätzen und das Leben zu<br />
bejahen.<br />
Lia Rodrigues transforms the stage at PACT Zollverein into the blooming, magical world<br />
of the encantados: creatures who, according to Indigenous beliefs, roam between heaven<br />
and earth, sand dunes and cliffs, even between humans and animals, and enliven these<br />
with their mystical powers. The opposites they are caught between are made visible on<br />
stage. Using very simple means, carnival-like images form between dance and ritual.<br />
Hundreds of brightly-coloured and patterned quilts from the markets of Rio de Janeiro<br />
clothe and transform the naked bodies of the dancers. Their physical presence combines<br />
movement with powerful facial expressions and they step out repeatedly from the<br />
collective, either alone or in small groups. The performance is driven by music from the<br />
Indigenous Mbyá Guarani people: repetitive rhythms that were sung on Brazil’s streets<br />
last year as a song of resistance by the Indigenous communities. The evening is a powerful<br />
transformation of the fear of failure in the struggle for survival – defying the threats<br />
to humans and nature.<br />
Lia Rodrigues is one of Brazil’s most important artistic voices. Together with her Companhia<br />
de Danças, which she founded in the largest favela of Rio de Janeiro, she develops a<br />
night that transforms the stage into an energetic field and defies the threat to humankind<br />
and nature. Encantado is an invitation to celebrate community, to value each individual<br />
in it and to affirm life.<br />
Kreation<br />
Lia Rodrigues<br />
Choreografie Assistenz<br />
Amalia Lima<br />
Dramaturgie künstlerische<br />
Mitarbeit und Bil<strong>der</strong><br />
Silvia Soter<br />
Sammi Landweer<br />
Licht Design<br />
Nicolas Boudier<br />
Inspizienz<br />
Magali Foubert<br />
Baptistine Méral<br />
Mixing<br />
Alexandre Seabra<br />
Booking<br />
Colette de Turville<br />
Koordination Produktion<br />
Astrid Toledo<br />
Verwaltung<br />
Jacques Segueilla<br />
Produktion Brasilien<br />
Gabi Gonçalves<br />
Corpo Rastreado<br />
Produktion Projekt Goethe Institut<br />
Claudia Oliveira<br />
Sekretariat<br />
Gloria Laureano<br />
Lehrerinnen<br />
Amalia Lima<br />
Sylvia Barretto<br />
Valentina Fittipaldi<br />
Von und mit<br />
Leonardo Nunes<br />
Carolina Repetto<br />
Valentina Fittipaldi<br />
Andrey Da Silva<br />
Larissa Lima<br />
Ricardo Xavier<br />
Joana Lima<br />
David Abreu<br />
Matheus Macena<br />
Tiago Oliveira<br />
Raquel Alexandre<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Do 18. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 19. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 20. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Mo 22. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 60min<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt. ab 8,50 €<br />
Ohne Sprache<br />
Veranstaltet von PACT Zollverein<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Eine Koproduktion von Chaillot –<br />
Théâtre National de la Danse,<br />
Le CENTQUATRE, Festival<br />
d’Automne, Scène nationale<br />
Carré-Colonnes, Le TAP – Théâtre<br />
Auditorium de Poitiers, Scène<br />
nationale du Sud-Aquitain,<br />
La Coursive, Scène nationale<br />
La Rochelle, L’Empreinte,<br />
Scène nationale Brive, Théâtre<br />
d’Angoulême Scène Nationale,<br />
Le Moulin du Roc, Scène<br />
nationale à Niort, La Scène<br />
Nationale d’Aubusson, l’OARA –<br />
Office Artistique de la Région<br />
Nouvelle-Aquitaine,<br />
Le Kunstenfestivaldesarts,<br />
Theaterfestival Basel, HAU<br />
Hebbel am Ufer, Festival Oriente<br />
Occidente, Theater Freiburg,<br />
Julidans, Teatro Municipal do<br />
Porto / Festival DDD – dias<br />
de dança and Lia Rodrigues<br />
Companhia de Danças.<br />
www.ruhr3.com/encantado<br />
29
DAS WEITE LAND<br />
ARTHUR<br />
SCHNITZLER<br />
BARBARA FREY<br />
MARTIN<br />
ZEHETGRUBER<br />
Schauspiel<br />
Eine Koproduktion vom Burgtheater Wien und <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Ich schau dich nur an<br />
→ Magazin, Seite 155<br />
30
Das weite Land zählt zu den bedeutendsten Tragikomödien des Fin de Siècle. Arthur<br />
Schnitzler porträtiert darin eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren<br />
hat, eine Gesellschaft, die den Begriff <strong>der</strong> Freiheit nur für das persönliche Fortkommen<br />
beansprucht und spürt, dass eine Leerstelle entstanden ist. Gleichwohl ist sie saturiert,<br />
leistet es sich, keine Inhalte mehr zu haben und damit den Verzicht, gemeinschaftliche<br />
Zukunft zu gestalten. Produktion, Expansion und Konsum bilden das Dreigestirn, das auf<br />
alle Lebensbereiche strahlt. Der Fortlauf des Geschäfts hat die oberste Priorität. Natur<br />
wird nur noch als zu bewirtschaftendes Terrain angesehen (dem Tourismus zum Vergnügen),<br />
Intimität wird zur Handelsware, Liebe zum Konsumgut, jedes Gespräch ein argwöhnisches<br />
Aushorchen des Gegenübers. Der Spaß ist schon lange vorbei. Schnitzlers<br />
Figuren leiden – um es mit einer heutigen Diagnose zu attestieren – unter einer hedonistischen<br />
Depression. Das Aggressionspotential, auch das <strong>der</strong> Autoaggression, wächst.<br />
Gegenseitige Verachtung wird auf stetiger Flamme am Simmern gehalten, wohl wissend,<br />
dass ein solches Gefühl schnell zum Kochen zu bringen ist.<br />
Nicht ohne einen gewissen Neid hatte Sigmund Freud festgestellt, dass Schnitzlers präzise<br />
Dialoge leichtfüßig zum Vorschein bringen, was er selbst mühsam wissenschaftlich<br />
zu begründen versucht. Barbara Frey setzt mit dieser Arbeit nach Edgar Allan Poes Der<br />
Untergang des Hauses Usher die auf drei Jahre angelegte Kooperation mit dem Burgtheater<br />
Wien und dessen großartigem Ensemble fort.<br />
Das Weite Land (The Vast Domain) is one of the most important tragi-comedies of<br />
the fin de siècle. Arthur Schnitzler portrays a society that has lost its moral compass,<br />
a society that only applies the concept of liberty to individual advancement and can<br />
feel that this leaves a void. At the same time, it is sated: it allows itself to do without<br />
ideas and avoids planning any communal future. Production, expansion and consumption<br />
form the triumvirate bearing down on all aspects of life. The highest priority<br />
is that business continues. Nature is now regarded purely as territory that has yet<br />
to be cultivated (tourism for pleasure), intimacy is a commodity to be traded, love<br />
is a consumer good, every conversation is a dismissive acquisition of information.<br />
Fun stopped a long time ago. Schnitzler’s characters suffer from what a present-day<br />
diagnosis would describe as hedonistic depression. The potential for aggression, and<br />
for aggression directed against the self, is growing. Mutual contempt is kept simmering<br />
over a constant flame, in the full knowledge that such a feeling can soon be<br />
brought to the boil.<br />
Not without a certain envy, Sigmund Freud noted that Schnitzler’s precise dialogue<br />
nimbly exposed what his own awkward efforts had tried to prove scientifically. With<br />
this production, following that of Edgar Allan Poe’s The Fall of the House of Usher,<br />
Barbara Frey continues her three-year co-operation with the Vienna Burgtheater and<br />
its magnificent ensemble.<br />
Regie<br />
Barbara Frey<br />
Bühnenbild<br />
Martin Zehetgruber<br />
Mitarbeit Bühne<br />
Stefanie Wagner<br />
Kostüme<br />
Esther Geremus<br />
Musik<br />
Josh Sneesby<br />
Sound Design<br />
Thomas Wegner<br />
Licht Design<br />
Rainer Küng<br />
Dramaturgie<br />
Andreas Karlaganis<br />
Regieassistenz<br />
Verena Holztrattner<br />
Bühnebildassistenz<br />
Oscar Grunert<br />
Kostümassistenz<br />
Marie-Lena Poindl<br />
Inspizienz<br />
Irene Petutschnig<br />
Soufflage<br />
Berngard Knoll<br />
Mit<br />
Bibiana Beglau<br />
Dorothee Hartinger<br />
Sabine Haupt<br />
Felix Kammerer<br />
Katharina Lorenz<br />
Michael Maertens<br />
Branko Samarovski<br />
Nina Siewert<br />
Itay Tiran<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Sa 20. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Mo 22. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Mi 24. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Do 25. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 52 / 42 / 32 / 22 €,<br />
ermäßigt ab 11 €<br />
In deutscher Sprache mit<br />
englischen Übertiteln<br />
Geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Brost-Stiftung.<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
des Vereins <strong>der</strong> Freunde und<br />
För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> e. V.<br />
www.ruhr3.com/frey<br />
31
DIE NATUR DES MENSCHEN —<br />
LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />
LUKAS BÄRFUSS UND GÄSTE<br />
NATUR UND PROPAGANDA /<br />
NATURE AND PROPAGANDA<br />
ALEXANDER KLOSE / SANDRA HÜLLER<br />
Worüber reden wir, wenn wir über die »Natur« reden?<br />
Was prägt unser Bild und unser Verständnis dieser so<br />
genannten Natur? Antworten finden sich im größten<br />
Wissens- und Erfahrungsspeicher <strong>der</strong> Menschheit: in<br />
<strong>der</strong> Literatur. Drei Abende, drei literarische Reisen durch<br />
die Sprachen, durch die Jahrhun<strong>der</strong>te, durch die Kontinente.<br />
Vorgetragen von den Schauspielerinnen Sandra<br />
Hüller, Angela Winkler und Sarah Sandeh, begleitet<br />
von Musiker:innen und zuvor von Lukas Bärfuss im<br />
Gespräch mit Expert:innen in die historische und literarische<br />
Perspektive gesetzt, nähern wir uns drei Begriffspaaren,<br />
die unsere Vergangenheit formen, die Gegenwart<br />
umtreiben und unsere Zukunft bestimmen.<br />
What are we talking about when we use the word<br />
»nature«? What shapes our image and our un<strong>der</strong>standing<br />
of this so-called nature? We can find answers<br />
in that great store of human knowledge and experience:<br />
literature. Three evenings and three literary<br />
journeys through languages, through the centuries,<br />
through the continents. Read by the actors Angela<br />
Winkler, Sandra Hüller and Sarah Sandeh, accompanied<br />
by musicians and put into historical and literary<br />
context beforehand by Lukas Bärfuss in conversation<br />
with a range of experts, we will approach three conceptual<br />
pairs that have shaped our past, concern our<br />
present and will determine our future.<br />
Wer Macht will, muss über die natürlichen Ressourcen verfügen.<br />
Mit Wasser, Boden und Luft wird Politik und Geld<br />
gemacht. Wer seine Interessen durchsetzen will, muss sie<br />
zuerst sprachlich vorbereiten. Und wer schließlich herrscht,<br />
wird seine Macht gegen an<strong>der</strong>e Ansprüche rechtfertigen<br />
müssen und dazu sprachliche Strategien und Taktiken entwickeln.<br />
Welche Propaganda ist erfolgreich, wenn es um<br />
die Natur geht?<br />
Anyone who wants power needs natural resources. Water,<br />
land and air drive politics and make money. Anyone who<br />
wants their interests to prevail has to prepare their language<br />
in advance. And whoever is ultimately in control will<br />
have to justify their power against the claims of others and<br />
develop linguistic strategies and tactics to do this. What<br />
kind of propaganda is successful when it comes to nature?<br />
So 21. August<br />
17 Uhr<br />
Dialog: Lukas Bärfuss und Alexan<strong>der</strong> Klose<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Sandra Hüller<br />
Musik: Daniel Freitag<br />
Die Natur des Menschen?<br />
→ Magazin, Seite 160<br />
Die dreiteilige Dialogreihe zur Natur des Menschen wird in<br />
Zusammenarbeit mit dem Kulturradio WDR 3 im Rahmen <strong>der</strong><br />
WDR 3 Kulturpartnerschaft aufgezeichnet und zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in WDR 3 Forum gesendet.<br />
32
Maschinenhaus Essen<br />
Konzept<br />
Lukas Bärfuss<br />
Judith Gerstenberg<br />
Tickets Dialoge:<br />
17 / 12 €, ermäßigt ab 6 €<br />
Tickets Lesungen:<br />
27 / 17 €, ermäßigt ab 13,50 €<br />
Package Dialoge und Lesung:<br />
35 / 23 €, ermäßigt ab 11,50 €<br />
NATUR UND DEMOKRATIE /<br />
NATURE AND DEMOCRACY<br />
KLAUS STAECK / ANGELA WINKLER<br />
Die Natur ist kein Rechtsstaat. Gewaltenteilung ist ihr<br />
fremd, und <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten kümmert sie<br />
kaum. Freiheit und Solidarität sind menschliche Tugenden.<br />
In einer Demokratie soll nicht die:<strong>der</strong> Stärkere überleben.<br />
In einer Demokratie ist die Würde des Menschen unantastbar.<br />
Aber welche Rechte fallen in einer Demokratie<br />
den Tieren und den Pflanzen zu? Welches Gesetz soll herrschen,<br />
das des Rechtsstaates o<strong>der</strong> das <strong>der</strong> Natur?<br />
Nature does not obey the rule of law. The separation of<br />
powers is alien to it and it is scarcely bothered about<br />
the protection of minorities. Freedom and solidarity are<br />
human virtues. A democracy is not determined by the<br />
survival of the fittest. In a democracy, human dignity is<br />
inviolate. But what rights do animals and plants have in a<br />
democracy? Which law should prevail: the rule of law or<br />
the laws of nature?<br />
So 04. September<br />
17 Uhr<br />
Dialog: Lukas Bärfuss und Klaus Staeck<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Angela Winkler<br />
Musik: Valentin Butt und Roland Satterwhite<br />
NATUR UND BEWUSSTSEIN /<br />
NATURE AND CONSCIOUSNESS<br />
ULRIKE DRAESNER / SARAH SANDEH<br />
Die grausame Wildnis, <strong>der</strong> Garten, aus dem wir verstoßen<br />
wurden, ein verletzliches System, das unseren Schutz<br />
braucht: Die Bil<strong>der</strong> und Begriffe, die wir uns von <strong>der</strong> Natur<br />
machen, sind vielfältig und wi<strong>der</strong>sprüchlich – und sie sind<br />
Teil unserer Kultur. Aber wie steht es um die natürlichen<br />
Grundlagen unseres Bewusstseins? Von welchen Ideen<br />
und Vorstellungen können wir uns befreien, und welchen<br />
Platz hat das menschliche Gehirn im System <strong>der</strong> Natur?<br />
The cruel wil<strong>der</strong>ness, the garden from which we were expelled,<br />
a vulnerable system that requires our protection;<br />
the images and names we create for nature are manifold<br />
and contradictory – and they are part of our culture. But<br />
what about the natural foundations of our consciousness?<br />
What are the ideas and propositions we can free<br />
ourselves from, and what place does the human brain<br />
have in nature’s system?<br />
So 11. September<br />
17 Uhr<br />
Dialog: Lukas Bärfuss und Ulrike Draesner<br />
19.30 Uhr<br />
Lesung: Sarah Sandeh<br />
Musik: Malakoff Kowalski<br />
www.ruhr3.com/natur<br />
33
APARICIÓN /<br />
ERSCHEINUNG<br />
REGINA JOSÉ<br />
GALINDO<br />
Installation<br />
34
Die Arbeit Aparición macht auf die erschütternd hohe Zahl <strong>der</strong> Morde gegen Frauen<br />
in Deutschland aufmerksam. 2021 erschien die Aktionskünstlerin Regina José Galindo<br />
jeden dritten Tag als anonymer Frauenkörper im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets und<br />
Videos zeigten die Aktion auf <strong>der</strong> Internetseite <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Weil das Thema lei<strong>der</strong><br />
an Aktualität und Dringlichkeit nicht verloren hat, werden dieses Jahr Motive <strong>der</strong> Arbeit<br />
im Stadtraum Bochums als Plakat-Mahnmal für die ermordeten Frauen erscheinen.<br />
Regina José Galindo und viele an<strong>der</strong>e Künstler:innen und Aktivist:innen kämpfen um<br />
Sichtbarkeit, um den Tatbestand in die Aufmerksamkeit zu bringen. Der Begriff »Femizid«<br />
(Mord an Frauen, weil sie Frauen sind) macht Gewalt gegen Frauen in häuslicher<br />
Gewalt und <strong>der</strong>en systemischen Charakter benennbar, und wird im US- und lateinamerikanischen<br />
Kontext selbstverständlich verwendet. Im deutschsprachigen Raum<br />
wird er allerdings nur im journalistischen Kontext eingesetzt – erst <strong>2022</strong> entsteht eine<br />
erste evidenzbasierte Studie dazu – und hat keine strafrechtliche Relevanz o<strong>der</strong> Verwendung<br />
im juristischen Bereich. Die Dunkelziffer <strong>der</strong> Taten in Deutschland wird daher<br />
weit höher liegen, denn Femizide geschehen immer noch größtenteils unerkannt und<br />
werden als »Beziehungstat« o<strong>der</strong> »Ehedrama« bagatellisiert. Deutschland, das Land,<br />
in dem Vergewaltigung in <strong>der</strong> Ehe bis zum Jahr 1997 nicht einmal als Verbrechen angesehen<br />
wurde. Und selbst damals stimmten im Bundestag immer noch 138 Bundestagsabgeordnete<br />
dagegen – unter ihnen auch <strong>der</strong> jetzige CDU-Vorsitzende.<br />
Konzept<br />
Regina José Galindo<br />
Fotografie<br />
Lutz Henke<br />
Dramaturgie<br />
Aljoscha Begrich<br />
The work Aparición draws attention to the horrifically high number of mur<strong>der</strong>s committed<br />
against women in Germany. In 2021, performance artist Regina José Galindo would<br />
appear every three days as an anonymous female body in a public location in the Ruhr<br />
region and videos of this intervention would be published on the <strong>Ruhrtriennale</strong> website.<br />
Sadly this topic has lost none of its relevance and urgency, so this year, motifs from the<br />
work will be displayed in poster memorials to the mur<strong>der</strong>ed women across public spaces<br />
in Bochum.<br />
Regina José Galindo and many other artists and activists are fighting to be seen and to<br />
draw attention to the facts. The term »femicide« (the mur<strong>der</strong> of women because they<br />
are women) is intended to help identify violence against women in cases of domestic<br />
violence, as well as its systemic character, and is now used as a matter of course in the<br />
USA and Latin America. In German-speaking cultures, however, journalists have been<br />
extremely hesitant to employ it – the first evidence-based study did not appear until<br />
<strong>2022</strong> – and it has no relevance in law and is not used in legal circles. The actual number<br />
of mur<strong>der</strong> cases in Germany is therefore likely to be far higher because femicide tends to<br />
go largely unrecognised and is trivialised as »relationship problems« or »marital dramas«.<br />
Furthermore, in Germany, the country where rape within marriage was not even seen as<br />
a crime until 1997. Even then, 138 members of parliament still voted against the law being<br />
changed, among them the present chairman of the CDU.<br />
Bochum Innenstadt<br />
Laufzeit<br />
23. August – 12. September<br />
Ein Auftragswerk <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Ohne Sprache<br />
www.ruhr3.com/erscheinung<br />
35
EUPHORIA<br />
JULIAN<br />
ROSEFELDT<br />
Multidisziplinäre Installation<br />
Educate Capitalism!<br />
→ Magazin, Seite 164<br />
36
Euphoria ist die lang erwartete neue, multidisziplinäre, raumgreifende Filminstallation<br />
des Videokünstlers und Filmemachers Julian Rosefeldt, <strong>der</strong> bereits 2016 das Publikum<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> mit Manifesto begeisterte.<br />
Seine neue Arbeit ist eine Tour de Force durch die Geschichte <strong>der</strong> Wirtschaftstheorie.<br />
Das Projekt zitiert aus Originaltexten berühmter Ökonom:innen, Schriftsteller:innen,<br />
Philosoph:innen und Dichter:innen und zeichnet die 2000-jährige Geschichte<br />
<strong>der</strong> menschlichen Gier nach. Die komplizierte Entstehungsgeschichte unserer<br />
neoliberalen Marktwirtschaft übersetzt Rosefeldt in eine zugängliche Bildsprache durch<br />
die Kombination historischer Texte mit vertrauten szenischen Darstellungen, in denen<br />
Schauspieler:innen wie Giancarlo Esposito und Virginia Newcomb als zeitgenössische<br />
Charaktere auftreten und Cate Blanchett einem sprechenden und singenden Tiger ihre<br />
Stimme leiht.<br />
Der Frage, warum <strong>der</strong> Kapitalismus bis heute alternativlos zu sein scheint und warum er<br />
selbst für Menschen, die sich seines zerstörerischen Charakters bewusst sind, unwi<strong>der</strong>stehlich<br />
bleibt, geht das Projekt als filmisches Reenactment von pro- und antikapitalistischer<br />
Kritik nach.<br />
Die Musik in Euphoria wurde von dem kanadischen Komponisten Samy Moussa komponiert,<br />
ergänzt von <strong>der</strong> britischen Komponistin Cassie Kinoshi. Der Musikteil <strong>der</strong> Filminstallation<br />
entstand in Zusammenarbeit mit dem Brooklyn Youth Chorus und fünf <strong>der</strong><br />
renommiertesten zeitgenössischen Jazzschlagzeuger unserer Zeit – Terri Lyne Carrington,<br />
Peter Erskine , Antonio Sánchez, Eric Harland und Yissy García.<br />
Euphoria is the long-awaited, new, multi-disciplinary, spatial film installation by the video<br />
artist and film-maker Julian Rosefeldt, who wowed <strong>Ruhrtriennale</strong> audiences in 2016 with<br />
Manifesto.<br />
His new work is a tour de force that runs through the history of economic theory. The<br />
project consists of original texts from famous economists, writers, philosophers and poets,<br />
and traces the 2,000-year history of human greed. He translates the complex history of<br />
the development of our neoliberal market economy into an accessible visual language<br />
through the combination of historical texts with familiar scenic representations, in which<br />
actors like Giancarlo Esposito and Virginia Newcomb appear as contemporary characters<br />
and Cate Blanchett provides the voice for a talking, singing tiger.<br />
The project pursues the question of why capitalism appears, until now, to have no alternative<br />
and why it remains irresistible, even to people who are aware of its destructive nature,<br />
as a filmic re-enactment of both pro-capitalist and capitalist-critical positions.<br />
The music in Euphoria was composed by the Canadian Samy Moussa. The British<br />
composer Cassie Kinoshi has also contributed one track. The music component of the<br />
project was created in collaboration with the Brooklyn Youth Chorus and five of the most<br />
famous jazz percussionists of our time – Terri Lyne Carrington, Steve Gadd, Antonio<br />
Sanchez, Eric Harland and Yissy García.<br />
Buch, Regie, Produktion<br />
Julian Rosefeldt<br />
Musik<br />
Samy Moussa<br />
Ausführen<strong>der</strong> Produzent<br />
Wassili Zygouris<br />
Ausführende Produzentinnen Kiew<br />
Anastasiya Bukovska<br />
Tatiana Kurmaz<br />
Family Production<br />
Ausführen<strong>der</strong> Produzent New York<br />
Christian Detres<br />
See The Tree Productions<br />
Ausführende Produzentin Sofia<br />
Konstantina Manolova, Solent Film<br />
Künstlerischer Chefproduzent<br />
Park Avenue Armory, New York<br />
Michael Lonergan<br />
Kamera Christoph Krauss<br />
Szenenbild Nadja Götze<br />
Kostümbild<br />
Daniela Backes<br />
Bina Daigeler<br />
Maskenbild Julia Böhm, Katharina<br />
Thieme, Sonia Salazar Delgado<br />
Ton David Hilgers, Oliver<br />
Göbel, Ludwig Fiedler<br />
Sound Design Thomas Appel<br />
Schnitt Bobby Good<br />
Dramaturgie<br />
Tobias Staab<br />
Textcollagen<br />
Julian Rosefeldt<br />
Tobias Staab<br />
Dramaturgische Beratung<br />
Janaina Pessoa<br />
Regieassistenz<br />
Denis Sonin<br />
Ires Jung<br />
Musikalische Konzeption<br />
Julian Rosefeldt<br />
Komposition<br />
Samy Moussa<br />
Ergänzende Komposition<br />
Cassie Kinoshi<br />
Leiterin Brooklyn Youth Chorus<br />
Dianne Berkun Menaker<br />
Musikproduktion<br />
Ed Williams<br />
Dianne Berkun Menaker<br />
Tonmeister Musikaufnahmen<br />
Isaiah Abolin<br />
Halle 5, Welterbe Zollverein,<br />
Essen<br />
Uraufführung<br />
Eröffnung<br />
Do 25. August____________________ 18.00 Uhr<br />
Laufzeit<br />
25. August – 10. September<br />
Öffnungszeiten:<br />
Mo. – So.: 12:00 – 19:30 Uhr<br />
Tickets: 12 €, ermäßigt 6 €<br />
In englischer Sprache mit<br />
deutschen Untertiteln<br />
Ein Auftragswerk und eine<br />
Produktion von Park Avenue<br />
Armory.<br />
Gemeinsam in Auftrag gegeben<br />
von <strong>Ruhrtriennale</strong>, Holland<br />
Festival und Rising Melbourne,<br />
in Kooperation mit<br />
Weltkulturerbe Völklinger Hütte.<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die<br />
Kunststiftung NRW.<br />
Mit<br />
Giancarlo Esposito, Virginia<br />
Newcomb, Ayesha Jordan, Kate<br />
Strong, Jeff Wood, Erik Hansen,<br />
Tim Williams, Jeff Burrell, Robert<br />
Bronzi, Ricio Rodriguez-Inniss,<br />
Dora Zygouri, Esther Odumade,<br />
Tia Murrell, Asa Ali, Luis Rosefeldt<br />
und <strong>der</strong> Stimme von Cate Blanchett<br />
Und<br />
Terri Lyne Carrington, Peter<br />
Erskine, Yissy García, Eric<br />
Harland, Antonio Sanchez<br />
und den Sänger:innen des<br />
Brooklyn Youth Chorus<br />
www.ruhr3.com/euphoria<br />
37
HILLBROW–<br />
FICATION<br />
CONSTANZA<br />
MACRAS<br />
DORKYPARK<br />
Tanz<br />
Für alle ab 12 Jahren<br />
Die Zukunft im Rücken<br />
→ Magazin, Seite 176<br />
38
21 Kin<strong>der</strong> und Jugendliche aus Hillbrow, einem Viertel in Johannesburg, entwerfen mögliche<br />
und unmögliche Zukunftsszenarien für ihren Stadtteil und seine Bewohner:innen.<br />
Hillbrow, ursprünglich als Vorzeigestadtteil geplant, ist mittlerweile berüchtigt für Armut<br />
und Korruption. Auf <strong>der</strong> Bühne ertanzen die Performer:innen Szenen über »das Hillbrow<br />
<strong>der</strong> Zukunft«. Wie sollte dieses Zusammenleben im Viertel in einer idealen Zukunft aussehen?<br />
Es entstehen Utopien und Dystopien von Ghettoisierung und Gentrifizierung.<br />
Aliens kommen auf die Erde und etablieren eine neue soziale Ordnung: Wer gut tanzen<br />
kann, hat das Sagen. Eine revolutionäre Prinzessin mit unendlich vielen Namen hat die<br />
Gabe, die Parameter von Zeit und Raum zu verän<strong>der</strong>n. Menschen haben gelernt, wie<br />
man vom Boden hochfe<strong>der</strong>t, anstatt sich mit kaputten Fahrstühlen herumzuschlagen.<br />
Die Performer:innen verhandeln Rassismus und Gewalt, die sie täglich erleben, und unterlaufen<br />
stereotype Narrative. Die unter Leitung <strong>der</strong> Choreografin Constanza Macras<br />
entstandene Arbeit fasziniert durch die ansteckende Energie und hinterfragt auf humorvolle<br />
Weise unseren Blick auf die Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
21 children and young people from Hillbrow, a district of Johannesburg, outline possible<br />
and impossible scenarios for the future of their district and its inhabitants. Hillbrow, originally<br />
planned as a model development, is now infamous for its poverty and corruption.<br />
On stage the performers dance scenes about »the Hillbrow of the future«. What might<br />
a life together in the district look like in an ideal future? We see utopias and dystopias<br />
of ghettoisation and gentrification. Aliens land on earth and establish a new social<br />
hierarchy where good dancers call the shots. A revolutionary princess with an endless<br />
name has the gift of shifting the parameters of space and time. People have learned to<br />
levitate off the ground instead of struggling with broken elevators. They deal with the<br />
racism and violence they experience daily and subvert stereotypical narratives. The work,<br />
created un<strong>der</strong> the guidance of choreographer Constanza Macras, fascinates due to the<br />
infectious energy of its performers and humorously challenges our view of how the world<br />
operates.<br />
Regie, Choreografie<br />
Constanza Macras<br />
Lisi Estarás<br />
Dramaturgie<br />
Tamara Saphir<br />
Kostüme<br />
Roman Handt<br />
Kostüme, Requisite<br />
Marcus Barros Cardoso<br />
Licht Design, Technischer Entwurf<br />
Sergio de Carvalho Pessanha<br />
Sound Design<br />
Stephan Wöhrmann<br />
Regieassistenz<br />
Mica Heilmann<br />
Tour Management<br />
Marie Glassl<br />
Xiao Yu<br />
Produktionsassistenz<br />
Johannesburg<br />
Linda Michael Mkhwanazi<br />
Internationaler Vertrieb<br />
Plan B – Creative Agency for<br />
Performing Arts Hamburg<br />
Mit<br />
Miki Shoji<br />
Emil Bordás<br />
John Sithole<br />
Zibusiso Dube<br />
Bigboy Ndlovu<br />
Nompilo Hadebe<br />
Rendani Dlamini<br />
Brandon Magengelele<br />
Tshepang Lebelo<br />
Jackson Mogotlane<br />
Bongani Mangena<br />
Karabo Kgatle<br />
Sandile Mtembo<br />
Vusi Magoro<br />
Amahle Mene<br />
Thato Ndlovu<br />
Simiso Msimango<br />
Blessing Opoku<br />
Pearl Segkagwa<br />
Ukho Somadlaka<br />
Lwandile Thabede<br />
Gebläsehalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Do 25. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Fr 26. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 27. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 90min<br />
Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
In englischer Sprache mit<br />
deutschen Übertiteln<br />
Eine Produktion von Constanza<br />
Macras | Dorkypark und<br />
Outreach Foundation’s Hillbrow<br />
Theatre Project.<br />
Koproduziert mit dem Maxim<br />
Gorki Theater Berlin.<br />
www.ruhr3.com/macras<br />
39
SCHWERKRAFT UND GNADE<br />
CHORWERK RUHR<br />
BOCHUMER SYMPHONIKER<br />
FLORIAN HELGATH<br />
Konzert<br />
IGOR STRAWINSKY<br />
Ave Maria (1934)<br />
LILI BOULANGER<br />
Ils m’ont assez opprimé dès ma jeunesse – Psaume 129 (1916)<br />
IGOR STRAWINSKY<br />
Pater noster (1949)<br />
LILI BOULANGER<br />
Du fond de l’abîme – Psaume 130 (1917)<br />
FRANCIS POULENC<br />
Stabat Mater (1950)<br />
LILI BOULANGER<br />
Vieille prière bouddhique (1917)<br />
Sopran<br />
Sheva Tehoval<br />
Mezzosopran<br />
Hasti Molavian<br />
Tenor<br />
Timo Schabel<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Bochumer Symphoniker<br />
Musikalische Leitung<br />
Florian Helgath<br />
40
Schwerkraft und Gnade hat die französische Philosophin Simone Weil als die beiden<br />
weltbeherrschenden Kräfte erkannt, denen die Seele unterworfen ist. Dieses Weltwissen<br />
macht sie zu Lili Boulangers Schwester im Geiste. Die Psalmvertonungen <strong>der</strong><br />
außergewöhnlich visionären, jung verstorbenen Komponistin verleihen <strong>der</strong> kollektiven Krise<br />
des Volkes Jahwes Ausdruck. Unerschrocken lässt sie den Klagechor in die brodelnde<br />
Tiefe stürzen, um »nach oben zu fallen«, ins Licht. Dazwischen bieten zwei schlichte,<br />
innige Motetten Igor Strawinskys einen Ort des Trosts: Erst im Alter hat er sich dem<br />
Gebet zugewandt. Während im Ave Maria und im Pater noster die mütterliche und die<br />
väterliche Instanz angerufen werden, zeigt Francis Poulenc die Gottesmutter im Moment<br />
<strong>der</strong> größten Schwäche. Doch »keine Poesie […] ist echt, wenn sie die Ermüdung ausschließt«<br />
(Simone Weil). In Boulangers Vieille prière bouddhique überwindet die menschliche<br />
Stimme den Schrecken <strong>der</strong> Zivilisation und die Sprache selbst. Die Utopie ist ein<br />
Staunen mit geschlossenem Mund.<br />
Gravity and grace were described by the French philosopher Simone Weil as the two<br />
forces that rule the world and to which the soul is subjugated. This knowledge makes her<br />
Lili Boulanger’s sister in spirit. The psalm settings of this extraordinarily visionary composer,<br />
who died young, give expression to the collective crisis of the people of Yahweh.<br />
She is unflinching in allowing the lamenting chorus to plunge into the simmering depths<br />
in or<strong>der</strong> to »fall upwards« into the light. Between them, two simple, heartfelt motets by<br />
Igor Stravinsky offer a place of consolation: he only turned to prayer in old age. While the<br />
Ave Maria and Pater noster appeal to maternal and paternal entities respectively, Francis<br />
Poulenc presents the Mother of God at her moment of greatest weakness. And yet »no<br />
poetry […] is authentic if fatigue does not figure therein« (Simone Weil). In Boulanger’s<br />
Vieille prière bouddhique (Old Buddhist prayer), the human voice overcomes the horrors<br />
of civilisation and language itself. Utopia is amazement with a closed mouth.<br />
Maschinenhalle Zweckel,<br />
Gladbeck<br />
Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Sa 27. August__________________ 20.00 Uhr<br />
So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />
Tickets: 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />
ermäßigt ab 11 €<br />
Eine Chorwerk Ruhr Produktion<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />
Die Veranstaltung wird vom WDR<br />
für den Hörfunk aufgezeichnet<br />
und zu einem späteren Zeitpunkt<br />
in WDR 3 Konzert gesendet.<br />
Dauer: ca. 1h 55min,<br />
eine Pause<br />
www.ruhr3.com/gnade<br />
41
COCK COCK…<br />
WHO’S THERE?<br />
SAMIRA ELAGOZ<br />
Performance / Film<br />
»Ist es nicht ein bisschen abgefuckt, jetzt ein Mann<br />
werden zu wollen?« – »Ist es nicht revolutionär?«<br />
→ Magazin, Seite 203<br />
42
Auf Einladung <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> wird Samira Elagoz Cock Cock … Who’s there? aus dem<br />
Jahr 2016 im Kontext seiner neuen Arbeit Seek Bromance erneut performen. Heute<br />
identifiziert sich <strong>der</strong> in Berlin lebende Filmemacher und Performancekünstler als transmaskulin<br />
und blickt durch die Wie<strong>der</strong>aufnahme zurück auf seine starke Femme-Vergangen<br />
heit. Der Ausgangspunkt dieser filmischen Performance ist die brutale Erfahrung<br />
sexueller Gewalt in einer intimen Beziehung, sowie die gesellschaftliche Sprachlosigkeit<br />
darüber. Samira Elagoz konfrontiert sich in einem lang angelegten sozialen Experiment<br />
mit heterosexuellen Cis-Männern, die er über Dating-Plattformen wie Chatroulette<br />
o<strong>der</strong> Tin<strong>der</strong> kennenlernt, um in einem klar abgesteckten Rahmen ihre Sicht sowohl auf<br />
sich selbst als auch auf Samira durch die Kameralinse einzufangen.<br />
Indem er eindeutige Opferzuschreibungen vermeidet, entlarvt Samira die gesellschaftliche<br />
Erwartungshaltung an Frauen, die sexuelle Traumaerfahrungen gemacht haben. Was<br />
lange vor #metoo bereits das Publikum polarisierte, ermöglicht die Analyse zwischengeschlechtlicher<br />
Beziehungen in ihrer ganzen Ambivalenz, jenseits <strong>der</strong> stereotypen<br />
Opfer-Täter-Dychotomie. Eine sehr persönliche und zugleich fast klinisch unpersönliche<br />
Arbeit. Gefilmt durch eine Linse, die zwischen zu nah und zu fern oszilliert und<br />
schonungslos gesellschaftliche Themen wie sexuelle Gewalt und den männlichen Blick<br />
aus weiblicher Perspektive offenlegt. Samira Elagoz verdichtet in einer beson<strong>der</strong>en<br />
szenischen Form, die Kino, Filmdokumentation und Performance gekonnt miteinan<strong>der</strong><br />
verbindet, drei Jahre Leben und die damit verbundene schmerzhafte wie humorvolle<br />
Erfahrung über drei Kontinente hinweg in einem 65 minütigen Film, den er durch seine<br />
Auftritte kontextualisiert.<br />
Text, Regie, Bearbeitung<br />
Samira Elagoz<br />
Beratung<br />
Jeanette Groenendaal<br />
Bruno Listopad<br />
Richard Sand<br />
Mit<br />
Samira Elagoz<br />
Ayumi Matsuda<br />
Tashi Iwaoka<br />
At the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s invitation, Samira Elagoz will perform his 2016 work Cock, Cock …<br />
Who’s There? again in the context of his new work Seek Bromance. Today the Berlin-based<br />
film-maker and performance artist identifies as transmasculine and uses this revival to<br />
look back on his high femme past. The starting point of this filmic performance is the<br />
brutal experience of sexual violence in an intimate relationship and society’s inability to<br />
talk about this. Samira Elagoz confronts himself in a long-term social experiment with<br />
cis-men that he meets on dating platforms such as Chatroulette and Tin<strong>der</strong>, in or<strong>der</strong><br />
to capture their views both of themselves and of Samira through the lens of a camera<br />
within a clearly defined framework.<br />
By avoiding being unambiguously defined as a victim, Samira exposes society’s expectations<br />
of women who have un<strong>der</strong>gone traumatic sexual experiences. What was already<br />
polarising audiences long before #metoo enables him to analyse inter-gen<strong>der</strong> relationships<br />
in all their ambivalence, beyond the stereotypical dichotomy of victim and perpetrator. This<br />
is a very personal and at the same time almost clinically impersonal work. Filmed through a<br />
lens that oscillates between being too close and too distant, it mercilessly lays bare social<br />
themes such as sexual violence and the male gaze from a female perspective. In a very<br />
special scenic form that skilfully combines cinema, film documentary and performance,<br />
Samira Elagoz condenses three years of his life across three continents and the painful<br />
and humorous experiences associated with them into a 65 minutes long film which he<br />
contextualizes by himself appearing on stage.<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Fr 26. August__________________ 20.00 Uhr<br />
Dauer: 65min<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
In englischer Sprache mit<br />
deutschen Untertiteln<br />
www.ruhr3.com/elagoz1<br />
43
SEEK BROMANCE<br />
SAMIRA ELAGOZ<br />
Performance / Film<br />
»Ist es nicht ein bisschen abgefuckt, jetzt ein Mann<br />
werden zu wollen?« – »Ist es nicht revolutionär?«<br />
→ Magazin, Seite 203<br />
44
Irgendwo zwischen Insta-Reality und Sci-Fi-Dystopie – eine Romanze zwischen zwei transmakulinen<br />
Künstler:innen am Ende <strong>der</strong> Welt. Die Bil<strong>der</strong>, die Samira Elagoz gemeinsam mit<br />
seinem/seiner Partner:in, dem/<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Schnittstelle von Poesie, Performance und<br />
Installation arbeitende/n Künstler:in Cade Moga, einfängt, dokumentieren auf radikal<br />
persönliche Art ihre unmögliche Liebe, vom ersten Kennenlernen bis zur endgültigen<br />
Trennung. Sie dokumentieren zugleich Samiras langen Abschied von seiner Femme-<br />
Identität und den Beginn einer Reise ins Ungewisse. Was als digitale Begegnung auf<br />
Facebook begann, wird zu einem fragilen Experiment in <strong>der</strong> Realität, als Samira in den<br />
Flieger nach L.A. steigt, um Cade zu besuchen. Drei Monate verbringen sie miteinan<strong>der</strong><br />
im Lockdown auf engstem Raum: zwei Fremde, zwei Suchende im Ringen umeinan<strong>der</strong>,<br />
im Ringen um die eigene Identität und schließlich im Scheitern an den binären Grenzen<br />
unserer Wahrnehmung. Eine schmerzhaft schöne, menschenleere Welt, als hätte ein<br />
Virus alles ausgelöscht. Bil<strong>der</strong> von betören<strong>der</strong> Schönheit, zugleich verstörende Zeugnisse<br />
einer zur Wüste gewordenen Welt. Gerade die Wüste ist ein Ort <strong>der</strong> Transformationen,<br />
ein Trans-Ort des Übergangs, wo nichts die Wahrnehmung ablenkt und gesellschaftliche<br />
Konventionen ihre Gültigkeit verlieren. Wir beobachten zwei Liebende, die sich in<br />
ihrer Sehnsucht einan<strong>der</strong> anverwandeln und in dieser Metamorphose zu etwas werden,<br />
für das es keine Begriffe mehr gibt. Was bleibt, sind leere Worte, Worte wie »Mann«<br />
und »Frau« – als bloße Relikte einer Vergangenheit. Seek Bromance, ein vierstündiges<br />
Feuerwerk <strong>der</strong> Eindrücke und Emotionen, das durch eine ausgeklügelte Dramaturgie<br />
bewusst mit Zuschauererwartungen spielt. Samira Elagoz wurde <strong>2022</strong> ausgezeichnet<br />
mit dem Silbernen Löwen <strong>der</strong> Biennale.<br />
Seek Bromance is a trans romance situated at the end of the world – somewhere between<br />
insta-reality and sci-fi dystopia. The images captured by Samira Elagoz, together with his<br />
collaborator Cade Moga, document their impossible love, from first encounter to decisive<br />
parting, in a radically personal way. At the same time, they also document Samira’s<br />
long farewell to his femme identity and the beginning of a journey into the unknown.<br />
What starts as a digital encounter on Facebook, turns into a fragile experiment in reality<br />
when Samira boards a flight to LA to visit Cade. They spend three months together in<br />
lockdown: two strangers, two seekers wrestling with each other, wrestling for their own<br />
identities and ultimately failing on the binary boundaries of our perceptions. A painfully<br />
beautiful world devoid of humanity, as if a virus had eradicated everything. Images of<br />
tantalising beauty and at the same time harrowing testimony of a world that has turned<br />
into a desert. The desert is the beginning of imagination, a transitional place of crossing,<br />
where nothing distracts perception and social conventions lose their validity. We observe<br />
two lovers who relate to each other through their desire and in this metamorphosis<br />
become something for which there are no longer any terms. What is left are empty<br />
words, words like »man« and »woman« – mere remnants of a past. Seek Bromance:<br />
a four-hour firework display of impressions and emotions whose ingenious dramaturgy<br />
deliberately plays with the perception of the audience. Samira Elagoz was awarded the<br />
Silver Lion at the Biennale.<br />
Regie und Konzept<br />
Samira Elagoz<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Cade Moga<br />
Filmmaterial<br />
Samira Elagoz<br />
Cade Moga<br />
Bearbeitung<br />
Samira Elagoz<br />
Beratung<br />
Bruno Listopad<br />
Antonia Steffens<br />
Beratung Bearbeitung<br />
Otto Rissanen<br />
Jessica Dunn Rovinelli<br />
Tiana Hemlock-Yensen<br />
Valerie Cole<br />
Michael Scerbo<br />
Daniel Donato<br />
Beratung Drehbuch<br />
Tiana Hemlock-Yensen<br />
Richard Sand<br />
Valerie Cole<br />
Beratung während <strong>der</strong><br />
Dreharbeiten<br />
Jeanette Groenendaal<br />
Management, Vertrieb<br />
Something Great<br />
Mit<br />
Samira Elagoz<br />
Cade Moga<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Sa 27. August____________________ 19.00 Uhr<br />
So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: 4h, eine Pause<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
In englischer Sprache mit<br />
deutschen Untertiteln<br />
Eine Produktion von SPRING<br />
Performing Arts Festival.<br />
Koproduziert mit Frascati,<br />
Kunstenwerkplaats Pianofabriek,<br />
Black Box Teater, BIT Teatergarasjen,<br />
Finish Cultural Institute<br />
Benelux, Arsenic.<br />
www.ruhr3.com/elagoz2<br />
45
YUEN SHAN<br />
MICHAEL RANTA<br />
SCHLAGQUARTETT<br />
KÖLN<br />
Konzert<br />
WMICHAEL RANTA<br />
Yuen Shan (1997–2014)<br />
Uraufführung des Gesamtzyklus mit Live-Schlagzeug<br />
Schlagquartett Köln<br />
Thomas Meixner<br />
Boris Müller<br />
Dirk Rothbrust<br />
Achim Seyler<br />
Klangregie<br />
Michael Ranta<br />
46
Michael Rantas Komposition für Schlagwerk und achtkanaliges Tonband ist eine<br />
musikalische Kosmologie, die vom Taoismus inspiriert ist. In vier rituellen Schritten<br />
vollzieht sich <strong>der</strong> menschliche Lebenszyklus von <strong>der</strong> Geburt bis zum Abschied, <strong>der</strong> mit<br />
dem Werden und Vergehen <strong>der</strong> Umwelt gleichgesetzt ist. Die Hörerfahrung ist übervoll<br />
– ein nuanciertes Kontinuum natürlicher Klänge. Sie verbindet Michael Rantas Hingabe<br />
an das fernöstliche Instrumentarium mit Mitteln <strong>der</strong> elektroakustischen Musik. Der<br />
ehemalige Assistent und Schüler von Harry Partch war erstmals 1970 mit Karlheinz<br />
Stock hausen zur Expo in Osaka auf den asiatischen Kontinent gekommen. Inspiriert von<br />
den asiatischen Kulturen blieb Ranta, um im Elektronischen Studio Tokyo zu arbeiten.<br />
1972 zog er weiter nach Taiwan, wo er unter an<strong>der</strong>em an <strong>der</strong> Taiwan National Arts<br />
Academy lehrte. Dort besuchte er täglich den Yuen Shan (»vollkommener Berg«), wo er<br />
sich in <strong>der</strong> Praxis des Tai-Chi übte. Über 30 Jahre liegen zwischen dem ersten Impuls<br />
und dem Abschluss des Werks 2014 in Köln.<br />
Die Einladung an das renommierte Schlagquartett Köln umfasst die Fortführung einer<br />
fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Ensemble, das sich<br />
und das üppige Instrumentarium mit gewohnter Experimentierfreude in ungewohnter<br />
Konzertaufstellung präsentiert.<br />
Michael Ranta’s composition Yuen Shan for percussion and eight-channel recorded<br />
sound is a musical universe that takes its inspiration from Taoism. The human life cycle<br />
is completed in four ritual steps, from birth to farewell, that equate to emergence and<br />
decay in the world around us. The listening experience is very dense – a nuanced continuum<br />
of natural sounds. This combines Michael Ranta’s commitment to East Asian<br />
instruments with the techniques of electro-acoustic music. The former assistant to and<br />
pupil of Harry Partch had visited Asia for the first time in 1970 with Karlheinz Stockhausen<br />
to perform at the Expo in Osaka. Ranta was so inspired by Asian cultures that he stayed<br />
on to work at the Electronic Studio in Tokyo. From there, he moved to Taiwan in 1972,<br />
where his activities included teaching at the Taiwan National Arts Academy. There, he<br />
would visit the Yuen Shan (»perfect mountain«) every day, where he would practise tai<br />
chi. More than 30 years elapsed between the initial idea for the work and its completion<br />
in Cologne in 2014.<br />
This invitation to the prestigious Schlagquartett Köln marks the continuation of a fruitful<br />
collaboration between the composer and the ensemble, which presents itself and<br />
its extensive range of instruments in an unusual concert configuration, with its usual<br />
enthusiasm for experimentation.<br />
Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />
Essen<br />
Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
So 28. August____________________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 1h 40min, ohne Pause<br />
www.ruhr3.com/yuen<br />
47
HAUS<br />
SARAH NEMTSOV<br />
HEINRICH HORWITZ<br />
ROSA WERNECKE<br />
Musiktheater<br />
Mein Traumhaus hat keine Wände … aber eine Heizung<br />
→ Magazin, Seite 207<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
48
Wie ein amputierter Wurmfortsatz aus einer an<strong>der</strong>en Zeit verharrt die Turbinenhalle im<br />
Bochumer Westpark. Die Produktionsstätte hat ihre ursprüngliche Funktion verloren<br />
und wird nun neu besetzt: Sarah Nemtsovs Instrumentalzyklus HAUS (2013–<strong>2022</strong>) zieht<br />
in den Raum ein, tastet seine Oberflächen und Innereien ab, baut Zimmer übereinan<strong>der</strong><br />
und verkriecht sich in einer Kammer, schlägt Fenster in die Imagination und findet<br />
die Tür nicht mehr. Solominiaturen und Ensemblestücke für Harfe, Flöte, Klarinette,<br />
Schlagzeug und elektroakustisches Instrumentarium schaffen ein mehrdimensionales<br />
Gebilde und verhandeln komplexe Zustände von Gemeinschaft, Vereinzelung und Kontaktlosigkeit.<br />
Die Regie- und Videoarbeit von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke<br />
spürt gespeicherten Gewalterfahrungen nach, reißt Altes ab, um Platz für die Keimzelle<br />
einer utopischen Neukonstruktion zu machen. Das Publikum durchmisst die installative<br />
Szene mit den eigenen Schritten, kann selbst Blickachsen und Bewegungstempo definieren,<br />
während die Raumkomposition die Sinne fortwährend in produktive Desorientierung<br />
versetzt. Queere Transformationsprozesse erfassen Körper wie Raum, machen<br />
schwindelig, pellen die Wände, um ihr Mauerwerk nach außen zu tragen: »Dies ist ein<br />
dunkles Haus, sehr groß. / Ich selbst habe es gebaut. / Zelle für Zelle aus einer stillen<br />
Ecke, / auf grauem Papier kauend, / Leimtropfen schwitzend, / pfeifend, mit den Ohren<br />
wackelnd, / die Gedanken an<strong>der</strong>swo.« Sylvia Plath<br />
The Turbinenhalle remains in Bochum’s Westpark, where it lies like a removed appendix.<br />
This production centre has lost its original purpose and now has new occupants:<br />
Sarah Nemtsov’s instrumental cycle HAUS (2013–<strong>2022</strong>) has moved into the space, felt its<br />
surfaces and innards, built »rooms« on top of each other and snuggled into a »garret«,<br />
put in windows to the imagination and can no longer find the »door«. Solo miniatures and<br />
ensemble pieces for harp, flute, clarinet, percussion and electro-acoustic instruments<br />
create a multi-dimensional structure and negotiate complex states of community, isolation<br />
and lack of contact. The direction and video work of Heinrich Horwitz and Rosa<br />
Wernecke trace memories of violent experiences, tearing down the old to create the nucleus<br />
for a new, utopian construction. The audience navigates this staged installation<br />
with its own steps and can select visual axes and speeds of movement to suit itself,<br />
while the spatial composition continually pushes the senses into a state of productive<br />
disorientation. Queer transformation processes seize both bodies and space, causing<br />
dizziness and peeling away the surface of the walls, exposing their brickwork: »This is a<br />
dark house, very big. / I made it myself, / Cell by cell from a quiet corner, / Chewing at the<br />
grey paper, / Oozing the glue drops, / Whistling, wiggling my ears, / Thinking of something<br />
else.« Sylvia Plath<br />
Komposition<br />
Sarah Nemtsov<br />
Regie, Raum<br />
Heinrich Horwitz<br />
Raum, Video, Licht<br />
Rosa Wernecke<br />
Kostüme<br />
Magdalena Emmerig<br />
Sound Design<br />
Paul Jeukendrup<br />
Dramaturgie<br />
Johanna Danhauser<br />
Regie- und Bühnenbildassistenz<br />
Lina Gasenzer<br />
Inspizienz<br />
Lea Theus<br />
Performer:innen<br />
Synthesizer, Elektronik<br />
Sebastian Berweck<br />
Klarinette<br />
Laurent Bruttin<br />
Harfe<br />
Valeria Kafelnikov<br />
Flöte<br />
Susanne Peters<br />
Perkussion<br />
Jonathan Shapiro<br />
Turbinenhalle an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Szenische Uraufführung des<br />
Instrumentalzyklus<br />
Mi 31. August _________________ 20.00 Uhr<br />
Do 01. September _______ 20.00 Uhr<br />
Fr 02. September _______ 20.00 Uhr<br />
Sa 03. September _______ 20.00 Uhr<br />
So 04. September _______ 20.00 Uhr<br />
Mi 07. September _______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 37 €, ermäßigt 18,50 €<br />
Ohne Sprache<br />
Eine Produktion <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong><br />
Aufführungsrechte Musik:<br />
G. Ricordi & Co. Bühnen- und<br />
Musikverlag GmbH<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Rudolf Augstein Stiftung<br />
Dauer: ca. 90min<br />
www.ruhr3.com/haus<br />
49
FOLLOW ME<br />
BE FLAT<br />
Performance / Für 1.– 5. Klasse und Familien<br />
50
Wir bewegen uns auf angelegten Wegen durch die Welt, entlang vorgeschriebener und<br />
überlieferter Routen. Wir folgen Regeln, Verabredungen, Übereinkünften, angenommenen<br />
Gesetzmäßigkeiten. Aber sind Wege nicht häufig Umwege? Ist die Karte auf dem Handy<br />
zur Orientierung wirklich geeigneter als <strong>der</strong> Ausblick von einem Laternenmast? Und sind<br />
<strong>der</strong> aufrechte Gang o<strong>der</strong> das Sitzen in Verkehrsmitteln nicht ziemlich langweilig, um von<br />
A nach B zu kommen?<br />
Die beiden belgischen Parkour-Akrobaten Ward Mortier und Thomas Decaesstecker erkunden<br />
die Zeche Zollverein rund um das Salzlager abseits von ausgetretenen Pfaden.<br />
Sie stellen Naturgesetze und körperliche Grenzen auf den Kopf – im wahrsten Sinne des<br />
Wortes und darüber hinaus. Was eben noch die Regel war, ist plötzlich eine Frage.<br />
Im heute urbanen Raum <strong>der</strong> einstigen Industrieanlage wird das Publikum zu Mitspielenden,<br />
die Straßen werden zur Bühne, Fassaden zur Kulisse und das Pflaster zur Tanzfläche.<br />
Wenn jetzt noch ein Hund bellt o<strong>der</strong> ein Auto hupt …<br />
Als analoge Follower:innen, ausgestattet mit Campinghockern, gehen wir in <strong>der</strong> Parkour-<br />
Performance Follow me auf eine akrobatische und theatrale Reise durch alltägliche<br />
Situationen mit unerwarteten Momenten. Wie aktiv sich jede:r in die Aufführung einbringt,<br />
liegt im eigenen Ermessen. Als Gemeinschaft auf Zeit im Hier und Jetzt teilen wir<br />
ein Erlebnis und werden von absurden Situationen verleitet, dem öffentlichen Raum als<br />
kreative Spielwiese zu begegnen. Vielleicht über die Aufführung hinaus.<br />
Inszenierung / Artistik<br />
Ward Mortier<br />
Thomas Decaesstecker<br />
Dramaturgie<br />
Craig Weston<br />
Blick von Außen<br />
San<strong>der</strong> De Cuyper<br />
Schlagzeug<br />
Tars Van Der Vaerent<br />
We move through the world along established paths, using traditional, pre-set routes. We<br />
follow rules, agreements, conventions and accepted laws. But don’t paths often go the<br />
long way round? Is the map on your phone really a better way of working out where you<br />
are than the view from the top of a lamppost? And aren’t walking upright or sitting on<br />
public transport pretty boring ways of getting from A to B?<br />
The two Belgian parkour acrobats Ward Mortier and Thomas Decaesstecker go off the<br />
beaten track to explore Zeche Zollverein around the Salzlager. They turn the laws of<br />
nature and physical limits upside down – in the truest sense of the word and more. What<br />
was the rule is now suddenly a question.<br />
In today’s urban space of the former industrial complex, the public now become coperformers,<br />
the streets the stage, buildings the backdrop and the pavement the dance<br />
floor. And if a dog barks or a car honks right this moment …<br />
As analogue followers, equipped with camping stools, for the parkour performance<br />
Follow me, we go on an acrobatic and theatrical journey through everyday situations with<br />
unexpected moments. How actively everyone takes part in the performance is up to them<br />
to decide. As a temporary community in the here and now, we share an experience and<br />
are induced by absurd situations to encounter public spaces as a creative means of play.<br />
Perhaps beyond the performance.<br />
Außengelände Welterbe<br />
Zollverein, Essen<br />
Treffpunkt: Salzlager<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Fr 02. September__________ 11.00 Uhr<br />
Sa 03. September_________ 16.00 Uhr<br />
So 04. September_________ 16.00 Uhr<br />
Mo 05. September__________11.00 Uhr<br />
Di 06. September__________ 11.00 Uhr<br />
Tickets: 7 €, ermäßigt 3,50 €<br />
Informationen zu Tickets und<br />
Workshops für Schulen s. S. 74<br />
Ohne Sprache<br />
Eine Produktion von Be Flat VZW.<br />
Koproduziert mit Miramiro und<br />
<strong>der</strong> Vlaamse Gemeenschap.<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
durch die RAG-Stiftung<br />
Dauer: ca. 60min<br />
www.ruhr3.com/followme<br />
51
I AM 60<br />
WEN HUI<br />
Tanz / Performance / Film<br />
Wohin das Leben führt, da ist unser Tanz<br />
→ Magazin, Seite 188<br />
52
Der Körper als Archiv kollektiver Erinnerung: In ihrer neuesten Arbeit stellt die chinesische<br />
Choreografin, Tänzerin und Mitbegrün<strong>der</strong>in des legendären Living Dance Studios, Wen Hui<br />
Erfahrungen ihres Lebens als Frau Passagen aus den Stumm- und frühen Tonfilmen des<br />
Shanghai <strong>der</strong> 30er Jahre gegenüber. Diese hatten einen Aufbruch markiert, das herrschende<br />
konfuzianisch-patriarchale System kritisiert und soziale Probleme, Klassenkämpfe und<br />
Fragen <strong>der</strong> Geschlechtergerechtigkeit zu ihrem Gegenstand gemacht. Wen Hui lässt die<br />
Zeitachse sich krümmen und fragt, was von <strong>der</strong> Emanzipationsbewegung geblieben ist.<br />
Sind die gewonnen geglaubten Schlachten tatsächlich geschlagen? Vergangenheit und<br />
Gegenwart legen sich übereinan<strong>der</strong>, und die in den Körper eingeschriebenen Erfahrungen<br />
von Frauen verschiedener Generationen, Audio- und Videoaufnahmen, Texte, Bil<strong>der</strong> und<br />
mündliche Erzählungen verweben sich zu einer multimedialen dokumentarischen Solo-<br />
Performance von großer Intensität.<br />
The body as an archive of collective memory: in her latest work, the Chinese choreographer,<br />
dancer and co-foun<strong>der</strong> of the legendary Living Dance Studio, Wen Hui, contrasts her life<br />
as a woman with excerpts from the silent movies and early talkies of Shanghai in the<br />
30s. These marked a radical change, criticising the prevailing Confucian patriarchal system<br />
and commenting on social problems, class struggles and gen<strong>der</strong> equality. Wen Hui<br />
bends the axes of time and asks: what is left of this emancipation movement? Have the<br />
battles we thought had been won actually been won at all? Past and present are superimposed,<br />
and the physical experiences of women from different generations, audio and<br />
video recordings, texts, images and oral narratives are woven together into a multimedia,<br />
documentary, solo performance of remarkable intensity.<br />
Choreografie, Tanz<br />
Wen Hui<br />
Dramaturgie, Beratung<br />
Zhang Zhen<br />
Musik<br />
Wen Luyuan<br />
Video Design<br />
Rémi Crépeau<br />
Zou Xueping<br />
Licht Design<br />
Romain de Lagarde<br />
Bühnenbild<br />
Francisco Linares<br />
Verwaltung, Booking<br />
Damien Valette<br />
Koordination<br />
Louise Bailly<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Fr 02. September_______ 20.00 Uhr<br />
Sa 03. September_______ 20.00 Uhr<br />
So 04. September_________ 18.00 Uhr<br />
Dauer: 60min<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
In chinesischer Sprache mit<br />
deutschen und englischen<br />
Übertiteln<br />
Eine Produktion von Théâtre de<br />
la Ville, Living Dance Studio und<br />
Damien Valette Prod.<br />
Koproduziert mit Théâtre de la<br />
Ville / Festival d’automne à Paris.<br />
Veranstaltet von PACT Zollverein<br />
für die <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
www.ruhr3.com/sixty<br />
53
COFFIN BUBBLES<br />
YARON DEUTSCH<br />
ENSEMBLE LINEA<br />
YALDA ZAMANI<br />
Konzert<br />
CHAYA CZERNOWIN<br />
Knights of the strange (2015)<br />
RAPHAËL CENDO<br />
Coffin Bubbles Blue (2021)<br />
PIERLUIGI BILLONE<br />
Sgorgo Y (2012)<br />
E-Gitarre<br />
Yaron Deutsch<br />
Ensemble Linea<br />
Musikalische Leitung<br />
Yalda Zamani<br />
54
Für Rock, Blues und Jazz ist die E-Gitarre mehr als nur ein Instrument. Sie ist eine Ikone.<br />
Ihr Klang evoziert Gefühle von Freiheit, Jugend und Unbezwingbarkeit. Inzwischen hat<br />
sie auch in <strong>der</strong> Neuen Musik eine nicht mehr wegzudenkende Rolle eingenommen. Ihr<br />
assoziationsstarker Klang konfrontiert Komponist:innen mit neuen Möglichkeiten und<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen – nicht zuletzt wenn es darum geht, akustische und elektronische<br />
Sphären miteinan<strong>der</strong> zu vereinbaren. Wie grunddivers, lust- und fantasievoll diese<br />
Konfrontation ausfallen kann, zeigt <strong>der</strong> israelische E-Gitarren-Virtuose Yaron Deutsch<br />
mit drei Werken, die in den letzten zehn Jahren für ihn komponiert wurden.<br />
In Chaya Czernowins Knights of the strange geht sein Instrument eine langsam und<br />
traumartig sich vorantastende Verbindung mit dem Akkordeon ein. Raphaël Cendo spannt<br />
das hybride Klangnetz sogar über mehrere Epochen und Kulturen. Sein Concerto Coffin<br />
Bubbles Blue erkundet extravagante Legierungen zwischen E-Gitarre und Barocktheorbe,<br />
Zymbalom, <strong>der</strong> chinesischen Mundorgel Sheng o<strong>der</strong> <strong>der</strong> elektrischen Orgel. Fast obsessiv<br />
indessen fokussiert <strong>der</strong> Italiener Pierluigi Billone in Sgorgo Y ein mechanisches Detail<br />
<strong>der</strong> E-Gitarre, nimmt es unters Mikroskop, folgt seinem Sog wie in einem zenartigen<br />
Ritual. Und braucht dafür nichts als die linke Hand des Gitarristen.<br />
In blues, rock and jazz, the electric guitar is more than just an instrument. It is an icon.<br />
Its sound conjures up feelings of freedom, youth and invincibility. Now, it has also assumed<br />
an irreplaceable role in new music. Its powerfully associative sound confronts<br />
composers with new options and challenges – not least when it comes to uniting the<br />
acoustic and electronic spheres. How fundamentally different, joyful and imaginative<br />
this confrontation can be, is demonstrated by the Israeli electric-guitar virtuoso Yaron<br />
Deutsch, playing three works that have been composed for him in the last ten years.<br />
In Chaya Czernowin’s Knights of the strange, the instrument embarks on a slow and<br />
dreamily tentative union with the accordion. Raphaël Cendo even spans the net of hybrid<br />
sound across several epochs and cultures: His concerto Coffin Bubbles Blue explores<br />
extravagant amalgams between the electric guitar and instruments such as the Baroque<br />
theorbo, the cimbalom, the Chinese mouth organ Sheng and the electric organ. Meanwhile,<br />
in Sgorgo Y, the Italian Pierluigi Billone focuses almost obsessively on a mechanical<br />
detail of the electric guitar, places it un<strong>der</strong> microscopic inspection and follows its<br />
fascination in a Zen-like ritual. And to do this, all he requires is the guitarist’s left hand.<br />
Gebläsehalle,<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
Sa 03. September_______ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 60min<br />
www.ruhr3.com/bubbles<br />
55
CLOCK DIES<br />
ENSEMBLE<br />
MUSIKFABRIK<br />
BRAD LUBMAN<br />
Konzert<br />
GEORGE LEWIS<br />
Assemblage (2013)<br />
SARAH HENNIES<br />
Clock Dies (2021)<br />
Europäische Erstaufführung<br />
GEORGE LEWIS<br />
Tales of the Traveller (2016)<br />
Klarinette<br />
Carl Rosman<br />
Minimoog<br />
Ulrich Löffler<br />
Ensemble Musikfabrik<br />
Musikalische Leitung<br />
Brad Lubman<br />
56
Als Komponist, Musikwissenschaftler, Computermusik-Pionier und Posaunist ist George<br />
Lewis eine Legende <strong>der</strong> amerikanischen Neue-Musik-Szene. So kreativ wie kritisch,<br />
so philosophisch wie experimentell prägt er die musikalische Diskurslandschaft und<br />
schärft das Bewusstsein für die hegemonialen Strukturen, die bis heute das Musikleben<br />
bestimmen. Das breite Spektrum seiner Biografie spricht aus seinen Werken – und aus<br />
jedem an<strong>der</strong>s. In seiner rastlosen Komposition Assemblage rekombiniert er heterogenste<br />
musikalische Elemente, inspiriert von <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Assemblage in Wissenschafts- und<br />
Technologie studien wie in <strong>der</strong> Philosophie von u. a. Bruno Latour und Gilles Deleuze,<br />
und den Assemblage-Kunstwerken afroamerikanischer Künstler wie Noah Purifoy, John<br />
Outterbrldge und Betye Saar. In Tales of the Traveller wie<strong>der</strong>um bringt er einen minutiös<br />
auskomponierten Ensemblepart mit zwei improvisierten Soloparts (»The Travellers« – die<br />
Reisenden) in Einklang und schafft damit eine Art klangliche Nomadengeschichte.<br />
In scharfem Kontrast zu Lewis’ impulsiver Musik <strong>der</strong> unerwarteten Wendungen steht<br />
das meditativ sich entfaltende Stück Clock Dies <strong>der</strong> amerikanischen Postexperimental<br />
Komponistin Sarah Hennies, in dem sie sich fragt, was passiert, wenn die biochemische<br />
Uhr im menschlichen Gehirn minimal aus dem Takt gerät. Mit George Lewis verbindet<br />
die um eine Generation jüngere Künstlerin aus Kentucky ein außergewöhnlich breites<br />
Aktions- und Beschäftigungsfeld, das neben Komposition, Improvisation und Schlagzeug<br />
auch die Bereiche Film und Performancekunst berührt. Ihr Interesse kreist um<br />
soziopolitische und psychologische Themen wie Psychoakustik o<strong>der</strong> Queer- und Transidentität.<br />
Taucht man in ihre scheinbar ruhige, flächige Musik ein, stößt man allerdings<br />
auch bei Sarah Hennies auf Unerwartetes: eine lebendige, zeitvergessene Klangstruktur<br />
voller winziger Impulse – Mikroregungen und -bewegungen des Hörens und Reagierens.<br />
As a composer, musicologist, pioneer of computer music and trombonist, George Lewis<br />
is a legend of the American new music scene. As creative as he is critical, as philosophical<br />
as he is experimental, the artist has helped shape the landscape of musical discourse<br />
and sharpened awareness of the hegemonic structures that continue to determine musical<br />
life. The broad spectrum of his career informs every one of his works – and differently<br />
for each one. In his restless composition Assemblage Lewis re-combines the most<br />
heterogenous musical ingredients, inspired by the concept of Assemblage in the context<br />
of scientific and technological studies as well as the philosophy of Bruno Latour<br />
and Gilles Deleuze, and by Assemblage artworks of African American artists like Noah<br />
Purifoy, John Outterbridge and Betye Saar. In Tales of the Traveller, he harmonises a<br />
composed ensemble part with two freely improvised solo parts (»The Travellers«), thus<br />
creating a kind of sonic nomad history.<br />
Contrasting starkly with Lewis’ impulsive music of unexpected turns, Clock Dies, by the<br />
young American post-experimental composer Sarah Hennies, unfolds in meditative fashion.<br />
In this piece she explores the question, what might happen when the biochemical<br />
circadian clock in the human brain experiences disruption. The artist, who is from Kentucky<br />
and is a generation younger than George Lewis, shares with him an extraordinary<br />
breadth of activity and engagement, which, in addition to composition, improvisation and<br />
percussion, includes the fields of film and performance art. Her interests revolve around<br />
socio-political and psychological themes, such as psycho-acoustics or queer and trans<br />
identity. Once we immerse ourselves in Sarah Hennies’ seemingly calm, even music, we<br />
also come across the unexpected in her work: a lively sound structure preserved in time,<br />
full of tiny impulses – micro stirrings and movements of hearing and reacting.<br />
Salzlager, Welterbe Zollverein,<br />
Essen<br />
So 04. September_________ 18.00 Uhr<br />
Tickets: 42 / 32 / 22 €,<br />
ermäßigt ab 11 €<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
durch die RAG-Stiftung<br />
Dauer: ca. 1h 20min, ohne Pause<br />
www.ruhr3.com/clock<br />
57
WOLFGANG HILBIG —<br />
MONOLOG<br />
AUS EINIGEN TAGEN<br />
MEINES LEBENS<br />
CORINNA HARFOUCH<br />
FELIX KROLL<br />
CATHERINE STOYAN<br />
Literatur<br />
58
Corinna Harfouch begeisterte bereits 2021 das Publikum <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> mit ihrer<br />
vitalen Erzählkraft. Dieses Mal widmet sie sich, musikalisch begleitet von Felix Kroll und<br />
<strong>der</strong> Schauspielerin Catherine Stoyan, den Texten Wolfgang Hilbigs. Ein Monolith <strong>der</strong><br />
Literatur. Unverwechselbar, einzigartig! Der 2002 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete<br />
Lyriker, Romanautor und Essayist wäre dieses Jahr 81 Jahre alt geworden.<br />
Aufgewachsen in einer Bergarbeiterfamilie im thüringischen Meuselwitz lernte er nach<br />
kurzer Schulzeit den Beruf des Bohrwerkdrehers, arbeitete auf dem Braunkohletagebau,<br />
später als Heizer. Seine Erkundungsgänge durch die Landschaft <strong>der</strong> Seele suchen in <strong>der</strong><br />
deutschsprachigen Literatur ihresgleichen. Hilbig erzählt von Krieg und Diktatur, Leben<br />
und Tod, Alltag und Arbeitswelt einer sterbenden Industrieregion, von <strong>der</strong> verlorenen<br />
und doch endlich gefundenen Heimat, vor allem aber davon, wie ein Mensch, allen Verführungen<br />
und Bedrohungen zum Trotz, zu sich selbst findet. Es ist die Stimme eines<br />
Autors aus <strong>der</strong> Zwillingsregion des Ruhrgebiets im Osten Deutschlands, in dessen Leben<br />
sich das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mit all seinen Verwerfungen eingezeichnet hat.<br />
Mit<br />
Corinna Harfouch<br />
Catherine Stoyan<br />
Musik<br />
Felix Kroll<br />
Corinna Harfouch thrilled <strong>Ruhrtriennale</strong> audiences in 2021 with her vivid storytelling.<br />
This time, accompanied by music from Felix Kroll and the actor Catherine Stoyan, she<br />
will read the texts of Wolfgang Hilbig. A literary monolith. Unmistakeable and unique!<br />
The poet, novelist and essayist, winner of the Georg Büchner Prize in 2002, would have<br />
been 81 this year. Brought up in a mining family in Meuselwitz in Thuringia, after a brief<br />
education he trained as a lathe operator at a boring mill, worked at an open-cast lignite<br />
mine and later as a boilerman. His explorations of the landscape of the soul have yet to<br />
find their equal in German literature. Hilbig tells us about war and dictatorship, life and<br />
death, the everyday and working-day world of a dying industrial region, of a homeland<br />
that was lost and eventually found again, and, above all, about how someone, ignoring<br />
all temptations and threats, manages to find themselves. His is the voice of an author<br />
from the Ruhr’s twin region in the east of Germany, whose life was inscribed by all the<br />
upheavals of the 20th century.<br />
Maschinenhaus Essen<br />
Do 08. September _______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt 8,50 €<br />
Dauer: ca. 90min<br />
www.ruhr3.com/monolog<br />
59
PROMISE ME<br />
KABINET K<br />
& HETPALEIS<br />
Tanz<br />
Für 3.–6. Klasse und Erwachsene<br />
PROMISE ME<br />
→ Magazin, Seite 192<br />
60
Sie rennen durch den Raum, schreien, springen. Sie fallen von Wänden, beißen sich fest,<br />
zerreißen Klei<strong>der</strong>, werfen Steine und umarmen sich. Werden aufgefangen. Gehalten.<br />
Eingefangen. Abgeschüttelt. Gedreht. Sie sind wild, ungebremst, nicht unterzukriegen,<br />
waghalsig. Sie vertrauen einan<strong>der</strong> und testen die Grenzen des Möglichen aus. Immer<br />
wie<strong>der</strong>.<br />
Die Performer:innen – fünf Kin<strong>der</strong> und zwei Erwachsene – lassen keinen Moment <strong>der</strong><br />
Konfrontation aus. Angetrieben von <strong>der</strong> Livemusik einer E-Gitarre werfen sie sich mutig<br />
von einem Extrem in das nächste, lassen den Stillstand <strong>der</strong> vergangenen Monate hinter<br />
sich, dulden keine Gleichgültigkeit, riskieren alles in Zeiten, in denen die meisten<br />
nach Sicherheit suchen. promise me feiert die Sorglosigkeit – in all ihrer Brutalität und<br />
Schönheit. Erzählt von <strong>der</strong> Sehnsucht nach bedeutungsvollen Dingen. Aber auch von<br />
den Narben, die sie auf unserer Haut hinterlässt.<br />
Die belgische Tanzkompanie kabinet k <strong>der</strong> Choreograf:innen Joke Laureyns und Kwint<br />
Manshoven wird international hoch geschätzt für ihre beeindruckenden Arbeiten mit<br />
generationsübergreifenden Ensembles. Die Produktionen werden mit den mitwirkenden<br />
Kin<strong>der</strong>n in einem intensiven und gleichberechtigten Dialog entwickelt. Nach Monaten<br />
pandemiebedingter Einschränkungen und Absagen traf sich das Ensemble wie<strong>der</strong>. Aus<br />
Improvisationen und <strong>der</strong> Energie des Wie<strong>der</strong>sehens entstand promise me. Eine temporeiche,<br />
schonungslos physische, radikale und poetische Performance. Eine bewegende<br />
Hommage <strong>der</strong> Mutigen und Ungezähmten an die Lebensfreude. Ein berührendes Erlebnis<br />
für Kin<strong>der</strong> von acht bis zwölf Jahren und Erwachsene gleichermaßen.<br />
They run through the room, screaming, jumping. They fall from walls, bite each other, tear<br />
clothing, throw stones and hug each other. They are caught. Held. Captured. Shaken off.<br />
Spun around. They are wild, unstoppable, unable to be kept down. Reckless. They trust<br />
each other and test the limits of what is possible. Over and over.<br />
The five children and two adult performers leave out not a single moment of confrontation.<br />
Driven by the live music of an e-guitar, they throw themselves courageously from<br />
one extreme to the next, leave the stagnancy of the previous months behind them,<br />
tolerate no half-heartedness, and risk everything at a time when most people are looking<br />
for security. Promise me celebrates carefreeness, in all its brutality and beauty. It tells of<br />
the longing for meaningful things. But also of the scars this leaves on our skin.<br />
The Belgian dance company, kabinet k, led by choreographers Joke Laureyns and Kwint<br />
Manshoven, is internationally celebrated for its impressive work with multigenerational<br />
ensembles. After months of pandemic-related restrictions and cancellations, the company<br />
has reunited with a production. Promise me emerged from improvisation and the energy<br />
of the reunion. All of kabinet k’s productions are developed with children participating<br />
in an intense and equal dialogue. A fast-paced, relentlessly physical, radical and poetic<br />
performance. A moving tribute to the joy of life by the brave and untamed. A touching<br />
experience for kids aged 8–12 and adults alike.<br />
Choreografie<br />
Joke Laureyns<br />
Kwint Manshoven<br />
Komposition, Live Musik<br />
Thomas Devos<br />
Bühnenbild<br />
Kwint Manshoven<br />
Dirk de Hooghe<br />
Dramaturgie<br />
Mieke Versyp<br />
Koen Haagdorens<br />
Kostüme<br />
Valerie le Roy<br />
Licht Design<br />
Dirk de Hooghe<br />
Sound Design<br />
Karel Marynissen<br />
Produktionsleitung<br />
Marieke Cardinaels<br />
Kommunikation, Vertrieb<br />
Mieke Versyp<br />
Fotografie<br />
Kurt van <strong>der</strong> Elst<br />
Mit<br />
Ido Batash<br />
Ilena Deboeverie<br />
Téa Mahaux<br />
Zélie Mahaux<br />
Kwint Manshoven<br />
Juliette Spildooren<br />
Lili van den Bruel<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Fr 09. September__________ 11.00 Uhr<br />
Sa 10. September_________ 18.00 Uhr<br />
So 11. September_________ 15.00 Uhr<br />
Dauer: 65min<br />
Tickets: 17 / 12 €, ermäßigt 6 €<br />
Schulen für 5 € pro Person<br />
Ohne Sprache<br />
Informationen zu Tickets und<br />
Workshops für Schulen s. S. 74<br />
Eine Produktion von kabinet k<br />
& hetpaleis. Mit Unterstützung<br />
<strong>der</strong> flämischen Behörde, <strong>der</strong><br />
Stadt Gent und Tax Shelter <strong>der</strong><br />
belgi schen Regierung über<br />
Casa Kafka.<br />
Ab Januar 2023 fusionieren les<br />
ballets C de la B & kabinet k zu<br />
laGeste<br />
www.ruhr3.com/promise<br />
61
RESPUBLIKA<br />
ŁUKASZ TWARKOWSKI<br />
BOGUMIL MISALA<br />
JOANNA BEDNARCZYK<br />
FABIEN LÉDÉ<br />
LITHUANIAN<br />
NATIONAL DRAMA<br />
THEATRE<br />
Schauspiel / Rave<br />
RES<br />
→ Magazin, Seite 170<br />
62
Wie könnte sie aussehen, eine gerechtere Welt? Wie lässt sie sich gestalten, die umweltbewusstere,<br />
die friedliche Gesellschaft, die, die um die Leerstelle weiß, die in ihr klafft,<br />
und die die Konsequenzen zieht aus <strong>der</strong> Erkenntnis, dass die Idee <strong>der</strong> Freiheit sich nicht<br />
nur mit den individuellen Interessen, son<strong>der</strong>n mit dem Sozialen verbinden muss? Welche<br />
Geschichte von morgen lässt sich entwerfen? Wie gelingt Gemeinschaft allen <strong>der</strong>zeitigen<br />
Radikalisierungstendenzen zum Trotz?<br />
Das mehrsprachige Ensemble um den Regisseur, Videokünstler und Raver Łukasz<br />
Twarkowski hat sich einem Selbstversuch unterzogen. Für einige Wochen folgte es<br />
dem Vorbild früherer Aussteiger in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit, nahm sich aus dem<br />
Zeiten lauf, kappte den Alltag, zog sich in die litauischen Wäl<strong>der</strong> zurück und stellte sich<br />
den existenziellen Fragen, aber auch seiner Verzweiflung und Lust. Twarkowski begleitete<br />
diesen Prozess mit seiner Kamera und kreierte aus diesem Material gemeinsam mit <strong>der</strong><br />
Autorin Joanna Bednarczyk, dem bildenden Künstler Fabien Lédé, dem Komponisten<br />
Bogumil Misala, DJ SPECTRIBE, dem Choreografen Paweł Sakowicz und den Spieler:innen<br />
ein komplexes Gegenwartsbild mit all seinen gesellschaftlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen und<br />
individuellen Nöten. Für die Bühne entstand daraus eine sechsstündige Mockumentary,<br />
die Perspektiven aus Vergangenheit und Zukunft wählt, um unsere Zeit in den Blick zu<br />
bekommen.<br />
Techno, Film, Schauspiel und bildende Kunst verbinden sich an diesem Abend zu einer<br />
eigenen Welt. Das Publikum ist eingeladen, diese frei zu erkunden: zu kommen, zu gehen,<br />
zu beobachten, Teil von ihr zu werden, mit den Spieler:innen zu tanzen, zu essen, zu saunieren<br />
und mit ihnen über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Am Ende<br />
steht <strong>der</strong> Rave als Wi<strong>der</strong>stand gegen die Ohnmacht unserer Zeit.<br />
What might a fairer world look like? How can we create this more environmentally conscious,<br />
peaceful society that is aware of the gaping emptiness inside it and can draw<br />
its own conclusions from the realisation that the concept of freedom cannot be linked<br />
only to individual advancement but also social progress? What story of tomorrow might<br />
be created? How can community be achieved despite all the current moves towards<br />
radicalisation?<br />
Members of the multilingual ensemble around the director, video artist and raver Łukasz<br />
Twarkowski have conducted an experiment on themselves. For several weeks, they followed<br />
the example set by previous dropouts in human history, stepping away from course<br />
of time, cutting themselves off from everyday concerns, retreating into the forests of<br />
Lithuania and addressing existential questions, as well as their desperation and desires.<br />
Twarkowski followed this process with his camera, and from this material, together with<br />
the writer Joanna Bednarczyk, the visual artist Fabien Lédé, the composer Bogumil Misala,<br />
DJ SPECTRIBE, the choreographer Pawel Sakowicz and the performers, he created a<br />
complex picture of the present, with all its social challenges and individual needs. This<br />
has now yielded a six-hour mockumentary for the stage that selects perspectives from<br />
the past and the future in or<strong>der</strong> to view our own time.<br />
Techno, film, theatre, literature and the visual arts combine on this evening to form a<br />
world of their own. The public are invited to explore it as they wish: they may come and<br />
go, simply watch or become part of it, they can eat, dance or take a sauna with the actors<br />
and think about new forms of living together. In the end, the rave stands as an act of<br />
subcultural resistance against the impotence of our time.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Fr 09. September ___________19.00 Uhr<br />
Sa 10. September __________19.00 Uhr<br />
Do 15. September __________19.00 Uhr<br />
Fr 16. September ____________19.00 Uhr<br />
Sa 17. September ___________19.00 Uhr<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />
Jedes Ticket zu einer beliebigen<br />
Vorstellung von Respublika<br />
ist auch eine Einladung zu den<br />
Raves ab 23.00 Uhr an den<br />
an<strong>der</strong>en Vorstellungstagen<br />
(ausgenommen 17.09.).<br />
Eine Produktion des Lithuanian<br />
National Drama Theatre in<br />
Koproduktion mit den Münchner<br />
Kammerspielen.<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Stiftung<br />
Mercator.<br />
Regie<br />
Łukasz Twarkowski<br />
Produktion<br />
Vidas Bizunevičius<br />
Text und Dramaturgie<br />
Joanna Bednarczyk<br />
Bühnenbild<br />
Fabien Lédé<br />
Video Design<br />
Karol Rakowski<br />
Adomas Gustainis<br />
Choreografie<br />
Paweł Sakowicz<br />
Komposition<br />
Bogumił Misala<br />
Kostüme<br />
Svenja Gassen<br />
Licht Design<br />
Julius Kuršys<br />
Dainius Urbonis<br />
Bühnentechnik<br />
Karolis Juknys<br />
Regieassistenz<br />
Eglė Švedkauskaitė<br />
Dramaturgieassistenz<br />
Simona Jurkuvėnaitė<br />
Bühnenbildassistenz<br />
Rokas Valiauga<br />
Kinematographie/Film<br />
Simonas Glinskis<br />
Sound Design<br />
Karolis Drėma,<br />
Adomas Koreniukas<br />
Lichttechnik<br />
Edvardas Osinskis<br />
Dainius Urbonis<br />
Videotechnik<br />
Adomas Gustainis<br />
Šarūnas Liudas Prišmontas Naglis<br />
Kamera<br />
Kristijonas Zakaras<br />
Ričard Žigis<br />
Schnitt<br />
Vytenis Kriščiūnas<br />
Produktionsassistenz<br />
Lukrecija Gužauskaitė<br />
Übersetzung<br />
Vyturys Jarutis<br />
Mit<br />
Diana Anevičiūtė<br />
Algirdas Dainavičius<br />
Jan Dravnel<br />
Airida Gintautaitė<br />
Ula Liagaitė<br />
Martynas Nedzinskas<br />
Valentinas Novopolskis<br />
Augustė Pociūtė<br />
Gediminas Rimeika<br />
Rytis Saladžius<br />
Rasa Samauolytė<br />
Nelė Savičenko<br />
Vainius Sodeika<br />
Komi Togbonou<br />
Dauer: 6h, 2 Pausen<br />
In litauischer, englischer und<br />
deutscher Sprache mit<br />
deutschen und englischen<br />
Übertiteln<br />
Geför<strong>der</strong>t durch die Stiftung<br />
<strong>der</strong> Sparkasse Bochum<br />
zur För<strong>der</strong>ung von Kultur und<br />
Wissenschaft.<br />
www.ruhr3.com/respublika<br />
63
TO COME<br />
(EXTENDED)<br />
METTE<br />
INGVARTSEN<br />
Tanz<br />
Freude als Form des Wi<strong>der</strong>stands<br />
→ Magazin, Seite 196<br />
64
Mette Ingvartsens Performance to come (extended) ist letzter Teil und Höhepunkt ihres<br />
Werkzyklus Red Pieces. In ihm hatte die dänische Choreografin systematisch das<br />
Zusammenspiel von privaten, öffentlichen und politischen Sphären von Sexualität<br />
erforscht. Kontaktarme Zeiten wie die unseren haben die Rolle von Berührungen, Begehren<br />
und Sexualität fundamental verän<strong>der</strong>t. Grund genug, diese ikonischen Arbeit noch einmal<br />
aufzusuchen.<br />
Ständig sind wir von Bil<strong>der</strong>n sexueller Körper umgeben. In Werbung, Internet, Kino, Zeitschriften<br />
– Medien aller Art – wird das Intime, das Erogene ausgestellt. Fleisch, Flüssigkeiten,<br />
Haut, Brüste und Ärsche gehören nicht mehr in die späten Stunden <strong>der</strong> dunklen<br />
Kaschemme um die Ecke, son<strong>der</strong>n sind zu alltäglichen Eindrücken geworden. Erotische<br />
Bil<strong>der</strong>, Texte und Geräusche wirken im öffentlichen Raum mittlerweile so aktiv wie<br />
hinter geschlossenen Schlafzimmertüren und haben unser Verhältnis zum Körperlichen<br />
verän<strong>der</strong>t.<br />
In to come (extended) experimentieren 15 Tänzer:innen mit kollektiven Formen <strong>der</strong> Lust<br />
und befragen sie auf ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen hin. Sie zerlegen die erotische<br />
Ordnung in ihre einzelnen Bestandteile, untersuchen sexuelle, orgiastische und<br />
soziale Ausdrucksformen, überdenken Mechanismen des Begehrens, erforschen, auf<br />
welch unterschiedliche Weisen Körper sich verbinden können und sich das Individuelle<br />
ins Kollektive auflöst.<br />
Today, in these contactless times of social distancing, the topics of pleasure, nudity, sexual<br />
representation and circulation seem as relevant as ever. Reason enough to re-present an<br />
iconographic performance on these themes.<br />
We are constantly surrounded by images of sexual bodies. Commercials, the internet,<br />
cinema, magazines – all kinds of media expose the intimate and the erogenous. Flesh,<br />
fluids, skin, tits and asses no longer belong to the late hours in a dark joint somewhere<br />
around the corner, but to our daily life impressions. Whether in public spaces or behind<br />
closed bedroom doors, erotic images, texts and sounds influence the way we move. The<br />
option to switch off the stimulation of our bodily desires no longer exists. Pleasure has<br />
become a must.<br />
to come (extended) explores indistinctions between private and public space with regard<br />
to sexual representation. In a performance that literally disrupts erotic or<strong>der</strong>s, a group of<br />
15 performers questions the notion of individual sexual freedom by working on orgiastic<br />
relations. The bodies of the performers merge into a collective group formation by making<br />
their surfaces indistinguishable from one another. Working directly on how bodies can<br />
physically connect, mechanisms of desire are rethought by experimenting with sexual,<br />
orgasmic and social expressions. The performance challenges the use of climactic and<br />
orgasmic structures in theatre by proposing extended states of pleasure, in which excitement<br />
is both excessively slowed down and energetically sped up. The enjoyment of<br />
abstract colours and shapes mixes with a sensation of rhythmic pulsing produced by<br />
sensual figures, while social structures come undone.<br />
With The Red Pieces (2014–2017), the Danish choreographer Mette Ingvartsen created<br />
a series of performances dedicated to discourse around sexuality and its historical connections<br />
to the public sphere. The series culminates with to come (extended), a group choreography<br />
piece for 15 dancers, elaborating on cyclic choreographic principles developed by<br />
Ingvartsen in 2005. Proposing that sexual practice is not only intimate and private but also<br />
something that structures social and political interactions, the performance experiments<br />
with public and collective forms of pleasure.<br />
Konzept, Choreografie<br />
Mette Ingvartsen<br />
Licht Design<br />
Basierend auf to come (2005),<br />
entwickelt und durchgeführt von<br />
Mette Ingvartsen<br />
Naiara Mendioroz Azkarate,<br />
Manon Santkin<br />
Jefta van Dinther<br />
Gabor Varga<br />
Licht Design<br />
Jens Sethzman<br />
Musikalische Arrangements<br />
Adrien Gentizon<br />
Basierend auf to come (2005)<br />
Musikalische Arrangements von<br />
Peter Lenaerts<br />
Bühnenbild<br />
Mette Ingvartsen<br />
Jens Sethzman<br />
Blaue Suits<br />
Jennifer Defays<br />
Dramaturgie<br />
Tom Engels<br />
Lindi Hop Trainer<br />
Jill De Muelenaere<br />
Clinton Stringer<br />
Technischer Direktor<br />
Hans Meijer<br />
Tontechnik<br />
Filip Vilhelmsson<br />
Produktionsassistenz<br />
Elisabeth Hirner<br />
Manon Haase<br />
Mit<br />
Thomas Bîrzan<br />
Johanna Chemnitz<br />
Katja Dreyer<br />
Bruno Freire<br />
Gemma Higginbotham<br />
Dolores Hulan<br />
Jacob Ingram-Dodd<br />
Maia Means<br />
Olivier Muller<br />
Calixto Neto<br />
Danny Neyman<br />
Norbert Pape<br />
Julia Rubies<br />
Manon Santkin<br />
Clinton Stringer<br />
Gebläsehalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Sa 10. September_______ 20.00 Uhr<br />
So 11. September_________ 18.00 Uhr<br />
Di 13. September_______ 20.00 Uhr<br />
Mi 14. September______ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 60min<br />
Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
Ohne Sprache<br />
Eine Produktion von<br />
Mette Ingvartsen und Great<br />
Investment. Koproduziert mit<br />
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,<br />
steirischer herbst<br />
festival, NEXT festival/<br />
Kunstencentrum BUDA, Festival<br />
d’Automne, Les Spectacles<br />
vivants – Centre Pompidou,<br />
Dansehallerne, CCN2 – Centre<br />
chorégraphique national de<br />
Grenoble, Dansens Hus, SPRING<br />
Performing Arts Festival,<br />
NEXT festival / le phénix scène<br />
nationale Valenciennes pole<br />
européen de création<br />
www.ruhr3.com/come<br />
65
VERGESSENE OPFER<br />
DUISBURGER<br />
PHILHARMONIKER<br />
ELENA SCHWARZ<br />
Konzert<br />
OLIVIER MESSIAEN<br />
Les offrandes oubliées (1930)<br />
GALINA USTWOLSKAJA<br />
Sinfonie Nr. 1 (1955)<br />
LUIGI NONO<br />
Composizione per orchestra No. 1 (1951)<br />
GALINA USTWOLSKAJA<br />
Sinfonie Nr. 3 ›Jesus Messias, errette uns!‹ (1983)<br />
FRANZ LISZT<br />
Von <strong>der</strong> Wiege bis zum Grabe (1881/82)<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
Männerstimme<br />
Alexan<strong>der</strong> Vassiliev<br />
Duisburger Philharmoniker<br />
Musikalische Leitung<br />
Elena Schwarz<br />
66
Ans Äußerste zu gehen heißt, jede Konsequenz zu tragen: Schmerz, Ausgrenzung, aber<br />
auch die Chance, ansonsten unzugängliche Sphären zu betreten. Im Extremfall bedeutet<br />
es den Tod – für den tschechischen Wi<strong>der</strong>standskämpfer Julius Fučík etwa, dem Luigi<br />
Nono in Compositione per orchestra No. 1 ein verstecktes Denkmal setzte.<br />
Radikal bis zur Selbstaufgabe ist die Musik von Galina Ustwolskaja. Den Vorgaben des<br />
Sozialistischen Realismus verweigerte sie sich so konsequent, dass sie in Kauf nahm,<br />
nur noch für die Schublade zu komponieren. In ihrer Sinfonie Nr. 1, die um die Ängste<br />
und Nöte eines Kindes in <strong>der</strong> kapitalistischen Großstadt kreist, hatte sie den hoffnungslosen<br />
Spagat zwischen Ideologie und Wahrheit noch versucht. In <strong>der</strong> Sinfonie Nr. 3 sind<br />
alle Konformitätsversuche begraben. Die Besetzung ist in extreme Höhen und Tiefen gespreizt.<br />
Die Mittellage bleibt stumm. Brachiale Spieltechniken treiben die Musiker:innen<br />
an ihre physischen Grenzen. Ihr Schmerz beginnt quasi metaphysisch zu klingen.<br />
Auch bei Olivier Messiaen wird Schmerz zu Klang. In seinen offrandes oubliées erinnert<br />
<strong>der</strong> Wegbereiter <strong>der</strong> Nachkriegsavantgarde und fanatische Katholik an die sündhaft vergessenen<br />
Opfer Christi. Schonungslos schlägt seine musikalische Inkarnation <strong>der</strong> Sünde<br />
in die schwebende sinfonische Meditation eine Schneise <strong>der</strong> Unruhe und Verstörung.<br />
Franz Liszt – einst Salon- und Tastenlöwe, später Priester in Askese – wählt für seine<br />
letzte sinfonische Dichtung Von <strong>der</strong> Wiege bis zum Grabe eine ähnlich kontraststarke<br />
Form, bei <strong>der</strong> sich Leben und Tod frontal gegenüberstehen. Was am Ende wie eine Rückkehr<br />
zur Wiege erscheint, erweist sich als abgeklärter Abschied von <strong>der</strong> traditionellen<br />
Harmonik – ein Schwellenübertritt in ein neues Zeitalter <strong>der</strong> Musikgeschichte, Jahre<br />
bevor Schönberg den systematischen Schritt in die Zwölftönigkeit unternimmt.<br />
To go to the very limit means accepting the consequences, whatever they are: pain,<br />
ostracism, but also the chance to enter otherwise inaccessible spheres. In the most<br />
extreme cases, it means death – as it did for the Czech resistance fighter Julius Fučík,<br />
whom Luigi Nono commemorated surreptitiously in his Composizione per orchestra No. 1.<br />
Galina Ustwolskaja’s music is radical to the point of self-abandonment. She rejected the<br />
principles of socialist realism so firmly that she accepted she would only ever compose<br />
for the drawer. In her First Symphony, which focuses on the fears and hardships of a<br />
child in a capitalist metropolis, she still attempted the hopeless balancing act between<br />
ideology and truth. In her Third Symphony, all efforts towards conformity have been<br />
buried. The instrumentation is split between extreme highs and lows. The middle register<br />
remains silent. Brutal playing techniques drive the players to their physical limits. Their<br />
pain begins to sound almost metaphysical.<br />
Pain also turns into sound for Olivier Messiaen: in Les offrandes oubliées (The Forgotten<br />
Offerings) the forerunner of the post-war avant-garde and fanatical Catholic reminds us<br />
of the sinfully forgotten sacrifices of Christ: his musical incarnation of sin cuts a merciless<br />
swathe of unrest and destruction through his wafting symphonic meditation.<br />
Franz Liszt – once a piano virtuoso and socialite, later an ascetic priest – chose a<br />
form similarly rich in contrast for his final symphonic poem Von <strong>der</strong> Wiege bis zum<br />
Grabe (From the Cradle to the Grave), in which life and death confront each other directly.<br />
What appears to be a return to the cradle at the end turns out to be a serene farewell to<br />
traditional harmonics – crossing a threshold to a new age in musical history, years before<br />
Schönberg codified this step in the twelve-tone system.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
So 11. September_________ 18.00 Uhr<br />
Di 13. September______ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 1h 45min, 1 Pause<br />
Tickets: 67 / 52 / 37 / 22 €,<br />
ermäßigt ab 11 €<br />
Die Veranstaltung wird vom WDR<br />
für den Hörfunk aufgezeichnet<br />
und zu einem späteren Zeitpunkt<br />
in WDR 3 Konzert gesendet.<br />
www.ruhr3.com/vergessen<br />
67
UNA IMAGEN<br />
INTERIOR —<br />
EIN BILD AUS<br />
DEM INNEREN<br />
EL CONDE<br />
DE TORREFIEL<br />
Schauspiel<br />
Ein Bild mit 1000 Wörtern<br />
→ Magazin, Seite 181<br />
68
»Der Mangel an Vorstellungskraft ist <strong>der</strong> Anfang aller Gewalt« hieß es ihrer international<br />
gefeierten Inszenierung La Plaza. In ihrem neuen Projekt intensivieren El Conde de Torrefiel<br />
die Grundlagenforschung. Vor 15.000 Jahren hielten Menschen Bil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Höhle von<br />
Altamira fest. Die Menschen in Altamira gehörten zur Spezies des homo sapiens – wie wir.<br />
Ihr Wunsch nach Abstraktion, Poesie und Kunst wird oft als conditio humana beschrieben,<br />
doch was wenn Menschsein viel mehr <strong>der</strong> Wunsch nach Täuschung und Zerstörung ist?<br />
Una imagen interior ist eine poetische Übung, die eine Erotik <strong>der</strong> Fantasie als Alternative<br />
zu den Bil<strong>der</strong>n, die uns kontrollieren, vorschlägt. Seit über einem Jahr nähern sich El<br />
Conde de Torrefiel dazu in Vorstudien an: auf dem Santargangelo Festival in Italien lief,<br />
während ein Auto sie umkreiste, eine Schafherde durch das verwun<strong>der</strong>te Publikum in<br />
einer Open-Air-Lesung. Im zweiten Teil erklärten Taubstumme im Museum für Mo<strong>der</strong>ne<br />
Kunst MACBA in Barcelona Wort um Wort, bis sich daraus eine Geschichte entspann,<br />
und in Valencia formten Schauspieler:innen zu elektronischer Musik amorphe Formen<br />
aus einer überdimensionalen Plastikplane. Zuletzt stellten Architekturstudent:innen ein<br />
Totem her und zerstörten es anschließend auf <strong>der</strong> Bühne. Diese und mehr lose Fäden<br />
wird El Conde de Torrefiel in ihrer neuen Arbeit zusammenführen, die bei den Wiener<br />
Festwochen im Mai Premiere haben und anschließend die europäischen Festivals verwirren<br />
wird.<br />
»The lack of imagination is the beginning of all violence« was said in their internationally<br />
renowned performance La Plaza. In their new piece, El Conde de Torrefiel invest in fundamental<br />
research. 15.000 years ago, people manifested pictures in the cave of Altmira.<br />
The people in Altmira were homo sapiens – just like you. Their desire for abstraction,<br />
poetry and arts is often described as conditio humana, but what if being human was<br />
more than the desire for deception and destruction? Una imagen interior (An image from<br />
inside) is a poetic exercise that puts forward an eroticism of fantasy as an alternative<br />
to the images that control us. For over a year, El Conde de Torrefiel have been working<br />
towards this in pilot projects: at the Santarcangelo Festival in Italy, a herd of sheep<br />
ran among an amazed audience at an open-air performance while a car drove around<br />
them in circles. In the second section, at the MACBA Museum of Contemporary Art in<br />
Barcelona, deaf people presented one word at a time until a story was produced, and<br />
in Valencia female actors created amorphous shapes out of oversized plastic sheeting<br />
to electronic music. Most recently, architecture students constructed a totem and then<br />
destroyed it on stage. El Conde de Torrefiel will weave together these and other loose<br />
threads in their new work that will premiere at the Wiener Festwochen in May, before<br />
going on to confound audiences at a series of European festivals.<br />
Konzept und Gestaltung<br />
El Conde de Torrefiel in<br />
Zusammenarbeit mit den<br />
Performer:innen<br />
Regie<br />
Tanya Beyeler<br />
Pablo Gisbert<br />
Text<br />
Pablo Gisbert<br />
Bühnenbild, Kostüme<br />
Maria Alejandre<br />
Estel Cristià<br />
Skulpturen<br />
Mireia Donat Melús<br />
Roboter Design<br />
José Brotons Plà<br />
Licht Design<br />
Manoly Rubio García<br />
Sound Design<br />
Rebecca Para<br />
Bühnentechnik<br />
Miguel Pellejero<br />
Technische Direktion<br />
Isaac Torres<br />
Tontechnik<br />
Uriel Ireland<br />
Lichttechnik<br />
Roberto Baldinelli<br />
Übersetzung<br />
Martin Orti (DE)<br />
Nika Blazer (EN)<br />
Produktion, Administration<br />
Haizea Arrizabalaga<br />
Ausführen<strong>der</strong> Produzent<br />
CIELO DRIVE<br />
Vertrieb<br />
Caravan Production<br />
Mit<br />
Anaïs Doménech<br />
Julian Hackenberg<br />
Gloria March<br />
David Mallols<br />
Mauro Molina<br />
und lokalen Performer:innen<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Deutsche Erstaufführung<br />
Do 15. September______ 20.00 Uhr<br />
Fr 16. September______ 20.00 Uhr<br />
Sa 17. September______ 20.00 Uhr<br />
Tickets: 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
Text-Projektionen in deutscher<br />
und englischer Sprache<br />
Eine Produktion von El Conde<br />
de Torrefiel. Koproduziert mit<br />
Wiener Festwochen, Festival<br />
d’Avignon, Grec Festival, Conde<br />
Duque, Kunstenfestivaldesarts,<br />
Grütli – Centre de production<br />
et de diffusion des arts vivants,<br />
Festival delle Colline Torinesi,<br />
Points communs – Nouvelle<br />
Scène nationale de Cergy-<br />
Pontoise – Val d’Oise; Festival<br />
d’Automne und la Villette.<br />
www.ruhr3.com/imagen<br />
69
HARAWI<br />
OLIVIER MESSIAEN<br />
RACHAEL WILSON<br />
VIRGINIE DÉJOS<br />
Konzert<br />
OLIVIER MESSIAEN<br />
Harawi – Chant d’amour et de mort (1945)<br />
Der Klang des Unfassbaren<br />
→ Magazin, Seite 211<br />
Sopran<br />
Rachael Wilson<br />
Klavier<br />
Virginie Déjos<br />
Gestaltung Film<br />
Rachael Wilson<br />
An<strong>der</strong>son Matthew<br />
70
»Harawi« stammt aus <strong>der</strong> Quechua-Sprache <strong>der</strong> Andenregion und bezeichnet eine<br />
Form von Liebeslied, das mit dem Tod <strong>der</strong> Liebenden endet. Im Liebestod liegt die<br />
höchste Erfüllung <strong>der</strong> Liebe. Der Schritt über die Schwelle zum Tod macht sie erst<br />
vollkommen. Um den Liebestod kreist auch <strong>der</strong> Mythos von Tristan und Isolde, wie ihn<br />
Richard Wagner in seiner gleichnamigen Oper verarbeitet hat. Der französische Avantgardist<br />
Olivier Messiaen greift diese transzendente Idee auf und ergründet sie in seiner<br />
Tristan-Trilogie aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven – zum ersten Mal 1945 in<br />
seinem Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi, <strong>der</strong> den Untertitel Chant d’amour et de mort (Gesang von<br />
Liebe und Tod) trägt. Die Texte dazu stammen von Messiaen selbst. Es sind surreale,<br />
teilweise lautmalerische Gedichte von starker Sinnlichkeit und Symbolkraft, hauptsächlich<br />
in französischer Sprache. In Schlüsselmomenten jedoch greift Messiaen zu<br />
Quechua-Wörtern, weniger wegen <strong>der</strong>en Bedeutung als wegen des assoziationsstarken<br />
Klangs ihrer Silben. Vom aufgeregten Warngeschrei <strong>der</strong> Affen (pia pia pia pia pia) bis<br />
hin zum hypnotisierenden Klingeln von Piroutchas Fußkettchen beim Tanz (Doundou<br />
Tchil) – in oft absur<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung, Variation o<strong>der</strong> Spiegelung betritt Messiaen hier<br />
eine urtümlich direkte Ausdrucksebene, eine Art metaphysische Musik, die alle Verrücktheit,<br />
Verzweiflung, Macht und Ekstase einer alles verzehrenden Liebe beschwört,<br />
die ans Äußerste geht – und darüber hinaus.<br />
»Harawi« comes from the Quechua language of the Andes region and refers to a genre<br />
of love songs that culminate with the lovers’ deaths. The greatest fulfilment is in dying<br />
for love. Stepping over the threshold to death makes love complete. Dying of love also<br />
lies at the heart of the myth of Tristan and Isolde, as adapted by Richard Wagner in his<br />
opera of that name. In his Tristan trilogy, the French avant-garde composer Olivier Messiaen<br />
takes this transcendent idea and examines it from different prespectives – first, in<br />
1945, in his song cycle Harawi, which is subtitled Chant d’amour et de mort (Song of Love<br />
and Death). The lyrics were written by Messiaen himself. These are surreal, sometimes<br />
onomato poetic poems with strong sensuality and symbolism, written primarily in French.<br />
However, at key moments, Messiaen resorts to Quechua words, less for their meaning<br />
than for the associative sound of their syllables. From the excited warning cries of the<br />
apes (pia pia pia pia pia) to the hypnotic ring of Piroutcha’s ankle bracelet as she is<br />
dancing (Doundou Tchil), Messiaen, often using absurd repetition, variations or mirroring,<br />
enters a primeval and direct level of expression, a kind of metaphysical music conjuring<br />
up all the madness, desperation, power and ecstasy of an all-consuming love that goes<br />
to extremes - and beyond.<br />
Gebläsehalle, Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord<br />
Tickets: 37 / 27 / 17 €,<br />
ermäßigt ab 8,50 €<br />
Sa 17. September_______ 20.00 Uhr<br />
Dauer: ca. 70min<br />
www.ruhr3.com/harawi<br />
71
THE THIRD ROOM X<br />
RESPUBLIKA<br />
Rave<br />
»THE METRIC FOR REALNESS IS MOVING« — JULIANA HUXTABLE<br />
Je schrecklicher die Weltlage, umso besser die Party. Also<br />
lasst uns die letzte Nacht <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> gemeinsam<br />
durchtanzen, im kollektiven Rausch, eine kleine,<br />
utopische Gesellschaft auf Zeit, die alle einlädt, so zu<br />
kommen, wie sie sind: jenseits <strong>der</strong> Ideologien, gleich<br />
welchen Alters, gleich welcher Klasse, Hautfarbe und<br />
sexuellen Orientierung. Dazu haben wir in einer Kooperation<br />
mit dem Essener Kollektiv The Third Room ein internationales<br />
Line-up eingeladen, das neue Maßstäbe setzt.<br />
Es geht los mit Juliana Huxtable. Die multidisziplinäre Künstlerin,<br />
Performerin, Autorin und DJ verzaubert mit ihrem<br />
experimentellen Sound nicht nur Clubgänger:innen auf <strong>der</strong><br />
ganzen Welt, sie performte bereits im Whitney Museum o<strong>der</strong><br />
im MoMA PS1. Dann geht es weiter mit Nastia, die keiner<br />
Einführung bedarf. Die Ikone <strong>der</strong> Kiewer Technoszene ist<br />
eine <strong>der</strong> bekanntesten und international gefragtesten DJs<br />
unserer Zeit. Die Grün<strong>der</strong>in des legendären Labels Nechto<br />
wird back-to-back mit <strong>der</strong> aufstrebenden Daria Kolosova<br />
spielen – ein erprobtes Duo, das sich bereits seit 2015<br />
kennt und gemeinsam dazu beiträgt, dass die Kiewer<br />
Technoszene sich zu einem <strong>der</strong> Hotspots für elektronische<br />
Subkultur entwickelte. Im Anschluss betritt <strong>der</strong> renommierte<br />
Produzent und DJ Len Faki das Pult, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong><br />
von Figure SPC wird gefolgt von Marcel Dettmann. Beide<br />
sind Pioniere <strong>der</strong> elektronischen Clubmusik Musik und<br />
spielen bereits seit 2004 als Resident-DJs im Berghain.<br />
Marcel ist auch außerhalb des Clubkontexts ein facettenreicher<br />
Künstler und wirkte beispielsweise an <strong>der</strong> Produktion<br />
MASSE mit, einer Kooperation zwischen Berghain und<br />
Berliner Staatsballett.<br />
The worse the global situation, the better the party. So<br />
let’s dance through the last night of the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
<strong>2022</strong> together, in a collective frenzy; a small, utopian society,<br />
for a short while, that invites everyone to come as they are:<br />
beyond ideologies, no matter what class, race, age or sexual<br />
orientation. In cooperation with Essen-based collective The<br />
Third Room, we have invited an international line-up that<br />
sets new standards:<br />
It starts with Juliana Huxtable, the multidisciplinary artist,<br />
performer, writer and DJ, whose experimental sound not<br />
only enchants clubbers all around the world but also art<br />
aficionados – she has performed at both the Whitney<br />
Museum of American Art and MoMA PS1. Then it’s on to<br />
Nastia – icon of the Kyiv techno scene and one of the<br />
most famous and internationally sought-after DJs of our<br />
time. The foun<strong>der</strong> of the legendary Nechto label will play<br />
back to back with the up-and-coming Daria Kolosova.<br />
The two have known each other since 2015 and, together,<br />
have contributed to the Kyiv techno scene, making it one<br />
of the hotspots of electronic subculture. Afterwards, the<br />
renowned producer and DJ Len Faki will step up to the<br />
console. The foun<strong>der</strong> of Figure SPC will be followed by<br />
Marcel Dettmann. Both are pioneers of electronic music<br />
and have been playing as resident DJs at Berghain since<br />
2004. Marcel is also a multifaceted artist outside the club<br />
world and participated, for example, in the production<br />
MASSE – a collaboration between Berghain and the Berlin<br />
State Ballet.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Sa 17. September________ 23.00 Uhr<br />
Tickets: 32 €, ermäßigt 16 €<br />
72<br />
www.ruhr3.com/rave
FAREWELL<br />
THOMAS HOJSA<br />
Konzert<br />
Im Anschluss an die letzte Vorstellung von Respublika<br />
des Litauischen Nationaltheaters aus Vilnius tanzen die<br />
Besucher:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> in <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum in einem großen Rave durch die Nacht.<br />
Am frühen Sonntagmorgen empfängt <strong>der</strong> österreichische<br />
Komponist und Musiker Thomas Hojsa dann in <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />
unter freiem Himmel zu einem letzten musikalischen<br />
Gruß. Quer durch verschiedene Epochen und Stile<br />
erkundet er eine melancholisch-klangvolle Landschaft<br />
von Abschiedslie<strong>der</strong>n.<br />
Wer den Rave bis zuletzt durchgehalten hat, wird, neben<br />
einem kleinen Frühstück, belohnt mit einer stillen, melodiösen<br />
Reise, ausgehend von John Dowland über Franz<br />
Schubert bis zu k. d. lang und den Beatles.<br />
Following the final performance of Respublika by the Lithuanian<br />
National Theatre, the <strong>Ruhrtriennale</strong> audience can<br />
dance through the night at the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
at a giant rave.<br />
Then, early on Sunday morning, the Austrian composer and<br />
musician Thomas Hojsa will welcome them to the Pappelwaldkantine<br />
in the open air with a final musical greeting:<br />
criss-crossing a range of historical periods and styles, he<br />
will evoke a melancholy and tuneful landscape of songs<br />
of farewell.<br />
Anyone who has made it all the way through the rave will<br />
be rewarded, along with a small breakfast, with a quiet,<br />
melodic journey, starting with John Dowland and progressing<br />
through Franz Schubert to k.d. lang and The Beatles.<br />
Ins stille Land<br />
Ins stille Land!<br />
Wer leitet uns hinüber?<br />
Schon wölkt sich uns <strong>der</strong> Abendhimmel trüber,<br />
Und immer trümmervoller wird <strong>der</strong> Strand.<br />
Wer leitet uns mit sanfter Hand<br />
Hinüber! ach! hinüber,<br />
Ins stille Land?<br />
Ins stille Land!<br />
Zu euch, ihr freien Räume<br />
Für die Veredlung! zarte Morgenträume<br />
Der schönen Seelen! künft’gen Daseins Pfand.<br />
Wer treu des Lebens Kampf bestand,<br />
Trägt seiner Hoffnung Keime<br />
Ins stille Land.<br />
Ach Land! ach Land!<br />
Für alle Sturmbedrohten.<br />
Der mildeste von unsers Schicksals Boten<br />
Winkt uns, die Fackel umgewandt,<br />
Und leitet uns mit sanfter Hand<br />
Ins Land <strong>der</strong> grossen Toten,<br />
Ins stille Land.<br />
Freiherr Johann Gaudenz von Salis-Seewis<br />
To the Land of Rest<br />
To the land of rest!<br />
Who will lead us there?<br />
Already the evening sky grows darker with cloud,<br />
and the shore is ever more strewn with flotsam.<br />
Who will lead us gently by the hand<br />
across, ah, across<br />
to the land of rest?<br />
To the land of rest!<br />
To the free, ennobling spaces!<br />
Ten<strong>der</strong> morning dreams<br />
of fine souls! Pledge of a future life!<br />
He who faithfully won life’s battle<br />
carries the seeds of his hopes<br />
to the land of rest.<br />
O land<br />
for all those threatened by storms.<br />
The gentlest harbinger of our fate<br />
beckons us, brandishing a torch,<br />
and leads us gently by the hand<br />
to the land of the great dead,<br />
the land of rest.<br />
Translated by Richard Wigmore<br />
Pappelwaldkantine, Vorplatz <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
So 18. September_______ 08.00 Uhr<br />
Akkordeon, Gesang<br />
Thomas Hojsa<br />
ruhr3.com/farewell<br />
73
JUNGE TRIENNALE<br />
Die Junge Triennale begleitet das Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
mit künstlerischen Projekten und Workshops für<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche.<br />
Im Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> geht es für junges Publikum<br />
dieses Jahr bewegungsfreudig zu. Grundschüler:innen<br />
folgendem belgischen Parkour-Duo Be Flat bei Follow<br />
me (S. 50) über das Zollverein-Gelände. Das Tanzstück<br />
promise me (S. 60) lädt Kin<strong>der</strong> von acht bis zwölf Jahren<br />
und Erwachsene zu einem riskanten Fest <strong>der</strong> Lebenslust.<br />
Und alle ab 12 Jahren begegnen in Hillbrowfication (S. 38)<br />
21 Jugendlichen aus Johannesburg und ihren Zukunftsideen.<br />
SCHULEN<br />
Eine detaillierte Produktionsempfehlung für Schulen finden<br />
Sie auf unserer Internetseite.<br />
Für die Klassen 1–5 bieten wir anknüpfend an einen Vorstellungsbesuch<br />
von Follow me (S. 50) einen Parkour-Workshop<br />
an.<br />
Für die Jahrgänge 3–6 empfehlen wir, die vor- und nachbereitenden<br />
Workshops zu promise me (S. 60) wahrzunehmen,<br />
in denen wir uns vor dem Aufführungsbesuch kreativ<br />
und praktisch mit den Inhalten des Tanzstücks und mit<br />
körperlichen Ausdrucksformen beschäftigen und hinterher<br />
unsere Eindrücke künstlerisch verarbeiten.<br />
Vorbereitend auf das Projekt TEENS IN THE HOUSE II –<br />
Eine junge Residenz veranstalten wir Workshops in<br />
<strong>der</strong> Schule für Jugendliche ab 16 Jahren, in denen die<br />
Schüler:innen das Projekt kennenlernen und anschließend<br />
entscheiden, ob sie teilnehmen möchten.<br />
Gerne beraten wir Lehrkräfte zum gesamten Programm<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> und organisieren Workshops<br />
o<strong>der</strong> Gespräche zur Vor- bzw. Nachbereitung des Veranstaltungsbesuchs<br />
mit Schüler:innen o<strong>der</strong> dem Kollegium.<br />
Tickets für Schulen unter jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Klassen und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets<br />
für 5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei pro<br />
Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen nach Verfügbarkeit.<br />
Ein Besuch <strong>der</strong> Performance Follow me kostet 3,50 € pro<br />
Person für Schüler:innen und begleitende Lehrkräfte.<br />
The Junge Triennale accompanies the <strong>Ruhrtriennale</strong> with<br />
artistic projects and workshops for kids and teens. The<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> programme will be full of movement for a<br />
young audience. Elementary school children will follow<br />
the Belgian parkour duo through the industrial complex in<br />
Follow me (p. 50). The dance piece promise me (p. 60)<br />
invites kids aged 8–12 and adults to a risky celebration of<br />
zest for life. And all kids aged 12 and ol<strong>der</strong> will encounter 21<br />
teens from Johannesburg and their ideas about the future in<br />
Hillbrowfication (p. 38).<br />
SCHOOLS<br />
We publish recommendations for schools on our website.<br />
For classes 1–5, following a performance visit of Follow me,<br />
we’ll offer a parkour workshop. (p. 50)<br />
For the 3rd–6th grades we recommend taking advantage<br />
of the pre- and post-performance workshops for promise<br />
me (p. 60), in which we’ll engage creatively and practically<br />
with the content of the dance piece and physical forms of<br />
expression before attending the performance. Afterwards,<br />
we’ll process our impressions artistically. In preparation of<br />
the project TEENS IN THE HOUSE II – a young residence,<br />
we’ll arrange workshops in schools for those aged 16 or<br />
ol<strong>der</strong>, in which students get to know the project and ultimately<br />
decide if they want to participate. We’ll gladly advise<br />
teachers about the entire <strong>Ruhrtriennale</strong> programme <strong>2022</strong><br />
and organise workshops or talks with students or staff to<br />
prepare or follow up on their visit to the event.<br />
Tickets for schools un<strong>der</strong> jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Classes and schoolcourses of more than 10 people receive<br />
tickets for 5 € per student and per accompanying person<br />
(max. two per class/course) for all events subject to availability.<br />
A visit to the Performance Follow me costs € 3.50<br />
per person for students and accompanying teachers. The<br />
tickets are valid on the day of the event as a ticket for the<br />
return journey to the venue in the entire Verkehrsverbund<br />
Rhein-Ruhr (VRR).<br />
Die Eintrittskarten gelten am Tag <strong>der</strong> Veranstaltung als<br />
Fahrkarte für die Hin- und Rückfahrt zum Veranstaltungsort<br />
im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).<br />
Mit freundlicher Unterstützung durch die RAG-Stiftung<br />
74<br />
www.ruhr3.com/teens
TEENS IN THE HOUSE II<br />
EINE JUNGE RESIDENZ<br />
Wenn nicht jetzt, wann dann? Bringt eure queeren Visionen<br />
in die Wie<strong>der</strong>belebung des gesellschaftlichen Miteinan<strong>der</strong>s<br />
ein, nachdem die Pandemie unser Zusammenleben durcheinan<strong>der</strong>gebracht<br />
hat!<br />
Bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021 haben zwölf Jugendliche Häuser<br />
gebaut und sind damit ins Festival eingezogen. In einer<br />
belebten Installation machten sie Festivalbesucher:innen<br />
auf die Diskriminierungserfahrungen von Frauen und ihre<br />
gesellschaftlichen For<strong>der</strong>ungen aufmerksam.<br />
Die zweite Ausgabe von TEENS IN THE HOUSE knüpft<br />
daran an. In Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zahlreichen Produktionen<br />
und Künstler:innen, die sich bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
<strong>2022</strong> mit gesellschaftlichen Visionen und Verän<strong>der</strong>ungsprozessen<br />
beschäftigen – speziell mit <strong>der</strong> namens verwandten<br />
Musiktheaterproduktion HAUS und den queer-femi nistischen<br />
Perspektiven des Produktionsteams – bauen wir in<br />
kreativen Workshops unsere eigene Utopie für ein Zusammenleben<br />
jenseits normierter Geschlechter bil<strong>der</strong>, Identitätszuschreibungen,<br />
Rollenverteilung etc. Dafür besuchen<br />
wir Proben, Aufführungen und Ausstellungen, treffen Künstler:innen<br />
und tauschen uns mit Expert:innen und Aktivist:innen<br />
aus.<br />
If not now, then when? Bring your queer visions to the revival<br />
of social gatherings, after the pandemic messed up our<br />
social co-existence!<br />
At the <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021, twelve teens built houses and<br />
moved into them as part of the festival. In a lively installation,<br />
they drew the attention of festival visitors to women’s<br />
experiences of discrimination and their social demands.<br />
The second edition of TEENS IN THE HOUSE draws upon<br />
these themes. In the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong>, we will engage<br />
with numerous productions and artists who deal with social<br />
visions and processes of change – especially with the music<br />
theatre production HAUS and the queer-feminist perspectives<br />
of the production team – and in creative workshops,<br />
we will build our own utopia for a co-existence beyond<br />
standardised gen<strong>der</strong> images, identity attributions, role distribution,<br />
etc. For this purpose, we will visit performances,<br />
productions and exhibitions, meet artists and exchange<br />
ideas with experts and activists.<br />
New participants wanted and welcome for the second<br />
edition of the residence!<br />
Neue Teilnehmende für die zweite Ausgabe <strong>der</strong> Residenz<br />
sind gesucht und willkommen!<br />
Essen, Bochum, Duisburg<br />
4.– 11. September<br />
ab 16 Jahren<br />
Anmeldung:<br />
jungetriennale@ruhrtriennale.de<br />
Konzept und Projektleitung<br />
Anne Britting<br />
Projektmitarbeit<br />
Timo Kemp<br />
FSJ Kultur<br />
Alicia Ulfik<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
durch die RAG-Stiftung<br />
Instagram: @jungetriennale<br />
75
PAPPELWALDKANTINE<br />
DEXTER RED<br />
Festivalzentrum<br />
Wir freuen uns, Sie auch in diesem Jahr im Pappelwäldchen<br />
vor <strong>der</strong> Bochumer Jahrhun<strong>der</strong>thalle mit allerhand<br />
regionalen und vegetarischen Köstlichkeiten bewirten<br />
zu dürfen. Schnappen Sie sich einen Drink, lassen Sie<br />
die Seele baumeln und seien Sie willkommen an diesem<br />
beson<strong>der</strong>en Ort, <strong>der</strong> von Dexter Red geschaffen wurde<br />
und an dem Sie gemeinsam mit den Künstler:innen, dem<br />
Festivalteam und hungrigen Vorbeispazierenden vor und<br />
nach den Veranstaltungen ins Gespräch über die gesammelten<br />
Eindrücke kommen können.<br />
This year we are happy to host you again in the legendary<br />
poplar grove, in front of the Bochum Jahrhun<strong>der</strong>thalle,<br />
where all kinds of regional and vegetarian delicacies will<br />
be served. Grab a drink, unwind and feel welcome in this<br />
special location created by Dexter Red. Here, you can get<br />
together with the artists, the festival team and hungry<br />
passers- by, and share your thoughts and experiences before<br />
or after the events.<br />
Pappelwald an <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum<br />
Konzept, Design<br />
Dexter Red<br />
11. August – 18. September<br />
Eintritt frei<br />
Öffnungszeiten unter<br />
www.ruhr3.com/pappelwald<br />
76<br />
www.ruhr3.com/pappelwald
FESTIVALBIBLIOTHEK <strong>2022</strong><br />
Festivalzentrum<br />
Die Bibliothek wächst! Auch in diesem Jahr erreichen Gastgeschenke<br />
<strong>der</strong> eingeladenen Künstler:innen die <strong>Ruhrtriennale</strong>:<br />
Bücher, die sie geprägt und durch die schwierigen<br />
letzten Monate getragen haben. Einzusehen und gegen ein<br />
Pfand auszuleihen in <strong>der</strong> Pappelwald kantine auf dem Jahrhun<strong>der</strong>thallenvorplatz.<br />
The library is growing! Once again, the <strong>Ruhrtriennale</strong> has<br />
received gifts from the artists invited to the festival: books<br />
that have helped make them who they are and that have<br />
sustained them through the last difficult months. You can<br />
browse through them and borrow them if you leave a deposit<br />
at the Pappelwaldkantine in front of the Jahrhun<strong>der</strong>t halle.<br />
Mit Beiträgen von / With contributions by:<br />
Katja Aufleger, Lukas Bärfuss, Joanna Bednarczyk, Bibiana Beglau, Aljoscha Begrich,<br />
Caspar Brötzmann, Yaron Deutsch, Ulrike Draesner, Hermann Feuchter, Barbara Frey,<br />
Azadeh Ganjeh, Lütfiye Güzel, Corinna Harfouch, Dorothee Hartinger, Sabine Haupt,<br />
Sarah Hennies, Heinrich Horwitz, Sandra Hüller, Charlotte Hug, Wen Hui, Mette Ingvartsen,<br />
Andreas Karlaganis, Malakoff Kowalski, Joke Laureyns, Fabien Lédé, Mischa Leinkauf,<br />
Ligia Lewis, Ula Liagaité, An<strong>der</strong>son Matthew, Susanne Maier-Staufen,Sarah Nemtsov,<br />
Valentinus Novopolskij, Luisa Pardo, Michael Pelzel, Dexter Red, Lázaro Rodríguez,<br />
Lisandro Rodríguez, Julian Rosefeldt, Sarah Sandeh, Rytis Saladzius, Vainius Sodeiku,<br />
Klaus Staeck, Mats Staub, Elisabeth Stöppler, Łukasz Twarkowski, Rachael Wilson,<br />
Angela Winkler, Martin Zehetgruber u.v.m. / and many more<br />
In <strong>der</strong> Pappelwaldkantine<br />
11. August – 18. September<br />
Eintritt frei<br />
Öffnungszeiten unter<br />
www.ruhr3.com/bib<br />
www.ruhr3.com/bib<br />
77
FESTIVALCAMPUS<br />
Seit 2012 ist <strong>der</strong> Festivalcampus ein fester Bestandteil<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Auch in <strong>der</strong> zweiten Ausgabe von<br />
Barbara Frey kommen wie<strong>der</strong> internationale Studierende<br />
aus verschiedenen künstlerischen und kulturtheoretischen<br />
Disziplinen aus Polen, Kroatien, Norwegen, Schweiz, Irland,<br />
Deutschland, Dänemark zusammen. Das Campusprogramm<br />
wird von Carla Gesthuisen und Philipp Schulte<br />
in enger Zusammenarbeit mit den Lehrenden <strong>der</strong> Partnerhochschulen<br />
konzipiert und setzt sich im Rahmen eines<br />
viel seitigen Seminar- und Workshopprogramms mit dem<br />
Festival programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> auseinan<strong>der</strong>.<br />
An drei verschiedenen Wochenenden bekommen die Workshopgruppen<br />
die Möglichkeit, Einblicke in die Arbeitsweisen<br />
<strong>der</strong> Festivalkünstler:innen zu gewinnen und in<br />
einen lebendigen Diskurs zu treten. Dabei entsteht ein<br />
enger Austausch mit den Künstler:innen, dem Team <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> sowie untereinan<strong>der</strong>. Die gemeinsamen Erfahrungen<br />
und die kritischen Reflexionen darüber bilden<br />
die Grundlage für eine lebendige und gesellschaftlich<br />
relevante künstlerische und kulturelle Arbeit, bei <strong>der</strong> die<br />
Teilnehmer:innen und »Künstler:innen von morgen« Impulse<br />
an ihre Hochschulen und in ihre künftige Arbeit<br />
mitnehmen. Gemeinsam mit dem Festivalcampus ist die<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> ein Ort, an dem Austausch, Kritik und Diskussion<br />
stattfinden.<br />
The Festival Campus has been a regular part of the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
since 2012. In Barbara Frey’s second year as artistic<br />
director, international students from Poland, Croatia,<br />
Norway, Switzerland, Ireland, Germany and Denmark working<br />
in a range of disciplines in the arts and cultural theory<br />
will once again come together. The Campus programme is<br />
conceived by Carla Gethuisen and Philipp Schulte in close<br />
collaboration with the partner universities and explores<br />
the <strong>Ruhrtriennale</strong>’s festival programme in a multi-faceted<br />
series of seminars and workshops.<br />
On three different weekends, workshop groups are given<br />
the opportunity to gain insights into the working methods<br />
of festival artists and take part in lively discussions. Here<br />
an exchange with the artists, the <strong>Ruhrtriennale</strong> team and<br />
within the group itself can take place. Their shared experiences<br />
and critical reflections form the basis for vivid<br />
and socially relevant artistic and cultural work, in which<br />
the participants and »artists of tomorrow« take ideas back<br />
to their universities and into their future projects. Alongside<br />
the Festival Campus, the <strong>Ruhrtriennale</strong> is a place for<br />
exchange, constructive criticism and discussion.<br />
Bochum<br />
Konzeption, Durchführung<br />
Carla Gesthuisen<br />
Dr. Philipp Schulte<br />
78<br />
www.ruhr3.com/campus
10. KULTURKONFERENZ RUHR<br />
INDUSTRIELLE KULTURLANDSCHAFT<br />
KULTURELLE IDENTITÄT UND<br />
TRANSFORMATIONEN DES RUHRGEBIETS<br />
In keiner an<strong>der</strong>en Region hat die schwerindustrielle Entwicklung<br />
zu so tiefgreifenden Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> räumlichen<br />
Umformung <strong>der</strong> Landschaft geführt wie im Ruhrgebiet.<br />
Die Dichte und die Vielfalt des industriellen Erbes<br />
aus historisch bedeutenden und architektonisch stilprägenden<br />
Gebäuden und Anlagen <strong>der</strong> Industrialisierung<br />
sind weltweit einzigartig. Dabei sind die Halden, Bauwerke<br />
und Denkmäler <strong>der</strong> Industriekultur selbst Orte <strong>der</strong> Transformation<br />
und kulturellen Reflexion. Heute stellen die Hinterlassenschaften<br />
<strong>der</strong> Industrialisierung mehr denn je die<br />
Fragen nach <strong>der</strong> Zukunftsfähigkeit <strong>der</strong> gesamten Region:<br />
Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit, soziale Sicherheit und<br />
Teilhabe, Digitalisierung <strong>der</strong> Arbeit und Migration.<br />
Welche ökologische, soziale und kulturelle Verantwortung<br />
ist dem industriellen Erbe eingeschrieben? Wie wird in einer<br />
Arbeitswelt, die von Individualisierung und Digitalisierung<br />
geprägt ist, sozialer und demokratischer Zusammenhalt<br />
geför<strong>der</strong>t? Wie kann sich die Region in die Zukunft entwickeln<br />
und zeitgleich ihr identitätsstiftendes, industrielles<br />
Erbe bewahren?<br />
Diesen Fragen widmet sich die 10. Kulturkonferenz Ruhr in<br />
Kooperation mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, die selbst seit 20 Jahren<br />
fest in <strong>der</strong> industriellen Kulturlandschaft verankert ist.<br />
Kulturschaffende, Protagonist:innen, Vertreter:innen von<br />
Institutionen und Gestalter:innen aus Kulturpolitik und<br />
Verwaltung sind eingeladen, gemeinsam über Perspektiven<br />
<strong>der</strong> Industriekultur zu diskutieren.<br />
In no other region has heavy industrial development led<br />
to such profound changes in the spatial transformation<br />
of the landscape as in the Ruhr region. The density and<br />
diversity of the industrial heritage of historically significant<br />
and architecturally style-defining buildings and industrial<br />
facilities are unique in the world. At the same time, the<br />
stockpiles, buildings and monuments of industrial culture<br />
are themselves places of transformation and cultural reflection.<br />
Today more than ever, the legacies of industrialisation<br />
pose questions about the future viability of the<br />
entire region: sustainability, climate justice, social security<br />
and participation, digitisation of labour and migration.<br />
What ecological, social and cultural responsibility is inscribed<br />
in industrial heritage? How is social and democratic<br />
cohesion promoted in a working world characterised by<br />
individualisation and digitalisation? How can the region<br />
develop into the future and at the same time preserve its<br />
identity-forming industrial heritage?<br />
These are the questions being addressed by the 10th Ruhr<br />
Cultural Conference in cooperation with the <strong>Ruhrtriennale</strong>,<br />
which has itself been firmly anchored in the industrial cultural<br />
landscape for 20 years. Creative artists, protagonists,<br />
representatives of institutions and designers from cultural<br />
policy and administration are invited to exchange their perspectives<br />
on industrial culture.<br />
Maschinenhalle Zeche Zollern,<br />
Dortmund<br />
8. September <strong>2022</strong><br />
10–18 Uhr<br />
Das Konferenzprogramm und<br />
alle Informa tionen zur Anmeldung<br />
werden ab August auf <strong>der</strong><br />
Web site <strong>der</strong> Kulturkonferenz<br />
Ruhr veröffentlicht.<br />
www.kulturkonferenz.rvr.ruhr<br />
Die 10. Kulturkonferenz Ruhr<br />
ist eine Veranstaltung des<br />
Regionalverbands Ruhr und<br />
des Ministeriums für Kultur<br />
und Wissenschaft des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen in Koopera -<br />
tion mit <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
79
WEGE<br />
ALJOSCHA BEGRICH<br />
DU-Landschaftspark<br />
Nord<br />
ALTES ZU NEUEM<br />
LEBEN ERWECKEN<br />
STEFAN SCHNEIDER<br />
EL EXTRANJERO<br />
LISANDRO RODRIGUEZ<br />
UNEARTH<br />
AZADEH GANJEH<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Begegnungskanten II<br />
→ Magazin, Seite 217<br />
12. August – 18. September<br />
Täglich zwischen Duisburg,<br />
Essen, Gelsenkirchen und<br />
Bochum<br />
Detaillierte Informationen zum<br />
Projekt und Downloadlinks zu<br />
den einzelnen Teilstrecken finden<br />
Sie auf www.ruhr3.com/wege<br />
Das Projekt ist kostenlos. Ein <br />
trittskarten für Veranstaltungen<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> gelten am Tag<br />
<strong>der</strong> Veranstaltung im gesamten<br />
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />
(VRR) in allen Bussen und Nah <br />
verkehrszügen (2. Klasse)<br />
für Hin- und Rückfahrt zum bzw.<br />
vom Veranstaltungsort.<br />
Eine Auftragsarbeit <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> in Zusammenarbeit<br />
mit tehran re:public,<br />
RUHRORTER, Anna Kpok,<br />
loekenfranke, Stefan Schnei<strong>der</strong>,<br />
Lisandro Rodriguez, Azadeh<br />
Ganjeh, Largatijas tiradas al sol<br />
Je<strong>der</strong> Start- und Endpunkt ist<br />
mit einer Litfaßsäule markiert.<br />
12 August – 18 September<br />
Daily between Duisburg, Essen,<br />
Gelsenkirchen and Bochum<br />
Further information about the<br />
project, together with links to<br />
downloads for the individual<br />
sections of the journey, can be<br />
found at www.ruhr3.com/wege.<br />
The project is free of charge.<br />
Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events<br />
are valid on the day of the event<br />
on all buses and local trains<br />
(2nd class) to and from the<br />
venue in the entire Verkehrsverbund<br />
Rhein-Ruhr (VRR).<br />
Kettwig<br />
Every one of the start and finish<br />
points is marked with an<br />
advertising pillar.<br />
80
NATURBÜRO 1—7<br />
LOEKENFRANKE<br />
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
Zeche<br />
Zollverein<br />
ACHTMAL BLINZELN<br />
ANNA KPOK<br />
ZWISCHENTAGE<br />
RUHRORTER<br />
Jahun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
INSIDE OUT<br />
TEHERAN RE:PUBLIC<br />
Bochum<br />
Hauptbahnhof<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
LOS VIENTOS<br />
LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />
Fahrrad / Bike<br />
Straßenbahn / Tram<br />
Zug / Train<br />
Zu Fuß / By foot<br />
Im Raum zwischen den Spielstätten <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> kann die Vielfalt des Ruhrgebiets<br />
durchstreift und erfahren werden. <strong>2022</strong> wird das bestehende Angebot um drei Werke erweitert.<br />
Künstler:innen aus Mexiko, Argentinien und dem Iran bespielen Routen im Ruhrgebiet<br />
und bringen Themen aus an<strong>der</strong>en Regionen <strong>der</strong> Welt, wo Natur ebenso radikal genutzt<br />
wird wie einst hier. Folgerichtig ist dieses Projekt auch ein ökologisches Experiment,<br />
welches versucht internationalen Austausch und nachhaltiges Produzieren zu verbinden<br />
indem keine:r <strong>der</strong> Künstler:innen ins Ruhrgebiet reiste. Wir laden alle ein, die entstandenen<br />
Werke in Verkehrsmitteln zwischen dem Bochumer Hauptbahnhof und dem<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord zu erleben, mal mit <strong>der</strong> Straßenbahn, <strong>der</strong> U-Bahn, dem<br />
Regionalexpress, mal zu Fuß o<strong>der</strong> mit dem Fahrrad.<br />
Konzept<br />
Aljoscha Begrich<br />
Mit<br />
Lagartijas Tiradas al Sol<br />
Azadeh Ganjeh<br />
Lisandro Rodriguez<br />
Stefan Schnei<strong>der</strong><br />
Anna Kpok<br />
loekenfranke<br />
RUHRORTER<br />
tehran re:public<br />
The extreme diversity of the Ruhr region can be explored and experienced in the spaces<br />
between the venues for the <strong>Ruhrtriennale</strong>. In <strong>2022</strong> these existing projects will be supplemented<br />
by three new works: artists from Mexico, Argentina and Iran will create performances<br />
for routes within the Ruhr region without ever having been here. Their artistic<br />
interventions will open up this hybrid landscape even further and introduce themes from<br />
other parts of the world where nature is being used just as radically now as it once was<br />
here. We invite everyone to experience the works that have been created on public transport<br />
between Bochum Hauptbahnhof and the Landschaftspark Duisburg-Nord, on trams,<br />
the U-Bahn, Regionalexpress trains, on foot or on bicycle.<br />
www.ruhr3.com/wege<br />
81
DU-Landschaftspark-<br />
Nord<br />
DU-Landschaftspark-<br />
Nord<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
ALTES ZU NEUEM<br />
LEBEN ERWECKEN<br />
STEFAN SCHNEIDER<br />
Regie und Sound Stefan Schnei<strong>der</strong><br />
Vielen Dank allen Gesprächspartner:innen in Kaßlerfeld, Ruhrort,<br />
Laar und Mei<strong>der</strong>ich<br />
Zwischen dem mo<strong>der</strong>nisierten Innenhafen und den Einfamilienhäusern<br />
in Laar stehen die Ruinen <strong>der</strong> Montanindustrie<br />
und die Kulissen des ersten Tatorts von Schimanski<br />
1981 in Ruhrort. Stefan Schnei<strong>der</strong> lädt ein zu einer<br />
Fahrradfahrt durch ein Duisburg des Dazwischen und<br />
macht es hörbar, indem an ausgewählten Orten kurze Gespräche<br />
darüber zu hören sind. Wie sehen die Menschen<br />
ihre Zukunft und die <strong>der</strong> Region?<br />
Between the mo<strong>der</strong>nised inland harbour and the detached<br />
houses in Laar stand the ruins of the coal and steel industry<br />
and the location in Ruhrort for the first ever Tatort with<br />
Schimanski, filmed in 1981. Stefan Schnei<strong>der</strong> invites you to<br />
take a cycle journey through a Duisburg that lies in between<br />
and makes it audible by listening to short conversations at<br />
selected places. How do the people see their future and<br />
that of the region?<br />
Fahrrad<br />
Duisburg Hauptbahnhof ↔ Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Dauer / Duration: 120 min<br />
Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone<br />
Ist kein eigenes Fahrrad vorhanden, so besteht die Möglichkeit,<br />
am jeweiligen Start- und Endpunkt ein Leihrad zu mieten. Dazu ist<br />
eine Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig. Die Ausleihe<br />
kostet ca. 8 €. Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit<br />
einem QR-Code gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks<br />
aufrufen können. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter<br />
ruhr3.com/schnei<strong>der</strong>-tracks.<br />
Required: bicycle, headphones, smartphone<br />
If no own bike is available, there is the possibility to rent a bike at the<br />
respective start and end points. For this, a registration at Nextbike /<br />
Metropolradruhr is necessary. The rental costs about 8 €. The individual<br />
listening stations are numbered and marked with a QR code with<br />
which you can call up the respective tracks. Alternatively, visit from<br />
12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/schnei<strong>der</strong>-tracks.<br />
EL EXTRANJERO —<br />
DER FREMDE<br />
LISANDRO<br />
RODRÍGUEZ<br />
Regie, Grafikdesign und Text Lisandro Rodríguez<br />
Künstlerische Mitarbeit und Dramaturgie Martín Seijo<br />
Der Fremde stellt Fragen, weil er verstehen will. Fragen,<br />
die den Weg zum Landschaftspark Duisburg-Nord säumen.<br />
Fragen über die Vergangenheit und die Zukunft <strong>der</strong> Region<br />
und <strong>der</strong> Arbeit, die sie geprägt hat, Fragen über das<br />
Verhältnis von Kunst und Bergbau, über Verhältnisse von<br />
Macht und Natur. Und über die Beziehung des Ruhrgebiets<br />
und <strong>der</strong> Welt, denn Bergbau findet ja weiterhin statt, nur<br />
nicht mehr in Duisburg, son<strong>der</strong>n zum Beispiel in Südamerika,<br />
von wo aus Lisandro Rodríguez uns Fragen schickt.<br />
The stranger asks questions because he is trying to un<strong>der</strong>stand.<br />
Questions that line the route to the Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord. Questions about the past and future<br />
of the region and the work that made it, questions about<br />
the relationship between art and coal mining, about the<br />
relationship between power and nature. And about how<br />
the Ruhr region is related to the world: because coal<br />
mining is still going on – just not in Duisburg. But it is, for<br />
example, in South America, from where Lisandro Rodríguez<br />
is sending us these questions.<br />
Straßenbahn 903 und zu Fuß<br />
Duisburg Hbf ↔Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Dauer / Duration: ca. 30 min<br />
Die Interventionen von El Extranjero sind ab dem 12. August zwischen<br />
dem Duisburger Hauptbahnhof und dem Landschaftspark Duisburg-<br />
Nord auf den Wegen und <strong>der</strong> Fahrt mit <strong>der</strong> Straßenbahn 903 zu entdecken.<br />
The interventions of El Extranjero can be discovered from 12 August<br />
between Duisburg Central Station and Landschaftspark Duisburg-<br />
Nord on the paths and the journey with tram 903.<br />
82
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
Duisburg<br />
Hauptbahnhof<br />
Kettwig<br />
UNEARTH<br />
AZADEH GANJEH<br />
Regie und Text Azadeh Ganjeh Dramaturg Foad Esfahani<br />
Sound Abbas Modjarad<br />
Die Erkundungstour will die Wahrheit über Haft Tepe im<br />
Südwesten Irans entbergen: Die antike Ausgrabungsstätte<br />
liegt verschüttet unter mehreren landwirtschaftlich-industriellen<br />
Invasionen. Die Performance unternimmt den Versuch,<br />
das Gelände an <strong>der</strong> Ruhr an<strong>der</strong>s zu kartografieren,<br />
um zu fragen, wie sich menschliche Zivilisation und Ökosystem<br />
beeinflussen.<br />
An explorative journey to unearth the truth of Haft Tepe in<br />
south-western Iran, an archaeological site with an ancient<br />
history which has been buried un<strong>der</strong> layers of agro-industrial<br />
invasion. The performance tries to countermap the site<br />
in the Ruhr to ask: how does the co-existence of human<br />
civilization and ecosystem affect each other.<br />
Zug und zu Fuß<br />
Duisburg Hbf ↔Essen Hbf<br />
Dauer / Duration: 20 min Fahrt mit <strong>der</strong> Regionalbahn,<br />
circa 60 min Fußweg<br />
Benötigt: Wege-Karte, Kopfhörer, Smartphone<br />
Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit einem QR-Code<br />
gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks aufrufen können.<br />
Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter:<br />
www.ruhr3.com/unearth-tracks.<br />
Informationen zu den Ausgabestellen <strong>der</strong> Karte für die Wegstrecke<br />
entnehmen Sie bitte unserer Website.<br />
Required: Smartphone, Headphones, Map<br />
The individual listening stations are numbered and marked with a QR<br />
code with which you can call up the respective tracks.<br />
Alternatively, visit from 12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/unearth-tracks.<br />
For information on the issuing points of the map for the route, please<br />
refer to our website.<br />
LOS VIENTOS —<br />
DIE WINDE<br />
LAGARTIJAS<br />
TIRADAS AL SOL<br />
Konzept Luisa Pardo und Lázaro Gabino Rodríguez<br />
Editorialdesign Juan Leduc Installation Fernanda Pardo<br />
Illustration Pedro Pizarro<br />
Plötzlich wehte kein Wind mehr. Zuerst war es nur ein<br />
bisschen komisch. Nach einem Jahr wurde uns klar: Alle<br />
unsere Tätigkeiten waren mit einem Mal sinnlos und wir<br />
fragten uns: Wie können wir den Wind dazu bringen,<br />
wie<strong>der</strong> zu wehen? Largatijas tiradas al sol verbinden<br />
mexikanische Mythen und deutsche Energiefragen in<br />
einem Ausflug ins Grüne.<br />
We’ve been very concerned about solving life, imagining<br />
projects, answering messages. We’ve thought about how to<br />
articulate our complaints about the world. We wanted to<br />
be right. And suddenly the wind stopped blowing. At first it<br />
was a feeling, just something that bothered us. But after a<br />
year without wind, we realised what it meant. Everything we<br />
were busy with stopped making sense and we won<strong>der</strong> what<br />
we have to do to make up for lost time? How to convince<br />
the wind to come back?<br />
S-Bahn<br />
Essen Hbf →Essen Kettwig<br />
Dauer / Duration: circa 30 min<br />
Benötigt: Buch, Kopfhörer, Smartphone<br />
Informationen zur Ausgabestelle des Buchs am Hauptbahnhof Essen<br />
entnehmen Sie bitte unserer Website.<br />
Los Vientos kann ab dem 12. August erlebt werden und startet am<br />
Hauptbahnhof in Essen und führt mit <strong>der</strong> S6 nach Kettwig (Ausstieg<br />
»Kettwig S-Bahnhof«, Fußweg bis zum Promenadenweg an <strong>der</strong> Ruhr).<br />
Required: Booklet, Smartphone, Headphones<br />
Los Vientos can be experienced from 12 August and starts at the main<br />
station in Essen where it leads to Kettiwig with the trains of S6 (exit at<br />
»Kettwig S-Bahnhof«, walk to the path on the Ruhr). For information<br />
on the issuing points of the booklet, please refer to our website.<br />
www.ruhr3.com/wege<br />
83
Zeche<br />
Zollverein<br />
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
Zeche<br />
Zollverein<br />
Essen<br />
Hauptbahnhof<br />
ACHTMAL BLINZELN<br />
ANNA KPOK<br />
NATURBÜRO 1—7<br />
LOEKENFRANKE<br />
Konzept und Text Klaas Werner, Jascha Sommer, Kathrin Ebmeier<br />
und Emese Bodolay<br />
Anna Kpok lädt ein, die Straßenbahnfahrt als Text-<br />
Adventure zu erleben. Der Verlauf <strong>der</strong> Geschichte wird<br />
von Entscheidungen <strong>der</strong> Lesenden bestimmt – nicht von<br />
<strong>der</strong> Anordnung im Buch. Dabei ist eine Reise durch Essen<br />
als Reise zwischen Wahrheit und Spekulation zu erleben:<br />
Was wäre, wenn es die Kohleför<strong>der</strong>ung nie gegeben hätte?<br />
O<strong>der</strong> sie bereits viele hun<strong>der</strong>t Jahre vorher begonnen hätte?<br />
Anna Kpok invites you to experience a tram journey as a<br />
text adventure. What happens if the story depends on the<br />
decisions made by the rea<strong>der</strong> – not on the placements in<br />
the book. Rea<strong>der</strong>s will embark on a journey through Essen,<br />
a journey between reality and speculation: what if coal<br />
mining had never happened? Or it had begun many centuries<br />
earlier?<br />
Straßenbahn<br />
PACT Zollverein ↔ Essen Hbf<br />
Dauer / Duration: 70 min<br />
Informationen zu den Ausgabestellen des Dimensionsreisebuchs entnehmen<br />
Sie bitte unserer Website.<br />
For information on the issuing points of the Dimension Travel Reading<br />
Book, please refer to our website.<br />
Von Loekenfranke (Michael Loeken, Ulrike Franke)<br />
Mitarbeit Leonard Putz Mit den Stimmen von Uwe van Hoorn,<br />
anja van Hoorn, Andreas Gehrke, Johanna Romberg, Thomas<br />
Griesohn-Pflieger, Peter Stollfuss, Maria Vogt Dank an Uwe van<br />
Hoorn, Tanja van Hoorn<br />
Mit dem Fahrrad führt die Strecke zwischen Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof und PACT Zollverein durch unterschiedlich<br />
gestaltete Grünanlagen, Parks und Freiflächen. An sieben<br />
Punkten werden die unterschiedlichen Verständnisse von<br />
Natur am Beispiel des Umgangs mit Vögeln thematisiert.<br />
Von <strong>der</strong> preisgekrönten Brieftaube über die lebensrettenden<br />
Kanarienvögeln bis zu Habichten und Falken, zeigen<br />
loekenfranke Vögel als Indikator für den Zustand <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />
in <strong>der</strong> wir leben.<br />
The cycle route leads through a range of different green<br />
belt sites, parks and wasteland. At seven points along the<br />
route loekenfranke have created so-called »Nature Offices«,<br />
where highly contrasting views of nature can be experienced.<br />
From the award-winning carrier pigeon to the<br />
life-saving canaries through to hawks and falcons, loekenfranke<br />
show birds as indicators of the state of our society.<br />
Fahrrad<br />
Gelsenkirchen Hauptbahnhof ↔ PACT Zollverein Essen<br />
Dauer / Duration: 90 min<br />
Benötigt: Fahrrad, Kopfhörer, Smartphone<br />
Ist kein eigenes Fahrrad vorhanden, so besteht die Möglichkeit, am<br />
jeweiligen Start- und Endpunkt ein Leihrad zu mieten. Dazu ist eine<br />
Anmeldung bei Nextbike / Metropolradruhr nötig. Die Kosten liegen<br />
hier bei circa 6€. Die einzelnen Hörstationen sind nummeriert und mit<br />
einem QR-Code gekennzeichnet, mit dem Sie die jeweiligen Tracks<br />
aufrufen können. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> auch unter:<br />
ruhr3.com/loekenfranke-tracks.<br />
Required: bike, headphones, smartphone<br />
If no own bike is available, there is the possibility to rent a bike at the<br />
respective start and end points. For this, a registration at Nextbike /<br />
Metropolradruhr is necessary. The rental costs about 6 €. The individual<br />
listening stations are numbered and marked with a QR code with<br />
which you can call up the respective tracks. Alternatively, visit from<br />
12 August <strong>2022</strong> also ruhr3.com/loekenfranke-tracks.<br />
84
Gelsenkirchen<br />
Hauptbahnhof<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Bochum<br />
Bochum<br />
Hauptbahnhof<br />
ZWISCHENTAGE<br />
RUHRORTER<br />
INSIDE OUT<br />
TEHRAN RE:PUBLIC<br />
Von Adem Köstereli, Franziska Schneeberger, Jan Godde,<br />
Maximilian Brands, Wanja van Suntum<br />
Alle acht Minuten fährt die 302 durch Wattenscheid und<br />
Gelsenkirchen-Ückendorf. Dicht gedrängt stehen die Menschen<br />
in <strong>der</strong> Bahn, die eng an den Häusern entlangfährt.<br />
Was steckt hinter diesen Oberflächen? In einem vielstimmigen<br />
Hörstück sind umfassende Zusammenhänge (un)<br />
sichtbarer Bergbauschäden und postmigrantischer Realitäten<br />
im Ruhrgebiet zu erleben.<br />
The 302 travels through Wattenscheid and Gelsenkirchen-Ückendorf<br />
every eight minutes. People stand<br />
crowded together in the tram as it drives along, close to the<br />
houses. What lies behind these surface appearances? In a<br />
polyphonic audio piece, comprehensive contexts of(in)visible<br />
mining damage and post-migrant realities in the Ruhr<br />
region can be experienced.<br />
Straßenbahn 302<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle ↔ Gelsenkirchen Hauptbahnhof<br />
Dauer / Duration: 45 min<br />
Benötigt: Kopfhörer, Smartphone<br />
Die Tracks können über den QR-Code auf <strong>der</strong> Litfaßsäule abgerufen<br />
werden. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> unter<br />
ruhr3.com/ruhrorter-tracks.<br />
Required: headphones, smartphone<br />
The tracks can be accessed via the QR-Code on the advertising pillar.<br />
Also the tracks will be available from 12 August <strong>2022</strong> at<br />
ruhr3.com/ruhrorter-tracks.<br />
Regie Amirhossein Mashaherifard, Shahab Anousha Text<br />
Fabian Lettow, Philipp Beißel, Dr. Stefan Höhne Stimme Miriam<br />
Michel, Philipp Beißel, Judith Schäfer, Sonja Kirschall Sound,<br />
Musik Rasmus Nordholt-Frieling Voice recording Philipp Beißel<br />
Übersetzung Sonja Kirschall<br />
Je<strong>der</strong> Stadtraum ist ideologisch durchdekliniert. Aber sind<br />
sich die Bürger:innen ihrer Beziehung zum öffentlichen<br />
Raum bewusst? Ein Audiowalk durch die Bochumer Innenstadt<br />
zeigt die versteckten Verbindungen zwischen Raum,<br />
Design und sozialer Interaktion auf.<br />
Dienstags und freitags ist <strong>der</strong> Audiowalk wegen des<br />
Wochen marktes auf dem Dr.-Ruer-Platz erst ab 16 Uhr zu<br />
empfehlen.<br />
Every urban space is categorised ideologically. But are its<br />
inhabitants aware of this relationship between themselves<br />
and public spaces? An audio walk through downtown<br />
Bochum reveals the hidden connections between space,<br />
design and social interaction.<br />
On Tuesdays and Fridays, the Audiowalk is recommended<br />
from 4 pm due to the weekly market on Dr.-Ruer-Platz.<br />
Zu Fuß<br />
Bochum Hauptbahnhof → Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Dauer / Duration: 90 min<br />
Benötigt: Kopfhörer, Smartphone<br />
Die Tracks können über den QR-Code auf <strong>der</strong> Litfaßsäule abgerufen<br />
werden. Alternativ ab dem 12. August <strong>2022</strong> unter<br />
ruhr3.com/tehran-tracks.<br />
Required: headphones, smartphone<br />
The tracks can be accessed via the QR-Code on the advertising pillar.<br />
Also the tracks will be available from 12 August <strong>2022</strong> at<br />
ruhr3.com/tehran-tracks.<br />
www.ruhr3.com/wege<br />
85
86
FOTOGRAFIEN VON<br />
MISCHA LEINKAUF<br />
MIT BLACKOUTS VON<br />
LÜTFIYE GÜZEL
Sieht man mehr, je näher man kommt? O<strong>der</strong> wird immer weniger sichtbar? Was ich einst<br />
als Arbeiterregion, Kohle- und Stahlzentrum Deutschlands und Revier aus <strong>der</strong> Ferne einfach<br />
begriff, wird für mich, je näher ich rangehe, immer schwerer zu erkennen, die Ruhrstadt<br />
zerfällt in deutlich unterschiedliche Einzelteile, was hat schon Kettwig mit Bottrop<br />
zu tun? Je mehr Zeit ich in Bruckhausen und Langendreer verbringe, desto weniger kann<br />
ich es verbinden. Jahr für Jahr scheint das Ruhrgebiet komplexer, unübersichtlicher und<br />
ungreifbarer. Und doch gilt es immer wie<strong>der</strong>, diesen Versuch anzugehen. Eine Region zu<br />
begreifen, zu fragen und zu schauen, was Witten und Hochfeld verbindet. Wo Dramaturg:innen<br />
wie ich, aber auch Soziolog:innen und Raumplaner:innen straucheln, können<br />
vielleicht Künstler:innen helfen. Für das Magazin luden wir Mischa Leinkauf ein, um zu<br />
fragen: wie kann Unsichtbares sichtbar werden? Und er hatte die Idee, zu <strong>der</strong> Sprache<br />
<strong>der</strong> Fotografie eine Sprache <strong>der</strong> Worte zu stellen, so kamen wir auf Lütfiye Güzel.<br />
Mischa Leinkauf ist Künstler aus Berlin, Lütfiye Güzel ist Dichterin aus Duisburg. Beim<br />
ersten Treffen in einem Imbiss am Bahnhof in Essen wird schnell klar, dass sich beide<br />
eine gemeinsame Sprache über die Dinge, die Welt, die Fritten und die Menschen um sie<br />
herum wünschen. Bei <strong>der</strong> Offenheit, die sie mitbringen, und <strong>der</strong> Liebe für das Ruhrgebiet<br />
wenig überraschend und doch nicht selbstverständlich, kommen beide doch aus unterschiedlichen<br />
Welten: Ȇber mich schreiben sie immer: Arbeiterkind, aufgewachsen in<br />
Marxloh. Autodidaktin!«, »Über mich schreiben sie immer: Hisste weiße Fahnen auf <strong>der</strong><br />
Brooklyn Bridge und löste Terroralarm in New York aus.«<br />
Welche Wege haben sie in diesen Imbiss am Hauptbahnhof geführt? Während Lütfiye<br />
Güzel in den letzten 20 Jahren lyrisch die Realitäten des Ruhrgebiets mit Schärfe, Biss<br />
und Melancholie beschrieb, erprobte Mischa Leinkauf mit seinem ehemaligen Partner<br />
Matthias Wermke ihr im Berlin <strong>der</strong> Nachwendezeit erlerntes Verhalten im Grauzonenbereich<br />
zwischen legal und illegal in performativen Kletteraktionen an Häusern und<br />
Grenzen in Korea und Mexiko. Vielleicht ist es diese Suche nach <strong>der</strong> Lücke, des Dazwischen,<br />
und <strong>der</strong> spezielle Blick für die Struktur, die beide vereint. Leinkauf und Güzel versuchen<br />
neue Blickpunkte einzunehmen, neue Sichtachsen zu öffnen und somit Übersicht<br />
im Unübersichtlichen zu gewinnen – o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>srum: in <strong>der</strong> vermeintlichen Übersichtlichkeit<br />
Unübersicht aufzuzeigen. Leinkauf plante mit seinem Team tagelang Orte, Genehmigungen<br />
und Möglichkeiten, wie unterschiedliche Höhepunkte des Ruhrgebiets<br />
zu erklimmen seien, um Kontraste zu erspähen, mit starkem Zusammenziehen durch<br />
Zoomen Altbekanntes an<strong>der</strong>s zu verwinkeln. Während Güzel in ihren Blackouts Wörter<br />
und Sätze strich, ausstrich und unterstrich, um Neues in Altem sichtbar zu machen.<br />
Strich für Strich schälte sie den Kern dessen heraus, was bleiben sollte.<br />
Durchstreichen ist ebenso wie Ausblenden, Nichtzeigen ebenso wie Fokussieren. Mit <strong>der</strong><br />
Technik des Verengens versucht die für das Magazin <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> entwickelte<br />
Bildstrecke zu zeigen, was nicht sichtbar ist, zu entdecken durch Verdecken. Weniger<br />
wird hier nicht mehr, son<strong>der</strong>n überhaupt erst etwas. Zwei Menschen, die blicken. Zwei<br />
Blicke auf Strukturen, auf Vergangenheit und auf Gegenwart. Auf die Ideen von Stadt<br />
und auf die Reste davon. Auf die Ruinen von gestern und morgen.<br />
Aljoscha Begrich<br />
60
Do you see more the closer you get? Or is does it get less and less visible? What I once<br />
easily un<strong>der</strong>stood from a distance to be a workers’ region, the coal and steel centre of<br />
Germany and the Revier, is getting increasingly difficult for me to recognise the closer<br />
I get. The Ruhr city is disintegrating into distinctly different individual parts; what does<br />
Kettwig have to do with Bottrop? The more time I spend in Bruckhausen and Langendreer,<br />
the less I can connect them. Year after year, the Ruhr region seems more complex,<br />
more confusing and more impalpable. And yet it’s always worth trying to tackle it. To<br />
grasp a region, to ask and see what connects Witten and Hochfeld. Where dramaturges<br />
like me, but also sociologists and spatial planners stumble, perhaps artists can help. For<br />
the magazine, we invited two artists to ask: how can the invisible become visible?<br />
Mischa Leinkauf is an artist from Berlin; Lütfiye Güzel is a poet from Duisburg. In their<br />
first meeting at a snack bar in Essen’s main train station, it quickly became clear that<br />
they both want to have a common language about the things, the world, the fries and the<br />
people around them. Given the openness they bring with them and their love for the Ruhr<br />
region, it is hardly surprising, and yet not self-evident, given that they both come from<br />
different worlds: »They always write about me: working-class child, grew up in Marxloh.<br />
Self-taught!«. »About me they always write: raised white flags on the Brooklyn Bridge and<br />
set off terror alarms in New York.«<br />
What paths led them to this snack bar at the main train station? While Lütfiye Güzel has<br />
lyrically described the realities of the Ruhr region with poignancy, bite and melancholy<br />
over the past 20 years, Mischa Leinkauf and his former partner Matthias Wermke have<br />
tested their behaviour, learned in post-reunification Berlin in the grey area between legal<br />
and illegal, in performative climbing actions on houses and bor<strong>der</strong>s in Korea and Mexico.<br />
Perhaps it is this search for the gap, the in-between and the special eye for structure that<br />
unites the two. Leinkauf and Güzel try to take on new points of view, to open up new lines<br />
of sight and thus gain an overview amidst the unclarity – or the other way around: to show<br />
unclarity in the supposed clarity. Leinkauf and his team spent days planning locations,<br />
getting permits, and finding ways to climb different high points of the Ruhr region in or<strong>der</strong><br />
to spot contrasts, to use strong contraction by zooming in to make old, familiar things<br />
contort in a different way. While Güzel, in her blackouts, crossed out words and sentences,<br />
un<strong>der</strong>lining them to make the new visible in the old. Stroke by stroke, she peeled out<br />
the core of what was to remain.<br />
Crossing out is just like fading out: not showing as much as focusing. With the technique<br />
of narrowing, the series of images developed for the magazine of the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong><br />
attempts to show what is not visible, to discover it by obscuring it. Less does not become<br />
more here, but something in the first place. Two people who look. Two views of structures,<br />
of the past and of the present. Of the ideas of the city and its remains. Of the ruins of<br />
yesterday and tomorrow.<br />
Aljoscha Begrich<br />
61
Konzept / Realisation / Aktion Mischa Leinkauf<br />
Lyrik / Blackouts Lütfiye Güzel<br />
Dramaturgie Aljoscha Begrich<br />
Luftaufnahmen / Postproduktion Johannes Förster<br />
Precious Eye Pola Sieverding<br />
Höhensicherung Holger Nawrocki, Markus Wich<br />
Produktionsleitung Simon Mellnich<br />
Dank an<br />
Thorsten Kosellek, Ulrike Franke & Michael Loeken, Aino &<br />
Rosi Laberenz, Yuki Jungesblut, Axel Braun, Scherin<br />
Rajakumaran, Christa Marek, Max Raschke (UpUp-Berlin),<br />
Benjamin Frick (Schwebewerk-Berlin), Klaus Mettig &<br />
Katharina Sieverding<br />
sowie<br />
UNESCO-Welterbe Zollverein (Viola Schimmöller),<br />
Westfälisches Landestheater e.V. Castrop-Rauxel<br />
(Hr. Warnecke), Stadt Castrop-Rauxel (Fr. Fulgenzi),<br />
Ruhr-Universität Bochum (Tanja Otto), Landmarken AG /<br />
O-Werk (Fr. Krotschek), ELE-Scholven-Wind GmbH<br />
(Andreas Brandt), Vivawest Wohnen GmbH (Andreas<br />
Petruck & Bastian van den Boom), Kronenturm GbR,<br />
Dortmund (Beate & Alexan<strong>der</strong> Puplick) RDN Agentur<br />
für Public Relations GmbH (Hr. Prott), Stadt Marl<br />
(Andrea Baudek) RWE Generation SE/Essen (Hans-<br />
Jürgen Petschke & Christoph Kappenberg) Evangelischen<br />
Kirchengemeinde Alt-Duisburg (Claudia und Holger<br />
Kanaß) Universität Duisburg-Essen (Andrea Lange),<br />
Theater und Philharmonie Essen (Christoph Dittmann)
149MAGAZIN
IN DEN<br />
ABGRUND<br />
REZEPTION NEUER MUSIK OHNE VORWISSEN<br />
VON BARBARA BALBA WEBER<br />
ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />
Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi /<br />
Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien / Chorwerk Ruhr<br />
Musiktheater/ Kreation<br />
ab 11. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/grisey<br />
150
Ihr schaut ins Glitzern. Das Boot schaukelt, das Kind plau<strong>der</strong>t.<br />
Es kann offenbar nicht unterscheiden zwischen Tod<br />
und Spiel. Ihr schaut über glattes unberührtes Wasser,<br />
sonst nichts. So weit draußen fliegen keine Möwen mehr.<br />
Fast glattes Wasser, denkt ihr, Wasser und Sonne sollen<br />
also das Letzte sein. Es wird euer letzter Tag. Letzte Stunden<br />
voller Sonne, harter, blanker, weißer Sonne auf harten,<br />
glitzernden Gesichtern. Ihr habt diese Musik noch nie gehört,<br />
und doch erkennt ihr sie sofort. Es gibt nur das Leben<br />
und die Abwesenheit von Leben, ein Dazwischen gibt<br />
es nicht. Es gibt diese Musik und sie gehört zum Leben,<br />
auch wenn sie von etwas an<strong>der</strong>em singt. Eine Frau ruft<br />
durch die Geschichte <strong>der</strong> Menschheit, ihr versteht ihre<br />
Landessprache nicht, aber ihr erkennt, worum es geht. Es<br />
gibt Glitzern, Schaukeln, Kindesplau<strong>der</strong>n, das Wasser ist<br />
eine Stimme, die Sonne ist eine Stimme, eine Stimme fetzt<br />
Silben von unten und von oben an die Grenze zwischen<br />
Wasser und Himmel, es zerplatzen kleine Rufe an <strong>der</strong><br />
Härte <strong>der</strong> Sonne, es bleibt ruhig, alles bleibt unberührt, ihr<br />
möchtet unbeteiligt sein, ihr hört nicht auf das Einzelne,<br />
ihr hört auf das Ganze, ihr denkt nicht. Ihr schaut über den<br />
Bootsrand in die Tiefe, für den ihr euch hochverschuldet<br />
habt. Ihr habt schon fertig gelebt, ihr habt nichts mehr vor<br />
euch als Wasser, ihr werdet euch noch lange an den Rand<br />
klammern, wenn das Kind schon nicht mehr plau<strong>der</strong>t. Ihr<br />
habt noch nichts gewusst von Gilgamesch, nichts von sumerischer<br />
Phonologie, ihr habt noch keine französischen<br />
Freundinnen, von den Grabinschriften <strong>der</strong> alten Ägypter<br />
habt ihr noch nicht gewusst, auch die Stimme ist nicht<br />
eure. Ihr wollt woan<strong>der</strong>s sein. Diese Musik ist eure letzte<br />
Begleitung, sie ist eine Schlussmusik, das erfasst ihr<br />
sofort, auch wenn ihr nichts über sie wisst. Die Stimme<br />
kommt nicht aus dem Wasser, sie kommt aus euch. Das<br />
Wasser bewegt sich nicht mehr.<br />
… MIR WAR KALT, ES<br />
WAR WINTER. NUN JA, ICH GLAUBTE,<br />
MIR SEI KALT. ICH WAR VIELLEICHT<br />
KALT. GOTT HATTE MIR ALLERDINGS<br />
GESAGT, MIR WÜRDE KALT SEIN.<br />
VIELLEICHT WAR ICH TOT. ES WAR<br />
NICHT SO SEHR DAS TOTSEIN, VOR<br />
DEM ICH ANGST HATTE, ALS DAS<br />
STERBEN. PLÖTZLICH WAR MIR KALT.<br />
SEHR KALT, ODER ICH WAR KALT. ES<br />
WAR NACHT, UND ICH HATTE ANGST.<br />
Claude Vivier<br />
Am Abend des 7. März 1983 ging <strong>der</strong> französisch-kanadische<br />
Komponist Claude Vivier auf einen Drink in eine<br />
Bar im Pariser Stadtteil Belleville. Dort gabelte er einen<br />
jungen Mann auf und brachte ihn zum Sex in seine Wohnung.<br />
Sie trafen sich mehrmals. Später erstach <strong>der</strong> Mann<br />
Vivier. Hätte <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> vor seiner Flucht einen Blick auf<br />
die Komposition Glaubst Du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong><br />
Seele geworfen, an <strong>der</strong> Vivier gerade arbeitete, hätte er<br />
den in die Partitur unhörbar eingewobenen Text lesen<br />
können, <strong>der</strong> damit endet: »Ich konnte meine Augen nicht<br />
von dem jungen Mann abwenden, es kam mir vor, als säße<br />
er mir schon eine Ewigkeit gegenüber, und dann sprach er<br />
mich an: ›Ganz schön langweilig, diese U-Bahn, was?‹ Ich<br />
wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sagte,<br />
etwas verwirrt darüber, dass mein Blick erwi<strong>der</strong>t wurde,<br />
›ja, ziemlich‹, woraufhin sich <strong>der</strong> junge Mann ganz selbstverständlich<br />
neben mich setzte und sagte: ›Ich heiße<br />
151
Harry.‹ Ich antwortete ihm: ›Ich heiße Claude.‹ Dann zog<br />
er ein Messer aus seiner schwarzen Weste, die er wahrscheinlich<br />
in Paris gekauft hatte, und stach mir mitten ins<br />
Herz.« Es ist <strong>der</strong> Schluss. Vivier hatte die ersten sechs<br />
Minuten von Glaubst Du an die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele<br />
fertiggestellt, bevor er den Mann kennenlernte. Der letzte<br />
Abschnitt des Werkes wurde während ihrer Beziehung geschrieben.<br />
Vivier war 34 Jahre alt, als die Polizei in seine<br />
Wohnung einbrach und seine Leiche fand.<br />
Aber spielt das für das Erleben dieser Musik tatsächlich eine<br />
Rolle? Spielt es für das Eintauchen in Giacinto Scelsis Klangwelt<br />
eine Rolle, dass er in Hotelzimmern im Schrank statt<br />
im Bett übernachtete und sich nicht fotografieren lassen<br />
wollte? Spielt es eine Rolle zu wissen, dass Gérard Grisey<br />
unerwartet an einer Aneurysma-Ruptur starb und an<strong>der</strong>s als<br />
wir sein letztes Werk gar nie aufgeführt hören konnte?<br />
Ich mache seit Jahren Experimente zur Rezeption von neuer<br />
Musik durch Nicht-Profis. Dafür lasse ich auch Studierende<br />
Interviews mit Personen aus ihrem Familien- o<strong>der</strong><br />
Bekanntenkreis führen. Sie hören sich dafür mit jemandem<br />
zusammen ein Werk neuer Musik an und führen danach<br />
ein Gespräch, das aufgezeichnet und anschließend<br />
im Unterricht analysiert wird. Aus den Erkenntnissen entwickeln<br />
wir Hörsituationen für ein mit neuer Musik unvertrautes<br />
Publikum. Die Befragten sind Kin<strong>der</strong>, Jugendliche,<br />
jüngere und ältere Erwachsene mit diversen Bildungshintergründen<br />
– aber alle ohne Vorerfahrungen mit neuer<br />
Musik. Die einzige an<strong>der</strong>e Voraussetzung für die Auswahl<br />
einer Person als Interviewpartner:in ist, dass sie zur befragenden<br />
Person in einer vertrauensvollen Beziehung steht.<br />
Die Anwesenheit und zugewandte Präsenz eines an<strong>der</strong>en<br />
Menschen sind zentrale Elemente, um einen Hörprozess<br />
mit neuer Musik zu beginnen. Diese Präsenz hilft, dass die<br />
mit neuer Musik nicht vertraute Person sich nicht automatisch<br />
distanziert von Klängen, die in ihr – wie in den<br />
meisten an<strong>der</strong>en Menschen ohne Vorerfahrung auch –<br />
Fluchtreflexe auslösen.<br />
Die Versuchsperson erhält vor dem Anhören keinerlei Informationen<br />
über die Musik, son<strong>der</strong>n bloß Instruktionen<br />
über die Art des Zuhörens: Man installiert sich an einem<br />
ruhigen Ort, die Augen werden während des Anhörens<br />
<strong>der</strong> Musik geschlossen, und es wird nicht kommuniziert.<br />
Die Auswirkungen <strong>der</strong> Musik auf so (un)vorbereitete Zuhörer:innen<br />
sind fast ausnahmslos dieselben: Sie werden<br />
gepackt von einer unbekannten Welt, erschüttert durch<br />
die Begegnung mit einem noch nie betretenen Kosmos,<br />
sie werden geschüttelt von Emotionen. Es geht ihnen<br />
nahe. Viele berichten von Bil<strong>der</strong>n, die sie aus dem Arsenal<br />
<strong>der</strong> Filmindustrie entleihen. Die Verwendung von<br />
nicht aufgelösten dissonanten Intervallen, von gefährlich<br />
stehenden Klängen, von plötzlich einbrechenden scharfen<br />
Tönen, von bedrohlich anschwellendem tieftönigem<br />
Grollen, von schrillen Trillern, von lauten Atemgeräuschen<br />
und nicht erwartbaren Wendungen kennen sie aus<br />
Filmszenen, in denen es um existenzielle Gefühle von<br />
Angst, Verlassenheit, Düsterkeit, Dunkelheit, Verfolgung<br />
und Flucht geht. Profis wissen, wie man sich solchen<br />
Empfindungen entzieht.<br />
Gérard Grisey gibt seinem Werk Quatre chants pour franchir<br />
le seuil zwar auch Worte mit. Aber diese Worte sind<br />
ein Teil <strong>der</strong> Musik, sie eröffnen den Raum, sie definieren<br />
die Bühne für das, was in den Klängen passiert: 1. La mort<br />
de l’ange (Der Tod des Engels), 2. La mort de la civilisation<br />
(Der Tod <strong>der</strong> Zivilisation), 3. La mort de la voix (Der Tod<br />
<strong>der</strong> Stimme) und 4. La mort de l’humanité (Der Tod <strong>der</strong><br />
Menschheit).<br />
Das genügt, mehr braucht es nicht. Auch die Worte, die<br />
gesungen und gerufen werden während <strong>der</strong> Musik, soll<br />
man hören, nicht parallel dazu lesen. Und wenn man sie<br />
nicht versteht, gehört das zum wirklichen Verstehen des<br />
Gesamten dazu. Gérard Grisey stößt unseren Kopf unter<br />
die Trennlinie von Wasser und Himmel, von Unbewusstem<br />
und Bewusstem, von Hören und Denken, von Erleben<br />
und Analysieren.<br />
Veranstalter:innen, Musikwissenschaftler:innen, Komponistenkolleg:innen,<br />
Instrumentalist:innen und Musik lehrer:innen<br />
geben sich Mühe, das Publikum vor <strong>der</strong> Gewalt eines<br />
Werks neuer Musik zu schonen. Wenn man im Voraus weiß,<br />
was einen erwartet, ist man vorgewarnt und kann weniger<br />
überwältigt werden. Man kündigt deshalb neue Musik oft<br />
mit vielen Worten an, man beschreibt sie sehr genau, man<br />
analysiert sie, man diskutiert sie, man erklärt die Architektur<br />
im Großen und im Kleinen, die Texte, die Zitate, die Bezüge,<br />
die Verbindung zum Leben des:<strong>der</strong> Komponisten:in,<br />
die Bezüge zum Werk von an<strong>der</strong>en Komponist:innen. Man<br />
lässt Expert:innen und erfahrene Profis Vorträge dazu<br />
halten. Diese können eine Com-Position de-konstruieren,<br />
können die einzelnen Bestandteile aus dem Gesamten lösen,<br />
bis die Musik fein säuberlich auseinan<strong>der</strong>genommen<br />
auf dem Seziertisch liegt, bevor sie dann als eine Art Leiche<br />
endlich ins Konzert überführt wird.<br />
So weiß man als Zuhörer:in schon, was kommen wird. Man<br />
eilt <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Musik voraus. Man ist vor ihrer Gewalt<br />
in Sicherheit, weil man etwas weiß, weil man vieles weiß,<br />
weil man schon alles weiß. Man weiß sogar, wovon <strong>der</strong><br />
ermordete Komponist in seiner selbsterfundenen Sprache<br />
gesungen hat. Man weiß, was er vor genau dieser Art von<br />
Wissen verstecken wollte.<br />
DER ZUHÖRER MUSS GEPACKT UND,<br />
OB ER WILL ODER NICHT, IN DIE<br />
FLUGBAHN DER KLÄNGE HINEIN<br />
GEZOGEN WERDEN, OHNE DASS ES<br />
EINER BESONDEREN SCHULUNG<br />
BEDARF. DER SINNLICHE SCHOCK<br />
MUSS GENAUSO STARK SEIN, WIE<br />
WENN MAN EINEN DONNERSCHLAG<br />
HÖRT ODER IN EINEN BODENLOSEN<br />
ABGRUND BLICKT.<br />
Iannis Xenakis<br />
152
Einer, <strong>der</strong> die Musik von Grisey, Xenakis, Vivier und Scelsi<br />
sofort wie<strong>der</strong>erkennen würde, wäre mein junger afghanischer<br />
Freund Amir, im Alter meiner Söhne, <strong>der</strong> die Bootsfahrt<br />
über das Mittelmeer überlebt hat. Er hat in den Abgrund<br />
geblickt. Er musste das Gleißen <strong>der</strong> Sonne länger<br />
ertragen, als Sie, als ich, als meine Söhne je den Gedanken<br />
an den Tod ausgehalten haben. Er hat dafür auch Worte<br />
und eine Stimme, wird aber von <strong>der</strong> Welt nicht gehört.<br />
Xenakis brauchte seine Stimme, um Menschen hörbar zu<br />
machen, die über den Rand des Abgrunds blicken mussten.<br />
Auch er hatte, wie Vivier, eine Geheimsprache verwendet.<br />
Er vermochte so für die ganze Welt darzustellen,<br />
was die Opfer gegenüber den für Brutalität und Tod Verantwortlichen<br />
nicht laut sagen konnten. Auch Xenakis hatte<br />
als noch sehr junger Mann dem Tod ins Auge geschaut,<br />
auch er hat in die gleichen Abgründe, auch er hat ins gleiche<br />
Meer geblickt wie Amir. Dort, wo Amir fünfzig Jahre<br />
später unzählige Male vergeblich versuchte, auf die Fähre<br />
nach Italien zu kommen, dort, wo er nach jedem Versuch<br />
durch die Fußtritte <strong>der</strong> griechischen Polizei zum Gehen<br />
unfähig gemacht wurde, dort, wo er tagelang wartete, bis<br />
seine Knie ihn wie<strong>der</strong> trugen. Dort, wo er es immer wie<strong>der</strong><br />
versuchte. Genau dort wurde mehr als ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
vorher auch Xenakis geschlagen und getreten, es blieb<br />
ihm lebenslänglich eine tiefe Wunde im Gesicht. Sein Werk<br />
Nuits, das er 1967 für zwölf gemischte Stimmen schrieb, die<br />
er sumerische und altpersische Phoneme und Silben rufen,<br />
singen und flüstern lässt, widmete er den stimm-, namenund<br />
wortlosen ungehörten Menschen, denen Gewalt angetan<br />
wurde und immer noch wird: »Für euch, Tausende von<br />
Vergessenen, <strong>der</strong>en Namen sogar verloren sind.«<br />
Wir aber, wir sitzen in <strong>der</strong> Bar und zücken die Musikerkennungs-App<br />
Shazam. Es läuft vielleicht I love you,<br />
Baby von Surf Mesa, den wir nicht kennen. Cüpli und<br />
Nüssli, eine gepflegte Frauenstimme, eine glatte, flache,<br />
leicht schaukelnde, die von nichts singt, ganz und gar unbeteiligt<br />
macht sie ihre Arbeit. Sie singt nicht, um etwas zu<br />
sagen, sie singt auch nicht, um etwas zu erschaffen o<strong>der</strong><br />
um spielerisch mit <strong>der</strong> Welt zu jonglieren. Sie singt nicht,<br />
um etwas hörbar zu machen, etwas neu zu ordnen o<strong>der</strong><br />
um etwas zu fragen. Es gibt auch nichts zu vergessen, das<br />
hören wir sofort. Und das stört uns. Es stört uns, dass wir<br />
eigentlich eintauchen möchten ins Hinhören – und durch<br />
eine Stimme davon abgehalten werden. Manchmal dauert<br />
es Minuten, manchmal Stunden, manchmal Jahre, bis<br />
wir merken, dass etwas übertönt wird. Dann zücken wir<br />
manchmal Shazam, um dem Übertönen wenigstens einen<br />
Namen geben zu können. Surf Mesas Sound ist gemacht,<br />
um das zu übertönen, was wir vergessen haben zu benennen,<br />
bevor wir es vergessen haben.<br />
Mein Sohn sitzt seit drei Monaten zu Hause im Sessel und<br />
hat alles abgeschaltet, Handy, Tablet, Laptop – alle Formen<br />
von Bildschirm. Er kämpft. Jahrelang hatte er Serien geschaut,<br />
stunden- und tagelang hat er über den Bootsrand<br />
seines scheinbar wohlbehüteten Lebens in flaches, bloß<br />
leicht schaukelndes Wasser gestarrt. Er kannte die Serien<br />
alle schon längst auswendig und schaute sie trotzdem immer<br />
wie<strong>der</strong> von vorne. Dann hat er angefangen, Philosophie<br />
zu studieren. Und vor Kurzem hat er sich vorgenommen, so<br />
lange ohne Bildschirm einfach nur dazusitzen, bis in seinem<br />
Inneren nichts mehr übertönt zu werden braucht. Ab und zu<br />
legt er mir die Lektüre von Nietzsche nahe.<br />
»Dies alles begreifen wir, wie gesagt, dann und wann einmal<br />
und wun<strong>der</strong>n uns sehr über alle die schwindelnde<br />
Angst und Hast und über den ganzen traumartigen Zustand<br />
unseres Lebens, dem vor dem Erwachen zu grauen<br />
scheint und das umso lebhafter und unruhiger träumt, je<br />
näher es diesem Erwachen ist. Aber wir fühlen zugleich,<br />
wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke <strong>der</strong> tiefsten<br />
Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen<br />
sind, nach denen die gesamte Natur sich zu ihrer Erlösung<br />
hindrängt: viel schon, dass wir überhaupt einmal ein wenig<br />
mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchem<br />
Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns<br />
nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden<br />
für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen<br />
gehoben werden – und wer sind die, welche uns heben?«<br />
Friedrich Nietzsche, aus Unzeitgemässe Betrachtungen<br />
Es sind Komponist:innen neuer Musik. Sie sind es, die,<br />
wie gewisse Philosophen das bedingungslose Denken,<br />
von uns das bedingungslose Hören verlangen. Nicht jede<br />
Musik braucht eine solch unbedingte Zuwendung. Bei<br />
gewisser Musik wäre es sogar kontraproduktiv, genauer<br />
hinzuhören – wir haben es ja gerade kürzlich in <strong>der</strong> Bar<br />
festgestellt. Es gibt eine Art von Musik, die dafür gemacht<br />
worden ist, eine Frage zu übertönen. Es gibt auch eine Art<br />
von Musik, die dafür geschaffen wurde, eine Antwort auf<br />
eine Frage zu feiern. Es gibt alles. Hun<strong>der</strong>te von existierenden<br />
Musikformen, verteilt auf <strong>der</strong> ganzen Welt, haben<br />
zahlreiche unterschiedliche Funktionen: Musik kann Alltagsflucht,<br />
Illustration o<strong>der</strong> Therapie för<strong>der</strong>n, Musik kann<br />
zur Gruppensynchronisation, Ritualbegleitung, Reflexion<br />
und Distinktion dienen, o<strong>der</strong> es kann von ihr Stimmungsverbesserung,<br />
körperliche Aktivierung o<strong>der</strong> Erinnerung<br />
an vergangene Zeiten erwartet werden. Und dann gibt<br />
es noch eine Form von Musik, <strong>der</strong>en Funktion es ist, den<br />
Menschen zum ganz genauen Hinhören zu verhelfen. Es<br />
ist die sogenannte »neue Musik«.<br />
WIR LEBEN IN EINER ZEIT, DIE DURCH<br />
EINE ART WASSERHAHN, DER<br />
LAUWARME KLÄNGE AUSSPUCKT,<br />
FURCHTBAR VERSEUCHT IST.<br />
ABGESEHEN VOM VERBRENNUNGS-<br />
MOTOR – DER SCHLIMMSTEN<br />
ERFINDUNG DES 20. JAHRHUNDERTS –<br />
GIBT ES LAUTSPRECHER, DIE<br />
ÜBERALL ZU FINDEN SIND. WIE SOLL<br />
MAN BEI DIESER GERÄUSCHKULISSE<br />
MUSIK MACHEN?<br />
Gérard Grisey<br />
153
Nun aber zur Musik von Gérard Grisey. Tun Sie am besten<br />
nichts an<strong>der</strong>es, als genau hinzuhören. Beginnen Sie<br />
damit, dass Sie diese Musik zu Hause im Bett hören,<br />
mit Kopfhörern o<strong>der</strong> einer guten Musikanlage, ohne Geräuschkulisse.<br />
Wie<strong>der</strong>holen Sie das Zuhören mehrmals,<br />
hören Sie die ganze Musik ohne Unterbrechung, einmal<br />
frühmorgens, einmal spätabends. Üben Sie die unbedingte<br />
Hinwendung, sezieren Sie nicht, lenken Sie sich nicht<br />
ab mit dem Erraten von Instrumentennamen, blicken Sie<br />
an die flache leere Wand, halten Sie die Fläche aus, o<strong>der</strong><br />
blicken Sie an den Bettrand, klammern Sie sich mit Ihrem<br />
Blick an das Holz, o<strong>der</strong> schauen Sie aus dem Fenster, ertragen<br />
Sie das Glitzern <strong>der</strong> Sonne. Bleiben Sie ruhig. Seien<br />
Sie nicht ein:e brave:r Schüler:in, seien Sie nicht <strong>der</strong>:die<br />
Klassenbeste, bestehen Sie diese Prüfung nicht, seien Sie<br />
nicht beflissen. Geben Sie keine Antworten, wenn Sie gefragt<br />
werden. Wissen Sie nichts. Sitzen Sie dann später im<br />
Konzert, sollten Sie diese Musik innerlich mitrufen, mitsprechen<br />
diese Stimme. Singen Sie auch die Ihnen unangenehmen<br />
Töne mit. Sie sollten die Unregelmäßigkeiten<br />
<strong>der</strong> Ereignisse mitpulsieren, Ihr Herzschlag sollte sich den<br />
Schlägen anpassen, nicht umgekehrt. Sie sollten mindestens<br />
die Lippen bewegen. Sie sollten sich nicht ablenken<br />
lassen von dieser gewissen Stimme, vor <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Sie zu<br />
verschonen versuchen. Sie können dieser Stimme ohnehin<br />
nicht entkommen. Irgendwann werden Sie diesen Gesang<br />
sowieso hören. Hören Sie zu, hören Sie hin, halten<br />
Sie diese Musik aus. Distanzieren Sie sich nicht. Schauen<br />
Sie hin, hören Sie hin, wenn an<strong>der</strong>e sich an den Bootsrand<br />
klammern. Unterwerfen Sie sich dieser Musik. Nehmen<br />
Sie Ihr Leben mit ins Konzert und werfen Sie es unter diese<br />
Musik. Es ist vielleicht Ihr letzter Tag. Sie haben diese<br />
Karte gekauft, jetzt setzen Sie sich <strong>der</strong> Gewalt des Nicht-<br />
Vorauswissens aus. Wir können Ihnen nicht helfen.<br />
BARBARA BALBA WEBER, ist Dozentin, Forscherin und Autorin im Bereich Musikvermittlung.<br />
Sie beschäftigt sich beson<strong>der</strong>s mit <strong>der</strong> Rezeption und Vermittlung<br />
neuer Musik durch Nicht-Profis und sucht nach künstlerischen<br />
und kuratorischen Möglichkeiten, diverse gesellschaftliche Gruppen in<br />
experimentelle Musik zu involvieren.<br />
Foto: Jörg Brüggemann (Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum)<br />
154
»ICH SCHAU<br />
DICH<br />
NUR AN«<br />
BARBARA FREY<br />
IM GESRPÄCH MIT DER KÜNSTLERIN<br />
KATHARINA FRITSCH<br />
DAS WEITE LAND<br />
Arthur Schnitzler / Barbara Frey / Martin Zehetgruber<br />
Schauspiel<br />
ab 20. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 30 _______________ www.ruhr3.com/frey<br />
155
Die Regisseurin Barbara Frey traf die von ihr seit Jahren<br />
bewun<strong>der</strong>te bildende Künstlerin Katharina Fritsch in<br />
<strong>der</strong>en Düsseldorfer Atelier zum Gespräch über Arthur<br />
Schnitzlers Stück Das weite Land, über eine gewaltbereite<br />
Gesellschaft und über Fritschs eigenes Schaffen. Zuletzt<br />
gewann Katharina Fritsch den Goldenen Löwen <strong>der</strong> Venedig-Biennale<br />
für ihr Lebenswerk.<br />
Barbara Frey: Die Seele sei ein weites Land, sagt <strong>der</strong> Hotelbesitzer<br />
Aigner im Stück zum Glühbirnenfabrikanten<br />
Hofreiter.<br />
Katharina Fritsch: Dieser ganze Intrigenstadel … man<br />
denkt schon an die ungarische Weite, die sich da ausbreitet!<br />
(Lacht.) Wenn man hochgeht in Grinzing auf<br />
den Berg, dann kann man bis nach Ungarn schauen,<br />
und vielleicht ist die Seele dann da auch so.<br />
BF: Der Satz ist ja auch <strong>der</strong> reine Kitsch.<br />
KF: Ich finde ja den Begriff »Seele« toll. Ich habe mir die<br />
Seele als Kind immer als flache, wattige Wolke vorgestellt.<br />
Heute spricht man überhaupt nicht mehr von <strong>der</strong><br />
Seele. Ich weiß nicht, ob die Seele so etwas Unverbindliches<br />
ist, wie Aigner in <strong>der</strong> Szene mit Hofreiter meint.<br />
Unverbindlich, wie man im Nie<strong>der</strong>rheinischen sagen<br />
würde: »Kann so sein – kann auch so sein.« Liebe, Trug,<br />
Treulosigkeit – ach, die Menschen sind ja alle so kompliziert,<br />
so unverbindlich ist es wohl im Stück gemeint.<br />
Der Kunsthistoriker Robert Fleck sagte, in den slawischen<br />
Sprachen würde bei allem immer das Gegenteil<br />
mitgedacht. Das wäre ja aber wie<strong>der</strong> interessant!<br />
BF: Das Grundwesen des Kitsches ist seine Unverbindlichkeit.<br />
KF: Ich mag aber auch Kitsch, wie viele Künstler. Er hat<br />
so etwas Eingedampftes. Ich liebe ja auch Andenkenläden<br />
und Trödelmärkte. Man unterstellt dem Kitsch<br />
etwas Unwahrhaftiges – aber stell dir mal eine Welt<br />
vor, die nur aus Wahrhaftigem besteht …<br />
BF: Das Blabla in den Schnitzler-Dialogen ist reine Maskerade.<br />
Im Grunde hat aber alles, was gesagt wird, etwas<br />
Geheimdienstliches.<br />
KF: Die scheinbare Idylle kippt schon bei den ersten<br />
Regieanweisungen ins Schattenhafte. Das Stück<br />
selbst driftet vom Gesellschaftsgeplänkel in eine unheimliche<br />
Dynamik. Schon zum Ende des ersten Aktes<br />
gibt es diesen monströsen Dialog zwischen Genia Hofreiter<br />
und ihrem Mann Friedrich.<br />
Die Menschen sind jetzige, heutige Menschen. Frau<br />
Natter mit dem roten Auto an <strong>der</strong> Friedhofsmauer …<br />
das könnte doch heute <strong>der</strong> Ferrari sein …<br />
BF: Mich interessiert <strong>der</strong> Zusammenhang von Produktion<br />
und Körpern. Die Frauen- und Männerkörper, die Glühbirnen,<br />
die Fetischisierung von Gegenständen und Begriffen.<br />
Solange es Produktion und Expansion gibt, muss<br />
man sich nicht um Inhalte scheren. Aber alles beginnt mit<br />
einem Toten, und es endet mit einem Toten. Die Gewalt<br />
scheint normal zu sein.<br />
KF: Die Glühbirne ist interessant. Seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
ist sie da – und heute haben wir LED. Kerze<br />
und Feuer waren schönes, direktes Licht. Die Industrialisierung<br />
brachte das Glühbirnenlicht. Als Kind hat<br />
mich die Glühbirne immer traurig gemacht. Aber ohne<br />
Licht kein Leben, keine Produktion.<br />
BF: Und ohne Licht kein Dunkel. Der Lichtproduzent Hofreiter<br />
verursacht ja viel Dunkelheit.<br />
KF: Er ist einfach <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mann. Ein Grün<strong>der</strong>, ein<br />
Macher. Der Frauenkörper ist für ihn eine Trophäe.<br />
Deshalb wendet er sich ja auch <strong>der</strong> jungen Erna zu, die<br />
ist schön knackig. Die an<strong>der</strong>en Frauen sind auch interessant,<br />
sensibler als die Männer, aber ausgeliefert.<br />
BF: Sind sie das wirklich? Sie sind schwer lesbar. Das ist<br />
anspruchsvoll für die Männer. Sie reagieren darauf aggressiv<br />
o<strong>der</strong> bedrückt.<br />
KF: In <strong>der</strong> großen Szene des Ehepaars Hofreiter im<br />
ersten Akt, wo er zynisch und manipulativ ist, sagt sie<br />
an einer Stelle: »Ich schau dich nur an.« (Lacht.) Das<br />
ist natürlich großartig! Gemeiner geht’s nicht.<br />
BF: Das Biotop aus Lüge, Intrige und Verwerfung ist im<br />
ganzen Stück im Grunde Beiwerk; notwendig, um den Plot<br />
voranzutreiben. Im Zentrum steht aber <strong>der</strong> Sturz ins Leere.<br />
KF: Es geht um die unmittelbar bevorstehende Katastrophe.<br />
Historisch gesehen wurden da die jungen<br />
Männer auf dem Schlachtfeld eines voll industrialisierten<br />
Krieges verheizt. Gleichzeitig scheint ja das Personal<br />
auf <strong>der</strong> Bühne kultiviert, gebildet und geschmackvoll.<br />
Es hat die Nase vorn.<br />
BF: Das macht es ja so gefährlich.<br />
KF: Es gab aber schon ein Bewusstsein fürs Soziale. Es<br />
gab Arbeiterbewegung und fortschrittliches Denken,<br />
trotz Hardcore-Kapitalismus. Alle hofften auf bessere<br />
Lebensqualität – zu <strong>der</strong> ja Hofreiters Glühbirnen Entscheidendes<br />
beitrugen. Industrialisierung als Verheißung<br />
für alle. Das Duell zwischen den Männern war ein<br />
Überbleibsel <strong>der</strong> K.-u.-k.-Monarchie. Nicht legal, aber<br />
geduldet und anscheinend gesellschaftsfähig.<br />
BF: Wenn man die historische Duell-Patina von damals<br />
wegnimmt, sind einem Schnitzlers Figuren vertrauter, als<br />
einem lieb sein kann. Man kennt diese Leute, weil man zu<br />
ihnen gehört. Das Unheimliche ist das Unzivilisierte, Gewaltbereite,<br />
das überall durchschimmert.<br />
KF: Interessant ist, dass im Stück generell schlecht<br />
über Künstler gesprochen wird, sie sind die allerletzten<br />
Deppen. Über Musiker und Dichter wird in einer<br />
Selbstverständlichkeit abfällig geredet. Sah Schnitzler<br />
sich selbst in <strong>der</strong> Arztfigur Mauer o<strong>der</strong> bei den Künstlern,<br />
beide eher Außenstehende?<br />
BF: Ich denke, Schnitzler sah sich selbst in allen Figuren,<br />
auch den Frauenfiguren. Das unterstelle ich ihm. Er war<br />
ein äußerst aufmerksamer Mensch und neugierig darauf,<br />
die Perspektiven zu wechseln. Im Übrigen war <strong>der</strong> Arzt<br />
Schnitzler auch als Literat ein Diagnostiker, scharf und<br />
unerbittlich. Auffallend im Stück ist, dass es keine wirklichen<br />
Freundschaften gibt. Eher Seilschaften. Es gibt auch<br />
keine Kategorie von Zärtlichkeit.<br />
KF: Die Männer brauchen die Frauen im Grunde nur als<br />
Back-up. Die Komplimente, die Hofreiter den Frauen<br />
macht, sind schal und selbstbeweihräuchernd.<br />
BF: Und sie sollen seine Aggressivität überdecken. Immerhin:<br />
Hofreiter ist ein Mör<strong>der</strong>, ein Auslöscher. Seine<br />
Glühbirnen kann er an- und ausknipsen, wie er will. Die<br />
gesamte Gesellschaft ist gewaltbereit, auch im schulterzuckenden<br />
Hinnehmen <strong>der</strong> Gewalt Einzelner. Fürs Theater<br />
ist es umso interessanter, die kargen Wärmeherde zu<br />
eruieren, die Spuren von Komplizenschaft, Zuwendung,<br />
156
Verletzlichkeit und Humor zu finden.<br />
KF: Ein Wärmeherd könnte die Figur <strong>der</strong> Schauspielerin<br />
sein. Genia dagegen ist eher ausgeschlafen. Die<br />
Frauen gerieren sich bisweilen als Opfer, sind aber<br />
emotional Täterinnen. Genias Satz »Ich schau dich nur<br />
an« ist perfide.<br />
BF: Hofreiters Not ist, dass seine Frau ihn immer schon<br />
durchschaut hat, bevor er zu argumentieren beginnt.<br />
KF: Sie weiß, wie gewaltbereit er ist. Das macht sie<br />
mitverantwortlich für seine Gewalt gegen Otto, Genias<br />
Kurzzeit-Liebhaber.<br />
BF: Es bleibt aber im Dunkeln, ob sie mit dieser letzten<br />
Konsequenz rechnen konnte. Bei Schnitzler gibt es nicht<br />
Gut und Böse.<br />
KF: Er macht lediglich eine Bestandsaufnahme. Und<br />
fragt, ob die Gesellschaft jemals verantwortungsvoller<br />
war. Es geht ja schließlich um Verantwortung. Sie<br />
zu verweigern, ist damals wie heute ein Zeichen von<br />
Überfor<strong>der</strong>ung. Schnitzlers Gesellschaft vor dem Ersten<br />
Weltkrieg ist überfor<strong>der</strong>t. Um das nicht wahrhaben<br />
zu müssen, lebt sie in einer Art Kapsel, geschützt<br />
durch Wohlstand. Man geht ins Hotel, auf den Berg,<br />
auf den Tennisplatz. Und man geht fremd.<br />
BF: Da taucht Freuds obsessives Eros-Thanatos-Thema auf.<br />
Die ständig wechselnden Liebschaften sollen die Angst vor<br />
dem Tod verscheuchen.<br />
KF: Wir klammern den Tod auch aus. Man spricht nicht<br />
darüber.<br />
BF: Interessant bei Schnitzler ist auch die Sportwelt. Man<br />
spielt Tennis und erklimmt Berggipfel und redet auch andauernd<br />
darüber. In unseren heutigen Städten sind die<br />
Werbeflächen für Fitness, Kraftaufbau und Selbstoptimierung<br />
mittlerweile von gigantischer Größe. Ebenso die<br />
für Partnervermittlung.<br />
KF: Sport als Sucht. Während <strong>der</strong> Pandemie habe ich<br />
mich zwischenzeitlich gar nicht mehr bewegt. Wie eine<br />
Schildkröte. Das war meine Corona-Demonstration!<br />
(Lacht.) Im Sportwahn zeigt sich auch eine Feindschaft<br />
gegen das Geistige. Die Geisteswissenschaften<br />
sind von den Naturwissenschaften verdrängt worden.<br />
Es gibt nur noch Chemie. Deshalb finde ich den Begriff<br />
<strong>der</strong> Seele so interessant. Das ist kein mechanischer<br />
Begriff, man kann ihn nicht mehr benutzen. Kunstwerke<br />
zum Beispiel müssen eine Seele haben. Viel heutige<br />
Kunst ist seelenlos, mit einem »Branding« versehen.<br />
Das ist unverbindlich, man weiß eigentlich nicht mehr<br />
genau, wer das eigentlich macht: die Galerie? Firmen?<br />
O<strong>der</strong> eine Werbeagentur? Als ein Museumsbesucher<br />
in ein Warengestell mit lauter Madonnenfiguren von<br />
mir gelaufen ist und alles in tausend Scherben zerbrach,<br />
bekam ich vom Museum einen Dreizeiler, ob<br />
»mein Studio« das nicht einfach neu machen könne,<br />
nach dreißig Jahren. Ich bin doch keine Industrieproduktion!<br />
Die machen aber einem doch auch kein Auto<br />
von vor dreißig Jahren!<br />
BF: In deiner Kunst fällt auf, dass gerade in <strong>der</strong> radikalen<br />
materiellen Vergegenständlichung eine enorme Beseelung<br />
steckt.<br />
KF: Es ist alles Handarbeit, Manufaktur. Ich mache eigentlich<br />
nur Prototypen. Dinge, die aussehen, als seien<br />
sie industriell gefertigt, als fehle ihnen die Handschrift.<br />
Aber sie haben eine Handschrift. Die Assistenten, die<br />
ich beschäftige, sind allesamt Künstler. Wir setzen alles<br />
gemeinsam um, es ist herkömmliche künstlerische Arbeit,<br />
keine Industrieproduktion. Das, was da die Seele<br />
ausmacht, ist, dass es beim fertigen Kunstwerk immer<br />
etwas geben muss, das sich entzieht, das nicht kontrollierbare<br />
Moment, nur so gibt es Spannung und bekommt<br />
ein Eigenleben.<br />
BF: Die Frage ist ja: Ab wann empfindet man etwas als<br />
»seelisch aufgeladen«?<br />
KF: In meinen Werken steckt mein ganzes Leben. Alles,<br />
was sich nicht in Worte fassen lässt, alle erdenklichen<br />
Atmosphären sind in meinen Objekten gespeichert.<br />
Das liegt auch an dem höchst komplizierten<br />
Fertigungsprozess. Dadurch laden sich diese Objekte<br />
immer mehr auf. Und sie erfüllen keinen Zweck. Sie<br />
sind einfach nur da. Es sind eine Art selbstständig gewordene<br />
Kin<strong>der</strong>. Man kann sie anschauen und nichts<br />
passiert – aber plötzlich kippt die Wahrnehmung, und<br />
man sieht sie ganz an<strong>der</strong>s, und sei es für Sekunden.<br />
Es geht darum, aus dem Alltag herauszukippen. Zum<br />
Beispiel diese hier stehenden schwarzen Vasen. Man<br />
kann sie klar als solche erkennen, aber plötzlich sieht<br />
man momenthaft etwas an<strong>der</strong>es. Eine solche Vase<br />
stand bei meiner Großmutter auf dem Klavier, da waren<br />
Chrysanthemen drin.<br />
BF: Die Vasen sind Skulpturen, ich kann mir darin gar keine<br />
Blume vorstellen.<br />
KF: Die Vase ist einfach ein Objekt, nicht für Blumen<br />
gedacht.<br />
BF: Bei Schnitzler gibt es diese typische Serialität: So, wie<br />
die von Hofreiter produzierten Glühbirnen gleich aussehen,<br />
so müssen sich die Menschen ähneln. Wer auffällt,<br />
aus <strong>der</strong> Reihe tanzt, ist gefährlich, nicht mehr lesbar. Hofreiter<br />
empfindet seine eigene Frau als unheimlich, als sie<br />
sich weigert, den Reigen des allgemeinen Fremdgehens<br />
selbst mitzumachen. Er kann seine Frau nicht als seriellen<br />
weiblichen Gegenstand sehen, so wie er es <strong>der</strong> Einfachheit<br />
halber gerne würde, denn sie lässt es nicht zu.<br />
Urplötzlich sieht er in ihr etwas, was ihm Angst macht.<br />
Und er findet nicht mehr zurück zu seinem angestammten<br />
Blick, dieses »an<strong>der</strong>e« bleibt.<br />
KF: Er verliert den gewohnten Zusammenhang. De<br />
Chirico hat das beschrieben: Wenn man die Begriffe<br />
wegnimmt, kann man die Dinge nicht mehr einordnen.<br />
Wenn die Vase nicht mehr Vase heißt, ist sie keine<br />
mehr. Kin<strong>der</strong>, die noch keine Begriffe kennen, identifizieren<br />
sich mit den Gegenständen, weil sie sie nicht<br />
benennen und dadurch von sich fernhalten können.<br />
Das war bei mir als Kind auch so. Alles hatte eine Seele,<br />
alles war ich. Wenn das Sprachgefüge nicht da ist,<br />
gibt es auch kein Gesellschaftsgefüge. Alles ist Fetisch.<br />
Es gibt keine Koordinaten. Das ist für mich in<br />
meiner Arbeit wichtig: das schwarze Loch, in das man<br />
hineinschaut. Tod, Unendlichkeit – für eine Sekunde<br />
wird das sichtbar. Es ist <strong>der</strong> Sturz ins Bodenlose, weil<br />
das Vertraute weg ist. Im weiten Land ist im fünften Akt<br />
jegliches Vertrauen weg. Da wird es vollends unheimlich.<br />
Das ist die unmittelbare Vorkriegsatmosphäre, da<br />
bricht die Gewalt aus. Ab da ist dann alles möglich.<br />
Zu Beginn des Stücks stirbt schon die Musik, da bringt<br />
157
sich ein Künstler um, ein russischer Pianist, das ist<br />
sozusagen doppelt exotisch. Er musste gehen, weil er<br />
nicht mehr in diese Welt ohne Kunst passt. Sein Tod ist<br />
jedoch für niemanden eine Katastrophe.<br />
BF: Eine mitleidlose Gesellschaft. Niemand hat mit jemand<br />
an<strong>der</strong>em wirklich etwas zu tun. Man lebt in fremdartigen,<br />
unverbindlichen Verhältnissen, insbeson<strong>der</strong>e die<br />
Begegnungen zwischen Frauen und Männern sind ritualisiert<br />
und routiniert.<br />
KF: Männer haben auch heute ganz an<strong>der</strong>e Bedürfnisse<br />
als Frauen. Als Kind hat mich immer das mehr interessiert,<br />
was die Jungs machten. Ich galt als burschikos,<br />
hatte nie Puppen, aber ganz viele Stofftiere. Handarbeit<br />
war mir ein Graus, ich mochte diese Mädchensachen<br />
nicht. Bei den Jungs war mehr los, die heckten immer<br />
etwas aus. Mich hat immer <strong>der</strong> Raum interessiert: rausgehen,<br />
alles erkunden, Hütte bauen, allerdings dann<br />
schon auch Prinzessin sein wegen dem Glitz.<br />
BF: Mich beschäftigt noch immer <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Seele.<br />
KF: Es ist das Identifizieren mit etwas; man macht etwas,<br />
und es bekommt einen Charakter, es wird ein Wesen.<br />
Man schätzt es, man wirft es nicht weg. Ich kann<br />
so schlecht etwas wegwerfen, weil ich immer denke:<br />
Das hat doch jemand gemacht! Das ist Material – wir<br />
sind auch Material! Der Wegwerfkonsum ist <strong>der</strong> Wahnsinn,<br />
die ständige Überschussproduktion. Das beeinflusst<br />
unseren Umgang miteinan<strong>der</strong>, mit je<strong>der</strong> Kreatur<br />
und mit <strong>der</strong> Kunst.<br />
BF: Wir entfremden uns vom Lebendigsein.<br />
KF: Das sieht man auch an <strong>der</strong> seelenlosen, zusammengewürfelten<br />
Architektur da draußen. Alles Entfremdung.<br />
Die Glühbirne bei Schnitzler hat noch so<br />
getan, als imitiere sie die Kerze. Das LED-Licht imitiert<br />
gar nichts mehr. Ein kaltes, weißes, technisches Licht.<br />
Die Städte sind aufgeräumt, sauber, da kann keine<br />
Maus in irgendein Löchlein verschwinden. Hier in Düsseldorf<br />
sind Bäume <strong>der</strong> Feind. Es heißt, die machen ja<br />
nur Dreck. Die Architektur <strong>der</strong> Städte zeigt die ganze<br />
Brutalität. Im Grunde hat das kein menschliches Maß<br />
mehr.<br />
BF: Die Frage ist ja immer, woran wir uns orientieren, wenn<br />
wir vom menschlichen Maß sprechen. Über die Duelle <strong>der</strong><br />
Schnitzler-Zeit mokieren wir uns heute. Wir sehen in ihnen<br />
das Überbleibsel einer barbarischen Gesellschaft, die einem<br />
Ehrbegriff folgte, den wir scheinbar »überwunden«<br />
haben. Dabei begegnen wir heute unglaublichen Gewaltszenarien,<br />
die sich genauso herleiten aus einer fragwürdigen<br />
und oftmals menschenverachtenden Moralität.<br />
KF: Wir pflegen den Rufmord, den Shitstorm. Viele Duelle<br />
haben sich in den digitalen Raum verlagert. Und<br />
die Sehnsucht nach Bösewichtern ist ja unverän<strong>der</strong>t.<br />
Man giert nach Geschichten über ruchlose Menschen,<br />
auch in scheinbar zivilisierten Umständen. Könntest<br />
du Theater machen, wenn es nicht so wäre?<br />
BF: Völlig ausgeschlossen. Seit Menschengedenken bevölkern<br />
Schufte und ruchlose Charaktere die Künste. Mit<br />
nur edlem Personal kommt man in keine Kunstform.<br />
KF: Der ständige Zwiespalt. In <strong>der</strong> Kunst gibt es mittlerweile<br />
so viel Political Correctness, dass man gar keine<br />
Kunst mehr machen kann. Ich verwende zum Beispiel<br />
Lacke und Farben, die man nicht mehr verwenden<br />
sollte, wenn man umweltfreundlich sein will. Es sind<br />
aber die tollsten Lacke und Farben! Als ich anfing in<br />
den 80ern, durfte man viel ambivalenter sein, da kam<br />
158
ich mit <strong>der</strong> Sprühdose in die Malklasse und irritierte<br />
einen Kommilitonen, <strong>der</strong> zu mir sagte: »Was soll eine<br />
Blume machen, die von einem Panzer überfahren wird?«<br />
Ich war <strong>der</strong> Panzer und er die Blume – und ich fand<br />
das toll. Es gab da eine Lust o<strong>der</strong> Kraft im »Bösen«. Ich<br />
habe im übrigen Stoffe verwendet, die mir auch selbst<br />
geschadet haben. Heute gibt es zum Glück auch Industriepigmente,<br />
die nicht so schädlich sind und die<br />
gleiche Leuchtkraft haben. Trotzdem: Wenn man etwas<br />
macht, macht man auch etwas falsch.<br />
BF: Wichtig ist doch, in <strong>der</strong> Kunst – und überhaupt im<br />
Leben – nicht im Vorhinein schon zu wissen, was man<br />
macht. Da müsste man es ja nicht mehr machen. Man will<br />
doch etwas herausfinden!<br />
KF: Ich weiß nie, was rauskommt, wenn ich etwas mache.<br />
Das ist ein unbekanntes Land.<br />
Fotos: Frau mit Hund, 2004, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Ivo Faber,<br />
Händler, 2001, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Nic Tenwiggenhorn,<br />
Puppen, 2016, Katharina Fritsch, VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Ivo Faber<br />
159
DIE NATUR<br />
DES MENSCHEN?<br />
VON LUKAS BÄRFUSS<br />
DIE NATUR DES MENSCHEN — LITERATUR, MUSIK, GESPRÄCH<br />
Literatur / Dialog<br />
ab 21. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 32 _______________ www.ruhr3.com/natur<br />
160
Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Der Krieg in <strong>der</strong><br />
Ukraine macht den morgigen Tag, die kommende Stunde,<br />
die nächste Minute unvorhersehbar. Je näher das Epizentrum<br />
des Kriegs, umso kürzer die Berechenbarkeit. Auf<br />
ihrem Minimum ist sie in diesen Februartagen in Kiew, in<br />
Mariupol, in Charkiw. Der nächste Augenblick kann den<br />
Tod bringen o<strong>der</strong> die Rettung, Ausbombung o<strong>der</strong> gelungene<br />
Flucht, eine Hand, die tötet, eine an<strong>der</strong>e, die den<br />
Verlorenen noch aus den Flammen zieht.<br />
Alles hat sich verän<strong>der</strong>t. Was noch gestern verrückt<br />
schien, ist heute vollkommen vernünftig. Die Möglichkeit<br />
eines Atomkriegs einzuplanen ist keine Frage des Wahnsinns<br />
mehr, jetzt es eine Frage <strong>der</strong> Verantwortung.<br />
Alles än<strong>der</strong>t sich, zuerst das Verständnis für die Dinge und<br />
die Begriffe, die wichtigen und die weniger wichtigen. Auch<br />
<strong>der</strong> Titel einer Veranstaltungsreihe steht im neuen Licht.<br />
Vor kurzem haben wir in Die Natur des Menschen zuerst<br />
die Natur gesehen, die Fragen und die Aufgaben, die sie<br />
uns stellt. Jetzt sticht uns plötzlich <strong>der</strong> Mensch ins Auge,<br />
sein innerstes Wesen, seine Möglichkeiten, die metaphysischen<br />
und irrationalen Dimensionen seiner Existenz. Ist<br />
er böse? Und war er es immer? Und wird ein Teil immer<br />
böse sein? Gibt es eine Eigenschaft, auf die wir uns verlassen<br />
können? O<strong>der</strong> bleibt alles an ihm schwankend, den<br />
Umständen geschuldet?<br />
Wie kann man sich diesen Fragen verweigern, wenn man<br />
morgens und mittags und abends den Blutdurst sieht, die<br />
Lust an <strong>der</strong> Vernichtung, <strong>der</strong> unbedingte Wille zum Krieg,<br />
<strong>der</strong> Glaube an die Bomben, an den Terror? Wir sehen zu<br />
deutlich, wozu Menschen fähig sind. Die Städte in Schutt<br />
und Asche, Millionen auf <strong>der</strong> Flucht, <strong>der</strong> Tod regiert, das<br />
menschliche Leben ist nichts wert.<br />
Alles verän<strong>der</strong>t sich, und alles bleibt sich gleich.<br />
Je<strong>der</strong> Krieg entwertet. Er makuliert Ideen, zerstampft<br />
Hoffnungen, verbrennt Träume. Er vernichtet Wirtschaftspläne,<br />
die außenpolitische Doktrin, Konjunkturerwartungen,<br />
wissenschaftliche Analysen, die Faltblätter für das<br />
Publikum. Die eigene Geschichte verliert ihre Gewissheiten.<br />
Alles steht unter einem Vorbehalt, alles muss sich erklären.<br />
Die Sprache, die Eliten, die Sprache dieser Eliten,<br />
die Modelle, die Analysen und Vorhersagen, das gesicherte<br />
Wissen und die instinktiven Vermutungen: All dies war<br />
untauglich, nutzlos gegen diesen Krieg. Kein Abkommen,<br />
keine Einschätzung, kein Plan und keine Untersuchung<br />
haben ihn verhin<strong>der</strong>t. Warum ist das so? Was haben wir<br />
nicht bedacht? Wofür waren wir blind? O<strong>der</strong> ist es bloß,<br />
weil das Böse an die Macht gekommen ist? Aber das ist<br />
nur eine Entlastungskonzentration. Aus den Irrtümern<br />
werden Entschuldigungen.<br />
Das Böse erscheint als Mensch, das irgendwie in seinen<br />
Palast gekommen ist. Auch das Böse muss sich realisieren,<br />
es braucht eine Umwelt, Bedingungen und Prozesse.<br />
Machtlos ist das Böse nur eine Möglichkeit. Wer hat dem<br />
Bösen also beim Bösesein geholfen? Wer wurde ihm Komplize?<br />
Wir? Wer ist dieses Wir? Wer hatte Einfluss, wer<br />
hatte die Verantwortung, wer hätte etwas tun können?<br />
Wer hat sich einer Unterlassung schuldig gemacht? Wo<br />
wurden die falschen Entscheidungen getroffen? In <strong>der</strong><br />
Familie? In den Schulen, den Betrieben, in <strong>der</strong> Politik? Wo?<br />
Werden wir es wagen, diese Fragen zu stellen und die<br />
Schlüsse daraus zu ziehen?<br />
DIE EIGENE<br />
GESCHICHTE VERLIERT<br />
IHRE GEWISSHEITEN.<br />
ALLES STEHT UNTER<br />
EINEM VORBEHALT,<br />
ALLES MUSS SICH<br />
ERKLÄREN.<br />
Die Glaubenssätze <strong>der</strong> westlichen Gesellschaften entpuppen<br />
sich als Lebenslügen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
führt nicht zwingend zu Integration, und Integration<br />
führt nicht zwingend zum Frieden. Was dort gelungen<br />
ist, ist an<strong>der</strong>swo ein Schaden. Das Prinzip <strong>der</strong> Montanunion<br />
hat Frieden und Wohlstand für Deutschland und<br />
Frankreich gebracht. Die Produktionsmittel sollten so eng<br />
verflochten sein, dass keine Partei sie nach territorialen<br />
Grenzen trennen kann. Das eigene fällt zusammen mit gemeinsamem<br />
Interesse: Dieses Prinzip steht am Beginn <strong>der</strong><br />
europäischen Einigung. Nach innen erfolgreich, hat es an<br />
seinen Rän<strong>der</strong>n Wi<strong>der</strong>sprüche sichtbar gemacht, die seit<br />
vielen Jahren offen auf dem Tisch lagen: in Griechenland,<br />
in <strong>der</strong> Türkei, im Mittelmeer, in Großbritannien, auf dem<br />
161
Balkan, in Russland. Aus diesen Wi<strong>der</strong>sprüchen wurden<br />
soziale, wirtschaftliche, kulturelle und schließlich, in <strong>der</strong><br />
Ukraine, ein militärischer Konflikt.<br />
Es gibt für diese Lebenslüge eine große Zahl geschichtlicher<br />
Parallelen. Jede ist fürchterlich.<br />
Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Wir wissen nicht,<br />
was <strong>der</strong> morgige Tag bringt, die nächste Stunde.<br />
Und gleichzeitig verstehen wir genau, wie unsere Zukunft<br />
aussieht. Das Fenster schließt sich. Viel Zeit bleibt nicht,<br />
um die Katastrophe abzuwenden. Wir wissen alle, was getan<br />
werden muss. Das Ziel je<strong>der</strong> politischen Maßnahme<br />
muss sein, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren,<br />
und zwar jetzt, und zwar in einer Größenordnung, die unsere<br />
Wirtschaft, unsere Gesellschaft, zu einer neuen, zu<br />
einer nächsten industriellen Revolution zwingt. Woher die<br />
Energie für weniger Energie?<br />
UNSERE GESELLSCHAFT,<br />
DIE WESTLICHE,<br />
LIBERALE DEMOKRATIE,<br />
IST VERLETZLICH, WEIL<br />
SIE EINEN INNEREN<br />
WIDERSPRUCH NICHT<br />
GELÖST HAT.<br />
Wir wissen auch, dass diese Aufgabe die nächsten Generationen<br />
beschäftigten wird, und wir wissen auch, dass diese<br />
Aufgabe nur global gelöst werden kann. Aber wie soll das<br />
geschehen, in einer Welt, die in strategische Hemisphären<br />
zerfällt? In einer Welt, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung<br />
politischer Interessen nicht überwunden hat? Denken<br />
wir an eine CO2-neutrale Aufrüstung? An Panzer aus erneuerbaren<br />
Energien? Waffen werden mo<strong>der</strong>ner, <strong>der</strong> Krieg<br />
bleibt, was er war: blutig, hoffnungslos, am teuersten bezahlt<br />
von den Ärmsten, von jenen, die nicht fliehen können,<br />
nicht vor <strong>der</strong> Einberufung und nicht vor den Bomben.<br />
Brauchen wir neue Glaubenssätze, brauchen wir einen<br />
neuen Irrtum? Die Illusionen, die Erzählungen bestimmen<br />
die Geschichte. Die Projektionen, die Ängste und die<br />
Sehnsüchte <strong>der</strong> Menschen leiten ihr Tun. Wir glauben, was<br />
uns dienlich ist, was unsere Vorstellung nicht ins Wanken<br />
bringt, die Vorstellung, wie die Welt zu sein hat. In den letzten<br />
vier, fünf Generationen sollte die Welt vor allem wirtschaftlich<br />
und berechenbar sein. Wir haben Informationen<br />
gesammelt, wir haben das menschliche Leben zu einem<br />
Datensatz gemacht, wir vergleichen diese Daten und<br />
erstellen Rankings und Ratings, die wir global anwenden.<br />
Wir vermessen, wir fügen die Zahl in eine Tabelle, sie erscheint<br />
in einer Spalte und in einer Zeile, und beides bedarf<br />
<strong>der</strong> Erfindung einer Kategorie. Ohne Kategorien keine<br />
Preise, keine Werte, keine Währung, kein Vermögen und<br />
kein Status. Aber die Kategorien wie die Warte, die Spalten<br />
wie die Zeilen, die X- und die Y-Achse: Alles Modelle,<br />
nichts davon ist die Welt.<br />
Die Welt ist reich, und sie ist we<strong>der</strong> friedlich noch sicher.<br />
Frieden und Sicherheit sind betriebsökonomisch ein Mangel:<br />
Die Angestellten gewöhnen sich an Abläufe, während<br />
das Unternehmen, will es am Markt bestehen, sich beständig<br />
transformieren muss.<br />
Unsere Gesellschaft, die westliche, liberale Demokratie,<br />
ist verletzlich, weil sie einen inneren Wi<strong>der</strong>spruch nicht<br />
gelöst hat.<br />
Sie ist abhängig von Tyrannen, von Autokraten und Diktatoren.<br />
Unsere demokratische Gesellschaft ist erpressbar<br />
durch ihren Energiehunger, durch diese unstillbare Gier<br />
nach Öl, nach Gas, nach Kohle.<br />
Die westlichen Demokratien sind süchtige Gesellschaften.<br />
Auf gewisse Betriebsstoffe können sie nicht verzichten, sie<br />
kann sie höchstens ersetzen, substituieren, und dies nur<br />
mit Geduld und unter Qualen.<br />
Die Betriebsmittel unserer westlichen Demokratien werden<br />
nach Rezepten eingesetzt, nach Regeln, die heute esoterisch<br />
erscheinen. Die makroökonomischen Heilsworte<br />
lauten Wettbewerb, Wachstum, Marktdynamik. Es gibt<br />
einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft. Es<br />
gibt einen Zusammenhang zwischen dem Öl, das unsere<br />
Stuben heizt, und dem Öl, das die Waffensysteme herstellt<br />
und antreibt.<br />
Vorstellungen, wie wir aus dieser tödlichen Falle entrinnen<br />
können, in die uns die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft geführt hat,<br />
gibt es zwar, aber auch das Okapi und den Schneckenkönig<br />
gibt es, einfach sehr selten. Selbst <strong>der</strong> Gedanke,<br />
jemand könnte eine Utopie haben, wirkt utopisch. Entwürfe<br />
sind nutzlos. Die Welt ist schließlich gebaut, wir<br />
können sie im besten Fall entwickeln. Dazu brauchen wir<br />
den technologischen Fortschritt. Er ist das Äußerste an<br />
visionärer Kraft. Die Lösung muss und wird instrumentell<br />
sein, höhere Effizienz, geringere Kosten, verbesserte Produktivität.<br />
Für den Rest, für die Kolbenklemmer, für die<br />
porösen Stellen des Systems bedienten wir uns einer alten<br />
Methode, <strong>der</strong> Flickschusterei.<br />
Wie wichtig nahmen wir den Nutzen, wie nebensächlich<br />
war uns die Freude! Wer traute sich, auf ihr zu bestehen?<br />
Wer wagt es jetzt noch, aus <strong>der</strong> Fülle seiner Lebenswelt,<br />
außer <strong>der</strong> Knappheit seiner Lebenszeit zu argumentieren?<br />
Wer versucht eine Politik, die auf die guten Momente im<br />
menschlichen Leben setzt? Wer begreift die Freude als<br />
soziale Größe? Wer begreift, wie kostbar sie ist, wie selten,<br />
wie knapp? Wer darauf besteht, muss mit Kürzungen rechnen<br />
und mit dem Hohn und Spott <strong>der</strong> Macht. Die Macht<br />
verlangt Kennzahlen, und in eine solche passt die Freude<br />
nicht, <strong>der</strong> Hass nicht, die Träume nicht, nicht die süßen,<br />
nicht die Albmahre.<br />
Was berechenbar war, hielt man für realistisch, hielt man<br />
für die Wirklichkeit, aber Gleichungen sind Traumgebilde,<br />
bestenfalls Symbole, und sie neigen dazu, Fetische<br />
zu werden. Sie bilden ab, was sie fassen können, und sie<br />
162
schließen damit das meiste, das Wesentliche aus. Gleichungen<br />
schaffen Abwesenheiten, in das Fassbare kehren<br />
sie zurück als Gespenster.<br />
Das Bewusstsein des Menschen, wozu er fähig ist, im Guten<br />
wie im schlechten, nichts passt in eine Formel, in keine<br />
Evaluation, in keine Zahl. Das menschliche Wesen ist we<strong>der</strong><br />
mit Buchhaltung noch mit Rechnungsführung zu fassen,<br />
nicht mit ihren Instrumenten, nicht in den Prozessen, und<br />
alle, die glauben, das Controlling würde den Betrieb durch<br />
Kontrolle sicherer machen, sind gefährliche Phantasten.<br />
VORSTELLUNGEN,<br />
WIE WIR AUS DIESER<br />
TÖDLICHEN FALLE<br />
ENTRINNEN KÖNNEN, IN<br />
DIE UNS DIE MODERNE<br />
GESELLSCHAFT<br />
GEFÜHRT HAT, GIBT<br />
ES ZWAR, ABER AUCH<br />
DAS OKAPI UND DEN<br />
SCHNECKENKÖNIG<br />
GIBT ES, EINFACH SEHR<br />
SELTEN.<br />
Wi<strong>der</strong>sprüche verursachen Spannung. Wenn diese zu groß<br />
wird, bricht jedes System. Dauerhaft kann es werden,<br />
wenn es über seine eigenen Grenzen hinausdenkt, wenn<br />
es seine Negation in die Perspektive nimmt, wenn es zur<br />
Kritik fähig bleibt und diese Kritik zur Grundlage seiner<br />
Entscheidungen macht.<br />
Viele unserer gesellschaftlichen Institutionen verfolgen<br />
einen an<strong>der</strong>en Zweck. Sie wollen Wi<strong>der</strong>sprüche nicht benennen,<br />
sie wollen sie verdecken. Und wenn das nicht gelingt,<br />
macht man sie wenigstens erträglich. Sollte gerade<br />
noch die ökonomische Logik uns vor allen Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />
retten, so flüchtet man sich jetzt übergangslos in die militärische.<br />
Aber vielleicht haben die beiden Logiken denselben<br />
Ursprung in <strong>der</strong> einen Logik, in jener des Krieges.<br />
Wir zerstören Städte, Staaten, wir zerstören das Klima, wir<br />
zerstören die natürlichen Lebensgrundlagen, wir führen<br />
Krieg gegen uns selbst.<br />
Einem beliebigen Bewusstsein das Wissen über die eigenen<br />
Defizite, Grenzen und Aporien zu tilgen, ist mit Aufwand<br />
verbunden. Menschen kennen verschiedene Strategien<br />
<strong>der</strong> Verleugnung und <strong>der</strong> Selbsttäuschung. Die Vorbedingung<br />
dazu ist <strong>der</strong> Instinkt für Brüche, für die schlechten<br />
Gerüche, wenn an einer Sache etwas faul ist. Menschen<br />
erkennen die Grenzen <strong>der</strong> eigenen Welt, die Inkohärenzen<br />
und die Paradoxien, sie wissen von <strong>der</strong> Endlichkeit <strong>der</strong><br />
Existenz, und sie stellen Fragen nach den ersten und nach<br />
den letzten Dingen.<br />
People always fight the last war. So heißt es in <strong>der</strong> englischen<br />
Redensart. Bedeutet sie, dass die Menschen die<br />
gegenwärtigen Konflikte an den geschichtlichen messen,<br />
an jenen, in denen sie schon eine Erfahrung gesammelt<br />
haben? Das würde einen Fehlschluss, aber gleichzeitig die<br />
Möglichkeit beweisen, aus <strong>der</strong> Geschichte vielleicht nicht<br />
zu lernen, aber immerhin Schlüsse zu ziehen.<br />
Wenn diese Redensart aber Blindheit für das Momentane<br />
und das Zukünftige bedeutet, dann könnte man an keine<br />
Politik glauben, nur noch an den Zufall, das Schicksal o<strong>der</strong><br />
die Vorsehung, auf Größen, die jenseits <strong>der</strong> menschlichen<br />
Einflussnahme stehen.<br />
Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Und wir wissen<br />
genau, was mit uns geschieht. Beide Sätze sind wahr. Sie<br />
beschreiben keinen Wi<strong>der</strong>spruch, sie beschreiben einen<br />
Zusammenhang. Die Natur des Menschen lässt sich nur in<br />
diesem Zusammenhang darstellen. Und Literatur ist nichts<br />
an<strong>der</strong>es, versucht nichts an<strong>der</strong>es. Wann immer Menschen<br />
geschrieben haben, haben sie über die eigene Unzulänglichkeit<br />
nachgedacht, über die Grenzenlosigkeit des Gedankens<br />
in <strong>der</strong> Beschränktheit des eigenen Daseins.<br />
In <strong>der</strong> Kunst, so steht irgendwo, sei nichts ohne sein Gegenteil<br />
wahr. Wer findet eine bessere Beschreibung für die<br />
Größe, für die Fürchterlichkeit, für die Macht und die Hilflosigkeit,<br />
für die Natur des Menschen?<br />
LUKAS BÄRFUSS, geboren in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet<br />
mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und Gastgeber<br />
<strong>der</strong> musikalischen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen, die wir in dieser<br />
Festivalausgabe zu den Themen Natur und Propaganda, Natur und Demokratie und Natur<br />
und Bewusstsein fortsetzen. Sie stellt sich die Fragen <strong>der</strong> doppelten Lesbarkeit ihres<br />
Titels: »Was ist das Wesen des Menschen?« und »Mit welchem Begriff <strong>der</strong> Natur operiert<br />
<strong>der</strong> Mensch eigentlich in den gegenwärtigen Diskussionen?«<br />
Dieser Artikel für das Magazin entstand Anfang März <strong>2022</strong>.<br />
Fotos: Claudia Herzog (Lukas Bärfuss)<br />
163
EDUCATE<br />
CAPITALISM!<br />
JUDITH GERSTENBERG IM GESPRÄCH<br />
MIT JULIAN ROSEFELDT<br />
EUPHORIA<br />
Julian Rosefeldt<br />
Multidisziplinäre Installation / Uraufführung<br />
ab 25. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 36 _______________ www.ruhr3.com/euphoria<br />
164
Lieber Julian, heute ist <strong>der</strong> 14. März <strong>2022</strong>, Tag 19 eines<br />
in Europa geführten Krieges, dessen Ausbruch wir uns<br />
nicht hatten vorstellen können. Der russische Präsident,<br />
Wladimir Putin, hat am 24. Februar <strong>2022</strong> seinen Truppen<br />
den Befehl für den Einmarsch in die Ukraine gegeben.<br />
Die Arbeit an deiner neuen Filminstallation EUPHORIA<br />
wurde jäh gestoppt. Ihr wart inmitten von Dreharbeiten<br />
in Kiew, als weltweit die Regierungen ihre Bürger:innen<br />
zum sofortigen Verlassen des Landes mahnten. Wenngleich<br />
EUPHORIA auf den ersten Blick inhaltlich nichts<br />
mit diesem Konflikt zu tun hat, lässt sich auf den zweiten<br />
Blick erkennen, wie verknüpft diese Arbeit mit den<br />
gegenwärtigen Ereignissen ist – in einer Weise, in <strong>der</strong> es<br />
zu Beginn des Projektes kaum voraussehbar gewesen<br />
sein dürfte. Doch fangen wir von vorne an. Erste konzeptionelle<br />
Gedanken hattest du bereits 2013. Was war<br />
<strong>der</strong> Impuls für diese Arbeit?<br />
Fragen zur Initialzündung meiner Projekte fallen mir immer<br />
schwer zu beantworten. Meist gehen ihnen lange<br />
Prozesse voraus, Recherchen, Verlinkungen zu an<strong>der</strong>en<br />
Projektentwürfen. Bevor sich eine Idee tatsächlich konkret<br />
formuliert, ist meist viel Zeit vergangen. Allgemein<br />
lässt sich vielleicht sagen, dass ich mich in <strong>der</strong> künstlerischen<br />
Arbeit meinen Wissenslücken stelle. Ich benutze<br />
sie, um mir Themenkomplexe zu erschließen, die Fragen<br />
in mir auslösen o<strong>der</strong> über die ich schlichtweg zu wenig<br />
weiß. Die Ökonomie, zum Beispiel, war immer eine große<br />
Grauzone. Ich gehörte zu denjenigen, die den Wirtschaftsteil<br />
<strong>der</strong> Tageszeitung überblätterten, da er mir<br />
unverständlich war und das, worüber darin geschrieben<br />
wurde, undurchdringlich und suspekt erschien. Doch<br />
die Gesetze <strong>der</strong> Wirtschaft gestalten essenziell die Welt,<br />
in <strong>der</strong> wir leben, daher wollte ich mich <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Ökonomie<br />
auf Dauer nicht verschließen. Ich habe mir dann<br />
zunächst Basiswissen angeeignet und die Grundlagen<br />
<strong>der</strong> Wirtschaftsgeschichte gelesen. Parallel dazu begann<br />
ich, eine Form zu suchen, die es mir erlaubt, sich<br />
mit den doch eher trockenen Wirtschaftstheorien auf<br />
sinnliche Weise auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Wie auch in Manifesto,<br />
Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes<br />
Land o<strong>der</strong> American Night gehört es seit vielen<br />
Jahren zu meiner Methode, mit vorhandenem Textmaterial<br />
zu arbeiten, das ich zerschneide, collagiere, editiere<br />
und daraus neue Texte herstelle, die ich dann in unsere<br />
Zeit transferiere und untersuche, inwieweit historisches<br />
Material o<strong>der</strong> Gegenwärtiges aus an<strong>der</strong>en Kontexten<br />
für das Heute sinnstiftend o<strong>der</strong> relevant sein können.<br />
ALLGEMEIN LÄSST<br />
SICH VIELLEICHT<br />
SAGEN, DASS<br />
ICH MICH IN DER<br />
KÜNSTLERISCHEN<br />
ARBEIT MEINEN<br />
WISSENSLÜCKEN<br />
STELLE<br />
Folgst du bei <strong>der</strong> Montage vorhandenen Materials bestimmten<br />
Kriterien? Du zwingst unterschiedliche, teils<br />
wi<strong>der</strong>sprüchliche Positionen in deinen Texten zusammen,<br />
sodass man als Zuhörer:in sehr wach sein muss.<br />
Ich recherchiere sehr breitgefächert, lese alle möglichen<br />
Texte rund um das jeweilige Thema aus verschiedenen<br />
Zeiten und Perspektiven – ob es sich nun um<br />
deutsche Geschichte, den Gründungsmythos Nordamerikas,<br />
um Künstlermanifeste o<strong>der</strong> in diesem Fall<br />
um Ökonomie handelt. Mich interessiert es, wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />
Stimmen aufeinan<strong>der</strong>prallen zu lassen. In<br />
EUPHORIA zum Beispiel entfalten sowohl die Positionen<br />
<strong>der</strong> neoliberalen Marktwirtschaft ihre Verführung und<br />
Überzeugungskraft als auch die ihrer Kritiker.<br />
Deine Unternehmung, den Kapitalismus zu fassen, ist eigentlich<br />
unmöglich, zum Scheitern verurteilt. Dieses »System«<br />
hat etwas Verschlingendes, auch die Kapitalismuskritik verleibt<br />
es ihm ein. Die eigene Position bekommt man zudem<br />
kaum in den Blick, weil man selbst Teil davon ist. Die neoliberale<br />
Marktwirtschaft <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte ist enorm<br />
erfolgreich, obwohl die zerstörerische Wirkung auf Umwelt<br />
und sozialen Zusammenhalt längst offen zutage liegt. Hast<br />
du Antworten in deinem Arbeiten darauf gefunden, warum<br />
dieses System noch immer so populär ist?<br />
Du hast recht. Der Kapitalismus bzw. die radikalisierte<br />
Form davon – die entfesselte, neoliberale Marktwirtschaft<br />
– hat auch die Kritik daran längst absorbiert und<br />
instrumentalisiert. Dieses System ist bis heute so erfolgreich<br />
und, abgesehen vom gescheiterten Experiment<br />
165
des Kommunismus, alternativlos geblieben, weil es sich<br />
<strong>der</strong> ureigenen menschlichen Neigung, etwas zu entwickeln,<br />
sich zu steigern, zu wachsen, besser zu werden,<br />
in den Wettbewerb mit dem Mitmenschen zu treten,<br />
bedient. Dazu kommt die euphorisierende Wirkung von<br />
neuen materiellen Besitztümern und an<strong>der</strong>er Errungenschaften.<br />
Das dabei kurzfristig ausgeschüttete Dopamin<br />
führt uns schnell in eine immer enger getaktete<br />
Abhängigkeit. Wir werden, wie Philip Slater schon 1980<br />
beschrieben hat, zu »wealth addicts«. Das verträgt sich<br />
übrigens auch bestens mit grüner Nachhaltigkeit und<br />
Sozialdemokratie. Es kann ja recycelt und gespendet<br />
werden.<br />
Ich bin kein Wirtschaftsexperte. Ich versuche daher,<br />
nicht aufzuklären – auch wenn EUPHORIA vielleicht<br />
einen gewissen aufklärerischen und informativen Charakter<br />
hat –, son<strong>der</strong>n vielmehr einen uns umgebenden<br />
vielstimmigen Choral aus verschiedenen Meinungen<br />
ertönen zu lassen – übrigens auch im wörtlichen Sinne:<br />
Es wird viel gesungen in EUPHORIA.<br />
Erzähl doch bitte, wie du Bil<strong>der</strong> und Texte zusammenbringst.<br />
Dadurch, dass ich die Textbausteine von ihren Quellen<br />
befreie, neu kombiniere, auch mit Bil<strong>der</strong>n und Handlungsorten,<br />
die scheinbar nicht zusammengehören,<br />
werden die Zuhörer:innen aktiviert. Sie müssen sich<br />
selbst in diesen Asymmetrien zurechtfinden. Das ist<br />
sehr herausfor<strong>der</strong>nd, beson<strong>der</strong>s in dieser sehr textlastigen<br />
Arbeit. Aber <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te Kontext schafft<br />
auch eine ungeheure Konzentration und Öffnung<br />
gegenüber den aus den ursprünglichen Zusammenhängen<br />
gerissenen Gedanken. Diese Methode macht<br />
mir große Freude, denn es interessiert mich, eingefahrene<br />
Erzählstrukturen sprachlicher und bildlicher Art<br />
zu unterlaufen. Die bekannten kulturellen »Gefäße«, in<br />
denen Inhalte traditionell transportiert werden, for<strong>der</strong>n<br />
viel Eigenleistung, verstellen aber auch den unvoreingenommenen<br />
Blick darauf. In Manifesto hatte ich dieses<br />
Verfahren des Neukontextualisierens von Textbausteinen<br />
auch angewendet. Durch die Montage hatte<br />
man die Chance, die in den Manifesten tradierten Gedanken<br />
komplett neu zu entdecken. Sie wurden nicht<br />
verstellt durch die auratische Aufladung <strong>der</strong> Namen<br />
ihrer Urheber:innen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en damit gewöhnlicherweise<br />
verbundenen Bildwelten.<br />
In EUPHORIA habe ich Textfragmente aus 2000 Jahren<br />
Menschheitsgeschichte versammelt, Fragmente<br />
aus theoretischen, philosophischen und fiktionalen<br />
Texten, die die Geschichte <strong>der</strong> menschlichen Gier<br />
dokumentieren. Sie öffnen den Blick auf die Genese<br />
des Kapitalismus und seiner pervertierten Form, <strong>der</strong><br />
völlig enthemmten neoliberalen Marktwirtschaft, wie<br />
wir sie heute erleben. Die meisten <strong>der</strong> verwendeten<br />
Texte stammen aber aus <strong>der</strong> Gegenwart. Gesprochen<br />
werden sie von Schauspieler:innen, denen wir in vertrauten,<br />
alltäglichen Szenerien begegnen. Die Protagonist:innen<br />
dieser Szenen sind von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
marginalisierte Menschen: Obdachlose, unterbezahlte<br />
Arbeiter:innen aus Logistikzentren, Kin<strong>der</strong> aus armen<br />
Verhältnissen, Taxifahrer – sie alle diskutieren, mit<br />
einem ungeheuren Wissen ausgestattet, über die Pro<br />
und Kontras ökonomischer Ideen, Strömungen und<br />
Systeme. Da es sich – an<strong>der</strong>s als bei Manifesto – nicht<br />
um poetische Texte handelt, bestand hier die Schwierigkeit<br />
darin, diese Gedankengänge in eine Verständlich-<br />
und Sinnlichkeit zu übersetzen. Es wird für die Besucher:innen<br />
herausfor<strong>der</strong>nd, vielleicht phasenweise<br />
aber auch nervig werden.<br />
ES INTERESSIERT<br />
MICH, EINGEFAHRENE<br />
ERZÄHLSTRUKTUREN<br />
SPRACHLICHER UND<br />
BILDLICHER ART ZU<br />
UNTERLAUFEN<br />
Du bist ein bildmächtiger Künstler. Welche Szenerien hast<br />
du für deine neue Arbeit gewählt?<br />
Die Arbeit besteht aus verschiedenen Elementen. Da<br />
ist zum einen die lebensgroße Projektion von 150 Jugendlichen<br />
des Brooklyn Youth Chorus. Sie stehen um<br />
das Publikum herum und nehmen die Rolle des Chores<br />
aus <strong>der</strong> antiken Tragödie ein, <strong>der</strong> als Gewissen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
das Geschehen kommentiert. Dieser Chor<br />
kommuniziert musikalisch mit fünf Screens, auf denen<br />
Schlagzeuger:innen zu sehen und hören sind. Großartige<br />
Jazzmusiker aus den USA und Kuba, die Algorithmen,<br />
Zahlungsströme in Musik übersetzen. Sie sind<br />
die treibende Kraft. Dann gibt es einen Hauptscreen,<br />
auf dem sechs Szenen zu sehen sein werden. In ihnen<br />
sieht man zum Beispiel einen Taxifahrer durchs nächtliche<br />
New York fahren, auf <strong>der</strong> Rückbank einen stillen<br />
Fahrgast. Er philosophiert über die Zeit, in <strong>der</strong> wir<br />
leben. Draußen ist die Welt nicht mehr intakt, etwas<br />
muss passiert sein, seltsame Figuren bevölkern die<br />
Stadt. Die zweite Szene zeigt eine Gruppe Obdachloser,<br />
die über die zwei großen konträren Wirtschaftstheorien<br />
debattieren – über einen staatlich regulierten<br />
versus einen entfesselten freien Markt. In <strong>der</strong> dritten<br />
Szene erörtern Fabrikarbeiterinnen die Ursprünge des<br />
Reichtums <strong>der</strong> westlichen Welt als Folge von Kolonialismus<br />
und Sklaverei. In <strong>der</strong> vierten finden wir uns in<br />
einer Bank wie<strong>der</strong>, in <strong>der</strong> wir einem kollektiven hypnotischen<br />
Ritual beiwohnen, das komplett außer Kontrolle<br />
gerät. In einem verlassenen Busbahnhof, <strong>der</strong> an<br />
eine <strong>der</strong> Ruinen <strong>der</strong> stillgelegten Automobilindustrie<br />
Detroits erinnert, skaten in <strong>der</strong> fünften Szene ein paar<br />
Teenager und entwerfen zukunftstaugliche Ideen, die<br />
über unsere Zeit hinausweisen. Und in <strong>der</strong> letzten Szene<br />
begegnen wir in einem geschlossenen Supermarkt<br />
einem plün<strong>der</strong>nden und marodierenden Tiger, <strong>der</strong> zynisch<br />
über die Menschheit räsoniert.<br />
Dem Tiger verleiht Cate Blanchett ihre Stimme. Sie war<br />
schon in Manifesto die großartige Protagonistin. Virginia<br />
Newcomb und Giancarlo Esposito spielen mit, neben<br />
166
vielen an<strong>der</strong>en. Du arbeitest häufig mit Filmstars. Ist das<br />
einer Verkaufslogik geschuldet?<br />
Nein, das kann ich mit Sicherheit sagen. Meine Zusammenarbeit<br />
mit Cate Blanchett ergab sich zufällig<br />
aus einem privaten Kontakt über einen gemeinsamen<br />
Freund. Bei EUPHORIA hat sich die Besetzung von Giancarlo<br />
Esposito aus <strong>der</strong> Rolle ergeben. Ich zitiere eine<br />
Filmszene aus Jim Jarmuschs Night on Earth, in <strong>der</strong><br />
Giancarlo schon einmal am Steuer eines Taxis saß, mit<br />
dem eigentlichen Taxifahrer auf dem Rücksitz, gespielt<br />
von Armin Mueller-Stahl. Mich hat es gereizt, ihn 30<br />
Jahre später wie<strong>der</strong> in dieses Taxi steigen und durch<br />
New York fahren zu lassen. EUPHORIA ist eine englischsprachige<br />
Produktion – die Park Avenue Armory<br />
in New York ist die Hauptproduzentin – und die Besetzung<br />
<strong>der</strong> Rollen lief deshalb unter an<strong>der</strong>em über eine<br />
Casting-Agentin. Da kommen dann bei einem Open<br />
Call auch mal 1000 Bewerber:innen zusammen, davon<br />
werden 100 eingeladen, die schaut man sich alle an<br />
und nimmt die besten, die im Drehzeitraum verfügbar<br />
sind. Virginia Newcomb haben wir zum Beispiel auf<br />
diese Weise gefunden. Ich kannte sie vorher gar nicht.<br />
Ich kann aber sagen, dass ich gerne mit sehr guten<br />
Schauspieler:innen zusammenarbeite. Und sogenannte<br />
Stars sind nun mal oft sehr gut.<br />
Der Aufwand für EUPHORIA ist über den Zeitraum seiner<br />
Entstehung gewachsen, ja geradezu angeschwollen –<br />
liegt das in <strong>der</strong> Natur des Themas, dem das Wuchern<br />
inhärent ist?<br />
Ich fürchte, das liegt eher an mir. Ich sage immer: Das<br />
nächste Mal wird es etwas Kleineres. Ich lüge mir da<br />
gerne in die Tasche. Wenn dann aber die Ideen langsam<br />
Form annehmen, <strong>der</strong> inneren Logik des Projektes<br />
folgend, beginnen die Projekte zu wuchern. Mein<br />
Malkasten ist <strong>der</strong> Apparat <strong>der</strong> Filmproduktion. Ich bin<br />
dankbar dafür, dass ich in diesen Maßstäben arbeiten<br />
kann und genieße das sehr. Das bedeutet aber auch,<br />
dass man mit allen Gewerken, die in die Erzeugung einer<br />
solchen Produktion involviert sind, sehr strukturiert<br />
arbeiten muss. Und da greifen dann auch die Mechanismen<br />
<strong>der</strong> Marktwirtschaft. Drehzeit ist teuer. Wenn<br />
Du Fehler machst, erhöhen sich Leihkosten für das<br />
Material, Mitarbeiter:innen müssen länger beschäftigt<br />
werden etc. Die Arbeit ist äußerst intensiv. Ich probe<br />
vorher viel – das wäre im kommerziellen Kinogeschäft<br />
gar nicht möglich. Meine Projekte können nur realisiert<br />
werden, weil die Leute, mit denen ich arbeite, sich<br />
freuen, wenn ich alle paar Jahre mit einer Idee ankomme.<br />
Die Mitwirkenden arbeiten unter ihren regulären<br />
Gagen, die Firmen zu an<strong>der</strong>en Bedingungen. An<strong>der</strong>s<br />
wäre solch eine Arbeit gar nicht möglich. Bei einem<br />
Kunstprojekt wie diesem entfällt ja quasi die kommerzielle<br />
Verwertung. EUPHORIA lässt sich vermutlich außerhalb<br />
<strong>der</strong> großen Festivals kaum verkaufen, und ob<br />
daraus jemals eine verwertbare Kinofassung entsteht,<br />
wie bei Manifesto, steht in den Sternen. Wir sind daher<br />
darauf angewiesen, dass das Team einen Teil <strong>der</strong> Honorierung<br />
aus dem gemeinsamen Erlebnis zieht. Und<br />
das ist immer ein großer Spaß, auch wenn wir dabei<br />
alle an unsere Grenzen gehen. Ich arbeite seit Jahren<br />
immer wie<strong>der</strong> mit denselben Leuten, es sind enge<br />
Freundschaften entstanden und wir freuen uns miteinan<strong>der</strong>,<br />
wenn es alle paar Jahre nach langer Recherche<br />
und Vorproduktion wie<strong>der</strong> losgeht. Ich glaube, <strong>der</strong><br />
Reiz einer solchen Produktion besteht unter an<strong>der</strong>em<br />
gerade auch darin, für etwas zu arbeiten, das sich den<br />
gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Vermarktung<br />
entzieht. Das setzt überraschen<strong>der</strong>weise ungeheure<br />
Energien frei.<br />
Die Szenen spielen alle in den USA. Gedreht habt ihr aber<br />
nicht nur dort, son<strong>der</strong>n auch in Sofia und Kiew. Das hatte<br />
keine inhaltlichen Gründe.<br />
Nein, hatte es tatsächlich nicht. Wir konnten in Bulgarien<br />
und <strong>der</strong> Ukraine einfach deutlich günstiger produzieren<br />
als in den USA. Und es gibt dort hervorragende<br />
Filmstudios und Filmproduktionsfirmen. Während<br />
<strong>der</strong> Produktion haben wir viel darüber gesprochen,<br />
wie sehr wir selbst bei <strong>der</strong> Produktion einer kapitalismuskritischen<br />
Arbeit in <strong>der</strong> Logik des Kapitalismus<br />
gefangen sind. Es gibt kein Entkommen. Wir sind alle<br />
nicht gefeit vor seinen Verlockungen und bezirzt von<br />
den Versprechungen, die dieses System jedem von<br />
uns macht, von seinen Möglichkeiten. Auch wenn das<br />
manchmal nur ganz banal heißt, etwas an<strong>der</strong>orts billiger<br />
zu bekommen. Kiew und Sofia hatten aber auch<br />
Motive und Locations zu bieten, über die wir ein etwas<br />
an<strong>der</strong>es, fiktionaleres und dystopisches Nordamerika<br />
erzählen konnten.<br />
ES BRAUCHT EINE<br />
NEUKALIBRIERUNG<br />
UNSERES<br />
WERTESYSTEMS<br />
»System« ist ja eigentlich auch ein Euphemismus, <strong>der</strong> die<br />
Verantwortung verschiebt. Wir sind das System.<br />
Das stimmt. Der Erfolgszug des Kapitalismus ist ja<br />
inzwischen längst auch in Russland und China angekommen,<br />
auch wenn dies dort ideologisch an<strong>der</strong>s<br />
verkauft wird und zu großen Friktionen führt, wie wir<br />
sie gerade erleben. Und was uns betrifft: Dass wir<br />
am Abgrund unseres Lebensentwurfs stehen, haben<br />
wir theoretisch begriffen, aber bislang ziehen wir keine<br />
Konsequenz daraus. Ich halte allerdings nicht den<br />
Kapitalismus an sich für verwerflich, son<strong>der</strong>n seine<br />
völlig entfesselte und enthemmte Pervertierung in<br />
Form einer neoliberalen Marktwirtschaft, <strong>der</strong>en Konsequenzen<br />
– nämlich die himmelschreiende Ungerechtigkeit<br />
<strong>der</strong> Verteilung von Wohlstand und Zugang<br />
zu Bildung und Gesundheit, die viel zitierte immer weiter<br />
klaffende Schere zwischen Arm und Reich – sich<br />
letztlich gegen uns wenden, von außen wie von innen.<br />
Die Entfesselung auf <strong>der</strong> einen Seite verursacht eine<br />
Entfesselung auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Das manifestiert<br />
sich in <strong>der</strong> wachsenden Wut <strong>der</strong> Benachteiligten auf<br />
die Profiteure, die dann in Phänomene wie Terrorismus<br />
mündet o<strong>der</strong> dem Populismus Tür und Tor öffnet,<br />
167
letztlich auch in diesem Krieg, <strong>der</strong> auch als Krieg <strong>der</strong><br />
Systeme gelesen werden muss. Da ich dennoch an<br />
<strong>der</strong> freien Entfaltung des Einzelnen festhalten möchte,<br />
aber nicht akzeptieren will, dass solch banale Amoralitäten<br />
wie die Anhäufung unglaublicher Besitzmengen<br />
durch einige wenige Profiteure <strong>der</strong> entfesselten Marktwirtschaft<br />
unüberwindbar sind, glaube ich naiv, aber<br />
fest an einen Paradigmenwechsel. Mein Schlachtruf,<br />
<strong>der</strong> vielleicht auch so etwas wie ein Fazit in EUPHORIA<br />
ist, lautet daher: Educate capitalism!<br />
Liegt in <strong>der</strong> gegenwärtigen Erziehung das Problem? Unser<br />
Bildungssystem richtet junge Menschen von früh an auf<br />
Konsum und Wettbewerb aus, auf Konkurrenz, lehrt, wie<br />
sie ihre Lebensläufe attraktiv für den Markt gestalten,<br />
weckt Begehren und definiert die Zeichen des Erfolgs, die<br />
nahezu alle materiell sind. Die Zeit für Geistesbildung wird<br />
verknappt, das frühere Eintreten in den Arbeitsmarkt als<br />
Vorteil verkauft.<br />
Ich glaube, <strong>der</strong> Reiz einer solchen Produktion besteht<br />
unter an<strong>der</strong>em gerade auch darin, für etwas zu arbeiten,<br />
das sich den gewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten<br />
<strong>der</strong> Vermarktung entzieht. Das setzt überraschen<strong>der</strong>weise<br />
ungeheure Energien frei<br />
Es ist ganz klar: Es braucht eine Neukalibrierung unseres<br />
Wertesystems. Cool und sexy sollte es bald nicht<br />
mehr sein, viel zu besitzen, son<strong>der</strong>n vielmehr gesellschaftlich<br />
verantwortlicher zu handeln und zu teilen.<br />
Der Wunsch, sich frei zu entfalten, soll dabei weiterhin<br />
nicht staatlich unterdrückt werden, eine Gleichmacherei<br />
wie im Kommunismus wünscht sich kaum jemand<br />
zurück. Und dennoch liegt für mich die Hoffnung in<br />
einem Werteverständnis, welches das Teilen über das<br />
Besitzen stellt. Es werden gegenwärtig bereits Ideen<br />
formuliert, die noch utopisch klingen, aber keine Utopie<br />
bleiben müssen. Ich bin hoffnungsvoll, ich beobachte,<br />
dass sich unsere Kin<strong>der</strong> in diese Richtung<br />
schon auf den Weg machen. Die sind im Umdenken<br />
längst weiter als ich.<br />
Warum trägt deine Arbeit den Titel EUPHORIA?<br />
Der Titel begleitet mich jetzt schon seit vielen Jahren,<br />
in denen ich Texte und Ideen für das Projekt gesammelt<br />
habe. Ich hatte nach einem Begriff gesucht, <strong>der</strong><br />
die mitreißende Energie <strong>der</strong> kapitalistischen Idee zum<br />
Ausdruck bringt, <strong>der</strong> hemmungslosen Begeisterung an<br />
Besitz und Wachstum, die nicht nur Investmentbanker:innen<br />
und Firmenchef:innen, son<strong>der</strong>n auch uns<br />
ergreift.<br />
Ist Euphorie für dich angesichts <strong>der</strong> dystopischen Bil<strong>der</strong>,<br />
mit denen du sie in deinem Projekt einfängst, negativ besetzt?<br />
Darauf gibt <strong>der</strong> Tiger zum Schluss eine Antwort, die ich<br />
nicht vorwegnehmen möchte.<br />
Wie eingangs erwähnt, wurden deine Dreharbeiten zu<br />
EUPHORIA durch den Krieg gegen die Ukraine jäh unterbrochen.<br />
Kannst du uns die Situation beschreiben?<br />
Wir waren in den letzten Monaten insgesamt vier Mal<br />
in Kiew und haben zweimal dort gedreht. Beim ersten<br />
Mal die Bankszene – wir hatten dafür die Wartehalle<br />
des Kiewer Hauptbahnhofs umgebaut. Der Dreh war<br />
wie ein surreales Fest. Während noch das Set gebaut<br />
wurde, wurden in <strong>der</strong> Halle Kostüme anprobiert, Tänze<br />
choreografiert; Magier:innen und Akrobat:innen probierten<br />
ihre Tricks und Kunststücke. Fast 200 Leute<br />
waren vor und hinter <strong>der</strong> Kamera beteiligt, die Energie<br />
war überall zu greifen, es hat bei aller Anstrengung<br />
unheimlich Spaß gebracht. Wir kehrten dann kurz vor<br />
Kriegsbeginn noch ein zweites Mal nach Kiew zurück,<br />
um weitere drei Szenen zu drehen. Eine hatten wir gerade<br />
abgedreht, als die Nachricht kam – es war die<br />
letzte Woche <strong>der</strong> Olympischen Spiele in Peking –,<br />
dass <strong>der</strong> US-amerikanische Geheimdienst Informationen<br />
hätte, denen zufolge Putin in ein paar Tagen<br />
den Angriff auf die Ukraine befehlen würde. Die USA<br />
und England riefen dann zur sofortigen Evakuierung<br />
ihrer Bürger:innen auf, Deutschland und an<strong>der</strong>e europäische<br />
Län<strong>der</strong> folgten. Unsere ukrainischen Teammitglie<strong>der</strong><br />
lebten bereits seit acht Jahren in einem<br />
Infokrieg und haben, abgestumpft durch das ständige<br />
Säbelrasseln, diese Warnung nicht ernst genommen.<br />
Aber unsere amerikanischen und englischen Schauspieler,<br />
die wir erwarteten, reisten nicht mehr an. Da<br />
wir die Verantwortung für unser Team nicht tragen<br />
konnten und wollten, schickten wir auch alle an<strong>der</strong>en<br />
aus Berlin angereisten Teammitglie<strong>der</strong> nach Hause.<br />
Ryanair hob seine Flugpreise an – Flüge für 28 Euro<br />
kosteten schlagartig 900 Euro. Auch ein Beispiel für<br />
die Wucherungen <strong>der</strong> entfesselten Marktwirtschaft<br />
– die Nachfrage nach einem gegebenenfalls lebensrettenden<br />
Sitzplatz im Flugzeug regelt den Preis. Zu<br />
dritt blieben wir dann noch einen Tag, um mit dem<br />
ukrainischen Team wenigstens noch einige Räume zu<br />
filmen und Drohnenaufnahmen zu machen. Letztlich<br />
verließen auch wir das Land: sechs Tage, bevor <strong>der</strong> zivile<br />
Luftraum geschlossen wurde, wie sich dann kurz<br />
darauf herausstellte. Ich hoffte damals noch, nach<br />
kurzer Zeit wie<strong>der</strong> zurückkehren zu können. Es fühlte<br />
sich falsch an, alles stehen und liegen zu lassen.<br />
Heute lebt die Familie unseres ukrainischen Location-Managers<br />
mit uns in unserer Wohnung in Berlin,<br />
Freunde aus unserem Team in <strong>der</strong> Nachbarschaft und<br />
bei Freunden. Es werden weitere kommen. Und an<strong>der</strong>e<br />
Teammitglie<strong>der</strong>, mit denen wir gerade noch gearbeitet<br />
und gefeiert haben, die glaubten, es würde nie so weit<br />
kommen, kämpfen jetzt und wir bangen um sie.<br />
DER DREH WAR<br />
WIE EIN<br />
SURREALES FEST<br />
Jetzt, beim Schneiden des Films, höre ich die Texte in<br />
einem neuen Resonanzraum und erschrecke, wie sie<br />
so vieles von dem, was wir gerade erleben, thematisieren<br />
und deutlich benennen. So lesen sich beispielsweise<br />
Sätze von Tacitus aus <strong>der</strong> Obdachlosen-Szene<br />
als exakte Zustandsbeschreibung: »Sie haben die Welt<br />
geplün<strong>der</strong>t und das Land in ihrem Hunger nackt ausgezogen.<br />
Sie werden von Gier getrieben. Sie verwüsten,<br />
sie metzeln nie<strong>der</strong>, sie reißen unter Vorspiegelung<br />
168
falscher Tatsachen alles an sich. Und all das bejubeln<br />
sie als den Aufbau eines Imperiums. Und wenn als Folge<br />
daraus am Ende nichts als eine Wüste zurückbleibt,<br />
nennen sie das Frieden.« Der Krieg ist ein machtvolles<br />
Mittel, sich zu bereichern, nicht nur territorial, son<strong>der</strong>n<br />
auch in monetärer Form: Erst floriert die Waffenindustrie<br />
des angreifenden Landes, und wenn das Land<br />
zerstört und die Schlacht gewonnen ist, kommen die<br />
feindlichen Bauunternehmen des vermeintlich befriedenden<br />
Aggressors, die dann alles neu aufbauen.<br />
Auch deshalb wird so erbittert um den Sieg gekämpft.<br />
Wir haben das ja vor nicht langer Zeit im Irak gesehen.<br />
Haben sich angesichts <strong>der</strong> umwälzenden, grausamen Ereignisse<br />
Zweifel eingestellt am eigenen Tun, an <strong>der</strong> künstlerischen<br />
Arbeit? O<strong>der</strong> siehst du die Hinwendung an die<br />
Kunst in diesen Zeiten als rettende Kraft?<br />
Die Ohnmacht trifft uns alle gleichermaßen. Fragen,<br />
was man mit seiner Lebenszeit macht, wofür man<br />
sich engagiert, werden natürlich vordringlicher. Aber<br />
konkret zu EUPHORIA: Wir werden dieses Projekt mit<br />
allergrößter Entschlossenheit zu Ende führen, auch<br />
wenn das jetzt an<strong>der</strong>norts geschehen muss. Jedes<br />
<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>, die wir bis jetzt gedreht haben, ist beseelt<br />
von <strong>der</strong> Leidenschaft und Hingabe unseres Teams aus<br />
Kiew und <strong>der</strong> ukrainischen Darsteller:innen. Allein zu<br />
wissen, dass alle Leute, die dort zu sehen sind, sich<br />
jetzt in den schmerzhaftesten Lebenssituationen befinden,<br />
ist Motivation genug, weiterzumachen.<br />
JULIAN ROSEFELDT, geboren 1965 in München, Filmkünstler. Seine perfekt choreografierten<br />
Filminstallationen werden weltweit gezeigt. Die Bil<strong>der</strong> scheinen aus <strong>der</strong> Welt des Kinos<br />
entsprungen, dabei greift Rosefeldt gesellschaftliche Themen, kulturelle Identitäten und<br />
Mythen in vielschichtigen Erzählformen auf und vereint Einflüsse aus bilden<strong>der</strong> Kunst,<br />
Architektur, Popkultur und Film. An <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2016 begeisterte seine Arbeit<br />
Manifesto das Publikum. Sein neues Werk EUPHORIA entstand über einen Zeitraum von<br />
fast einer Dekade. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist <strong>der</strong> Prozess noch nicht abgeschlossen,<br />
nicht zuletzt, weil Pandemie und Krieg die Fertigstellung vor immer wie<strong>der</strong> neue<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen stellen.<br />
Fotos: Veronika Bures (Julian Rosefeldt)<br />
169
RES<br />
VON JOANNA BEDNARCZYK<br />
RESPUBLIKA<br />
Łukasz Twarkowski / Bogumil Misala / Joanna Bednarczyk / Fabien Lèdè / Lithuanian National Drama Theatre<br />
Schauspiel / Rave<br />
ab 9. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 62 _______________ www.ruhr3.com/respublika<br />
170
Es ist <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Pandemie, als Łukasz anruft und<br />
sagt, dass er meine Hilfe braucht. Ich kenne ihn nicht gut.<br />
Wir haben uns einige Male in unserem Leben bei Theaterveranstaltungen<br />
gesehen. Je<strong>der</strong> kennt jeden in <strong>der</strong> Theaterwelt,<br />
aber nicht immer beson<strong>der</strong>s gut. Wir werden uns<br />
bald sehr gut kennenlernen.<br />
*<br />
Am 1. März 2019 steigt mein Partner in ein Flugzeug nach<br />
Washington. Er soll dort fünf Monate als Stipendiat verbringen.<br />
Der Plan ist, dass ich mich ihm im April anschließe.<br />
Ich schließe mich nicht an. Der Beginn <strong>der</strong> Pandemie<br />
»erwischt« mich in meinem Heimatdorf, wo ich meine<br />
Eltern besuche. Ich bleibe bei ihnen. Ich schreibe einen<br />
Roman. Ich rufe meinen Freund an. Ich lese Bücher und<br />
Nachrichten. In Zooms erzählt mir Łukasz von einer seltsamen<br />
Gruppe, <strong>der</strong> er angehört. Je<strong>der</strong> Tag verläuft gleich.<br />
*<br />
Ende März 2020 – <strong>der</strong> weltweite Lockdown dauert seit<br />
mehreren Wochen an. Die Nachrichten aktualisieren fortlaufend<br />
die Zahl <strong>der</strong> Infektionen und Opfer, am tragischsten<br />
ist es in Italien. Ich erhalte die Ergebnisse einer Untersuchung,<br />
die ich vor <strong>der</strong> Pandemie habe machen lassen.<br />
Ich bin krank. Ich benötige eine Operation. Die Ärztin sagt<br />
mir, dass die Krankenhäuser keine an<strong>der</strong>en Operationen<br />
durchführen als solche, die Leben retten. Ich muss warten.<br />
Einer meiner Lymphknoten ist geschwollen. Bei einem<br />
privaten Arztbesuch bekomme ich ein Antibiotikum. Der<br />
öffentliche Gesundheitssektor befasst sich nur noch mit<br />
Covid. Die Angst wächst. Ich mache mir Sorgen um meine<br />
Gesundheit. Ich mache mir Sorgen ums Geld. Alle Produktionen,<br />
die ich geplant hatte, wurden abgesagt. Der<br />
Kontakt mit meinem Freund in Washington über Facetime<br />
macht mich fertig. Schließlich kehre ich nach Warschau<br />
zurück, um mich mit dem Projekt von Łukasz und seiner<br />
Gruppe zu befassen. Als ich verreiste, dachte ich, ich würde<br />
nach einer Woche zurückkehren. Ich war zwei Monate<br />
weg. Die Blumen sind vertrocknet. Jemand hat mir mein<br />
Fahrrad aus dem Treppenhaus geklaut. Weiterhin werden<br />
Flüge aus Washington wenige Stunden vor dem Abflug<br />
gestrichen. Ich bin einsam, fürchte mich. Ich weiß nicht,<br />
was ich mit mir anfangen soll. Die Welt ist seltsam und<br />
fremd. Ich habe die Zeiten, in denen ich lebe, nie wirklich<br />
gemocht. Jetzt gefallen sie mir noch weniger.<br />
*<br />
Łukasz erzählt mir immer mehr von seiner Gruppe. Er<br />
nennt sie Respublika. Sie leben in <strong>der</strong> Nähe von Vilnius<br />
und verbringen ihre Tage damit, Raves vorzubereiten und<br />
verbringen die Nächte auf diesen Raves. Aus dem, was er<br />
sagt, schließe ich, dass dies keine riesigen Raves sind. Ein<br />
Dutzend Leute tanzt einfach im Wald, unter ihnen auch<br />
Łukasz. Er sagt, sie wollen raus aus dem Wald und anfangen,<br />
die Welt zu bereisen. Sie wollen Raves organisieren,<br />
aber keine gewöhnlichen Raves. An<strong>der</strong>e. Solche, die an<br />
eine Theatervorstellung erinnern. O<strong>der</strong> einen Film. O<strong>der</strong><br />
eine Ausstellung. Sie brauchen ein Skript für ihre Auftritte.<br />
Jemand, <strong>der</strong> den gesamten Weg von A bis Z aufschreibt.<br />
Ein Drehbuch, das man an verschiedenen Orten wie<strong>der</strong>holen<br />
kann. Wie eine Show. Łukasz schickt mir Aufnahmen<br />
vom Aufenthalt <strong>der</strong> Gruppe im Wald. Mehrere Dutzend<br />
Stunden, mehrere Dutzend Gigabytes. Ich bin Schriftstellerin,<br />
Textdateien nehmen wenig Platz weg. Zum ersten<br />
Mal in meinem Leben kaufe ich externe Festplatten, um<br />
weitere Aufnahmen darauf zu laden. Ich habe mir nie gerne<br />
Aufnahmen von Proben, Improvisationen und Übungen<br />
angesehen. Ich breite weitere Puzzles auf dem Boden aus<br />
und höre einfach nur zu. Die Leute auf den Aufnahmen<br />
sitzen sowieso meistens da und sprechen. Der Ausdruck<br />
ihrer Gesichter interessiert mich nicht. Ich höre alles über<br />
die Stimme. Die Worte sind kurz und knapp, weil eines <strong>der</strong><br />
Gruppenmitglie<strong>der</strong> sie aus dem Litauischen übersetzt. Er<br />
ist kein professioneller Übersetzer. Ich vermute, er übersetzt<br />
»so ungefähr«, ohne Finesse.<br />
*<br />
ICH BEGINNE LANGSAM<br />
ZU VERSTEHEN, DASS<br />
ES IHNEN UM EIN<br />
ANDERES, VIELLEICHT<br />
BESSERES MODELL DER<br />
WELT GEHT. UND DASS<br />
SIE VERSUCHEN, DIESE<br />
WELT IN SICH SELBST<br />
AUFZUBAUEN, DURCH<br />
PRIVATE UND SEHR<br />
INTIME ERFAHRUNGEN.<br />
In weiteren Zooms gibt mir Łukasz mehr Informationen<br />
über die Gruppe. Ich bin unglücklich und habe Angst.<br />
Mein Partner sitzt im Ausland fest, und ich versuche mithilfe<br />
von Videoschnipseln und Łukasz’ Geschichten zu<br />
verstehen, worum es dieser Gruppe von Leuten geht, die<br />
im Wald leben und Techno auflegen. Aus Angst und Einsamkeit<br />
fange ich an, innerlich alles zu sabotieren, worüber<br />
Łukasz spricht, aber ich mache es so, dass er es nicht<br />
registriert. Er ist meine einzige Verbindung zur Gruppe.<br />
Ich habe den Eindruck, dass er kein guter Link ist. Er ist<br />
nicht in <strong>der</strong> Lage, mir gut zu übermitteln, was ihre Vision<br />
ist. Was sie tun und weshalb. Ich stelle ihm viele Fragen,<br />
bohre nach, weil ich trotz allem das Gefühl habe, dass<br />
ich mich auf eine seltsame Weise zu dieser Gruppe hingezogen<br />
fühle, auch wenn seine Erklärungen unklar sind.<br />
Vielleicht kommt meine Sabotage daher, dass die Gruppe<br />
genau das macht, was ich gerne machen würde, mir aber<br />
<strong>der</strong> Mut fehlt? Also rede ich mir lieber ein, dass sie ein<br />
Haufen Freaks sind?<br />
*<br />
171
Ich merke, dass das Wesen <strong>der</strong> Gruppe empfindsam und<br />
nicht leicht zu beschreiben ist. Ich beginne langsam zu<br />
verstehen, dass es ihnen um ein an<strong>der</strong>es, vielleicht besseres<br />
Modell <strong>der</strong> Welt geht. Und dass sie versuchen, diese<br />
Welt in sich selbst aufzubauen, durch private und sehr<br />
intime Erfahrungen. Sie wollen das System nicht än<strong>der</strong>n<br />
o<strong>der</strong> gar sprengen. Sie sind keine Anarchisten. Sie verstehen<br />
die Utopie nicht als ein allgemeines, politisches System,<br />
son<strong>der</strong>n als eine zarte innere Struktur.<br />
Sie sind sensibel und manchmal übersensibel, aber sie<br />
erinnern nicht an Hipster. Eines <strong>der</strong> Mädchen in den<br />
Aufnahmen hat eine rasierte Achsel, aber die Achsel ist<br />
nicht steril und trocken. Man sieht auf ihr schwarzen, vom<br />
Schweiß zusammengeklebten, Staub.<br />
*<br />
Łukasz erzählt mir, dass eine <strong>der</strong> Ideen, die sie überprüfen,<br />
die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist. Es<br />
ist ihnen gelungen von irgendeiner kulturellen Einrichtung<br />
in Vilnius ein Grundeinkommen von 15 Euro pro Tag an<br />
Land zu ziehen – und davon leben sie. 15 Euro. Nicht mehr<br />
und nicht weniger. Wie ist das? Bezahlt zu werden, selbst<br />
wenn man nicht arbeitet. Keine riesigen Summen, aber immerhin<br />
solche, mit denen man überleben kann. Aufhören<br />
zu arbeiten, um die Tage damit zu verbringen, nach einer<br />
Erfahrung zu suchen, <strong>der</strong>en Existenz man vermutet, aber<br />
wo nicht ganz klar ist, was sie eigentlich ist. Auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach etwas, das jenseits aller Vorstellungskraft liegt, weil<br />
man es sich nicht vorstellen kann. Es stimmt nicht, dass<br />
<strong>der</strong> Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.<br />
AUF DER SUCHE<br />
NACH ETWAS, DAS<br />
JENSEITS ALLER<br />
VORSTELLUNGSKRAFT<br />
LIEGT, WEIL MAN<br />
ES SICH NICHT<br />
VORSTELLEN KANN.<br />
Es gibt sie, aber wir können sie uns nicht vorstellen. Wir<br />
können uns nicht vorstellen, wo die Vorstellungskraft endet.<br />
Und sie endet eben an diesem Punkt, den wir uns nicht<br />
vorstellen können. Doch manchmal können wir die Faktoren<br />
aufspüren, die die Vorstellungskraft einschränken und<br />
strukturieren. Łukasz und seine Freunde entschieden sich<br />
für den Kapitalismus und setzten seine Prinzipien für eine<br />
Weile außer Kraft. Sie hörten auf zu arbeiten und began-<br />
172
nen zu tanzen, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass sich etwas in ihrem<br />
Bewusstsein erweitern würde. Dass ihr Verstand die vertrauten<br />
Grenzen <strong>der</strong> Erkenntnis überschreitet.<br />
*<br />
Ich weiß, dass ich ohne etwas Lektüre kein Drehbuch für<br />
die Gruppe schreiben kann. Ich lese Harari, Hobbes und<br />
Meillassoux. Die Pandemie entspannt sich ein wenig und<br />
die Ärztin legt einen Termin für den Eingriff fest. Flüge aus<br />
Washington sind weiterhin ausgesetzt. Ich gehe allein ins<br />
Krankenhaus. Meinen Kindle mit Hope in the Dark von<br />
Solnit nehme ich mit. Was für ein Paradox – seit vielen<br />
Wochen arbeite ich von morgens bis abends an einem<br />
Drehbuch über eine Gruppe, die überhaupt nicht gearbeitet<br />
hat. Während ich die Ideen zur neuen Sensibilität,<br />
zum Feingefühl gegenüber sich selbst, zum Untergraben<br />
<strong>der</strong> kapitalistischen Indikatoren von Erfolg verinnerliche,<br />
schalte ich, eine halbe Stunde nachdem ich aufwache,<br />
meinen Kindle an. Die Buchstaben springen vor meinen<br />
Augen hin und her, aber ich gebe nicht auf. Ich lese weiter.<br />
Nach zwei Stunden erscheint die Aufschrift »book<br />
completed«. Ich gehe zu den Krankenschwestern und erkläre,<br />
dass ich nun entlassen werden kann. Sie schlagen<br />
vor, dass ich noch ein paar Stunden bleiben solle, aber ich<br />
bestehe darauf, dass sie mich gehen lassen. Ich sage, es<br />
ginge mir gut, obwohl mir immer noch schwindelig ist.<br />
*<br />
Nichts, worüber Łukasz mir erzählt und was ich selbst<br />
schlussfolgere, während ich die Geschichte <strong>der</strong> Gruppe<br />
kennenlerne, überzeugt mich. Vielleicht bin ich eine<br />
Pessimistin, vielleicht hochnäsig und halte den Rest <strong>der</strong><br />
Menschheit für dümmer als mich. Ich glaube nicht, dass<br />
die Erfahrung, die die Gruppe sucht und versucht, mithilfe<br />
eines Drehbuchs einzuprogrammieren, etwas Beson<strong>der</strong>es<br />
und Schönes sei. Es riecht ein bisschen nach New Age,<br />
ein bisschen nach 68ern, jedenfalls nach nichts Frischem.<br />
Ich lese philosophische Bücher über die Technokultur.<br />
Über in Trance verbundene Körper. Über die Energie des<br />
Beats, <strong>der</strong> die Grenzen des Kapitalismus ausdehnt. Ich<br />
habe den Eindruck, dass diese Bücher von einem Algorithmus<br />
geschrieben wurden, <strong>der</strong> seinen Satzbau mit<br />
Subjekt und Prädikat aus Büchern von Foucault, Deleuze<br />
und Lacan erlernt hat. Dieses Doppel-Gemoppel, das ich<br />
in großen Mengen aufnehme, denn Weichheit, Feingefühl<br />
und es mir herauszunehmen, nur dann zu arbeiten, wenn<br />
ich Lust dazu habe, empfinde ich als Schwäche. Ich versuche<br />
diese tanzenden Menschen zu beschreiben, die an die<br />
Magie <strong>der</strong> Gemeinschaft und die multidirektionale Liebe<br />
glauben, während ich allein in einer Einzimmerwohnung<br />
sitze und mir ein Regime auferlege: jeden Tag ein Dutzend<br />
Seiten des Skripts zu schreiben. Ich fühle mich wie ein<br />
Elefant, <strong>der</strong> versucht, durch einen Porzellanladen zu gehen<br />
– ohne eine einzige Tasse zu zerschlagen.<br />
*<br />
173
Wir beschließen mit Łukasz, dass wir die Gruppe so beschreiben,<br />
als ob es sie schon seit Jahrzehnten gäbe, was<br />
bedeutet, dass ich mich in meiner Vorstellung in die Zukunft<br />
bewegen muss. Ich habe Angst, dass ich <strong>der</strong> Aufgabe<br />
nicht gewachsen bin. Dass meine Vorstellungskraft sich<br />
als recht schwach herausstellt. Dass ich keine Zukunft für<br />
eine Gruppe erfinden werde, die ich noch nicht einmal in<br />
<strong>der</strong> Gegenwart kenne. Ich habe Angst vor Klischees. Die<br />
Popkultur kennt viele Zukunftsvisionen. Zum Beispiel überall<br />
Wüste. Ich will nicht, dass diese Visionen in mein Skript<br />
einsickern. Lange weiß ich nicht, was mir noch einfallen<br />
könnte. Ich schlage Łukasz vor, dass die Welt, über die wir<br />
erzählen, frei von Tieren ist. Sie sind alle ausgestorben.<br />
Und manche Teile des menschlichen Bewusstseins lassen<br />
sich mithilfe von Pharmakologie sehr gezielt ausschalten.<br />
Der Körper schmerzt, aber das Gehirn weiß es nicht. Die<br />
Arme und Beine bewegen sich seit 72 Stunden, aber ihr<br />
Besitzer fühlt keine Müdigkeit. Ich weiß nicht, ob das originell<br />
ist, aber im Moment ist mir das egal. Ich fühle mich<br />
von <strong>der</strong> Gruppe betrogen. Sie predigen Liebe und Zärtlichkeit,<br />
aber keiner von ihnen hat mich zu sich eingeladen. Sie<br />
warten auf das Drehbuch. Wenn es in Ordnung ist, dann<br />
werde ich mich ihnen anschließen können.<br />
*<br />
WENN WIR TANZEN,<br />
ATMET DANN IN<br />
UNSEREN MUSKELN<br />
DIE ERINNERUNG VON<br />
ANDEREN TANZENDEN<br />
KÖRPERN?<br />
Es gibt eine Szene im Skript, die entstand, als ich <strong>der</strong><br />
Gruppe im August 2020 beitrat. Die Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />
blicken auf ihr Ich aus <strong>der</strong> Vergangenheit zurück. Die aus<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit sind wie die Amische gekleidet. Sie machen<br />
dieselben Gesten wie jene aus <strong>der</strong> Gegenwart. Sie<br />
sprechen dieselben Sätze, als würde ein Echo zwischen<br />
den beiden Zeitperspektiven hin und her pendeln. Bei diesem<br />
Treffen haben wir versucht, die Träger des Fortbestehens<br />
zu finden. Hinterlassen Wesen, die im Laufe <strong>der</strong><br />
Zeit durch an<strong>der</strong>e Wesen ersetzt werden, Spuren im Universum?<br />
Wenn dem so ist, dann wie? In <strong>der</strong> Sprache? Im<br />
Unbewusstsein? In den Genen? In <strong>der</strong> Erinnerung? Wenn<br />
wir tanzen, atmet dann in unseren Muskeln die Erinnerung<br />
von an<strong>der</strong>en tanzenden Körpern?<br />
*<br />
Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe habe ich seit 1,5 Jahren nicht<br />
mehr gesehen. Seit unserem letzten gemeinsamen Tanz<br />
habe ich viele Male getanzt. An an<strong>der</strong>en Orten, mit an<strong>der</strong>en<br />
Menschen. Ich bin Atheistin, ich glaube nicht an Gott.<br />
Oft fällt es mir deshalb sehr schwer, beson<strong>der</strong>s jetzt. Seit<br />
Tagen wache ich auf und denke mir: Ja, du lebst noch.<br />
Ich frage mich, ob etwas von mir irgendwo bleiben wird,<br />
wenn ich sterbe?<br />
Es geht mir nicht um materielle Dinge. Ich denke vielmehr<br />
an die Kontinuität bestimmter Bewegungen, intellektueller<br />
Prozesse, an private Philosophie. Ich schätze, ich werde<br />
einfach mit meinem Tod verschwinden, das war es dann.<br />
Aber ich weiß, dass bestimmte Emotionen und Gefühle,<br />
die ich erlebe, in genau <strong>der</strong> gleichen Gestalt in einer an<strong>der</strong>en<br />
Person erscheinen werden. Eine dieser emotionalen<br />
Konstellationen, die ich spüre – und dessen bin ich mir<br />
sicher –, die in Zukunft jemand nachspüren wird, ist das<br />
Gefühl, das mich erfüllt, wenn ich mit an<strong>der</strong>en Menschen<br />
in irgendeinem Raum tanze.<br />
*<br />
Während ich diesen Text schreibe, reiße ich mich immer<br />
wie<strong>der</strong> vom geöffneten Fenster meines Schreibprogramms<br />
los und schaue auf die Nachrichten. Es ist Anfang<br />
März <strong>2022</strong>. Seit einer Woche ist Krieg in <strong>der</strong> Ukraine.<br />
*<br />
Bis 2020 hatte ich nie Angststörungen. O<strong>der</strong> ich wusste<br />
nicht, dass ich daran litt, weil ich ständig in Bewegung<br />
war und es keine Gelegenheit gab, die Angst zu spüren,<br />
die mich vielleicht manchmal erfüllte. Als die Pandemie<br />
begann und die Tage leer wurden, hatte die Angst endlich<br />
genug Raum und Zeit. Hey, ich bin hier, lernen wir uns<br />
kennen. Ich hasse sie. Ich bevorzuge gewöhnliche Angst.<br />
Sie dauert nicht so lange und man weiß, woher sie kommt.<br />
*<br />
Bewegung ist gut gegen Angst. Wenn du in Bewegung<br />
bist, hat Angst keinen Platz. Deshalb sind die Clubs am<br />
Wochenende voller tanzen<strong>der</strong> Menschen und an Wochentagen<br />
rennen die Leute zum Bus, als ob <strong>der</strong> nächste nicht<br />
in fünf Minuten käme.<br />
*<br />
In <strong>der</strong> Pandemie stellte sich heraus, dass die Einzimmerwohnung,<br />
in <strong>der</strong> ich mit meinem Partner lebte, für uns<br />
nicht ausreichte. Wir nahmen all unser Geld zusammen<br />
und kauften eine Wohnung. Ein Jahr lang haben wir sie<br />
renoviert. In Polen ist die Renovierung ein traumatischer<br />
Prozess. Ich habe zwei harte Jahre hinter mir und noch<br />
schlimmere Jahre vor mir. Die Angst ist überwältigend. Ich<br />
laufe in meiner neuen Wohnung umher und bleibe hin und<br />
wie<strong>der</strong> hängen. Ich stehe still und reglos da. Ab und zu<br />
schaue ich aus dem Fenster und beobachte das Gebäude<br />
<strong>der</strong> polnischen Spionageabwehr. Meine Wohnung befindet<br />
sich in einem Altbau, <strong>der</strong> von Regierungsgebäuden<br />
des Militärs umgeben ist. Ich stelle mir vor, dass ich eines<br />
Tages nicht aufwache und es nicht einmal merke – meine<br />
Nachbarn auch nicht.<br />
*<br />
Als Anfang 2020 in den Medien geschrieben stand, dass<br />
die Pandemie bis zu zwei Jahre andauern könne, habe ich<br />
gesagt: Das ist unmöglich. Als mich mein Vater vor drei Wochen<br />
fragte, ob ich glaube, dass es einen Krieg geben wird,<br />
sagte ich: ein gewöhnlichen nicht, vielleicht einen hybriden.<br />
*<br />
174
Ich habe den Wissenschaftlern immer geglaubt, die die<br />
Menschheit vor <strong>der</strong> Klimakatastrophe gewarnt haben.<br />
Bis vor kurzem hatte ich jedoch gehofft, dass sie nicht so<br />
schlimm werden wird, wie angekündigt. Jetzt bin ich überzeugt,<br />
dass sie sogar noch schlimmer werden wird. Und<br />
dass sie eintreten wird, bevor wir dafür bereit sind.<br />
*<br />
Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />
man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />
selbst erlebt. Ich weiß, dass die Gemeinschaft, die bei<br />
solchen Veranstaltungen entsteht, absolut real ist. Sie ist<br />
auch von kurzer Dauer. Über viele Stunden, Wochen und<br />
Monate ist man mit jemandem zusammen, mit dem man<br />
ein Gefühl <strong>der</strong> Begeisterung teilt, und dann kommt die unvermeidliche<br />
Trennung.<br />
Ich weiß, dass Ereignisse wie Respublika bewirken, dass<br />
man die Welt an<strong>der</strong>s sieht und wahrnimmt. Ich habe es<br />
selbst erlebt.<br />
Ich glaube jedoch daran, dass sich <strong>der</strong> Körper und das<br />
Gehirn an vieles erinnern. Die Rezeptoren speichern Erinnerungen<br />
an all das, was stark genug war, um in ihnen eingeschrieben<br />
zu werden. Respublika ist für viele Menschen<br />
eine solche Erfahrung. Die Erfahrung von Offenheit, Freiheit,<br />
Befreiung und Gemeinschaft, die bei Respublika-Teilnehmern<br />
entsteht, ist ein Schatz, den man in sich bewahren<br />
kann. Wird sich die Welt dadurch verän<strong>der</strong>n? Nein.<br />
Wird sich <strong>der</strong> einzelne Mensch dadurch verän<strong>der</strong>n? Wahrscheinlich<br />
nicht. Geht es unbedingt um die Verän<strong>der</strong>ung?<br />
Vielleicht nicht. Reicht <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung,<br />
um zu fühlen, dass man alles Mögliche dafür getan hat?<br />
Nein. Ist <strong>der</strong> Versuch das Einzige, was im Rahmen unserer<br />
Möglichkeiten liegt? Ich glaube schon. Ist das eine triviale<br />
Schlussfolgerung? Ja. Aber genau an diesem Punkt endet<br />
meine Vorstellungskraft.<br />
*<br />
Respublika war <strong>der</strong> Versuch, sich die Zukunft vorzustellen.<br />
Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe leben in einer Welt ohne Tiere.<br />
Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Facebook und<br />
Ryanair gibt es nicht mehr. Die Gruppe hat ihre eigene Infrastruktur<br />
dabei – Musikausrüstung und Attrappen von<br />
Wohnräumen, in denen sie vor vielen Jahrzehnten gelebt<br />
haben. In dieser behelfsmäßigen, nomadischen Welt tauchen<br />
sie in Musik ein. Was suchen sie in ihr? Wahrscheinlich<br />
viele Dinge. O<strong>der</strong> vielleicht nichts. Die Zukunftsvision,<br />
die Łukasz und ich entwickelt haben, ist melancholisch<br />
und traurig, aber nicht ohne Liebe. Heute, fast zwei Jahre<br />
nach ihrer Entstehung, erscheint sie mir nicht feinfühlig<br />
genug, vielleicht sogar peinlich. Während ich diesen Text<br />
schreibe, wird mir klar, dass diese Vision von Anfang an<br />
durch die Zusammenarbeit zweier völlig unterschiedlicher<br />
Köpfe, Charaktere und Temperamente geprägt war. Mein<br />
Gesicht ist wie Sandstein. Ab und zu bewegt sich etwas<br />
darin, wie Sandkörner bei einem leichten Windstoß auf<br />
einem Stein. Łukasz’ Gesicht ist wie eine Handtasche,<br />
aus <strong>der</strong> in einer Sekunde alles herausquillt: Lächeln, Zähne,<br />
Französisch, Polnisch, Englisch, Russisch. Und kleiner<br />
Rauch vom Iqos. Meine Skepsis und seine Hoffnung.<br />
Wir haben etwas voneinan<strong>der</strong> gelernt, obwohl wir wahrscheinlich<br />
nie darüber nachgedacht haben, was genau es<br />
war. Wenn ich heute an die Zukunftsvision denke, die wir<br />
im Skript zu Respublika nie<strong>der</strong>geschrieben haben, versuche<br />
ich, uns nicht vorzuwerfen, dass wir den Krieg nicht<br />
vorhergesehen haben. Dass wir in unserer Zukunftsvision<br />
das Erlebnis einer Gruppe in den Mittelpunkt gestellt haben,<br />
die Techno spielt, tanzt und an<strong>der</strong>e dazu einlädt, und<br />
– selbst wenn die Teilnehmer von Melancholie erfüllt sind<br />
– niemand stirbt. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen<br />
wird. Ich weiß es genauso nicht, wie ich es vor zwei Jahren<br />
nicht wusste. Aber eines weiß ich – solange es uns gibt,<br />
werden wir immer lieben und tanzen – selbst in den allerschlimmsten<br />
Zeiten.<br />
Aus dem Polnischen von Oliver Chrzanowski<br />
JOANNA BEDNARCZYK, Dramaturgin und Autorin, studierte in Krakau Psychologie<br />
und russische Philologie. Außerdem absolvierte Sie die Fakultät für Theaterregie<br />
an <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Theaterkünste in Krakau.<br />
175
DIE<br />
ZUKUNFT<br />
IM<br />
RÜCKEN<br />
GESPRÄCHE MIT PERFORMER:INNEN<br />
VON HILLBROWFICATION<br />
HILLBROWFICATION<br />
Constanza Macras / DorkyPark<br />
Tanz<br />
ab 25. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 38 _______________ www.ruhr3.com/macras<br />
176
Hillbrowfication wurde 2018 von <strong>der</strong> Choreografin<br />
Constanza Macras in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Choreografin<br />
Lisi Estarás im Hillbrow Theater in Johannesburg<br />
produziert. In <strong>der</strong> Produktion kamen Performer:innen<br />
mehrerer Generationen zusammen; so wirkten 21 Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche aus Hillbrow im Alter von 5 bis 19 Jahren<br />
und drei professionelle Tänzer:innen aus Berlin und<br />
Johannesburg mit.<br />
Vier Jahre nach <strong>der</strong> Uraufführung sind die Ensemblemitglie<strong>der</strong>,<br />
die damals Kin<strong>der</strong> waren, inzwischen Teenager.<br />
Diejenigen, die Teenager waren, sind nun junge Erwachsene.<br />
Einige wohnen immer noch in Hillbrow, an<strong>der</strong>e sind<br />
weggezogen. »Mit <strong>der</strong> Zeit wachsen wir, und ich glaube,<br />
die Inszenierung wächst mit uns. Inzwischen betrachten<br />
wir sie an<strong>der</strong>s als früher. Und die Welt sehen wir auch<br />
an<strong>der</strong>s, unsere Ansichten haben sich verän<strong>der</strong>t,« meint<br />
Nompilo Hadebe.<br />
Heute schauen wir gemeinsam auf den Entstehungsprozess<br />
zurück und denken darüber nach, wie unsere Erlebnisse<br />
<strong>der</strong> letzten vier Jahre unsere Vorstellungen von <strong>der</strong><br />
Arbeit, von Hillbrow und von einer Zukunft geprägt haben.<br />
Der folgende Text verfolgt die Spuren <strong>der</strong> Gespräche<br />
zwischen den Mitwirkenden Nompilo Hadebe, Tshepang<br />
Lembelo, Jackson Magotlane, Tisetso Maselo, Pearl Sigwagwa<br />
aus Hillbrow und mir, Tamara Saphir, einer argentinischen<br />
Künstlerin aus Berlin, die im Projekt als Dramaturgin<br />
mitgewirkt hat.<br />
Weltraumgeschichten, Zukunftsstädte<br />
Hillbrow ist ein Stadtteil von Johannesburg in Südafrika.<br />
Einst als Vorzeigebezirk geplant, wurde das Viertel während<br />
<strong>der</strong> Siebzigerjahre zu einem ausschließlich weißen<br />
Gebiet. Mit seinen herrlichen Parks, Hochhäusern und<br />
Cafés wurde es später ein eher gemischtes Viertel und<br />
ein Schwerpunkt <strong>der</strong> aufsteigenden Schwarzen Mittelklasse.<br />
Gegen Ende <strong>der</strong> Apartheid verließ die Mittelklasse<br />
das Viertel eilig und zog in die Außenbezirke. Immer mehr<br />
Gebäude wurden besetzt. Mit dem Verfall des Bezirks<br />
gingen die Preise abrupt in den Keller, und Hillbrow wurde<br />
attraktiv für Migrant:innen aus an<strong>der</strong>en afrikanischen<br />
Län<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> Suche nach günstigerem Wohnraum. In<br />
den Neunzigern wurde das Viertel entkernt, Verbrechen,<br />
Bandenaktivitäten und fremdenfeindliche Gewalt boomten.<br />
Seitdem steht Hillbrow häufig synonym für Verbrechen,<br />
Gewalt und Armut.<br />
Tshepang: An Hillbrowfication finde ich gut, dass alles<br />
wirklich dort stattfindet. In Hillbrow gibt es nämlich<br />
nicht nur Gewalt, es hat auch positive Seiten. Es<br />
gibt einen starken Zusammenhalt und viele Vereine,<br />
die den Leuten helfen. Es ist sehr vielfältig. Hier leben<br />
Menschen aus verschiedenen Län<strong>der</strong>n, vor allem aus<br />
Afrika (Mosambik, Namibia, Kongo, Nigeria …). Für uns<br />
Südafrikaner:innen ist das prima, wir können an<strong>der</strong>e<br />
Kulturen kennenlernen, sie respektieren und miteinan<strong>der</strong><br />
reden.<br />
In Hillbrow war die Gewalt vor vier Jahren schlimmer<br />
als jetzt. Ständig wurde ich auf <strong>der</strong> Straße überfallen.<br />
Das war total stressig! Aber seit dem Lockdown habe<br />
ich den Eindruck, dass es irgendwie ruhiger geworden<br />
ist … Polizei und Soldaten haben ständig patrouilliert.<br />
Nompilo und Jackson sind an<strong>der</strong>er Meinung. Wie Tshepang<br />
wohnen sie immer noch in Hillbrow, finden aber nicht, dass<br />
es sich im Vergleich beson<strong>der</strong>s verän<strong>der</strong>t hat.<br />
Jackson meint sogar: »In vieler Hinsicht ist es schlimmer<br />
geworden. Aber auch unsere Sicht auf das Viertel<br />
hat sich verän<strong>der</strong>t.«<br />
Pearl führt das aus: Als ich klein war, war Hillbrow für<br />
mich einfach ein Ort mit vielen Leuten. Aber als Teenager<br />
habe ich mit einem neuen Bewusstsein auch neue<br />
Ängste entwickelt. Man hört zum Beispiel von gefährlichen<br />
Sachen und Drogen. Man sieht, wie die Leute<br />
da leben, und kapiert, wie arm die sind! Die wohnen<br />
Tshepang Lembelo<br />
177
zusammengequetscht in kleinen Wohnungen, die meisten<br />
Gebäude sind ziemlich heruntergekommen. Die<br />
Lebensbedingungen sind ziemlich mies. Ich habe mich<br />
eher gefragt: Wieso müssen wir uns damit abfinden?<br />
Vielleicht kann man nicht viel än<strong>der</strong>n, aber wir können<br />
uns doch fragen: Wie können wir das verbessern?<br />
Solche Fragen habe ich mir damals gestellt (…) und<br />
ich glaube, ein paar von den Fragen kamen in <strong>der</strong> Produktion<br />
vor. Mit viel Fantasie und Humor vermischt,<br />
aber sie sind da …<br />
Nompilo: Als wir zum Beispiel über die Verbrechensrate<br />
hier nachgedacht haben, kamen wir schließlich auf<br />
eine Geschichte, in <strong>der</strong> uns Handys aus den Händen<br />
wachsen, so dass sie niemand klauen kann!<br />
Als Pearl und Nompilo beschreiben, wie biografische Elemente<br />
in die fiktionalen Motive <strong>der</strong> Produktion einflossen,<br />
kommen wir auf die Proben und die Zusammenarbeit<br />
zu sprechen.<br />
Die Inszenierung kommt zustande<br />
Tshepang: Ich weiß noch, wie wir am Anfang <strong>der</strong> Proben<br />
einfach zusammengesessen und miteinan<strong>der</strong> über<br />
Hillbrow gesprochen haben, über die Tänzer:innen, die<br />
hier wohnen, über die Zukunft … Das hat mir Spaß gemacht.<br />
Der Probenprozess war nicht gerade einfach,<br />
an<strong>der</strong>erseits haben wir uns richtig frei gefühlt. Wir<br />
konnten alles, was uns damals durch den Kopf ging,<br />
auf <strong>der</strong> Bühne ausprobieren und hier miteinan<strong>der</strong> besprechen.<br />
Nompilo Hadebe<br />
Jackson: Zuerst waren die Proben komisch. Wir haben<br />
so viel ausprobiert und hatten keine Ahnung, wie das<br />
nachher zusammenkommt. Aber mit <strong>der</strong> Zeit habe ich<br />
begriffen, wie das Stück von einem Thema zum an<strong>der</strong>en<br />
übergeht.<br />
Pearl: Ich habe viel über meinen Körper herausgefunden<br />
und was <strong>der</strong> so draufhat. Ich weiß noch, dass ich<br />
irgendwas einmal nicht hinbekommen habe und am<br />
nächsten Tag aufgewacht bin und es besser machen<br />
wollte. Das hat mir das Selbstvertrauen gegeben, mich<br />
nicht einzuschränken, nur weil ich kein Profi bin. Das<br />
Team hat immer unterschiedliche Fähigkeiten und Talente<br />
geför<strong>der</strong>t. Dadurch konnten wir uns weiterentwickeln<br />
und das auch zeigen und etwas Beson<strong>der</strong>es<br />
sein. Das war auch gesundheitlich gut! Nach <strong>der</strong> Inszenierung<br />
war ich nicht mehr so müde. Ich weiß nicht,<br />
wie es den an<strong>der</strong>en geht, aber ich bin mir ziemlich sicher,<br />
dass wir auch in <strong>der</strong> Schule besser wurden. Hier<br />
bei den Proben fühlten wir uns auch sicher. Wir waren<br />
praktisch eine Familie. Hier konnten wir zusammenarbeiten<br />
und uns gegenseitig respektieren.<br />
Nompilo: Die Leute, die da für dieses Stück zusammenkamen,<br />
haben sich respektiert und unterstützt,<br />
trotz und wegen aller Alters- und sonstiger Unterschiede.<br />
Oft haben die Älteren auf die Jüngeren aufgepasst.<br />
Pearl: Und diese Dynamiken, die wir im Theater entwickelt<br />
haben, reichten darüber hinaus bis in unser<br />
Privatleben hinein. Wenn jemand etwas durchmachte<br />
o<strong>der</strong> auf krumme Gedanken kam, haben wir uns zusammengetan<br />
und geholfen. Wir waren für einan<strong>der</strong><br />
da. Und irgendwie spürt man das in unserem Umfeld,<br />
bei unseren Eltern zum Beispiel. Ich will nicht sagen,<br />
dass sie Freunde wurden, aber trotzdem haben sie<br />
sich wahrgenommen: Sie haben sich geholfen, wenn<br />
die Kin<strong>der</strong> etwas brauchten, wenn jemand Corona<br />
kriegte, haben sie Essen gemacht usw. Diese Dynamiken<br />
betrafen also nicht nur uns.<br />
Pearls und Nompilos Bemerkungen über die Gruppendynamik<br />
während <strong>der</strong> Proben erinnert mich an all die Diskussionen<br />
über eine »Politik <strong>der</strong> Achtsamkeit«, die heute in<br />
<strong>der</strong> Kunstszene und <strong>der</strong> akademischen Welt so verbreitet<br />
sind. Ich staune darüber, wie die jungen Darsteller:innen<br />
die künstlerische Arbeit spontan mit einer weitergehenden<br />
Beziehung verbinden und so einige <strong>der</strong> Dauerfragen aus<br />
Kunst und Politik ganz konkret in den Vor<strong>der</strong>grund bringen.<br />
Die Zukunft schleicht sich von hinten an<br />
Jackson Magotlane<br />
In »Science fiction and the future« berichtet die Autorin<br />
Ursula Le Guin über die Vorstellung »quechuasprachiger<br />
Andenvölker […], dass man die Vergangenheit, die man<br />
178
ja kennt, sehen kann, sie liegt vor einem, direkt vor <strong>der</strong><br />
Nase. Das ist eher eine Wahrnehmung als eine Handlung,<br />
ein Bewusstsein eher als ein Vorgang. (…) Die Zukunft<br />
liegt im Rücken, über die Schulter sozusagen. Die<br />
Zukunft ist das, was man nicht sehen kann, sofern man<br />
sich nicht umdreht und quasi einen Blick erhascht. Und<br />
manchmal wünscht man sich, man hätte das nicht getan,<br />
denn man wirft einen Blick auf das, was sich von hinten<br />
an einen anschleicht.«<br />
Der futuristische Ansatz dieses Projekts hat uns einen gewissen<br />
Spielraum gegeben, Gefühle und Gedanken über<br />
unsere damalige Gegenwart zu formulieren. Vier Jahre<br />
später liegt einiges dieser »Zukunft« bereits hinter uns.<br />
O<strong>der</strong> vielmehr, um in Le Guins Bild zu bleiben, direkt vor<br />
unserer Nase – da es ja unsere Vergangenheit wurde.<br />
Wenn wir uns unterhalten, wird uns klar, dass die Zeit für<br />
uns unterschiedlich schnell vergeht. Wir lachen darüber,<br />
dass vier Jahre für jemanden im mittleren Alter wie mich<br />
nicht beson<strong>der</strong>s lang ist, während das den jungen aus <strong>der</strong><br />
Gruppe ausgesprochen lang vorkommt.<br />
Tisetso: In unserem Stück geht es um die Zukunft,<br />
aber eigentlich habe ich den Eindruck, dass die Zukunft<br />
jetzt geschieht! Wie soll ich das sagen … Wie<br />
die Technik sich entwickelt und langsam, aber sicher<br />
die Kontrolle übernimmt. Zum Beispiel haben wir früher<br />
mit unseren Lehrerinnen und Lehrern gesprochen.<br />
Jetzt holen wir uns die Hausaufgaben aus den Sozialen<br />
Medien. Hätte ich nicht gedacht, dass die Technik sich<br />
<strong>der</strong>maßen breit macht.<br />
Man kann nirgends mehr hin ohne Handy. Man geht<br />
nicht mehr zur Bank, man überweist Geld mit einer<br />
App auf dem Handy. Man besucht seine Freunde nicht<br />
mehr, stattdessen ruft man über Video an o<strong>der</strong> schickt<br />
eine SMS, wenn man sich vermisst. Und egal, wo man<br />
hingeht, man macht immer Fotos mit dem Handy. Unser<br />
Gedächtnis befindet sich jetzt auf unseren Handys<br />
anstatt in unseren Herzen und Gehirnen.<br />
Ich frage mich, ob Pearls Bild davon, dass jemand »rückwärts<br />
denkt«, in dieselbe Richtung weist, wie das Konzept<br />
<strong>der</strong> »toxischen Nostalgie« von Naomi Klein: »ein krampfhaftes<br />
Festhalten an einer toxischen Vergangenheit und<br />
die Weigerung, eine verwickeltere Zukunft mit mehr Querverbindungen<br />
zu akzeptieren« – welches <strong>der</strong> Grund für<br />
viele unserer demokratischen, geopolitischen und klimatischen<br />
Krisen ist.<br />
Pearl: Wenn ich an all die gefährlichen COVID-Varianten<br />
denke, die noch kommen könnten (…) und diesen<br />
Überlebensmodus, so »je<strong>der</strong> kämpft für sich allein« …<br />
denke ich an Zombies! Ja, ich glaube, wenn ich heute<br />
ein Stück über die Zukunft machen sollte, kämen darin<br />
Zombies vor.<br />
Als es bei uns in Südafrika noch Apartheid gab, standen<br />
die Schwarzen auf <strong>der</strong> einen Seite und die Weißen<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und so weiter … Jetzt gehen die Leute<br />
an<strong>der</strong>s miteinan<strong>der</strong>n um, je nachdem, wie sie zu dieser<br />
ganzen Impfgeschichte stehen, und niemand hört<br />
dem an<strong>der</strong>en zu. Und wenn man geimpft ist, darf man<br />
rein, aber die Ungeimpften nicht. Hierzulande weckt so<br />
etwas alte Ängste! Wir durchleben die Geschichte von<br />
Ausgrenzung und Trennung noch einmal.<br />
Pearl Sogwagwa<br />
Tshepang: Vor vier Jahren war mein Bild von <strong>der</strong> Zukunft<br />
noch weniger technologisch, weniger digital … und dann<br />
kam das Metaverse! Alles wird technischer, die zwischenmenschlichen<br />
Verbindungen gehen verloren.<br />
Pearl: Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, kriege ich<br />
richtig Angst!<br />
Als die Pandemie losging, waren wir zu Hause, das<br />
ging ja noch. Aber dann wurde meine Mutter ernsthaft<br />
krank und kam ins Krankenhaus, und zu Hause wurde<br />
meine Schwester richtig krank, und noch jemanden<br />
aus <strong>der</strong> Familie im Krankenhaus konnten wir uns nicht<br />
leisten, und ich dachte plötzlich: Jetzt kann alles Mögliche<br />
passieren!<br />
Ich höre oft, wie jemand davon spricht, dass das Leben<br />
wie<strong>der</strong> wie früher wird, aber keiner will darüber sprechen,<br />
wie wir jetzt unter diesen neuen Bedingungen<br />
leben. Ich glaube, die denken rückwärts Wir müssen<br />
akzeptieren, dass sich Dinge än<strong>der</strong>n und nach Möglichkeiten<br />
suchen, wie wir damit klarkommen.<br />
Nompilo: Für mich sieht die Zukunft jetzt düsterer aus.<br />
Mir fällt es im Moment schwerer, eine hellere Zukunft<br />
zu sehen als vor vier Jahren.<br />
Tshepang antwortet relativ optimistisch: Ich glaube, in<br />
Zukunft wird man einen viel breiteren Denkhorizont haben.<br />
Alle lernen gerade bestimmte Dinge, alle lesen …<br />
das macht Hoffnung, dass die Menschen sich ohne<br />
Stereotype verstehen. Während <strong>der</strong> letzten Jahre haben<br />
wir auf <strong>der</strong> ganzen Welt Black Lives Matter erlebt. Das<br />
hat zu einem Bewusstsein geführt, dass Schwarze angegriffen<br />
werden. Es ging aber nicht nur um Schwarze.<br />
179
Auch Weiße, die nicht Rassisten sind, fühlen sich angegriffen,<br />
weil alle sie für Rassisten halten. Alle waren<br />
also gestresst, und ich frage mich, wie das am Ende zu<br />
einer Einheit führen soll.<br />
Mir ist klargeworden, dass ich für Hillbrow eine Zukunft<br />
sehen will, in <strong>der</strong> alle friedlich und harmonisch zusammenleben<br />
… Leute mit verschiedener Herkunft leben<br />
zusammen und bilden eine Gemeinschaft. Ich will hier<br />
Liebe und Harmonie in Vielfalt sehen. Irgendwie glaube<br />
ich, dass das jetzt schon hier entsteht, aber ich finde,<br />
das könnte noch viel mehr sein.<br />
Tisetso Maselo<br />
Über Fiktionen und Realitäten<br />
»Ich will eine Zukunft sehen, in <strong>der</strong> …«: Wenn Tshepang<br />
seine Gedanken formuliert, muss ich wie<strong>der</strong> an Le Guins<br />
Bild <strong>der</strong> Zukunft als etwas denken, das per definitionem<br />
etwas ist, das wir nicht sehen können. »Wenn wir auf das<br />
schauen, was wir nicht sehen können, sehen wir nur Zeug,<br />
das wir im Kopf haben. Unsere Gedanken und Träume,<br />
die guten wie die schlechten.« Ist dieses »Zeug« <strong>der</strong>selbe<br />
Stoff, aus dem auch unsere Fiktionen sind, die Manifestationen<br />
<strong>der</strong> endlosen möglichen Kombinationen <strong>der</strong> Elemente<br />
unserer Erfahrungen und Realitäten?<br />
Wir diskutieren weiter über die beson<strong>der</strong>e Kraft von Fiktionen<br />
und fragen uns, welche Rolle sie für mögliche Realitäten<br />
spielen.<br />
Nompilo: Ich glaube, wenn ich ein Bild einer helleren<br />
Zukunft male und das irgendwo aufhänge, dann kann<br />
jemand, <strong>der</strong> das sieht, auf bestimmte Ideen kommen.<br />
In diesem Sinne glaube ich, dass Kunst tatsächlich die<br />
Welt verän<strong>der</strong>n kann!<br />
Pearl: Ich glaube, mit Vorstellungskraft und Fantasie<br />
kann man die Realität überdenken. Und allem, was<br />
schwierig und traurig und so ist, mal einen Augenblick<br />
lang entkommen. Als wir das Stück gemacht haben,<br />
hat das uns und unsere Familien, die sich das angesehen<br />
haben, verän<strong>der</strong>t. Das kam gut an, dass wir Kin<strong>der</strong><br />
uns selbst vorgestellt haben, wie alles an<strong>der</strong>s sein<br />
könnte und dass wir um uns herum etwas verän<strong>der</strong>n<br />
wollten. Davon konnten sie etwas mitnehmen.<br />
Nompilo spricht über eine Szene im Stück, die ihr gefällt;<br />
darin steht sie mit Lwadlile Thabethe (damals fünf<br />
Jahre alt) auf <strong>der</strong> Bühne:<br />
Ich spreche einen Monolog und er tanzt neben mir, er<br />
strahlt so eine weiche und intensive Energie aus. An <strong>der</strong><br />
Stelle im Stück habe ich das Gefühl, dass wir als Menschen<br />
aufgegeben haben (uns in das gefügt haben, was<br />
die Aliens in <strong>der</strong> Fiktion des Stücks von uns wollten).<br />
Das war irgendwie nostalgisch. Ich finde nämlich, dass<br />
wir Menschen in <strong>der</strong> echten Welt auch eine Menge aufgeben<br />
… Wir lassen Politiker Sachen entscheiden, die<br />
komplett sinnlos sind. Aber in dem Stück gibt es gleich<br />
nach dieser Stelle einen Kampf. Und da spüre ich die<br />
Energie, ich denke, wenn wir in echt so zusammenhalten<br />
könnten wie da auf <strong>der</strong> Bühne und zusammen kämpfen<br />
könnten, würde es so etwas wie Rassismus und Xenophobie<br />
nicht geben. Mit so etwas wie dem Coronavirus<br />
würden wir im Handumdrehen fertig!<br />
Auch für Tshepang ist das <strong>der</strong> schönste Moment im Stück.<br />
Für ihn geht es dabei um Einheit, darum, für einan<strong>der</strong> einzustehen:<br />
Verschiedene Leute aus verschiedenen Län<strong>der</strong>n<br />
– was wäre, wenn wir uns zusammentäten und für<br />
Harmonie und Frieden sorgten? Das ist für mich etwas<br />
ganz Beson<strong>der</strong>es. Einheit bleibt bestehen, trotz aller Unruhe<br />
und verschiedener Ansichten.<br />
ICH MUSS ETWAS<br />
ERLEDIGEN, ABER ES IST<br />
HOFFNUNGSLOS.<br />
ICH WILL WEG, EHE MIR<br />
DAS MORGEN UM<br />
DIE OHREN FLIEGT. HE,<br />
DAS MORGEN IST NOCH<br />
NICHT GESCHEHEN.<br />
ICH WÜRDE SAGEN, GIB<br />
IHM MAL EINE CHANCE.<br />
Andrea Hairstone, Mindscape<br />
Aus dem Englischen von Henning Bochert<br />
180
EIN BILD<br />
MIT 1000 WÖRTERN<br />
VON ALJOSCHA BEGRICH<br />
El Conde de Torrefiel (Pablo Gisbert, Tanya Beyeler)<br />
UNA IMAGEN INTERIOR / EIN BILD AUS DEM INNEREN<br />
El Conde de Torrefiel<br />
Schauspiel / Deutsche Erstaufführung<br />
ab 15. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 68 _______________ www.ruhr3.com/imagen<br />
181
Mein Kollege und Freund Mats Staub schenkte mir vor einigen<br />
Jahren ein Fünf-Jahres-Tagebuch, wo ich jeden Tag<br />
etwas eintragen kann und sich dann Jahr für Jahr neue<br />
Ringe durch das Buch ziehen. Eine schöne Erfindung. Hinten<br />
im Buch aber gibt es neben einem »Travel Log« noch<br />
einen »Book Log«, wo ich eintragen kann, welche Bücher<br />
ich im Jahr gelesen habe. Ich füllte all die Seiten pflichtgemäß<br />
aus, und neben <strong>der</strong> Erkenntnis, dass ich zwei Jahre<br />
hintereinan<strong>der</strong> am gleichen Tag in Baden-Baden war, fiel<br />
mir auf, wie viel ich gelesen hatte. Bei jedem Buch plagt<br />
mich die Angst, dass es zu Ende geht. Nun schien mir<br />
plötzlich diese Liste Angst zu machen, die gute Literatur<br />
gehe bald aus. Ich begann mir Gedanken über mein Verhältnis<br />
zur Literatur zu machen. Ich lese gern, aber was<br />
lese ich eigentlich? Plötzlich sah ich die Liste und vieles,<br />
was weit weg von je<strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Theatralisierung ist.<br />
Durch die Liste erkannte ich einerseits, dass ich eine starke<br />
Zuneigung zu einer ganz bestimmten Form von Literatur<br />
entwickelt hatte – und mir im Gegenzug gerade jene Formen<br />
des Theaters gefielen, die möglichst wenig Nähe zur<br />
Literatur hatten. Nur so konnten beide Sphären für mich<br />
glücklich und zufrieden existieren, bis ich eines Tages in<br />
das falsche Stück ging.<br />
Anfang 2019 ging ich ins HAU, das Hebbel am Ufer in<br />
Berlin. An diesem Abend stießen beide Welten aufeinan<strong>der</strong><br />
und in mir etwas zusammen. Ich ging ins Theater und<br />
musste LESEN. Ich war irritiert und schaute mich hilflos<br />
um, aber alle an<strong>der</strong>en saßen auf ihren Sitzen und lasen.<br />
Also las ich auch:<br />
Du sitzt vor einer fast völlig abgedunkelten Bühne.<br />
Du siehst LA PLAZA von El Conde de Torrefiel.<br />
Ein Stück, das simultan an 365 Tagen<br />
in 365 Theatern auf <strong>der</strong> ganzen Welt aufgeführt wird.<br />
Die Inszenierung findet in einem schwarzen,<br />
subtil beleuchteten Raum statt.<br />
Einziges Bühnenelement ist eine Landschaft<br />
aus Blumen und Kerzen, gleich einem Gedenk-Altar.<br />
So weit entfernte Städte wie Kyoto, Kairo, Medellín,<br />
Jerusalem, Seoul,<br />
Antwerpen, Barcelona, Portland, Damaskus, Gondar o<strong>der</strong><br />
Belo Horizonte<br />
haben sich angeschlossen und zeigen dieses Projekt.<br />
Irgendwie merkwürdig, aber auch faszinierend, denn ich<br />
las nicht allein, son<strong>der</strong>n alle lasen zusammen, und zwar<br />
gleichzeitig. Das Wechseln <strong>der</strong> Übertiteltafeln gab den<br />
Rhythmus des kollektiven Lesens vor:<br />
Während <strong>der</strong> Vorstellung<br />
kann das Publikum kommen und gehen, wie es möchte,<br />
und sogar die Karten an<strong>der</strong>en überlassen,<br />
sodass sie die Vorstellung besuchen können.<br />
Ein ganzes Jahr lang bist du immer wie<strong>der</strong> vorbeigekommen,<br />
um für eine kurze Weile Platz zu nehmen.<br />
In <strong>der</strong> Aufführung ist absolut nichts passiert.<br />
Ein ganzes Jahr lang jeden Tag dasselbe Bild.<br />
Während <strong>der</strong> Stunden, die du im Theater verbracht hast,<br />
hat sich deine Aufmerksamkeit automatisch auf dich<br />
selbst gerichtet.<br />
Anstatt zwischen Schauspielern,<br />
Tänzern, Videos und Lichteffekten hin und her zu wan<strong>der</strong>n,<br />
hat dein Gehirn innegehalten und dich<br />
zum Protagonisten des Stückes gemacht.<br />
So stellte sich dir unausweichlich die Frage:<br />
Wie lange bist du in <strong>der</strong> Lage, die Betrachtung<br />
ein und desselben Bildes zu genießen?<br />
Das Geschehen auf <strong>der</strong> Bühne hatte nichts mit dem im<br />
Text Beschriebenen zu tun, aber diese Überfor<strong>der</strong>ung<br />
schien langsam Spaß zu machen. Auf <strong>der</strong> Bühne gingen<br />
Menschen mit Strumpfmasken auf und ab, schoben Fahrrä<strong>der</strong><br />
und Kin<strong>der</strong>wägen herein und wie<strong>der</strong> heraus, standen<br />
herum und bewegten sich lässig. Eine interessante<br />
Mischung von Bildchoreografien – aber eben mit Text darüber.<br />
Literatur.<br />
Du beginnst abzuschweifen.<br />
Du denkst an die Zukunft.<br />
Du denkst häufig an die Zukunft.<br />
Als du jung warst, hast du Isaac Asimov und Jules Verne<br />
gelesen,<br />
und heute begeistert dich die Serie Black Mirror.<br />
Aber abschweifen war ja nicht möglich. Selten war ich so<br />
wach in einer Theaterinszenierung. Und noch danach, ich<br />
war wie elektrisiert. Selbst am nächsten Tag sprach ich<br />
noch die ganze Zeit von diesem Ereignis. Was war passiert?<br />
Konzeptuelle Literatur und postdramatische Performance<br />
sind ineinan<strong>der</strong>gefallen, aber war das wirklich<br />
die Aufregung? Ich spürte, es war etwas an<strong>der</strong>es, und<br />
fand heraus: Der Trick war eigentlich ganz einfach. Der<br />
Text sprach mich die ganze Zeit in direkter Rede an und<br />
hielt mich wach, und die Lücke zwischen Text und Darstellung<br />
sorgte für die Aktivierung meiner Fantasie. Meine<br />
Begeisterung für diese Arbeit war <strong>der</strong> ureinfachste Trick<br />
<strong>der</strong> Theatergeschichte, das Mittel aller guten Arbeiten:<br />
meine eigene Vorstellungskraft. Stücke, die alles zeigen<br />
o<strong>der</strong> alles aussprechen, gelten als langweilig, weil sie <strong>der</strong><br />
eigenen Fantasie keinen Platz lassen. Und hier wurde sie<br />
entfesselt. Ich war stolz, aber eine so große Erkenntnis war<br />
es auch wie<strong>der</strong> nicht, hieß es doch schon am Anfang <strong>der</strong><br />
Inszenierung: DIE AUFFÜHRUNG HAT DICH ZUM PROTA<br />
GONISTEN DES STÜCKS GEMACHT.<br />
Wenig später nehme ich Kontakt zu den Künstler:innen Pablo<br />
Gisbert und Tanya Beyeler auf und es entwickelt sich<br />
eine Folge von Gesprächen über Arbeitsweisen, philosophische<br />
Ansichten und ihr aktuelles Projekt. Sie wollen die<br />
grundlegenden theoretischen, künstlichen Konstruktionen<br />
untersuchen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.<br />
Unter allem lägen verwurzelte Ideen, die als natürlich und<br />
real gelten, wie die Struktur des Marktes. Aber was bezeichnet<br />
eigentlich Realität? Wie wird sie konstruiert und<br />
zu wessen Vorteil? Ich beginne Mark Fisher zu lesen, von<br />
dem Pablo und Tanya oft zitieren: »Im kapitalistischen Realismus<br />
ist man einer Realität unterworfen, die unbegrenzt<br />
formbar ist und sich selbst jeden Moment rekonfigurieren<br />
lässt. Die höchste Form <strong>der</strong> Ideologie ist diejenige, die sich<br />
als empirische Tatsache und Notwendigkeit präsentiert …<br />
Die Realität unterdrückt das Reale. Dementsprechend<br />
sollte eine Strategie gegen den kapitalistischen Realis<br />
182
mus sein, dass man die Formen des Realen anruft, die die<br />
Realität, die <strong>der</strong> Kapitalismus uns gegenüber präsentiert,<br />
zugrunde liegen.«<br />
Klingt nachvollziehbar und sinnvoll. Doch dann bricht die<br />
Covid-Pandemie aus und verschiebt den ganzen Diskurs.<br />
Infragestellungen <strong>der</strong> Realität und Bloßstellungen von<br />
Machtzentren, Biopolitik und kritische Lektüre sind plötzlich<br />
nicht mehr Domäne französischer Philosophen wie<br />
Baudrillard und Foucault, son<strong>der</strong>n Aussagen von esoterischen<br />
Rechtspopulist:innen aus Thüringen und völkischen<br />
Selektrionsanhänger:innen aus Baden-Württemberg. Ich<br />
merke, dass ein Diskurs nicht nur weggenommen, son<strong>der</strong>n<br />
zerstört wird, und dessen Konsequenzen noch weit nach<br />
dieser Pandemie zu spüren sein werden. Doch was tun?<br />
In ihrem Stück GUERRILLA hatten El Conde de Torrefiel<br />
die Lust am Umsturz, am Zerfall <strong>der</strong> Gesellschaft, an <strong>der</strong><br />
Unmöglichkeit <strong>der</strong> Verständigung schon thematisiert. Wie<br />
werden sie jetzt mit all diesen losen Fäden, angefangenen<br />
Gedanken und philosophischen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
umgehen? Als Vorbereitung auf das neue Stück machen<br />
sie erste Probebohrungen, ULTRAFICCIÓN 1–4. Auf dem<br />
Santarcangelo Festival läuft eine Schafherde durch das<br />
verwun<strong>der</strong>te Publikum in einer Open-Air-Aufführung, während<br />
kurz danach in einem Museum für Mo<strong>der</strong>ne Kunst<br />
Taubstumme eine Geschichte zeigen und in Barcelona Architekturstudierende<br />
ein Totem herstellen und gleich wie<strong>der</strong><br />
zerstören. Ich bin gespannt, bekomme es nicht mehr<br />
zusammen, kann auch nicht darüber schreiben, ich kann<br />
ja nur lesen:<br />
Du beschließt, dich ins Bett zu legen,<br />
nicht zu denken und in Stille zu verharren.<br />
Wegen <strong>der</strong> Stille hörst du deine Magengeräusche<br />
und spürst deinen Herzschlag.<br />
Du überlegst, dass die Substanz des Blutes, die dich am<br />
Leben erhält,<br />
das Begehren und die Ambition<br />
einer einzigen primitiven Zelle ist,<br />
die über Jahrmillionen, sich beständig transformierend<br />
und reproduzierend,<br />
in unzähligen Körpern gereist ist,<br />
damit genau diese einzelne primitive Zelle überleben kann.<br />
Diese einzelne primitive Zelle,<br />
die vor Millionen von Jahren entstand,<br />
wird nach deinem Tod in an<strong>der</strong>en Körpern überleben.<br />
Und die gleiche Zelle findet sich auch im Bettler,<br />
<strong>der</strong> dich auf <strong>der</strong> Straße um Geld bittet.<br />
Sie findet sich im Freund, den du täglich triffst,<br />
im Blinden, den du scheel anschaust,<br />
im Touristen, <strong>der</strong> deine Stadt besucht,<br />
im schlafenden Kind im Haus gegenüber,<br />
in <strong>der</strong> Mutter, die dir eines Tages diese Zelle übertrug.<br />
In all diesen anonymen Gesichtern,<br />
die dir täglich auf <strong>der</strong> Straße begegnen,<br />
bist du.<br />
Endlich kommt <strong>der</strong> Schlaf.<br />
Heute bist du aufgestanden und hast die Stadt durchquert,<br />
um im Theater das Finale eines Stücks zu sehen,<br />
das ein Jahr lang gedauert hat.<br />
Endlich schließen sich ganz langsam deine Augenli<strong>der</strong><br />
und du sinkst in einen tiefen Schlaf.<br />
Wie gut, dass <strong>der</strong> Schlaf die Tage voneinan<strong>der</strong> scheidet.<br />
Ich wache auf und gucke nach, was ich eigentlich am 22.<br />
Februar 2019, am Tag <strong>der</strong> Vorstellung von LA PLAZA, eingetragen<br />
habe. Ich erwarte etwas Gewichtiges, aber es ist<br />
leer. Ich blättere herum und finde im Juli ein schönes Zitat<br />
von Eva Maria Keller: »7000 Gedanken hat je<strong>der</strong> Mensch<br />
pro Tag.« Aber welcher bleibt hängen?<br />
ALJOSCHA BEGRICH, liest seit 1983, arbeitete das erste Mal als Assistent und<br />
Dolmetscher 2000 bei La Fura dels Baus in Castelldefels, Barcelona. Seit<br />
2021 Dramaturg bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Foto: Mario Zamora (El Conde de Torrefiel)<br />
183
SZENEN FÜR DEN<br />
»ORT DES SEHENS«<br />
UND KOMPLOTTE<br />
FÜR EINEN SKANDAL<br />
EIN GESPRÄCH VON SARAH LEWIS-CAPPELLARI<br />
MIT IHRER SCHWESTER LIGIA LEWIS<br />
A PLOT / A SCANDAL<br />
Ligia Lewis<br />
Tanz / PrePremiere<br />
ab 12. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 18 _______________ www.ruhr3.com/scandal<br />
184
Es ist eine ungewöhnliche Gelegenheit, <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
ein Gespräch mit meiner Schwester über das Solostück A<br />
plot / A scandal zu präsentieren. In Ligias Beschreibung<br />
handelt es sich gar nicht um ein Solo. Ich erkenne das an<br />
<strong>der</strong> Art, wie sich ihre Poetik auf <strong>der</strong> Bühne zeigt und wie<br />
für Ligia alles, was ihre Arbeit prägt – die Menschen, die<br />
Ideen, die Kunst, die Ereignisse, die Geister –, immer mit<br />
ihr in den Werken präsent ist. Gewissermaßen stehen wir<br />
schon lebenslang im persönlichen, künstlerischen und<br />
intellektuellen Dialog miteinan<strong>der</strong>. Das heißt, als Schwestern<br />
waren wir durch verschiedene Phasen unserer Leben<br />
an den Auseinan<strong>der</strong>setzungen beteiligt, die unsere jeweilige<br />
Arbeit antreiben. In unserer folgenden Unterhaltung erläutern<br />
wir einige dieser Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die in Ligias<br />
jüngstem Werk A plot / A scandal thematisiert werden.<br />
Sarah Lewis-Cappellari: Hinsichtlich deiner künstlerischen<br />
Praxis, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> jüngsten Arbeit, haben<br />
wir schon oft über diese dunkle und packende Metapher<br />
gesprochen, die mir manchmal in den Kopf kommt: von<br />
dir als Gevatter Tod, <strong>der</strong> durch die künstlerische Tötung<br />
rassistischer Logiken gegen Schwarze Menschen Raum<br />
für alternative Ausgänge schafft. Diese Logiken sind<br />
z.B. rassistische Sinneswahrnehmungen, in denen als<br />
Schwarz markierte Menschen zu visuellen Markern werden,<br />
anhand <strong>der</strong>er eine Hierarchie des Seins / <strong>der</strong> Gewichtung<br />
begründet, naturalisiert und (re)produziert wird.<br />
Ist dein neues Werk A plot / A scandal als Selbstporträt<br />
nun ein weiterer Versuch, solche Logiken zu stürzen und<br />
zu beseitigen? Willst du damit die reduzierenden Konzepte<br />
von Identität angreifen, die Rassifizierung, Klasse,<br />
Geschlecht, Sexualität, Befähigung etc. als knechtende<br />
Marker aufrechterhalten?<br />
Ligia Lewis: Wie können wir uns denn jenseits <strong>der</strong><br />
Westlichen Konzeption des Selbst auf Identität beziehen?<br />
Westliche Konzepte von Identität sind zu stark mit<br />
dem Selbst befasst. Denn es gibt eine Machtmatrix, die<br />
Schwarzsein, An<strong>der</strong>sheit, Indigenität, Nicht-Weißsein<br />
als min<strong>der</strong>wertig o<strong>der</strong> defizitär figuriert. Still Not Still<br />
spielt ziemlich ausdrücklich und grotesk mit Macht:<br />
als einem grundlegenden, sich selbst erschöpfenden<br />
Wesenszug jenes Menschen, <strong>der</strong> als europäisch,<br />
weiß rassifiziert, heteronormativ, cis-männlich, allwissend<br />
und universell konzipiert wird. Indem ich aufzeige,<br />
wie Macht so willkürlich, ohne Sinn und Verstand<br />
operiert, versuche ich einen Weg aus ihren Fängen<br />
herauszufinden. Mit diesem Stück versuche ich, mich<br />
selbst zu kartieren – mit all meinen nuancierten, begehrenden,<br />
fiktiven und imaginativen Fähigkeiten; aber<br />
nicht als ein Selbstporträt, das die Komplexität und<br />
vielschichtigen historischen Narrative reduziert, aus<br />
denen sich Identitäten zusammenfügen. Diese Identitäten<br />
müssen benannt werden, um bestimmte politische<br />
Arbeit zu ermöglichen. Ich verstehe Identität also<br />
als eine politische Positionierung, die eine Reihe von<br />
Praktiken leiten kann. Daran orientiert sich auch meine<br />
Ausrichtung von Performance und Theater als Ort<br />
des Sehens, als Raum des Erkennens. Ich kartiere eine<br />
Praxis, die von meinen Inspirationen geprägt ist, von<br />
meiner Liebe fürs Theater und den Vorstellungswelten,<br />
zu denen es einlädt; sowie von all dem, gegen das ich<br />
mich wende, sobald ich in den Bezugsraum des Theaters<br />
eintrete.<br />
SLC: Als du neulich über Bil<strong>der</strong> und Geschichten sprachst,<br />
blieb mir beson<strong>der</strong>s im Kopf, dass du im Kontext <strong>der</strong> multiplen<br />
Geschichte/n, die dazu führen, wie wir die Welt erfahren,<br />
Klangbil<strong>der</strong> erzeugen möchtest. Indem du diese<br />
musikalische Metapher nutzt, um über Visualität zu sprechen,<br />
weist du uns sinnlich bereits auf etwas an<strong>der</strong>es hin.<br />
Du führst uns nicht zu einer visuell reduktiven Praxis, son<strong>der</strong>n<br />
zu einer, die nachklingt und wi<strong>der</strong>hallt, die nicht reduziert,<br />
nicht eingefangen werden kann, richtig? Ich finde<br />
diese Vorstellung von Klangbil<strong>der</strong>n und wie du das mit <strong>der</strong><br />
Idee von Identität als politischer Positionierung zusammendenkst,<br />
wirklich interessant.<br />
LL: Ich mag diese Vorstellung eines klingenden Bildes<br />
– eines Bildes, das mehrere Ebenen aufruft, auf<br />
denen es wahrgenommen werden könnte. Ich arbeite<br />
mit multiplen Logiken <strong>der</strong> Sinnesorgane, was eine Art<br />
Chaos schafft, aus dem Dissonanz hervorgehen kann<br />
und Momente <strong>der</strong> Stille sprechen dürfen.<br />
SLC: Du näherst dich den tiefen, dunklen Angelegenheiten<br />
<strong>der</strong> Bedeutungsgebung in deinem Werk auf viele verschiedene<br />
Weisen. Eine davon ist <strong>der</strong> Humor – o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
»Unsinn«, »fuckery«, wie du es manchmal nennst. Vielleicht<br />
ist es eine Strategie, um die Absurdität von Alltagspraktiken<br />
<strong>der</strong> Beherrschung und Unterwerfung sowie die<br />
Absurdität jener politischen Architektur anzuprangern?<br />
Was findest du an Humor so produktiv? Was erzeugt o<strong>der</strong><br />
eröffnet er für dich? Welche Wege ermöglicht er dir?<br />
185
LL: Die Komödie ist die Kehrseite <strong>der</strong> Tragödie. Im<br />
besten Fall kann die Komik auf die Grenzen <strong>der</strong> Darstellbarkeit<br />
hinweisen, indem sie die Dinge auf eine<br />
gewisse Weise verflacht. Was an<strong>der</strong>nfalls tiefgreifend<br />
o<strong>der</strong> unerträglich erscheinen mag, wird durch Humor<br />
schlicht und einfach. Was passiert, wenn diese<br />
stumpfe Deutlichkeit direkt geäußert wird, als das, was<br />
niemand aussprechen will, was aber gesagt werden<br />
muss? Was passiert, wenn wir durch Humor erkennen<br />
können, wie Gewalt gar nicht weit weg von uns stattfindet,<br />
son<strong>der</strong>n in schlichten Alltagssituationen – oft<br />
durch Nebenhandlungen – geprobt wird. Ich denke<br />
also, <strong>der</strong> Rückgriff auf Humor ist mir so wichtig, weil<br />
er nicht in Gänze die Arbeit <strong>der</strong> Übersetzung erledigen<br />
kann. Humor stellt die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Übersetzung<br />
heraus, während er zugleich eng mit seinem Gegenstück,<br />
seiner Gefährtin, <strong>der</strong> Tragödie, kuschelt.<br />
SLC: Da wir verschiedene textuelle und künstlerische<br />
Quellen gemeinsam gelesen und besprochen haben,<br />
dachte ich, wir könnten über einen Text ein bisschen weiterreden,<br />
und zwar über Saidiya Hartmans Das Komplott<br />
zu ihrer Zerstörung. 1 Du spielst auf mehreren Ebenen mit<br />
dem Konzept des plot – also des Handlungsverlaufs als<br />
narrativer Plot, des Komplotts als politisches Motiv und<br />
des Grundstücks als räumlich-ökonomische Wirklichkeit. 2<br />
In Hartmans Text ist dieser Komplott die Materialisierung<br />
einer erschreckenden Fiktion: Mehrere Arten, zu sein, zu<br />
fühlen und zu wissen, werden einer einzigen Perspektive<br />
unterworfen, die von jenen gestaltet wurde, die sich<br />
als rechtmäßige Herrscher über alle Formen des Seins/<br />
Fühlens/Wissens etablieren möchten. Es handelt sich<br />
um eine Fiktion, die auf materieller und auf symbolischer<br />
Ebene die totale Gewalt einführen und jeglichen Gesamtwert<br />
ausbeuten soll. Hartman bietet uns verschiedene<br />
Beispiele, wie dieser Komplott mit <strong>der</strong> Vorstellung vom<br />
Leib als Eigentum beginnt. Etwa mit <strong>der</strong> Überzeugung,<br />
dass ›sie‹ das fehlende Bindeglied zwischen Tier und<br />
Mensch sei; mit all den Motiven, durch die die schwarz<br />
rassifizierte und weiblich vergeschlechtlichte ›sie‹ zur nie<strong>der</strong>sten<br />
und am wenigsten empfindsamen Form menschlichen<br />
Seins erklärt wird. Nachdem Hartman über den<br />
endlosen Horror dieser Zerstörung schreibt, über die unzähligen<br />
Weisen, wie dieser Komplott umgesetzt wurde,<br />
bespricht sie, wie diese verwirklichte brutale Fiktion womöglich<br />
unterlaufen und aufgehoben werden kann. Zwei<br />
Aspekte o<strong>der</strong> Strategien, die sie nennt, sind die Tarnung<br />
sowie <strong>der</strong> Hinweis, dass es nicht um Unterhaltung geht.<br />
Und dann dachte ich über deinen Plot nach, <strong>der</strong> sehr öffentlich<br />
ist. Er ist dazu bestimmt, öffentlich angesehen<br />
zu werden, was vielleicht zu dem Skandal darin führt? Ich<br />
fragte mich also, was an dieser Öffentlichkeit wichtig für<br />
deinen Plot ist o<strong>der</strong> wie du diesen Akt <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Schau konzipierst?<br />
ICH HALTE ES FÜR<br />
EIN RECHT, ZU<br />
SKANDALISIEREN;<br />
FÜR EIN VERGNÜGEN,<br />
SKANDALISIERT ZU<br />
WERDEN; UND FÜR<br />
MORALISTISCH, SICH<br />
DER SKANDALISIERUNG<br />
ZU VERWEIGERN.<br />
Pier Paolo Pasolini<br />
LL: Richtig. Mir gefällt Hartmans Idee, dass eine Zerstörung<br />
des Komplotts gegen eine rassifizierte »sie«<br />
eine Art Exorzismus erfor<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> nur unauffällig stattfinden<br />
kann; weil rassistische Gewalt in ihrer Spektakularisierung,<br />
in ihrer Öffentlichkeit, in <strong>der</strong> Leichtigkeit<br />
ihrer Darstellung so gewaltvoll ist. In <strong>der</strong> rassistischen<br />
Matrix, in <strong>der</strong> wir gegenwärtig leben, ist auf <strong>der</strong> Ebene<br />
des Sehens und Gesehenwerdens alles, was mit Rassifizierung<br />
zu tun hat, von Gewalt gefärbt. Erfor<strong>der</strong>lich<br />
ist eine Art des Sehens – o<strong>der</strong> vielmehr des Bezeugens<br />
–, wie dies funktioniert. Hartmans Erzählung des<br />
Komplotts erinnert mich an das wun<strong>der</strong>bare, nachdenkliche<br />
Lied The Revolution Will Not Be Televised –<br />
deutsch: Die Revolution wird nicht im Fernsehen laufen<br />
– von Gil Scott-Heron, weil das eben nicht geht.<br />
Ich arbeite kritisch vom Körper her. Ich umtanze die<br />
Dinge. In diesem Stück möchte ich um diesen Geist<br />
herumtanzen, dieses Begehren, indem ich seine Umrisse<br />
berühre und ihn ins Sein erträume. Welche Komplotte<br />
müssen zerstört werden, damit sich neue, umfassen<strong>der</strong>e<br />
Geschichten bilden können?<br />
Anhand dieser Metapher eines Plots, den ich als Geschichte<br />
verstehe, die erzählt werden muss, werde<br />
1 Saidiya Hartman, Das Komplott zu ihrer Zerstörung, Auszug aus Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint), aus dem amerikanischen<br />
Englisch von Yasemin Dinçer, August Verlag, <strong>2022</strong>, www.matthes-seitz-berlin.de/news/das-komplott-zu-ihrer-zerstoerung.html Originaltext:<br />
The Plot of Her Undoing, Feminist Art Coalition, 3. Nov. 2019, feministartcoalition.org/essays-list/saidiya-hartman<br />
2 Übersetzerische Anmerkung: Ligia Lewis bezieht sich auf drei Bedeutungen des englischen Wortes plot: die narrative Ebene des dramaturgischen<br />
Handlungsverlaufs (im Raum des Theaters); die politische Ebene des Komplotts als Wi<strong>der</strong>stand gegen Unterdrückungsverhältnisse (eine<br />
Wendung von Saidiya Hartmans Motiv <strong>der</strong> Zerstörung des Komplotts gegen Schwarze Frauen); sowie die geografisch-ökonomische Ebene<br />
des Grundstücks (Lewis’ Großmutter besaß als Schwarze Frau Land in <strong>der</strong> Dominikanischen Republik, was in kolonialen Verhältnissen skandalisiert<br />
wurde). In dieser Übersetzung bleibe ich bezüglich Lewis’ Werk beim eingedeutschten Plot mit dem Fokus auf <strong>der</strong> Erzählung eines<br />
Bedeutungsraums; bezüglich Hartmans Text beim Komplott wie in <strong>der</strong> bestehenden Übersetzung von Yasemin Dinçer.<br />
186
ich ein Komplott zerstören und eines neu schaffen.<br />
So will ich eine Fiktion entwerfen, eine Erzählung, die<br />
mich trägt und die auch trägt, wo ich mich konzeptionell<br />
hinbewege. Dieses Stück nimmt seinen Anfang im<br />
westlichen Teil von Hispaniola, auch bekannt als Ayiti,<br />
wo wir herkommen. 3 An diesem Ort finden und fanden<br />
viele Zerstörungen statt. Da dieser Ort mich berührt,<br />
bin ich ein Produkt von dessen Bekenntnis zum Westlichen<br />
Humanismus. Während die heutige Dominikanische<br />
Republik weiterhin in Weißsein investiert, wurden<br />
und werden die reichhaltigsten Geschichten unserer<br />
Schwarzen und Indigenen Vorfahren zu Geistergeschichten.<br />
Sie werden für irrelevant, unecht o<strong>der</strong> mythologisch<br />
erklärt; weil diese Geschichten das Potenzial<br />
bergen, Europas Komplott zu zerstören, die ganze<br />
Welt seiner eigenen Vorstellung zu unterwerfen.<br />
Ich denke, ich arbeite im Allgemeinen daran, Fiktionen<br />
zu schaffen, die furchtlos sind, die keine Angst vor <strong>der</strong><br />
Grenzüberschreitung, vor dem Regelverstoß, haben –<br />
so naiv das auch klingt. In dieser Arbeit ist <strong>der</strong> Verstoß<br />
nichts, das inszeniert, aufgeführt o<strong>der</strong> gar versprochen<br />
werden muss. Stattdessen legt das Stück nahe, dass diese<br />
Überschreitung schon da ist, dass sie entgegen aller<br />
Hürden bereits ersonnen wurde und weitergehen wird.<br />
SLC: Und diese Grenzüberschreitung kann als skandalös<br />
erachtet werden. Öffentlich gegen die Normen <strong>der</strong> Darstellbarkeit<br />
zu verstoßen und das Komplott aufzudecken,<br />
schafft die Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit eines Skandals.<br />
In diese Richtung deutete ich, glaube ich, auch, als ich die<br />
Öffentlichkeit unseres Plots thematisierte. Denn Erzählmotive<br />
sind immer von Begehren und Fantasien geprägt,<br />
die in Heimlichkeit verborgen bleiben, obwohl manche<br />
dieser Begehren und Fantasien buchstäblich prägen, wie<br />
wir uns durch die Welt bewegen. Welche Rolle spielt Begehren/Fantasie<br />
in diesem Werk?<br />
LL: Die Fantasie, ein Werk zu schaffen, in dem mein<br />
Körper Ruhe finden kann – fern von <strong>der</strong> erschöpfenden<br />
Arbeit, zu erklären und zu übersetzen. Es gibt eine<br />
Geschichte <strong>der</strong> Verwerfung und Gewalt, die mein Körper<br />
unvermeidlich in sich trägt. Könnte mein Gegenentwurf<br />
– meine Schwarze Rahmung und Erzählung<br />
– nahelegen, dass darin <strong>der</strong> Skandal liegt? Wenn ich<br />
das anerkenne, kann ich mit meinen Experimenten die<br />
grausamen Vermessungen zerstören und überschreiten,<br />
die von einem ethnisierenden Westlich-europäischen<br />
Blick aus kartiert wurden, <strong>der</strong> sich selbst für<br />
universell hält. Es macht Freude, eine an<strong>der</strong>e Spur jenseits<br />
dieses Blicks nachvollziehen zu können, die nicht<br />
kategorisch, transparent und deutlich bestimmbar ist.<br />
Dieses Stück spielt mit dem Skandal – nicht wegen seiner<br />
aufreizenden Anziehung, son<strong>der</strong>n wegen seines Potenzials,<br />
gegen gesellschaftliche Grenzziehungen aufzubegehren.<br />
Ich experimentiere hier, spiele mit performativen<br />
Codes und Manierismen, die auf komödiante Weise einige<br />
Unanständigkeiten <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft aufdecken.<br />
Doch mein Plot endet nicht da, wo die bürgerliche<br />
Gesellschaft sich selbst erkennt. Er führt zu einem an<strong>der</strong>en<br />
Schluss, ruft zu etwas an<strong>der</strong>em auf, zu einer an<strong>der</strong>en<br />
Art von Narrativ, in einem Raum, den ich nicht benennen<br />
möchte. Ich vertraue darauf, dass er spürbar wird.<br />
3 Übersetzerische Anmerkung: Gemeint ist hier das heutige Staatsgebiet <strong>der</strong> Dominikanischen Republik. Ayiti steht im haitianischen Creole<br />
für den Staat Haiti, aber auch für die ganze Insel Hispaniola. Hier fand die erste erfolgreiche Revolution gegen die Versklavung Schwarzer<br />
Menschen statt, die zur Gründung <strong>der</strong> Republik Haiti führte (siehe auch C.L.R. James: Die schwarzen Jakobiner).<br />
SARAH M. LEWIS-CAPPELLARI ist eine Afro-Dominikanisch-Amerikanische Kulturschaffende und<br />
Fellow am UCLA, <strong>der</strong> University of California. Sie beschäftigt sich in ihrem PHD mit<br />
<strong>der</strong> Materialität und Symbolik von Rohrzucker, um dessen »Nährwert« für rassistische<br />
Imaginationen zu verdeutlichen. Für unseren Katalog hat sie mit ihrer Schwester, <strong>der</strong><br />
Choreografin und Performerin LIGIA LEWIS gesprochen, die erstmals eine Arbeit bei <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> zeigen wird, das Solo A PLOT / A SCANDAL.<br />
187
WOHIN DAS LEBEN FÜHRT,<br />
DA IST UNSER TANZ<br />
EIN PORTRÄT DER CHINESISCHEN<br />
CHOREOGRAFIN UND PIONIERIN<br />
DES DOKUMENTARTANZTHEATERS WEN HUI<br />
VON CAO KEFEI<br />
I AM 60<br />
Wen Hui<br />
Tanz<br />
ab 2. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 52 _______________ www.ruhr3.com/sixty<br />
188
Winter 1999. Im Kleintheater, das dem Beijing Volkskunsttheater<br />
angehörte, herrschte eine gespannte Atmosphäre.<br />
Es war kurz vor <strong>der</strong> Uraufführung Report on Giving Birth<br />
von <strong>der</strong> Choreografin und Tänzerin Wen Hui, einer Produktion<br />
ihres von <strong>der</strong> Regierung unabhängigen Living Dance<br />
Studios, das erstmals mitten im Zentrum <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
eine Arbeit zeigte. Der Eintritt war frei, das Theater voll, es<br />
gab keine Sitzplätze, die Zuschauer konnten sich frei bewegen.<br />
Die Spielfläche war mit bunten Bettlaken bedeckt.<br />
Eine weiße, große, wattierte Bettdecke hing im Raum. Eine<br />
Frau im Alltagskleid saß bereits am Esstisch und erzählte<br />
vor sich hin, während ein Mann unter <strong>der</strong> Bettdecke »auf<br />
<strong>der</strong> Bühne« schlief, als sei er zu Hause. Das erste Bild, dem<br />
wir begegneten, war so vertraut, als sei es aus unserem täglichen<br />
Leben gegriffen. Jede:r war äußerst gespannt, weil<br />
alles an<strong>der</strong>s aussah, als wir es im Theater gewohnt waren.<br />
Nach nunmehr über 20 Jahren kann ich mich noch immer<br />
an diesen Abend erinnern, an die eindrücklichen Bil<strong>der</strong><br />
und die Schmerzen, die durch die Bewegungen und die<br />
Erzählungen, meistens im Dialekt gesprochen, hervorgerufen<br />
wurden. Die hängende Bettdecke, aus kleinen Decken<br />
zusammengenäht, schenkte als Projektionsfläche<br />
eine mit dem Spiel verwobene dokumentarische Ebene.<br />
Auf sie wurden die Mütter <strong>der</strong> Darsteller:innen projiziert, sie<br />
berichteten über ihre Erfahrungen von Schwangerschaft,<br />
Geburt und Mutterschaft, Material, das aus Wen Huis zahlreichen<br />
Gesprächen mit ihnen entstanden war. Der Filmemacher<br />
Wu Wenguang interviewte die anwesenden Tänzerinnen<br />
während <strong>der</strong> Vorstellung mit einer Videokamera und<br />
übertrug <strong>der</strong>en Gesichter live auf die Bettdecke. Die Verwendung<br />
von Materialien aus dem Alltag – ein typisches<br />
Merkmal von Wen Huis Arbeiten – war damals außergewöhnlich.<br />
Die wattierten Bettdecken und die gebrauchten<br />
Bettlaken, die Wen Hui, von Haus zu Haus gehend, von<br />
Bewohner:innen eingesammelt hatte, wirkten wie stille<br />
Zeitzeugen. Sie wurden ein- und auseinan<strong>der</strong>gefaltet, als<br />
Gepäck o<strong>der</strong> als ein Kind auf den Körpern <strong>der</strong> Frauen getragen<br />
o<strong>der</strong> wurden zu einem Teil ihres Körpers. All das<br />
Vertraute überstieg aber das Alltägliche bei weitem, es<br />
rief in den Zuschauern persönliche Erinnerungen und poetische<br />
Bil<strong>der</strong> wach.<br />
Living Dance Studio<br />
Wen Hui ist Pionierin im dokumentarischen (Tanz-)Theater<br />
in China. Neben ihrer Arbeit für die Bühne dreht sie<br />
Dokumentarfilme, konzipiert Installationen und kuratiert<br />
künstlerische Projekte. Sie ist 1960 in <strong>der</strong> Stadt Kunming<br />
in <strong>der</strong> südwestlichen Provinz Yunnan geboren. Dort begann<br />
sie mit 13 Jahren eine klassische Tanzausbildung.<br />
Sie durfte wegen ihrer Körpergröße – klein und zierlich<br />
– nie als Solotänzerin auftreten und stand bei Gruppentänzen<br />
immer am äußersten Rand. Das waren prägende<br />
Erfahrungen in einem erstarrten System. In den 80er Jahren<br />
studierte Wen Hui Choreografie, ein gerade neu gegründetes<br />
Fach an <strong>der</strong> Beijing Tanzakademie. Nach dem<br />
Abschluss im Jahr 1989 wurde ihr eine Stelle als Choreografin<br />
im staatlichen Oriental Song and Dance Ensemble<br />
zugewiesen. 1994 verlebte Wen Hui einen halbjährigen<br />
Aufenthalt in New York, <strong>der</strong> ihren Horizont über Tanz<br />
und Kunst erweiterte und einen entscheidenden Anstoß<br />
für ihre künstlerische Entwicklung gab. Zurück in Beijing<br />
gründete sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen Partner,<br />
dem Dokumentarfilmemacher Wu Wenguang, das<br />
Living Dance Studio, um den Tanz auf den Boden <strong>der</strong> Realität<br />
und Kunst in Kontakt mit <strong>der</strong> Gesellschaft zu bringen.<br />
Wunsch war es, »das Leben zu zeigen wie das Leben<br />
selbst« und sich damit sowohl von staatlicher Ideologie<br />
als auch von <strong>der</strong> kommerziellen Manipulation abzusetzen.<br />
1995 bekam Wen Hui eine Gelegenheit, bei <strong>der</strong> Probe von<br />
Pina Bauschs Tanzgruppe in Wuppertal zuzuschauen. Die<br />
menschliche kreative Atmosphäre, die Pina Bausch dort<br />
geschaffen hatte, und <strong>der</strong> freie individuelle Ausdruck <strong>der</strong><br />
Tänzer:innen beeindruckten sie tief. Die Choreografin<br />
verabschiedete die gelernten Dogmen wie Expressivität<br />
und Virtuosität und entwickelte einen beson<strong>der</strong>en Sinn<br />
für Geschichten, Körpersprache und Materialien aus <strong>der</strong><br />
realen Welt. Die erste Performance des Studios, 100 Verbe,<br />
basierte auf alltäglichen Verben von etwa zehn Beteiligten<br />
aus unterschiedlichen Berufen und markierte eine<br />
Wende in Wen Huis kreativem Prozess. Seither arbeitete<br />
sie in ihren Produktionen gleichberechtigt mit Laien,<br />
professionellen Darsteller:innen und Künstler:innen aller<br />
Disziplinen zusammen. Ihre spätere Trilogie Report on<br />
Giving Birth, Report on the Body (2002) und Report on<br />
37,8 ˚C (2005) verknüpften dokumentarisches Material<br />
mit künstlerischen Mitteln und prägten den Stil des Living<br />
Dance Studios. Seit diesen drei Reports werden Wen Huis<br />
Werke von vielen internationalen Festivals eingeladen.<br />
2005 zog das Studio in die Chao Chang Di Workstation<br />
im Nordosten Beijings ein, eröffnete sein eigenes Theater<br />
und bildete eine geradezu familiäre Gemeinschaft. In dieser<br />
Peripherie, unabhängig vom staatlichen System, fanden<br />
zahlreiche Workshops, Aufführungen und Begegnungen<br />
statt. 2008 schlug das Living Dance Studio mit <strong>der</strong><br />
achtstündigen Performance Memory eine neue Richtung<br />
ein. Private Erinnerungen, Fotos und dokumentarisches<br />
Filmmaterial von Wen Hui, Wu Wenguang und <strong>der</strong> Schriftstellerin<br />
Feng Dehua (die Erzählerin am Esstisch in Report<br />
on Giving Birth) aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Kulturrevolution von 1966<br />
bis 1976 waren Ausgangspunkt für diese sehr persönliche<br />
und körperliche Bühnendokumentation. Darauf folgend<br />
hat das Studio 2009 das Langzeitprojekt Volksgedächtnis-Projekt<br />
(Minjian jiyi jihua) ins Leben gerufen. Es sollte<br />
tiefer in die Gesellschaft und Geschichte des Landes<br />
eingreifen. Das Projekt lud Menschen aus verschiedenen<br />
sozialen Schichten ein, mit einer Videokamera zu ihrem<br />
jeweiligen Herkunftsort zurückzukehren und zu bestimmten<br />
Perioden <strong>der</strong> jüngeren chinesischen Geschichte zu<br />
recherchieren, Perioden, die nie verarbeitet worden sind.<br />
Wen Hui begann damals, ihre eigenen Dokumentarfilme<br />
zu drehen. Aus diesem Volksgedächtnis-Projekt ging eine<br />
Serie von Dokumentationen und Bühnenstücken hervor:<br />
Memory II: Hunger (2010), Memory on the Road (2011),<br />
Listening to Third Grandmother´s Stories (2012), Memory<br />
III: Tombstone (2012).<br />
2014 kam es zu einem harten Einschnitt in Wen Huis<br />
Leben. Aufgrund rapid ansteigen<strong>der</strong> Mietpreise auf dem<br />
Immobilienmarkt musste Living Dance Studio die Chao<br />
Chang Di Workstation verlassen. Wen Hui verlor ihr Theater.<br />
189
Seitdem führt die Künstlerin ein Nomadenleben, das Living<br />
Dance Studio wan<strong>der</strong>t mit ihr überall dorthin, wo sie gerade<br />
kreativ unterwegs ist.<br />
Künstlerische Interventionen<br />
ins historische Bewusstsein<br />
Zurück zum Abend von Report on Giving Birth. Ich erinnere<br />
mich, dass, nachdem die Premiere beendet war, viele<br />
Freunde und Zuschauer noch lange im Theater blieben<br />
und aufgeregt diskutierten, bis <strong>der</strong> Nachtportier das Tor<br />
schließen musste. Es war die Zeit des künstlerischen Aufbruchs<br />
in Beijing. Dieser wurde nach einer Dekade wie<strong>der</strong><br />
gebremst und erdrosselt, das Kleintheater ist bereits im<br />
Zuge eines städtischen Umbaus abgerissen worden.<br />
Ich finde Report on Giving Birth exemplarisch für Wen<br />
Huis Interesse an individuellen Schicksalen, für ihre Suche<br />
nach persönlichen Erinnerungen und ihren Blick für<br />
konkrete Erfahrungen von Frauen. Es sind die Menschen<br />
mit ihren individuellen Geschichten, die die Geschichte<br />
des Landes wi<strong>der</strong>spiegeln, einer Geschichte, die offiziell<br />
tabuisiert ist und im kollektiven Bewusstsein dem Vergessen<br />
anheimfällt. Ein typisches Beispiel ist die Produktion<br />
Memory II: Hunger, die Wen Hui gemeinsam mit jungen<br />
Menschen erarbeitet hat, von denen die meisten in den<br />
80er Jahren geboren wurden. Sie verhandelte die sogenannte<br />
»Dreijährige Naturkatastrophe«, in Wahrheit die<br />
Hungerkatastrophe, die sich zwischen 1959 und 1961 infolge<br />
<strong>der</strong> Landreform des verordneten »Großen Sprungs<br />
nach vorn« ereignet hat. Diese jungen Menschen schickte<br />
Wen Hui in ihre Heimatdörfer zurück, um ihre Großeltern<br />
und an<strong>der</strong>e alte Menschen, die diese Zeit miterlebt hatten,<br />
zu befragen. In <strong>der</strong> Aufführung spielten diese jungen<br />
Menschen auf <strong>der</strong> Bühne und agierten ihre Interviews als<br />
wichtige Zeitdokumente vor.<br />
Die soziale Prägung des Körpers<br />
Report on Giving Birth ist aber auch exemplarisch für Wen<br />
Huis unermüdliche Erforschung des Körpers und ihre Suche,<br />
die Grenze des Tanzes zu erweitern. Sie findet, im<br />
Körper hat jede Lebensgeschichte ihre Brandmale hinterlassen.<br />
Die Choreografin äußerte anlässlich ihrer Arbeit<br />
an 100 Verbe: »Ich denke dabei nicht, wie man tanzt,<br />
son<strong>der</strong>n dass man es macht. Ich mag es, mit Menschen<br />
zusammenzuarbeiten. Ihre Körper sind real. Wir betonen<br />
keine Körpertechnik. Deine Lebenserfahrung ist deine<br />
Technik. Ich bin überzeugt, wohin das Leben führt, da<br />
ist unser Tanz.« Mit diesem Bewusstsein bringt Wen Hui<br />
verschiedenste Menschen zusammen. Seien es die Wan<strong>der</strong>arbeiter<br />
im Dance with Migrant Workers (2001), seien<br />
es ihre Third Grandmother und ihre Mutter in Listening to<br />
Third Grandmother´s Stories, sei es die Schriftstellerin in<br />
Memory o<strong>der</strong> <strong>der</strong> tschechische Ingenieur in Ordinary People,<br />
um nur einige Beispiele zu nennen. Wen Hui erforscht<br />
den Körper wie mit einem Skalpell, Schicht für Schicht<br />
macht sie das Individuelle, das Einzigartige sichtbar. Für<br />
die achtstündige Version von Memory ging die Choreografin<br />
noch weiter: Sie nahm den eignen Körper ins Visier und<br />
untersuchte die Verbindung zwischen <strong>der</strong> Körpersprache<br />
und <strong>der</strong> sozialen Prägung. Während des Probenprozesses<br />
verzichtete sie bewusst auf eine komplexe künstlerische<br />
Form, sie wählte für sich nur eine einzige Bewegungslinie<br />
und -sequenz aus: die Bewegung nach vorne, nach<br />
hinten, atmen, gehen. Eine eingeprägte Körperhaltung,<br />
die sie an ihr Erwachsenwerden als Frau erinnerte. In <strong>der</strong><br />
Performance stand Wen Hui acht Stunden lang auf <strong>der</strong><br />
Bühne, wie<strong>der</strong>holte diese Sequenz wie im Zen. Sie sagt:<br />
»Der menschliche Körper kann wirklich über sich hinauswachsen.<br />
Mit deinem Körper gehst du weiter als mit deinem<br />
Hirn.«<br />
Frauenschicksale<br />
2011. Wen Hui steckte in einer tiefen Lebenskrise. Sie<br />
nahm das Volksgedächtnis-Projekt zum Anlass und reiste<br />
zu ihrem Heimatort in die Provinz Yunnan, um eine<br />
84-Jahre alte Frau in einem abgelegenen Bergdorf namens<br />
Da He Bian (auf Deutsch: Neben dem großen Fluss)<br />
aufzusuchen. Sie war die dritte Tante von Wen Huis Vater<br />
und wurde Third Grandmother genannt. Die Künstlerin<br />
wun<strong>der</strong>te sich damals, warum ihr Vater nie von dieser Verwandten<br />
erzählt hatte. Als sie sich nach seinem Tod entschloss,<br />
ihrer eignen Familiengeschichte auf die Spur zu<br />
kommen, erfuhr sie von jener Third Grandmother, <strong>der</strong> letzten<br />
Überlebenden ihrer Generation. Die Künstlerin verspürte<br />
einen großen Drang, diese Frau kennenzulernen.<br />
In <strong>der</strong> Soloperformance I am 60 erzählt sie von dieser<br />
einzigartigen Begegnung: »Third Grandmother stand um<br />
7 Uhr auf und wartete am Eingang des Dorfes auf mich.<br />
So als hätte sie am Ende eines Tunnels 50 Jahre lang auf<br />
mich gewartet, wie auf die eigene Enkelin, die endlich<br />
nach Hause kommt. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben.«<br />
Wen Hui erfuhr zu ihrem Erstaunen, dass Third Grandmother<br />
ihrer tatsächlichen Enkelin genau den gleichen Namen<br />
gegeben hatte, wie Wen Hui ihn trug. Sie hörte Third<br />
Grandmother zu, lebte, tanzte und probte mit ihr. Third<br />
Grandmothers Erzählungen reichten von ihrer Kindheit im<br />
gut betuchten Elternhaus, <strong>der</strong> arrangierten Ehe im jungen<br />
Alter und <strong>der</strong> Scheidung vor <strong>der</strong> Befreiung bzw. Gründung<br />
<strong>der</strong> Volksrepublik im Jahr 1949 über die große Landreform<br />
danach und die Enteignung allen Familieneigentums bis<br />
hin zum traumatischen Selbstmord ihrer Mutter. Wen Hui<br />
erfuhr von zuvor nie gehörten Familiengeheimnissen. Was<br />
sie aber zutiefst bewegte, war, dass Third Grandmother<br />
trotz all dieser unvorstellbaren Schicksalsschläge ihren<br />
Humor und ihre Offenheit bewahrt hatte.<br />
Von 2011 bis 2012 fuhr die Künstlerin dreimal in jenes<br />
Dorf und hat die eindrücklichsten Momente mit dieser<br />
Frau dokumentiert. Im Film Dance with Third Grandmother<br />
(2015) sehen wir die beiden Frauen aus unterschiedlichen<br />
Generationen, wie sie sich tanzend annähern,<br />
innig berühren und umarmen. Die Jüngere sagt zu<br />
<strong>der</strong> Älteren: »Nainai (Grandmother auf Dialekt), wenn wir<br />
traurig sind, dann tanzen wir. Wenn wir tanzen, werden<br />
wir nicht mehr traurig.«<br />
Im Jahr 2013 fuhr Wen Hui das vierte Mal ins Dorf Da<br />
He Bian und erfuhr, dass Third Grandmother schon für<br />
immer gegangen war. Aber für die »Enkelin, die endlich<br />
nach Hause kommt«, ist sie nie gegangen. Ihr Geist wirkt<br />
190
seit <strong>der</strong> ersten Begegnung wie ein Leuchtfeuer für die<br />
Künstlerin fort. Er gibt ihr Kraft, nicht aufzugeben, treibt<br />
sie auch an, über die festgelegte Struktur und den miserablen<br />
Stand <strong>der</strong> (chinesischen) Frauen im patriarchalen<br />
System gründlich zu reflektieren. Diese Begegnung entfaltete<br />
Wen Huis vielseitiges Können. Sie entwickelte zwei<br />
Dokumentarfilme über Third Grandmother und ein Bühnenwerk,<br />
das aus <strong>der</strong> Perspektive von drei Frauengenerationen<br />
erzählt wurde.<br />
Die Beschäftigung mit Frauenschicksalen vertiefte Wen<br />
Hui 2015 in <strong>der</strong> Performance Rot weiter. Ein Jahr zuvorhatte<br />
das revolutionäre Modelballett Das Rote Frauenbataillon<br />
sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert, eins von acht<br />
Modeldramas, die Mao Zedongs Ehefrau Jiang Qing während<br />
<strong>der</strong> Kulturrevolution für staatliche Propaganda kreiert<br />
hatte. Vor diesem historischen Hintergrund suchte die<br />
Künstlerin die ehemaligen Tänzerinnen von dem Modelballett<br />
auf und führte Gespräche mit den Zeitzeug:innen.<br />
Schließlich dekonstruierte sie mit an<strong>der</strong>en drei Darstellerinnen<br />
die hierarchischen Bühnenauftritte, die pathetischen<br />
Tanzbewegungen, die kodierten Kostüme und<br />
Requisiten dieses Modelballetts. In <strong>der</strong> Neuinszenierung<br />
machte sie die aufopfernde Rolle <strong>der</strong> Frauen und die Lüge<br />
in <strong>der</strong> Gegenwart sichtbar.<br />
I am 60<br />
2020. Wen Hui wurde 60 Jahre alt. Sie nahm das Datum<br />
zum Anlass, um Rückschau zu halten und über ihr bisheriges<br />
Leben zu reflektieren. So ist ihre jüngste, auch ihre<br />
allererste Soloperformance I am 60 entstanden, die 2021<br />
in Weimar beim Kunstfestival uraufgeführt wurde. Für diese<br />
Performance ließ sie sich inspirieren von jenen Stummfilmen,<br />
die das ungerechte Schicksal von Frauen und <strong>der</strong>en<br />
Willen, sich daraus zu befreien, thematisierten und in<br />
den 30er Jahren in Shanghai ihre goldene Zeit feierten.<br />
Begleitet vom inneren Gespräch mit Third Grandmother,<br />
reflektiert die Künstlerin über ihre Kindheit und ihre Mutter,<br />
<strong>der</strong>en Sicht auf das Leben sie stark beeinflusst hat,<br />
und auch über ihre Lebenskrise als Frau und Künstlerin.<br />
Parallel zum Autobiografischen und Kontakt aufnehmend<br />
mit dem Körper <strong>der</strong> Performerin sehen wir historische Fotos<br />
und aktuelle Statistiken über den (prekären) Zustand<br />
<strong>der</strong> chinesischen Frauen in einem von Männern dominierten<br />
System. Das Thema <strong>der</strong> sozialen Stellung <strong>der</strong> Frau in<br />
<strong>der</strong> chinesischen Gesellschaft gewinnt zurzeit beson<strong>der</strong>s<br />
an trauriger Aktualität, nachdem Anfang Februar <strong>2022</strong><br />
die unerhörten Fotos und Videosequenzen von einer angeketteten<br />
Frau, die in einem Dorf in <strong>der</strong> Jiangsu-Provinz<br />
lebt und acht Kin<strong>der</strong> zur Welt gebracht hat, im chinesischen<br />
Internet zirkulierten. Diese Frau war gekidnappt,<br />
vergewaltigt und als Gebärmaschine brutal misshandelt<br />
worden. Dieses Ereignis hat eine <strong>der</strong> dunkelsten Seite <strong>der</strong><br />
Gesellschaft aufgedeckt.<br />
In I am 60 bedient sich Wen Hui eindrucksvoll <strong>der</strong> Darstellungsmethode<br />
»Linked Drama«, die in Shanghais Stummfilmzeit<br />
entstand und die sie bereits auch in an<strong>der</strong>en Bühnenarbeiten<br />
verwendet hatte. Filmische Bil<strong>der</strong> fungieren<br />
als Panorama und interagieren mit <strong>der</strong> Live-Performance.<br />
Die Projektion dient als Schwelle von <strong>der</strong> fiktiven zur realen<br />
Welt, von <strong>der</strong> Vergangenheit zur Gegenwart und umgekehrt.<br />
Das Wechselspiel von Liveperformance, Video und<br />
Audio schafft ein aufeinan<strong>der</strong> bezogenes Gesamtkunstwerk.<br />
Es ist Wen Huis bislang persönlichste Performance,<br />
die sich zugleich durch die Epochen <strong>der</strong> chinesischen<br />
(Frauen-)Geschichte bewegt. Ein wun<strong>der</strong>volles Geschenk<br />
für sich selbst zum Geburtstag und für uns Zuschauer.<br />
Im Film Dance with Third Grandmother gibt es einen ergreifenden<br />
Dialog zwischen Wen Hui und Third Grandmother<br />
beim Tanzen:<br />
W: Nainai, siehst du mich?<br />
T: Ich sehe dich.<br />
W: Ich sehe dich auch. Nainai, wo bist du?<br />
T: Ich bin hier. Wen Hui, siehst du mich?<br />
W: Mein Herz sieht dich.<br />
T: Ich sehe dich auch.<br />
Third Grandmother ist als eine leuchtende Lampe in dieser<br />
Soloperformance allgegenwärtig. Wen Hui gibt uns<br />
das Licht weiter. Sie glaubt, jedes Leben findet einen Zeitpunkt,<br />
sich voll zu entfalten. Ich glaube, Wen Huis Leben<br />
blüht mit 60 Jahren nochmals auf.<br />
CAO KEFEI, geb. 1964 in Shanghai, lebt in Beijing und Berlin, wo sie als Theaterregisseurin,<br />
Autorin und Übersetzerin arbeitet. Lange schon begleitet<br />
ihr Blick die künstlerische Arbeit von Wen Hui. Gemeinsam mit Sabine<br />
Heymann und Christoph Lepschy gab sie den Band Zeitgenössisches<br />
Theater in China (Alexan<strong>der</strong> Verlag, Berlin 2017) heraus.<br />
Foto: Richy Wong (Wen Hui)<br />
191
PROMISE ME<br />
EIN GESPRÄCH MIT JOKE LAUREYNS UND<br />
KWINT MANSHOVEN, DEN GRÜNDER:INNEN<br />
DER TANZKOMPANIE KABINET K UND<br />
CHOREOGRAF:INNEN VON PROMISE ME GEFÜHRT<br />
VON DER DRAMATURGIN MIEKE VERSYP<br />
PROMISE ME<br />
kabinet k & hetpaleis<br />
Tanz<br />
ab 9. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 60 _______________ www.ruhr3.com/promise<br />
192
Kwint: promise me entstand als Idee während <strong>der</strong><br />
Workshops, die wir im Sommer 2020 organisierten.<br />
Mit still playing but different wollten wir die Kin<strong>der</strong><br />
unserer früheren Kreation as long as we are playing<br />
nach einer langen Zeit <strong>der</strong> erzwungenen Untätigkeit<br />
wie<strong>der</strong> zusammenbringen. Zwei Wochen Improvisationen<br />
mit einem Team, das wir sehr gut kannten. Ohne<br />
auf eine Vorstellung hinzuarbeiten, ohne ein konkretes<br />
Ziel.<br />
Joke: Was uns bei still playing auffiel, war eine große<br />
Intimität und körperliche Hingabe. Ein Verlangen,<br />
Grenzen zu verschieben. Die wilde Begeisterung, mit<br />
<strong>der</strong> sich die Kin<strong>der</strong> in die »Arena« stürzten, die Anspannung<br />
in ihren Körpern – das fanden wir schön<br />
und inspirierend.<br />
Kwint: Aber die Thematik von promise me schlummerte<br />
schon seit Längerem in unseren Köpfen. Wir<br />
dachten an die Wörter »kippen«, »schwenken«, »verdrehen«.<br />
Vielleicht ein Ausdruck unseres Eifers, neu<br />
anzufangen, des Drangs, uns hineinzustürzen. Das<br />
war <strong>der</strong> Geist bei still playing.<br />
IN UNSERER ARBEIT<br />
GEHT ES IMMER DARUM,<br />
WAS ES HEISST, EIN<br />
MENSCH ZU SEIN, UND<br />
ZWAR IN ALL SEINEN<br />
FACETTEN.<br />
Joke: Dieser Eifer und Drang sind in unserer Arbeit eigentlich<br />
immer präsent. Genau wie gegenseitiges Vertrauen<br />
und Freiheit. In unserer Arbeit geht es immer<br />
darum, was es heißt, ein Mensch zu sein, und zwar<br />
in all seinen Facetten. Mit je<strong>der</strong> Kreation beleuchten<br />
wir eine an<strong>der</strong>e Facette. Für promise me hatten wir<br />
endlich die Zeit, uns in einen bestimmten Aspekt zu<br />
vertiefen: mit einer wachen, aufmerksamen Neugier,<br />
Offenheit, völligen Hingabe ins »Wir, Hier und Jetzt«.<br />
Kwint: Es ist eine Antwort auf die Zeichen <strong>der</strong> Zeit.<br />
Diese Zeiten sind durchdrungen von Angst, Vorsicht,<br />
dem Wunsch nach Sicherheit. Das fragt nach einer Gegenstimme.<br />
Das Verlangen entsteht, einen Zufluchtsort<br />
anzubieten, an dem man sich diesen Tendenzen<br />
entgegenstellen kann. Die Bühne ist ein perfektes Biotop,<br />
wo man diese Freiheit in Anspruch nehmen und<br />
zeigen kann.<br />
Ist promise me eine neue Etappe in eurem Schaffen?<br />
Joke: Ich sehe eine Entwicklung in <strong>der</strong> Art und Weise,<br />
wie und in welchem Kontext dieses Stück entstanden<br />
ist. Die Tatsache, dass wir mit drei Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />
Besetzung von as long as we are playing plus Kwint<br />
als Tänzer und erneut mit Thomas Devos als Musiker<br />
gearbeitet haben, bedeutet, dass fünf Menschen<br />
auf <strong>der</strong> Bühne stehen, die von Anfang an mit unserer<br />
Sprache vertraut waren. Zélie kannten wir aus les<br />
ateliers C de la B (Anm. d. Red.: einer Workshopreihe<br />
<strong>der</strong> Tanzkompanie les Ballets C de la B mit kabinet k);<br />
ihre Schwester Téa und <strong>der</strong> Tänzer Ido Batash sind<br />
neu. Die Vertrautheit eines großen Teils des Casts mit<br />
unserer Arbeit führte dazu, dass wir bei den Improvisationen<br />
schneller als sonst auf den Punkt bringen<br />
konnten, was wir mit promise me vermitteln wollen.<br />
Wir konnten die Stärken des angebotenen Tanzmaterials<br />
entdecken. Die Körper <strong>der</strong> Performer:innen fanden<br />
leicht in die Tanzsprache, die uns vorschwebte.<br />
Die Kin<strong>der</strong> waren wirklich Mitautor:innen in diesem<br />
Prozess, und das ist einzigartig. Ich sehe es als eine<br />
Vertiefung in unserer Arbeitsweise. Ich weiß nicht, auf<br />
welcher Ebene das in <strong>der</strong> Aufführung sichtbar sein<br />
wird, aber das Tanzmaterial hat sich auf eine sehr organische<br />
Weise zusammengefügt.<br />
DIESE ZEITEN SIND<br />
DURCHDRUNGEN VON<br />
ANGST, VORSICHT,<br />
DEM WUNSCH NACH<br />
SICHERHEIT. DAS<br />
FRAGT NACH EINER<br />
GEGENSTIMME.<br />
193
In all euren Auftritten schafft ihr eine Utopie als Reaktion<br />
auf die reale Welt. Ihr nennt es oft einen Freiraum. Einen<br />
Ort des Vertrauens.<br />
Joke: Ja. Utopisch und idealistisch, aber auch eine<br />
Gegenstimme, ein Kontrapunkt. Wir streben natürlich<br />
nach dem Ideal <strong>der</strong> bestmöglichen Aufführung. Wir<br />
suchen eine radikale Ehrlichkeit, wenn es um die Vielschichtigkeit<br />
des Menschseins geht. Nicht, dass wir<br />
die Dinge rosiger machen wollen. Im Gegenteil. Harmonie<br />
steht bei dieser Aufführung nicht auf <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />
Kwint: Sicherlich nicht in promise me, wo es oft rau<br />
und roh zugeht. Es herrscht eine brutale Intimität. Weniger<br />
weich und vielschichtiger als bei horses. Denn wir<br />
beleuchten eine an<strong>der</strong>e, gefährlichere Seite menschlicher<br />
Beziehungen.<br />
WIR SUCHEN EINE<br />
RADIKALE EHRLICHKEIT,<br />
WENN ES UM DIE<br />
VIELSCHICHTIGKEIT DES<br />
MENSCHSEINS GEHT […]<br />
HARMONIE STEHT BEI<br />
DIESER AUFFÜHRUNG<br />
NICHT AUF DER<br />
TAGESORDNUNG.<br />
Joke: Das erste Wort, mit dem wir bei diesem Stück<br />
hantierten, war »rücksichtslos«. Aber das deckt nicht<br />
alles ab. Deshalb war ich so froh, als wir auf den Text<br />
Ode an meine Narben des flämischen Autors David<br />
Van Reybrouck stießen. Er schreibt:<br />
»Nein, das ist nicht das richtige Wort, rücksichtslos.<br />
Was aber dann? Begeisterung, Glühen. Ja, man muss<br />
mit seinem Leib haushalten, aber deshalb muss man<br />
doch nicht mit dem Leben sparsam sein?«<br />
Das ist es für mich.<br />
»Sieben Tänzer:innen schließen einen Pakt« lautet eine<br />
Zeile auf dem Produktionsflyer. Was ist das für ein Pakt?<br />
Joke: Die Beziehung zwischen den Tänzer:innen entwickelte<br />
sich im Laufe des kreativen Prozesses zu einem<br />
absoluten Vertrauensverhältnis. Du schenkst Vertrauen<br />
und du bekommst es zurück. Das bewirkt, dass alle<br />
einan<strong>der</strong> so gut kennen, dass alle Grenzen aufgehoben<br />
sind, jede Zurückhaltung verschwindet. Solch einen<br />
Pakt wollen wir als Macher:innen immer initiieren. Oft<br />
»greift« ein solcher Pakt, und das war sicherlich bei den<br />
Darsteller:innen von promise me <strong>der</strong> Fall, aber das geschieht<br />
nicht immer. Das kannst du nicht erzwingen.<br />
Dieser Pakt des Vertrauens ist wie ein Grundton. Über<br />
Kwint sagen die Kin<strong>der</strong> beispielsweise: »Wir kennen<br />
deine Hände.« Das ist die physische Übersetzung dieses<br />
Vertrauens. Es ist die Basis, von <strong>der</strong> aus man den<br />
Grad <strong>der</strong> Hingabe, des Kümmerns, <strong>der</strong> Intimität und <strong>der</strong><br />
Stärke eines:einer jeden ablesen kann. Wenn man sich<br />
ein Duett zwischen Kwint und Ilena, Lili und Zélie o<strong>der</strong><br />
Juliette und Ido anschaut, dann sieht man stets sowohl<br />
die spezifische Dynamik zwischen zwei Tänzer:innen<br />
als auch die individuellen Eigenheiten jedes:je<strong>der</strong> Tanzenden.<br />
Man kann sehen, was sie ineinan<strong>der</strong> erwecken,<br />
und ihre Charaktere lesen durch die Art und Weise, wie<br />
sie miteinan<strong>der</strong> umgehen. Diese immerwährende Synergie<br />
generiert wun<strong>der</strong>schöne Bil<strong>der</strong>. Das ist reich.<br />
Nicht eindeutig.<br />
Kwint: In dem gegenseitigen Vertrauen zwischen diesen<br />
sieben Menschen auf <strong>der</strong> Bühne schlummert eine<br />
Dualität. Eine Vielschichtigkeit. Und das Medium Tanz<br />
eignet sich hervorragend, das sichtbar zu machen.<br />
Der Ausdruck »Dualität« taucht oft auf, wenn es um eure<br />
Arbeit geht. Könnt ihr diesen Begriff erklären?<br />
Joke: Alles hat eine Kehrseite – das ist eine Tatsache.<br />
Neben dem Wort »Lebensdrang«, das während<br />
des Entstehungsprozesses auftauchte, fiel auch das<br />
Wort »Todesverachtung«. Dem Tod die Zunge herausstrecken.<br />
Hinter dieser kindlichen Geste verbirgt sich<br />
eine tiefe Wahrheit. Jede:r erkennt die Endlichkeit,<br />
die Schwere, die Schwärze, die B-Seite des Lebens.<br />
Aber man kann sich auf unterschiedliche Weise darauf<br />
beziehen. Diese Tatsache kann dir Kraft geben<br />
und dich verwundbar machen. Gleichzeitig. Es ist kein<br />
Entwe<strong>der</strong>-o<strong>der</strong>. Nicht schwarz-weiß. Sehr oft suchen<br />
die Menschen nach einer vorgefertigten Antwort. Die<br />
Menschen for<strong>der</strong>n Klarheit. Es ist so und nicht an<strong>der</strong>s.<br />
Und dann entstehen Lager, Polemik, Slogans,<br />
Polarisierung, Identitätsschwierigkeiten. Während es<br />
nur Nuancen gibt. In <strong>der</strong> Realität und auch in einem<br />
Körper.<br />
Kwint: Es gibt die großen, trainierten Körper <strong>der</strong> erwachsenen<br />
Tänzer:innen und die kleineren, untrainierten<br />
Körper <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Dies ist an sich schon eine<br />
duale Gegebenheit. Erwachsene und Kin<strong>der</strong> können<br />
dieselbe Bewegung mit <strong>der</strong>selben Absicht ausführen<br />
und doch sind sie an<strong>der</strong>s. Und für die Tänzer:innen<br />
fühlt es sich auch an<strong>der</strong>s an.<br />
DIESER PAKT DES<br />
VERTRAUENS IST WIE<br />
EIN GRUNDTON.<br />
Joke: Und doch müssen Erwachsene und Kin<strong>der</strong> ein<br />
Gleichgewicht in <strong>der</strong> Schwerkraft finden. »Kippen« ist<br />
ein wesentliches Wort im Vokabular von promise me,<br />
ein Wort, das die Bewegungssprache stark beeinflusst<br />
hat. Aber es ist nicht so, dass man die Tänzer:innen<br />
buchstäblich kippen sieht. Es deutet vielmehr auf eine<br />
Absicht hin. Im Sinne von: sich trauen, in <strong>der</strong> Mitte<br />
von Dingen zu stehen. Nicht auszuweichen, nicht zu<br />
fliehen, son<strong>der</strong>n die Mittellinie beschreiten. Taumelnd,<br />
194
kippend, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren.<br />
Die Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Dinge erkennen. Es<br />
ist eine Kraft, auf dieser Mittellinie zu sein, in dieser<br />
immer kippenden Zwischenzone. Bei promise me geht<br />
es darum, Risiken einzugehen und Gewissheiten loszulassen,<br />
so haben wir es in Worte gefasst. Auf dem<br />
Papier klingt das hohl; in Wirklichkeit verweisen diese<br />
Sätze auf eine Haltung, eine Art, im Leben zu stehen,<br />
wofür du stark sein musst. Unser Motto für diese Leistung<br />
lautet: Stell Risiko über Stabilität. Neugierde über<br />
Angst. Zusammengehörigkeit über Selbsterhalt.<br />
Kwint: Wir improvisierten während einer Probe zu dem<br />
Slogan »Ich habe es noch nie getan, aber ich denke<br />
schon, dass ich es kann«. Dieser Satz führte in <strong>der</strong><br />
Gruppe eine Denkweise ein, die für den gesamten Entstehungsprozess<br />
des Stücks entscheidend war. Es ist<br />
ein praktischer Satz, <strong>der</strong> den Kin<strong>der</strong>n geholfen hat, die<br />
richtige Intention zu finden, mit <strong>der</strong> sie in die Aufführungen<br />
gehen. Der sie inspirierte, Bil<strong>der</strong> und Bewegungen<br />
zu kreieren. Wir sind weit entfernt von philosophischen<br />
Diskursen in den Proben. Wir sprechen mit den<br />
Kin<strong>der</strong>n kaum über die Themen, son<strong>der</strong>n übersetzen<br />
sie in Aufgaben, bei denen sie die Dinge rein körperlich<br />
erleben und verinnerlichen. Sie nähern sich allmählich<br />
den Themen, indem sie sie in ihren Körpern spüren,<br />
indem sie sie tanzen.<br />
Wir bemühen uns, unsere gesamte Arbeit in dieser<br />
Grauzone anzusiedeln. Ist es für ein junges Publikum?<br />
Ist es Tanz o<strong>der</strong> Theater? Ist es schön o<strong>der</strong> ist es grauenvoll?<br />
Ist ein zehnjähriger Körper, <strong>der</strong> tanzt, authentisch<br />
o<strong>der</strong> manipuliert? In unseren Augen sind das nicht<br />
die relevanten Fragen. Wir geben sie gerne zurück.<br />
promise me – versprich mir: Darin höre ich eine For<strong>der</strong>ung.<br />
Joke: Es handelt sich in <strong>der</strong> Tat um einen Appell. Ein<br />
Schrei nach ... Wonach genau, lässt sich nicht direkt<br />
in Worte fassen. Ich liebe das Bild einer Hand, die das<br />
Kinn eines:einer an<strong>der</strong>en ergreift, um buchstäblich seine:ihre<br />
Blickrichtung zu bestimmen, und um Aufmerksamkeit<br />
bittet. In dieser Geste steckt nicht nur eine<br />
Frage an die:den an<strong>der</strong>e:n; es ist auch eine Geste des<br />
Vertrauens, weil du nicht einfach so jemandem ins Gesicht<br />
fasst.<br />
Das ist wie<strong>der</strong> eine doppelte For<strong>der</strong>ung. »Gib mir so<br />
viel Vertrauen und Sicherheit, dass ich mich völlig frei<br />
fühlen kann.« Ich denke, die Welt braucht das wirklich,<br />
Menschen, die aus eigener Kraft stehen dürfen und<br />
können. Und ihre Stärke nicht aus einer vermeintlichen<br />
Identität beziehen, aus <strong>der</strong> Gruppe, <strong>der</strong> sie angehören,<br />
aus einer Dynamik des Wir/Sie. Wenn du dich von dieser<br />
Art des Denkens befreist, findest du vielleicht zu<br />
einer Vitalität zurück, die hoffentlich ansteckend wirkt.<br />
Seit eineinhalb Jahren bereiten wir auch ein zukünftiges<br />
Projekt mit palästinensischen Tänzer:innen und<br />
Kin<strong>der</strong>n vor. Bewohner:innen des Westjordanlands<br />
und des Gazastreifens. Auch dieses Projekt hat sich<br />
in unsere Proben geschlichen. promise me hat einen<br />
Unterton von Resilienz und Resistenz. Gib dich nicht<br />
mit dem zufrieden, was dir vorgesetzt wird, und übernimm<br />
die Verantwortung für das, was du tust.<br />
Eure Arbeit ist stets von <strong>der</strong> bildenden Kunst inspiriert.<br />
Gibt es Werke von Künstler:innen, die euch zu promise me<br />
angeregt haben?<br />
Kwint: Michaël Borremans’ Serie Fire from the Sun.<br />
Kleine Kin<strong>der</strong>, die sich gegenseitig mit Blut beschmieren.<br />
Auf dem Boden liegen menschliche Einzelteile.<br />
Was uns ins Auge fiel, war nicht <strong>der</strong> Schrecken dieser<br />
Szenen, son<strong>der</strong>n die Neugier <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf ihre<br />
eigenen Körper und die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Sehr animalisch.<br />
Daneben die Gemälde von Caravaggio, die Grauen und<br />
Schönheit vereinen.<br />
Es gibt den Film Buddha Collapsed Out of Shame <strong>der</strong><br />
iranischen Filmemacherin Hana Makhmalbaf, gedreht<br />
in dem afghanischen Dorf, wo die historischen Buddhastatuen,<br />
die in den Fels gehauen waren, von den<br />
Taliban gesprengt wurden. Der Film zeigt die Willenskraft<br />
eines Mädchens, Lesen zu lernen. Uns inspirierte<br />
die Art und Weise, wie die Filmemacherin diese Willenskraft<br />
in Bil<strong>der</strong>n dargestellt hat. Wie dieses Mädchen<br />
Kriegstraumata verarbeitet und überwindet. Ihr<br />
Lebenswille und ihre Verachtung für den Tod. Der Film<br />
endet mit spielenden Kin<strong>der</strong>n, die sich sozusagen unter<br />
Beschuss halten. »Die, and you will be free«, ruft ein<br />
Junge. Ein Satz, mit dem er eine Spielregel bestätigt:<br />
Wenn du hinfällst, kannst du weiterspielen. Es ist ein<br />
Spiel, mehr nicht, aber diese paradoxen Worte können<br />
auch so übersetzt werden: Wenn du nicht loslässt, wovor<br />
du Angst hast, kommst du keinen Meter weiter.<br />
Joke: Da ist wie<strong>der</strong> die Ode an meine Narben, in <strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Autor den Dichter Khahlil Gibran zitiert:<br />
»Deine Kin<strong>der</strong> sind nicht deine Kin<strong>der</strong>. Sie sind die<br />
Söhne und Töchter <strong>der</strong> Sehnsucht des Lebens nach<br />
sich selbst.«<br />
Auch das ist eine Dualität, mit <strong>der</strong> alle Eltern und die<br />
gesamte Gesellschaft zurechtkommen müssen.<br />
Und schließlich ist da ein Zitat des schottischen Dichters<br />
John Glenday in einem Buch über die Arbeit <strong>der</strong><br />
amerikanischen Fotografin Sally Mann: »You see it’s<br />
neither pride nor gravity, but love that pulls us back<br />
down to the world.« Die Schwerkraft ist bei einem<br />
Tanzstück sehr entscheidend, und wenn man hochgehoben<br />
wird, kann man sich »wie ein Astronaut in<br />
einer Raumkapsel« bewegen – so hat es Zélie in Worte<br />
gefasst. Sie war es auch, die behauptete, dass es in<br />
promise me um Liebe geht ...<br />
Aus dem Nie<strong>der</strong>ländischen von Golbarg Zolfaghari<br />
Die Choreografin JOKE LAUREYNS hat Philosophie studiert. Der Tänzer und Choreograf<br />
KWINT MANSHOVEN studierte Design. Gemeinsam gründeten sie die Gruppe kabinet k in Gent<br />
(Belgien), mit <strong>der</strong> sie seit über 20 Jahren Tanztheaterstücke kreieren, in denen professionelle<br />
Tänzer:innen und Kin<strong>der</strong> zusammen auf <strong>der</strong> Bühne stehen.<br />
Foto: Kurt van <strong>der</strong> Elst (Joke Laureys und Kwinst Manshoven)<br />
195
FREUDE ALS<br />
FORM DES<br />
WIDERSTANDS<br />
MATS STAUB IM GESPRÄCH MIT<br />
METTE INGVARTSEN<br />
TO COME (EXTENDED)<br />
Mette Ingvartsen<br />
Tanz<br />
ab 10. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 64 _______________ www.ruhr3.com/come<br />
196
Mats Staub: Es gibt nur sehr wenige Stücke, die mich auch<br />
Jahre später noch die Emotionen verspüren lassen, die sie<br />
in mir hervorgerufen haben – ich sah to come (extended)<br />
am 31. März 2018 in Berlin, und ich erinnere mich gut<br />
an das anschließende Gefühl des Staunens. Ja, ich war<br />
schlichtweg von Freude erfüllt. Du hast dich im Rahmen<br />
mehrerer Projekte zwischen 2014 und 2017 mit Sexualität<br />
befasst. Spielte <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Freude auch bei to come<br />
(extended) eine Rolle?<br />
Mette Ingvartsen: Ich empfand Freude damals als etwas,<br />
was von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung für uns ist. Im<br />
Laufe <strong>der</strong> Arbeit an diesem Projekt nahm die #MeToo-<br />
Bewegung allmählich an Fahrt auf; als mein Entschluss<br />
zu dieser Arbeit fiel, gab es sie noch gar nicht. Die Relationen<br />
zwischen Sexualität und politischen Begebenheiten<br />
in unserer Gesellschaft, Machtstrukturen und<br />
auch Machtmissbrauch offenbarten sich deutlich. Ich<br />
arbeitete damals an zwei Projekten. 21 pornographies<br />
betrachtet die Fragestellungen um Macht und Missbrauch<br />
und die Art und Weise, wie bereits bestehende<br />
Strukturen unser Empfinden von Intimität und Sexualität<br />
dominieren. Zur selben Zeit nahm ich die Arbeit an<br />
to come (extended) auf, das einen eher spielerischen<br />
Ansatz verfolgt und zum Imaginieren von Formen <strong>der</strong><br />
Sexualität einlädt, die in <strong>der</strong> realen Welt möglicherweise<br />
noch nicht existieren. Das letzte Segment dieses<br />
Stücks widmet sich dem Gesellschaftstanz Lindy Hop,<br />
<strong>der</strong> in den 1930er-Jahren in den Schwarzen-Communitys<br />
<strong>der</strong> USA entstand und im Laufe <strong>der</strong> Zeit von<br />
vielen unterschiedlichen Menschen über Kontinente<br />
hinweg getanzt wurde. Es handelt sich um einen energiegeladenen<br />
Tanzstil, bei dem viel gesprungen wird.<br />
Es versetzt den Körper <strong>der</strong> Tanzenden also in einen<br />
fröhlichen Zustand. Ich empfinde Freude als eine Form<br />
des Wi<strong>der</strong>stands gegen die allgemeine Unterdrückung<br />
des Körpers sowie <strong>der</strong> Freude und <strong>der</strong> Lust. Und ich<br />
empfinde sie als eine Art feministische Strategie, sich<br />
nicht in die Opferrolle zu begeben, neuartige Ansätze<br />
zuzulassen, die Dinge an<strong>der</strong>s anzugehen und sich<br />
(zumindest vorübergehend) aus gewissen repressiven<br />
Gesellschaftsstrukturen zu lösen.<br />
MS: Sexualität ist von so vielen Problemen umgeben, dass<br />
ein Fokus auf Freude und Empowerment keineswegs einfach<br />
ist. Es bedarf meiner Meinung nach einer Offenheit,<br />
die nur in einem geschützten Rahmen möglich ist. Im ersten<br />
Teil von to come (extended) tragen die 15 Tänzer:innen<br />
blaue Ganzkörperanzüge. Das erinnerte mich daran, dass<br />
die ehrlichen Unterhaltungen, die ich im Vorfeld von Intime<br />
Revolution führen durfte, nur möglich waren, weil alle Gesprächsteilnehmenden<br />
die Gewissheit hatten, dass ihre<br />
Berichterstattungen vollständig anonym bleiben würden.<br />
MI: Wenn man innerhalb einer großen Gruppe mit sexuellem<br />
Material arbeitet, muss man sehr offen eingestellt<br />
und dem Gegenüber zugewandt sein; gleichzeitig<br />
muss ein klarer Rahmen abgesteckt werden, wie man<br />
verfahren möchte. Wir haben intensiv über die Gestaltung<br />
eines geschützten Arbeitsumfelds gesprochen.<br />
Natürlich kommt man sich bei Themen wie Intimität<br />
und Sexualität sehr nah. Obwohl wir also blaue Ganzkörperanzüge<br />
tragen und unsere Körper vollständig<br />
von Stoff bedeckt sind, gibt es doch ausgesprochen<br />
intime Situationen, in denen sich alle wohlfühlen müssen.<br />
Wir haben versucht, einen fantasievollen Ansatz<br />
zu verfolgen, bei dem jede:r jede Position einnehmen<br />
und sich somit von dem eigenen Geschlecht befreien<br />
kann. Durch den blauen Anzug entsteht tatsächlich<br />
eine gewisse Anonymität, die sehr befreiend wirkt. Man<br />
muss sich keine Gedanken darüber machen, wen man<br />
berührt o<strong>der</strong> von wem man berührt wird. Darüber hinaus<br />
entsteht eine Nähe, die man im nackten Zustand<br />
eventuell als unangenehm empfinden würde. Die blauen<br />
Anzüge ermöglichen zudem einen skulpturalen<br />
Ausdruck körperlicher Verbindungen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
normalerweise nicht so leicht umzusetzen<br />
ist. Unser Projekt über die Freude fußt auf sexuellem<br />
Material und dem spielerischen Umgang damit, <strong>der</strong> es<br />
den Körpern erlaubt, jedwede Position einzunehmen,<br />
ohne dass man sich dabei als Mann o<strong>der</strong> als Frau begreifen<br />
müsste – als männlich, weiblich, nichtbinär<br />
o<strong>der</strong> als was auch immer man sich im realen Leben<br />
identifizieren würde. Innerhalb des Projekts kann man<br />
damit spielen und sich nach den eigenen Wünschen<br />
neu erfinden. Und ich denke, das war ein tolles Erlebnis<br />
für die Gruppe.<br />
MS: Der mittlere Teil macht auch Spaß. Die Performer:innen<br />
stehen nackt beieinan<strong>der</strong> und stöhnen gemeinsam –<br />
doch es ist nicht ihr individuelles Stöhnen, son<strong>der</strong>n sie<br />
imitieren die über Kopfhörer vermittelten Geräusche eines<br />
nahenden Orgasmus.<br />
MI: Ja, wir nennen das den »Orgasmus-Chor«, es ist<br />
eine Art multipler Orgasmus, <strong>der</strong> über vier o<strong>der</strong> fünf<br />
Minuten lang andauert. Darüber haben wir herausgefunden,<br />
dass Orgasmen sich in unterschiedlichen Län<strong>der</strong>n<br />
an<strong>der</strong>s anhören. Im Westen gibt es eine ähnliche<br />
197
Tendenz <strong>der</strong> Orgasmus-Geräusche, aber es scheint<br />
Unterschiede zu geben, wie einzelne Kulturen sexuelles<br />
Vergnügen ausdrücken. Das knüpft an die Frage<br />
an, inwiefern unser sexueller Ausdruck etwas ist, das<br />
kulturell vermittelt wird. Und inwiefern <strong>der</strong> Einfluss<br />
durch heutzutage leicht zugängliche Filme o<strong>der</strong> pornografische<br />
Inhalte eine Rolle spielen.<br />
MS: Ja, Pornografisches findet sich allerorts, aber durch<br />
das nochmalige Sehen von to come (extended) wurde mir<br />
bewusst, dass es einen eklatanten Mangel an Diversität in<br />
den visuellen Ausdrucksformen sexueller Akte gibt.<br />
MI: Ja, Hollywood-Sexszenen sind zu alltäglichen Eindrücken<br />
geworden, und wir haben es alle gesehen – in<br />
beinahe jedem Film gibt es eine Szene, bei <strong>der</strong> man<br />
sich denkt: »Okay, das gab es schon mal«, und es sieht<br />
immer gleich aus. Ganz am Anfang habe ich mich damit<br />
beschäftigt, wie sexuelle Bil<strong>der</strong> innerhalb kapitalistischer<br />
und kommerzieller Wirtschaften eingesetzt<br />
werden; wie sexuelle Bil<strong>der</strong> unsere visuelle Kultur überschwemmen<br />
und wie sich das auf die Art und Weise<br />
auswirkt, wie wir im realen Leben Sex haben. Es gibt<br />
nämlich definitiv eine Verbindung zwischen sexuellen<br />
Bil<strong>der</strong>n, die wir abrufen können, und dem, was sich<br />
tatsächlich in unseren Schlafzimmern abspielt. Für<br />
mich war to come (extended) also auch ein Stück über<br />
den Einfluss, den diese Mechanismen des Begehrens<br />
und <strong>der</strong> Emotion auf uns ausüben. Wie viel meines<br />
sexuellen Handelns kommt wirklich von mir? Wie viel<br />
ist erlernt, und wie viel steht unter dem Einfluss <strong>der</strong><br />
zirkulierenden Bil<strong>der</strong>, auf die wir alle Zugriff haben?<br />
Außerdem behandelt das Stück die Frage, wie man mit<br />
diesen kollektiven Bil<strong>der</strong>n umgeht, sie lenkt und wie<br />
man an<strong>der</strong>e Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Ideen entwerfen könnte, wie<br />
man es eben auch machen könnte o<strong>der</strong> wie es auch<br />
aussehen könnte.<br />
ICH EMPFINDE FREUDE<br />
ALS EINE FORM DES<br />
WIDERSTANDS GEGEN<br />
DIE ALLGEMEINE<br />
UNTERDRÜCKUNG DES<br />
KÖRPERS SOWIE DER<br />
FREUDE UND DER LUST<br />
MS: Es gibt tatsächlich viele Analogien zwischen unseren<br />
beiden Werken, und ich freue mich sehr, dass das Publikum<br />
<strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> beide erleben wird – obwohl Intime<br />
Revolution sich nicht um den visuellen Aspekt dreht, son<strong>der</strong>n<br />
um Wörter, den Mangel an Sprachlichkeit im Bereich<br />
<strong>der</strong> Sexualität und den Versuch, diesen mithilfe von persönlichen<br />
Geschichten zu überwinden.<br />
MI: Wenn man sich Geschichten anhört, auf die man<br />
vielleicht nicht ganz so einfach zugreifen kann, erweitert<br />
das durchaus den Wortbestand. Denn über Sexualität<br />
zu sprechen, fällt noch immer eher schwer;<br />
selbst in kommunikativen und intakten Paarbeziehungen.<br />
Und es ist interessant, dass Wörter Wörter hervorrufen<br />
können und auch das Vernehmen von Wörtern<br />
den eigenen Wortbestand bereichert. Genau das<br />
war meine Erfahrung bei zwei meiner an<strong>der</strong>en Performances,<br />
bei denen es ebenfalls um Sexualität geht. Ich<br />
wurde danach oft von Leuten angesprochen, die mir<br />
sehr intime Einblicke gaben. Mir sind also schon einige<br />
Geschichten zu Ohren gekommen. Wenn ich auf <strong>der</strong><br />
Bühne über Sexualität spreche, dann sind das nicht<br />
zwangsläufig persönliche Erfahrungen, son<strong>der</strong>n es<br />
sind eher Geschichten. Aber allein dadurch, dass wir<br />
einen Raum geschaffen haben, um über diese Thematiken<br />
zu sprechen und sie zu versprachlichen, konnten<br />
sich entsprechende Möglichkeitsräume entfalten.<br />
MS: Durch das Schaffen eines öffentlichen Raumes unterstreichst<br />
du die Idee, dass sexuelle Praktiken nicht nur<br />
etwas Intimes und Privates sind.<br />
MI: Normalerweise ordnen wir Sexualität <strong>der</strong> privaten<br />
Sphäre zu, aber durch #MeToo ist uns bewusst geworden,<br />
dass Sexualität darüber hinaus einen großen<br />
Einfluss auf den öffentlichen Bereich ausübt und auch<br />
darauf, wie dieser organisiert wird. Machtstrukturen offenbaren<br />
sich auf sämtlichen politischen Ebenen; ob<br />
es um Krieg geht o<strong>der</strong> darum, wer das Land regiert und<br />
wie viele Frauen einen Platz im Parlament bekommen.<br />
Wirft man einen Blick auf gleichen Lohn für gleiche<br />
Arbeit o<strong>der</strong> darauf, wie viele Frauen in <strong>der</strong> Unternehmungsleitung<br />
tätig sind, dann ist doch deutlich zu erkennen,<br />
dass noch immer Männer an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />
einflussreichsten Unternehmen und Institutionen stehen.<br />
Und dieses Ungleichgewicht ist natürlich problematisch.<br />
Ich habe die Theorie, dass unser Umgang mit<br />
Sexualität innerhalb des intimen Kontextes sich stark<br />
auf Machtgefüge im öffentlichen Raum auswirkt. Die<br />
Mikro- und Makrostrukturen sind meiner Ansicht nach<br />
ausgeprägt miteinan<strong>der</strong> verwoben. Und man kann<br />
durchaus etwas lernen, wenn man sich die intimsten<br />
Strukturen auf dem Feld <strong>der</strong> Sexualität und <strong>der</strong> Emotionen<br />
ansieht. In to come (extended) behandeln wir<br />
Aktivitäten, die man üblicherweise Paaren zuschreiben<br />
würde, und wir übertragen sie auf große Gruppen.<br />
Wenn also <strong>der</strong> sexuelle Akt, <strong>der</strong> normalerweise von<br />
zwei Menschen ausgeübt wird, im Gruppenkontext<br />
umgesetzt wird, dann entsteht daraus eine Orgie. Und<br />
was bedeutet das eigentlich? Darin liegt für mich auch<br />
eine Art Kritik in Bezug auf die Strukturen, die unsere<br />
gesellschaftliche Wahrnehmung von sexuellem Vergnügen<br />
dominieren. Doch die Kritik gilt darüber hinaus<br />
auch mitunter repressiven Familienstrukturen. Wird<br />
eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Gleichberechtigung geschaffen<br />
o<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Flexibilität in Bezug auf<br />
Machtverschiebungen im intimen Raum, dann könnte<br />
sich meiner Meinung nach ein Effekt auf die Funktionsweise<br />
von Makrostrukturen einstellen.<br />
198
MS: Ich teile diese Ansichten. In einem unserer Interviews<br />
fiel <strong>der</strong> Satz: »Vielleicht begründet sich die Tragödie unserer<br />
Gesellschaft darin, dass die meisten Menschen nicht den<br />
Sex bekommen, den sie sich wünschen.« Ich denke, die Welt<br />
sähe völlig an<strong>der</strong>s aus, wenn sich das än<strong>der</strong>n würde.<br />
MI: Ja, mit Sicherheit.<br />
WIE VIEL MEINES<br />
SEXUELLEN HANDELNS<br />
KOMMT WIRKLICH<br />
VON MIR? WIE VIEL<br />
IST ERLERNT, UND WIE<br />
VIEL STEHT UNTER<br />
DEM EINFLUSS DER<br />
ZIRKULIERENDEN<br />
BILDER, AUF DIE WIR<br />
ALLE ZUGRIFF HABEN?<br />
MS: Als du vor fünf Jahren to come (extended) erarbeitet<br />
hast, war eine Pandemie bloss ein fiktives Horrorszenario<br />
und jetzt, wo wir zusammen sprechen, am 7. März <strong>2022</strong>,<br />
scheint sich diese endlich einem Ende zuzuneigen, aber<br />
die Welt sieht in Europa gerade sehr düster aus.<br />
MI: Ja, Corona wird plötzlich nebensächlich, was angesichts<br />
<strong>der</strong> aktuellen Geschehnisse auch natürlich<br />
ist, und man kann sich nur eingeschränkt darüber<br />
freuen, dass sich das Ende einer Periode einstellt, die<br />
uns lange Zeit beschäftigt hat, da die eine Krise von<br />
<strong>der</strong> nächsten abgelöst wird. In diesen Tagen gestaltet<br />
sich das Spüren <strong>der</strong> Freude, über die wir gesprochen<br />
haben, durchaus als komplexes Unterfangen; aber als<br />
ich überlegt habe, welche <strong>der</strong> älteren Gruppen-Performances<br />
ich gern noch einmal aufgreifen würde, erschien<br />
mir to come (extended) am sinnvollsten. Das<br />
Projekt weist Parallelen auf zu <strong>der</strong> Situation, in <strong>der</strong> wir<br />
uns während <strong>der</strong> letzten zwei Jahre befunden haben.<br />
Es gab keine Zusammenkünfte und keinen körperlichen<br />
Kontakt, und gegenseitiges Berühren und sogar<br />
die bloße Nähe zu an<strong>der</strong>en Menschen sind zu einer<br />
Gefahr geworden. Mein Gefühl sagt mir, dass es außerordentlich<br />
wichtig ist, wie<strong>der</strong> Freude zu empfinden<br />
und sich darüber zu freuen, wie<strong>der</strong> zusammen zu sein.<br />
Und in to come (extended) geht es genau darum; die<br />
Performance besteht aus Gruppenchoreografien und<br />
Gruppendynamiken und beschreibt, was sich nicht allein,<br />
son<strong>der</strong>n nur als Gruppe erreichen lässt. Es gibt<br />
nicht ein einziges Solo in <strong>der</strong> gesamten Performance,<br />
son<strong>der</strong>n ausschließlich kollektive Bewegungen innerhalb<br />
von Gruppenkonstellationen. Gewissermaßen<br />
lässt sich das als Statement gegenüber unserer aktuellen<br />
Situation auffassen, in <strong>der</strong> wir uns überlegen, wie<br />
wir unser Sozialleben wie<strong>der</strong> mit neuer Energie aufladen<br />
können. Ich denke nämlich, dass es genau das ist,<br />
was wir uns alle wünschen – zumindest wünsche ich<br />
es mir. Und es gibt vermutlich eine Menge Leute, die<br />
sich einen spielerischen sozialen Kontext wünschen,<br />
<strong>der</strong> ein Zusammenkommen erlaubt, weil wir darauf<br />
über einen langen Zeitraum hinweg verzichten mussten.<br />
Endlich scheint das wie<strong>der</strong> möglich zu sein, und<br />
wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, an<br />
dem wir ausarbeiten können, wie wir ein Zusammensein<br />
gestalten möchten.<br />
In to come (extended) hat sich METTE INGVARTSEN choreografisch mit <strong>der</strong> Sexualität in ihrer<br />
sozialen und politischen Sphäre beschäftigt. Auch MATS STAUB setzt sich im Rahmen seiner<br />
Arbeit Intime Revolution mit den sprachlichen Facetten von Sexualität auseinan<strong>der</strong>.<br />
Gemeinsam sprechen sie über Vergnügen, Machtstrukturen und den kulturellen Einfluss<br />
auf Orgasmen.<br />
Foto: Bea Borgers (Mette Ingvatsen)<br />
199
GESPRÄCHE<br />
MIT PIONIER:INNEN<br />
VON ANNA PAPST<br />
INTIME REVOLUTION<br />
Anna Papst & Mats Staub<br />
AudioVinothek / Uraufführung<br />
ab 12. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 16 _______________ www.ruhr3.com/staub<br />
200
»Wofür schämst du dich heute nicht mehr?«<br />
»Für mich.«<br />
Diese Antwort am Schluss eines langen Gespräches über<br />
Sex leuchtet mir sofort ein und verblüfft mich doch. In <strong>der</strong><br />
vergangenen Stunde hat mir Marco* seine Geschichte erzählt,<br />
die von Schikane, Einsamkeit und rohem Sex handelt.<br />
Wir haben darüber gesprochen, warum er innerhalb<br />
einer Beziehung selten bis nie Sex hatte und mit Fremden<br />
oft. Davon, wie er im Kino gemerkt hat, dass er schwul ist,<br />
und wie er panische Angst davor hatte, seine männlichen<br />
Heterofreunde zu verlieren.<br />
WENN MAN<br />
BEDENKT, DASS DIE<br />
MEISTEN MENSCHEN<br />
REGELMÄSSIG SEX<br />
HABEN, DANN IST<br />
DIE TATSACHE, DASS<br />
DAS SPRECHEN<br />
DARÜBER DENNOCH SO<br />
SELTEN STATTFINDET,<br />
EIGENTLICH<br />
UNBEGREIFLICH.<br />
Marco ist einer Einladung auf einen »Open Call« gefolgt,<br />
den Mats Staub und ich gestreut haben. Seit mehr als einem<br />
Jahr treffen wir immer wie<strong>der</strong> Menschen, um mit ihnen<br />
über Sex zu sprechen, genauer, um mit ihnen darüber<br />
zu sprechen, wann und wie sie im Lauf ihres Lebens Sex<br />
neu gelernt, entlernt, umgelernt haben. Zu Beginn hatten<br />
wir kaum mehr in den Händen als die Feststellung, dass<br />
Sex zwar medial omnipräsent ist, aber ehrliche Gespräche<br />
darüber, was Sex uns gibt und was wir von Sex erwarten,<br />
spärlich gesät sind. Selbst den Menschen, die auf uns zukamen,<br />
die also bereit waren, über Sex zu sprechen, fehlten<br />
im Lauf des Gesprächs oft die Worte, um zu beschreiben,<br />
was in ihnen vorgeht, wenn sie Sex haben. Mit jedem<br />
Gespräch trat deutlicher zutage, dass wir nie »nur« über<br />
Sex sprechen, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Angst, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Freiheit, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Vertrauen, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Rausch, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Identität, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Schmerz, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Zugehörigkeit, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Die Menschen, die mit uns sprechen, lassen sich nicht in<br />
eine Kategorie einordnen. Sie sind zwischen zwanzig und<br />
siebzig, haben eine Behin<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> haben keine Behin<strong>der</strong>ung,<br />
sind queer, hetero, bi, lesbisch, schwul, trans,<br />
fühlen sich unterschiedlichen Geschlechtern o<strong>der</strong> keinem<br />
zugehörig. Sie leben auf dem Land o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Stadt, sind<br />
Akademikerinnen, Sozialhilfeempfänger o<strong>der</strong> Angestellte.<br />
Was sie aber alle gemeinsam haben, ist, dass sie eine<br />
eigene intime Revolution erlebt haben und, dass sie bereit<br />
waren, ihre Geschichte mit uns zu teilen.<br />
Marco: »Ich habe viel Sex gehabt. Trotzdem weiß ich<br />
nicht, worauf ich eigentlich stehe. Ich habe immer gemacht,<br />
was <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wollte, weil ich für ihn interessant<br />
sein wollte. Ich will lernen, was mir selbst gefällt.<br />
Und dafür einstehen.«<br />
Mit unserem Langzeitprojekt Intime Revolution schaffen<br />
wir einen geschützten Raum, in dem unsere Gesprächspartner:innen<br />
eine Sprache suchen und erproben können,<br />
um die beflügelnden und die schmerzhaften Ereignisse<br />
ihrer sexuellen Biografie zu beschreiben. Sie tasten die<br />
Worte auf ihre Beschaffenheit ab, zögern, setzen nochmals<br />
an, suchen weiter. Damit leisten sie Pionier:innenarbeit<br />
für alle, die ihre Geschichte zu hören bekommen werden:<br />
Sie erweitern die bestehende, sehr dürftige Sprache,<br />
die uns zur Beschreibung von Sex zur Verfügung steht,<br />
um ihre eigenen Ausdrücke und Metaphern. Wenn man<br />
bedenkt, dass die meisten Menschen regelmäßig Sex haben,<br />
dann ist die Tatsache, dass das Sprechen darüber<br />
dennoch so selten stattfindet, eigentlich unbegreiflich.<br />
Eine Gesprächspartnerin hat den Vergleich zum Trinken<br />
eines guten Weins gezogen. Dafür, wie Wein schmecke,<br />
gebe es mindestens dreitausend Adjektive und Bil<strong>der</strong>,<br />
während einem auf die Frage, wie sich Sex anfühlt, oft<br />
nur die Worte »gut« o<strong>der</strong> »geil« einfielen. Diese sprachliche<br />
Armut und <strong>der</strong> Mangel an Kommunikation stehen<br />
auch dem Erreichen einer erfüllenden Sexualität im Weg.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihr Leben lang nie gefragt,<br />
ob Ihnen das Essen schmeckt, das man Ihnen vorsetzt. Es<br />
würde stillschweigend angenommen, dass es wohl gut sei<br />
o<strong>der</strong>, dass Sie es, wenn es Ihnen nicht schmecken sollte,<br />
irgendwie runterwürgen und sich an<strong>der</strong>en Dingen im Leben<br />
zuwenden würden. Und käme endlich <strong>der</strong> Tag, an dem<br />
jemand Sie fragt, ob Ihnen das Essen schmeckt, könnten<br />
Sie zwar vielleicht mit »Nein« antworten, aber nicht weiter<br />
beschreiben, was Sie gerne hätten. An <strong>der</strong> Sprache<br />
wird deutlich, dass es für Wein offensichtlich eine Wertschätzung<br />
und einen Willen zur Präzision gibt, während<br />
man Sex sprachlich <strong>der</strong> Vulgär- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Medizinalsprache<br />
überlässt. Und wem von uns wurde eine schamfreie,<br />
ermutigende Aufklärung zuteil? Während Familienrezepte<br />
für Weihnachtskekse traditionell weitergegeben werden,<br />
scheinen Rezepte für eine genussvolle Sexualität nicht<br />
vererbt zu werden. Dabei hat unser Verhältnis zu Sex viel<br />
mit sozialer Prägung zu tun.<br />
In <strong>der</strong> Sexualität eines Menschen werden die eigenen Bedürfnisse<br />
und <strong>der</strong> Umgang damit überdeutlich sichtbar.<br />
Gespräche über Sex gehen aber über die eigene Bedürftigkeit<br />
hinaus. Es geht immer auch um die strukturellen<br />
*Name geän<strong>der</strong>t.<br />
201
Verhältnisse, in denen die Person lebt: Warum habe ich<br />
geglaubt, Sex gehöre zu meinen ehelichen Pflichten? Warum<br />
glaube ich, kein »echter« Mann mehr zu sein, wenn ich<br />
keine Erektion bekommen kann? Warum können wir uns<br />
nicht zu dritt als Lebenspartner:innen eintragen lassen?<br />
Wir sprechen über Politik, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Machtverhältnisse, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Glaubenssätze, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über mediale Darstellungen, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über Religion, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Wir sprechen über das Verlangen nach einer Revolution, wenn wir über Sex sprechen.<br />
Mit Intime Revolution möchten Mats Staub und ich ein<br />
kollektives Erlebnis ermöglichen und doch einen Rahmen<br />
bieten, <strong>der</strong> den Besucher:innen genügend Privatheit bieten<br />
kann. Wir verzichten auf jegliche Bil<strong>der</strong> und konzentrieren<br />
uns ganz auf das Zuhören – alle Erzählungen werden<br />
über Kopfhörer zu hören sein, aber niemand ist beim<br />
Hören allein. Inspiriert vom Vergleich zwischen Wein und<br />
Sex, haben wir uns für die Weinbar als Präsentationsort<br />
entschieden. Die Sitzordnung an Tischen, an denen die<br />
Zuhörer:innen entwe<strong>der</strong> allein o<strong>der</strong> mit ihrer Begleitung<br />
Platz nehmen, schafft eine private Situation innerhalb<br />
eines Raumes voller frem<strong>der</strong> Menschen. Uns gefällt auch<br />
die Haltung, die mit dem Besuch einer Vinothek einhergeht.<br />
Ein Lokal aufzusuchen, um ein Glas Wein zu genießen,<br />
ist nichts Luxuriöses, aber dennoch etwas Beson<strong>der</strong>es,<br />
das man sich gönnt. Diese Vorfreude und das Gefühl,<br />
sich damit etwas Gutes zu tun, wünschen wir auch den<br />
Besucher:innen unserer Audio-Vinothek. Und dass sie<br />
beim Hören <strong>der</strong> biografischen Erzählungen zu eigenen intimen<br />
Revolutionen angestiftet werden.<br />
Zum Beispiel von Marco: »Ich habe jetzt seit Ewigkeiten<br />
zum ersten Mal wie<strong>der</strong> jemanden kennengelernt,<br />
<strong>der</strong> mir gefällt. Ich habe ihn durch mein politisches Engagement<br />
für die ›Ehe für alle‹-Initiative getroffen. Es<br />
ist ganz frisch, wir sind seit drei Wochen zusammen.<br />
Sex hatten wir bisher noch keinen.«<br />
ANNA PAPST, wuchs im Zürcher Oberland auf und arbeitet als Regisseurin, Autorin und<br />
Drama turgin. Seit dem Abschluss ihres Regiestudiums an <strong>der</strong> ZhdK arbeitet sie an diversen<br />
Theaterhäusern <strong>der</strong> Freien Szene und Stadttheatern. Neben Stücken für Erwachsene<br />
inszeniert sie regelmässig für ein junges Publikum und arbeitet kollaborativ mit Künstler:innen<br />
aller Disziplinen zusammen. Intime Revolution ist das erste kollektives Langzeitprojekt<br />
mit Mats Staub.<br />
Foto: Sabrina Weniger (Anna Papst)<br />
202
»IST ES NICHT EIN BISSCHEN<br />
ABGEFUCKT, JETZT EIN MANN<br />
WERDEN ZU WOLLEN?«<br />
—<br />
»IST ES NICHT REVOLUTIONÄR?«<br />
COCK COCK ... WHO’S THERE?<br />
Samira Elagoz<br />
Performance / Film<br />
am 26. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 42 _______________ www.ruhr3.com/elagoz1<br />
SEEK BROMANCE<br />
Samira Elagoz<br />
Performance / Film / Deutsche Erstaufführung<br />
ab 27. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 44 _______________ www.ruhr3.com/elagoz2<br />
203
Anlässlich <strong>der</strong> deutschen Erstaufführung von Seek Bromance<br />
spricht die Dramaturgin Sara Abbasi mit dem<br />
Film- und Performancekünstler Samira Elagoz über Gen<strong>der</strong>-Identität,<br />
Männlichkeitsbil<strong>der</strong> und die Frage, wie es<br />
sich anfühlt, als transmaskuliner Künstler auf die eigene<br />
Femme-Vergangenheit zurückzublicken und dieser auf <strong>der</strong><br />
Bühne wie<strong>der</strong>zubegegnen.<br />
Sara Abbasi: Im September wirst du nach eineinhalb Jahren<br />
Pause deine Performance Cock, Cock... Who’s There?<br />
wie<strong>der</strong> auf die Bühne bringen. Als diese Arbeit im Jahr<br />
2016 entstand, identifiziertest du dich als Frau, heute<br />
identifizierst dich als transmaskulin – was in deiner neuen<br />
Arbeit Seek Bromance thematisiert wird. Du wirst beide<br />
Arbeiten an aufeinan<strong>der</strong>folgenden Abenden zeigen. Was<br />
verbindest du mit dem Gedanken an die Wie<strong>der</strong>begegnung<br />
mit deiner Vergangenheit?<br />
Samira Elagoz: Cock, Cock... Who’s There? ist eine Ode<br />
an das Frausein – ich feiere es. Die Performance steht für<br />
die Tatsache, dass ich an meiner Zeit als Frau nichts hätte<br />
än<strong>der</strong>n wollen. Viele Leute denken, ich hätte mich für<br />
die Transition entschieden, weil ich als Frau nicht glücklich<br />
gewesen wäre, aber das stimmt nicht. Ich hatte eine<br />
lange, komplexe und hingebungsvolle Beziehung zum<br />
Frausein. Ich habe es umfassend erkundet, aber es entspricht<br />
nicht mehr dem, was ich heute bin. Und in diesem<br />
Sinne ist Cock, Cock... Who’s There? ein Abgesang auf<br />
mein Leben als Frau, das ich aber sehr hochhalte.<br />
In mir wächst jedoch eine Logik, die in Frage stellt, ob<br />
ich es jemals wirklich war; die anerkennt, dass ich bloß<br />
damit beschäftigt war, die Rolle gut zu spielen, sie zu<br />
beherrschen. In dieser Logik sehe ich mein Frausein als<br />
Erfahrung, aber nicht als Identität. Und wenn ich die<br />
Künstlichkeit dessen abstreife, fühlt es sich beinahe an<br />
wie ein System, das darauf programmiert war, Weiblichkeit<br />
zu performen. Mein Frausein fand in diesen Parametern<br />
statt, in den Grenzen und mit den Requisiten,<br />
sodass meinem Verhalten etwas Reaktionäres o<strong>der</strong> gar<br />
Lebloses inhärierte. Als eine Rolle, die ich nicht wirklich<br />
angenommen, son<strong>der</strong>n vielmehr aufgeklebt hatte. Und<br />
doch bleibt die Tatsache, dass meine Zeit als Frau geprägt<br />
hat, wer ich heute bin. Deshalb bleibt sie Teil meiner<br />
Biografie, auch wenn ich es nicht mehr sein möchte.<br />
Ich habe Cock, Cock... Who’s There? seit meiner Transition<br />
erst einmal aufgeführt und hatte dabei das starke<br />
Gefühl, zu zweit auf <strong>der</strong> Bühne zu sein. Und zum ersten<br />
Mal in vier Jahren auf Tour habe ich nach <strong>der</strong> Show<br />
geweint. Nicht aus Traurigkeit, son<strong>der</strong>n aus Bewun<strong>der</strong>ung<br />
für das, was ich getan habe, wer ich gewesen<br />
bin. Ich finde Cock, Cock... Who’s There? noch immer<br />
sehr gewaltig, geradezu historisch. Es zeugt von einer<br />
Heftigkeit, die kein männliches Wesen jemals haben<br />
kann – das kann nur eine Femme so machen. Und <strong>der</strong><br />
Optimismus, den ich in Cock, Cock... Who’s There? erkannte,<br />
dieser Wille, es trotzdem zu versuchen, und die<br />
Weigerung, aufzugeben, war ein Zeichen <strong>der</strong> Hoffnung.<br />
Ich war ziemlich stolz auf das Bild einer Femme, das ich<br />
geschaffen hatte.<br />
SA: In Seek Bromance wohnen wir dem Moment deiner ersten<br />
Testosteronspritze bei und bekommen den Eindruck,<br />
an etwas sehr Biografischem teilzuhaben. Natürlich ist<br />
diese Szene nicht <strong>der</strong> Beginn deiner Transition. Würdest<br />
du aus heutiger Perspektive sagen, dieser Prozess begann<br />
bereits während deiner Arbeit an Cock, Cock... Who’s<br />
There?? Wo siehst du – von heute aus betrachtet – die<br />
Verbindungslinien zwischen Cock, Cock... Who’s There?<br />
und Seek Bromance?<br />
SE: Der Prozess <strong>der</strong> Transition ist wie das Schneiden eines<br />
Films: Du weißt nicht unmittelbar, was du erschaffst.<br />
Erst in <strong>der</strong> Rückschau kannst du gewisse Muster und<br />
Gesetzmäßigkeiten eines Geschmacksurteils erkennen,<br />
kannst du sehen, was die einzelnen Schritte waren. Die<br />
Frage des »Warum« ist ein Luxus des Rückblicks und<br />
nicht die Vorbedingung <strong>der</strong> Entscheidung.<br />
Menschen basieren auf ihren Geschichten. Die Erzählung<br />
von jedem steinigen Weg lautet, dass er »mich zu<br />
dem Menschen gemacht hat, <strong>der</strong> ich heute bin«. Doch<br />
viele unserer Absichten sind wohl außerhalb unserer<br />
kleinen, fürsorglichen Zirkel nicht erkennbar. Wir erfinden<br />
Geschichten o<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Gesten, die den<br />
Begrenzungen dessen entschlüpfen, was uns mitgegeben<br />
wurde. Wir erfinden es auf dem Weg, werden zu<br />
Künstler:innen des Lebens selbst.<br />
DER PROZESS DER<br />
TRANSITION IST WIE<br />
DAS SCHNEIDEN EINES<br />
FILMS: DU WEISST<br />
NICHT UNMITTELBAR,<br />
WAS DU ERSCHAFFST.<br />
»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«,<br />
schreibt Simone de Beauvoir – und dieses Wesen wird<br />
von <strong>der</strong> »Gesamtheit <strong>der</strong> Zivilisation gestaltet«.1 Daraus<br />
folgere ich, dass Männer ebenso in Geschlechternormen<br />
gefangen und selbst Opfer des verdammten Strebens<br />
nach mythischen männlichen Gewissheiten sind.<br />
In letzter Zeit habe ich überlegt, ob ich jemals eine Ode<br />
an die Männlichkeit verfassen würde. Doch wo Cock,<br />
Cock... Who’s There? das Frausein feiert und darauf<br />
besteht, sich nicht dafür zu entschuldigen, wäre ein<br />
solcher Ansatz in Bezug auf Männlichkeit skrupellos<br />
und unverschämt, weil diese voller toxischer Fallen ist.<br />
Egal wie sehr du hoffst, ein besserer Mann zu sein, du<br />
wirst in einige dieser Fallen treten. Und obwohl Seek<br />
Bromance in Teilen erkundet, was für eine Art von<br />
Mann jede:r von uns sein möchte, erkennen wir am<br />
Ende, dass bereits dem Streben nach Männlichkeit<br />
das Scheitern innewohnt.<br />
Nicht nur weil »traditionelle« männliche Eigenschaften<br />
mit Aggression, Frauenfeindlichkeit usw. verknüpft<br />
sind o<strong>der</strong> weil es <strong>der</strong> Männlichkeit an guten Vorbil<strong>der</strong>n<br />
fehlt, son<strong>der</strong>n weil die Gesellschaft mir zeigt, dass<br />
204<br />
1 Simone de Beauvoir: Das an<strong>der</strong>e Geschlecht. Sitte und Sexus <strong>der</strong> Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265.
Männlichkeit ein unerfüllbares Ideal ist, eine Halluzination<br />
von Befehl und Kontrolle und eine Illusion von<br />
Beherrschung. Mir ist klar geworden, dass diese Erfahrung<br />
– die absurde, hin<strong>der</strong>liche Angst, dass Mensch<br />
nicht Mann genug, nicht Femme genug o<strong>der</strong> queer<br />
genug sei –, diese ungewisse Verletzbarkeit etwas ist,<br />
was alle Menschen gemeinsam haben. Und die Vorstellung<br />
von männlicher Macht wird für alle Männer<br />
flüchtig bleiben, egal ob ihnen das Mannsein bei <strong>der</strong><br />
Geburt zugewiesen wurde o<strong>der</strong> nicht.<br />
SA: In Seek Bromance verfolgen wir deine Beziehung zu<br />
deiner/deinem Filmpartner:in Cade, einer/einem brasilianischen<br />
Künstler:in, die/<strong>der</strong> sich zu Beginn <strong>der</strong> Dreharbeiten<br />
noch als transmaskulin und heute als nonbinär<br />
identifiziert – im Englischen wäre das Pronomen they/<br />
them, während du he/him bevorzugst, was auch Cade<br />
anfangs tat. Im Deutschen fehlt uns die Sprache, um<br />
das angemessen auszudrücken. Du fragst Cade an einer<br />
Stelle: »Wie erlebst du Männer?«. Wie würdest du diese<br />
Frage beantworten?<br />
SE: Ich bin skeptisch gegenüber <strong>der</strong> Idee von Charaktertypen.<br />
Aber im Mannsein gibt es definitiv einen<br />
selbstzerstörerischen Aspekt, eine scheinbar unlösbare<br />
Krise <strong>der</strong> Männlichkeit. Ich habe etwa zehn Jahre<br />
meines Lebens damit verbracht, immer wie<strong>der</strong> Männer<br />
zu filmen. Und es gibt einen weichen Ort für sie in<br />
meinem Herzen, hoffnungsvoll und amüsiert. Ich habe<br />
mich oft als Vertrauensperson von Männern erlebt.<br />
Denn wenn eine Frau etwas sehr Persönliches mit dir<br />
teilt, weißt du, dass sie es wahrscheinlich auch an<strong>der</strong>en<br />
Freund:innen erzählt hat. Wenn aber ein Mann dir<br />
etwas anvertraut, hört er sich oft zum ersten Mal dabei<br />
zu, solche Dinge auszusprechen. Das war mir immer<br />
sehr wertvoll, diese Zeug:innenschaft für Dinge, die<br />
zum ersten Mal ans Licht <strong>der</strong> Welt kommen. Es hat<br />
mich erkennen lassen, dass Männer we<strong>der</strong> den Raum<br />
noch die Sprache für diese Dinge haben.<br />
Als ich das erste Mal mit einer Freundin über meine<br />
Transition sprach, sagte sie: »Ist es nicht ein bisschen<br />
abgefuckt, jetzt ein Mann werden zu wollen?« – »Ist es<br />
nicht revolutionär?«, antwortete ich: »Denn du kannst<br />
<strong>der</strong> Mann werden, von dem du dir wünschst, dass es<br />
ihn gäbe.« Darauf sagte sie: »Ja, aber du willst doch<br />
dein Leben nicht als ein Beispiel leben. Widme deine<br />
Existenz nicht <strong>der</strong> Rolle als Vorbild.«<br />
Allerdings sehe ich mich mehr als transmaskulines<br />
Wesen denn als Mann. Und schon dieser Schritt Richtung<br />
Männlichkeit birgt eine Menge Verantwortung.<br />
Cis-Männer sind in <strong>der</strong> Regel keine guten Beispiele<br />
für Männlichkeit, sie erscheinen oft etwas hoffnungslos<br />
o<strong>der</strong> lächerlich – und unwillig, sich weiterzuentwickeln.<br />
Also spüre ich als transmaskuline Person eine<br />
Bürde, es besser zu machen, während ihre Krise noch<br />
auf eine Revolution wartet.<br />
Was ist denn im Jahr <strong>2022</strong> bitte eine glaubwürdige Art<br />
<strong>der</strong> Männlichkeit? Ich sehe Männer an einem Scheideweg;<br />
es gibt einfach keine guten Vorbil<strong>der</strong> für Männlichkeit.<br />
Dennoch glaube ich fast nichts mehr von dem,<br />
was ich mal über Männer dachte. Ich habe tatsächlich<br />
angefangen, sie besser zu verstehen, seit ich Testosteron<br />
nehme.<br />
Ich habe auch herausgefunden, dass Transmaskulinität<br />
nicht gegen toxische Männlichkeit immunisiert. Es<br />
ist tatsächlich leicht, wenn nicht gar verführerisch, diese<br />
Rolle anzunehmen – es fühlt sich beinahe wie eine<br />
Karikatur an, wenn du das tust. Ich sollte klarstellen:<br />
Nicht Testosteron lässt dich toxisch werden, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Druck, stereotype Männlichkeit zu performen.<br />
Um als Mann »durchzugehen«, ist <strong>der</strong> direkteste Weg<br />
das Performen klischeehafter Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Tropen, von<br />
denen die meisten pathetische, erbärmliche und peinliche<br />
Darstellungen falscher Dominanz sind.<br />
Im besten Fall kann Transmaskulinität ein Zukunftsentwurf<br />
von Männlichkeit sein. Und im schlechtesten ahmt<br />
sie <strong>der</strong>en Scheitern nach, wie<strong>der</strong>holt schädliche Muster<br />
in einem fehlgeleiteten Bedürfnis nach Legitimität.<br />
SA: Etwas, worüber wir noch nicht gesprochen haben und<br />
was mich sehr interessiert, ist <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Selbsterfindung,<br />
<strong>der</strong> körperlichen Modifikation durch technologische<br />
Möglichkeiten: Bioengineering. Cade spricht an einer Stelle<br />
von einem Spiel, sein eigener Avatar zu werden. Kannst<br />
du mehr dazu sagen?<br />
SE: Ich nähere mich dem Konzept <strong>der</strong> Selbstgestaltung<br />
gern wie dem Schreiben von Drehbüchern. Denn<br />
du hast die Kontrolle darüber, wie dein »authentisches«<br />
Selbst sein soll. Doch während ich überzeugt<br />
bin, dass Biologie kein Schicksal ist, können wir <strong>der</strong><br />
Tatsache nicht entfliehen, dass wir im Wesentlichen<br />
ein chemisches Gebräu sind. Unsere Körper, Gedanken<br />
und Persönlichkeiten sind diesem chemischen<br />
Verhältnis fast vollständig unterworfen, das wir aber<br />
beeinflussen können. Wenn du die Chemie verän<strong>der</strong>st,<br />
verän<strong>der</strong>st du auch die Person. Die Gesellschaft hat<br />
die Vorstellung von einem cleanen, von Substanzen<br />
unbeeinflussten Körper geschaffen, doch das ist eine<br />
Fiktion – die chemische Mischung ist immer aus dem<br />
Gleichgewicht, wir sind nie neutral. Deshalb habe ich<br />
nach dem ersten Jahr meine Dosis verringert, um herauszufinden,<br />
wie viel von <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung in Geist und<br />
Charakter mit <strong>der</strong> Substanz und wie viel mit meiner<br />
Umwelt und meinem neuen Platz darin zusammenhängt.<br />
Denn ein großer Teil des Transition-Prozesses<br />
ist von sozialer Natur. Wie viel kann sich tatsächlich<br />
verän<strong>der</strong>n, wenn du im Lockdown allein in Jogginghosen<br />
Hormone nimmst? An<strong>der</strong>e spiegeln uns – und<br />
die Art und Weise, wie an<strong>der</strong>e uns reflektieren, prägt<br />
unser Selbstgefühl viel stärker, als sich die meisten<br />
Menschen bewusst machen.<br />
Ein Begriff, mit dem ich viel anfangen kann ist »psychologisch<br />
androgyn«, <strong>der</strong> Ausdruck gefällt mir. Er löst das<br />
Konzept aus <strong>der</strong> physischen Welt des »Darstellens«<br />
o<strong>der</strong> des Scheins und überführt ihn in eine Metaebene<br />
des »Seins«. Ich glaube, <strong>der</strong> Begriff entspricht am genauesten<br />
meinem Blick auf mich selbst. O<strong>der</strong> »maßgeschnei<strong>der</strong>te<br />
Geschlechtsidentität« – das passt besser<br />
als Nonbinarität. Die schöpferische Macht liegt hier<br />
bei <strong>der</strong> Person selbst. Anstatt zu sagen: »Das ist eben,<br />
was ich bin«, sagst du »Das ist, wer ich sein möchte,<br />
wie ich mich gestalte«. Ich frage mich oft, ob <strong>der</strong><br />
Begriff »nichtbinär« irgendwann veraltet klingen wird.<br />
Denn wenn wir einmal anerkannt haben, dass es mehr<br />
als nur zwei Geschlechter gibt, bedeutet das, dass nie<br />
205
mand mehr in einer Zweigeschlechterlogik einzuordnen<br />
ist, son<strong>der</strong>n einfach eine <strong>der</strong> vielen verfügbaren<br />
Möglichkeiten wählt. Und es ist absolut angemessen,<br />
dir dein eigenes Label zu schaffen. Diese Erfahrungen<br />
könnten subjektiver nicht sein.<br />
Repräsentationssysteme in ihrem Zerfall zu beobachten,<br />
kann sehr befriedigend sein, denn es handelt sich<br />
in einem größeren Sinne um Wachstumsschmerzen<br />
gesellschaftlicher Dissonanzen. Viele Individuen werden<br />
sich gerade <strong>der</strong> Tatsache bewusst, dass sie mehr<br />
sein können, als das System erlaubt; dass unser Bewusstsein<br />
uns Entwicklungen ermöglicht, die weit über<br />
das hinausgehen, in welche Rolle wir hineingeboren<br />
wurden. Der Akt <strong>der</strong> Selbstzerstörung ist unerbittlich<br />
verknüpft mit <strong>der</strong> Vorstellung, etwas Neues zu werden.<br />
Es handelt sich um eine sehr universelle Metapher, die<br />
Idee, dass Menschen in einem kontinuierlichen Prozess<br />
aktiv daran wirken, ihr altes Selbst zu zerstören, um<br />
neue Verknüpfungen und Möglichkeiten zu schaffen.<br />
DICH SELBST ZU<br />
PERFORMEN, IST<br />
EINFACHER, ALS DU<br />
SELBST ZU SEIN<br />
Persönlich glaube ich, dass kein Mensch Hormone<br />
braucht, um trans zu sein. Aber es ist extrem interessant,<br />
als transmaskuline Person Testosteron zu nehmen,<br />
weil wir es mit einer an<strong>der</strong>en Erfahrung vergleichen<br />
können. In meiner Utopie wäre es sehr erhellend<br />
und würde viel Gutes hervorbringen, wenn alle Menschen<br />
mal das in ihrem Körper weniger vorherrschende<br />
Hormon ausprobieren würden.<br />
SA: So persönlich, intim und uninszeniert Seek Bromance<br />
auf den ersten Blick erscheint, natürlich handelt es sich<br />
um ein gemachtes Produkt, das von einem Künstler geschaffen<br />
wurde. Es gibt also auch einen brutalen, wohlkalkulierten,<br />
inszenierten und öffentlichen Aspekt, <strong>der</strong> von<br />
<strong>der</strong> dritten Protagonistin vertreten ist: <strong>der</strong> Kamera. Ist das<br />
eine dystopische Ebene? Die Verschränkung von Privatheit<br />
und Öffentlichkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Instagram-Einfluss auf unsere<br />
Erfahrung von Intimität?<br />
SE: Dich selbst zu performen, ist einfacher, als du<br />
selbst zu sein. Und während diese Unterscheidung ein<br />
schmaler Grat ist, insbeson<strong>der</strong>e in unserer Zeit, so besteht<br />
sie doch weiterhin. Die Kamera ermöglicht uns,<br />
weniger zu sein als die Summe unserer Teile. Wir können<br />
einen Winkel fokussieren, Überflüssiges herausschneiden,<br />
einen Moment erschaffen, <strong>der</strong> vom Ganzen<br />
getrennt und nicht davon verdorben ist. Seek Bromance<br />
ist ein perfektes Beispiel dafür. Trotz Frustrationen<br />
und Streit bot jede Szene, die wir produzierten, ein<br />
neues Moment, um etwas in unserer Beziehung besser<br />
hinzubekommen. Wie ich zuvor erwähnte, denke<br />
ich, dass ein enormer Teil unseres Selbstbildes durch<br />
die Spiegelungen entsteht, die wir in an<strong>der</strong>en sehen –<br />
und die Kamera stellt die hypothetischen an<strong>der</strong>en dar.<br />
Es klingt manipulativ, aber wir befinden uns ständig in<br />
Bearbeitung, in einer Art permanentem Filmschnitt. Es<br />
gibt den »Activist-Schnitt«, den »Sexy-Schnitt«, den<br />
»Ich-bin-glücklich-Schnitt«. Und während wir das mit<br />
an<strong>der</strong>en automatisch machen (indem wir sie spiegeln),<br />
ist es schwieriger, sich selbst zu editieren.<br />
Cade und ich haben uns schon vorher viel gefilmt und<br />
in einem gewissen Maß leben wir das Leben, als sei es<br />
ein Film. Ich neige dazu, uns als unsere eigene Fallstudie<br />
zu betrachten. Ein bisschen wie ein Gemälde, das<br />
sich selbst kommentiert.<br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> Zeit, die wir zusammen verbracht<br />
haben, denke ich bis heute, dass wir beide nicht mit<br />
Gewissheit sagen können, wie viel von unserer Begegnung<br />
echt und wie viel davon performt war. Ich glaube,<br />
wir zweifelten permanent aneinan<strong>der</strong>, mäßigten unsere<br />
Gefühle und Erwartungen, während wir zugleich<br />
den Einsatz erhöhten, um »ja« und »mehr davon« zu<br />
<strong>der</strong> improvisatorischen Qualität eines jeden Moments<br />
sagen zu können. Manchmal fühlte es sich so an, als<br />
seien wir Charaktere aus unterschiedlichen Filmen.<br />
Und beide versuchten, die an<strong>der</strong>e Figur in den eigenen<br />
Bildrahmen zu holen.<br />
SA: Virus und Ansteckung sind ebenfalls Themen in Seek<br />
Bromance. Nicht nur, weil du die letzten beiden Menschen<br />
in einer zur Wüste gewordenen, postapokalyptischen Welt<br />
eingefangen hast. Auch in <strong>der</strong> Beziehung zwischen Cade<br />
und dir scheint es eine Art infektiöses Liebesvirus zu geben<br />
o<strong>der</strong> einen ansteckenden Willen, zum Objekt <strong>der</strong> Begierde<br />
zu werden. Cade sagt an einer Stelle: »Die meisten<br />
Menschen wollen ficken, was sie begehren; ich will zu<br />
dem werden, was ich begehre.« Wie stark ist diese Form<br />
<strong>der</strong> Anverwandlung in Seek Bromance?<br />
SE: Das ist schwer zu sagen. Ich weiß, dass es Dinge<br />
gab, die wir wi<strong>der</strong>willig voneinan<strong>der</strong> übernahmen, und<br />
an<strong>der</strong>e Dinge, nach denen wir strebten, die wir aber<br />
nicht hinbekamen. Doch am Ende gab es, glaube ich,<br />
mehr Dinge, an denen wir abprallten, als solche, durch<br />
die wir uns verbinden konnten.<br />
Obwohl wir uns drei Monate so nah waren, beinahe<br />
24/7, konnten wir erst durch die Trennung ein wirkliches<br />
Verständnis füreinan<strong>der</strong> entwickeln. Nachdem<br />
ich zurückkam, musste ich mir erst wie<strong>der</strong> darüber klar<br />
werden, wer ich in Abwesenheit von Cade eigentlich<br />
bin. Es gab kein Zurück zu meinem Selbst vor Covid.<br />
Aber es ist hart, in <strong>der</strong> Isolation einer elend einsamen<br />
Quarantäne herauszufinden, wer du bist.<br />
Es geht in dem Werk viel um Isolation und Einsamkeit<br />
und den Verlust von Community. Doch es gibt viele<br />
Versionen von mir und Cade. Es gibt ein Gefühl, dass<br />
wir dem Ende <strong>der</strong> Welt nah waren. Als ob wir die letzten<br />
beiden Menschen auf einem Planeten gewesen wären,<br />
auf dem alles ausgelöscht wurde und die Bevölkerung<br />
aufgrund irgendeiner Seuche ausgestorben ist.<br />
Das hatte zur Folge, dass wir nicht von <strong>der</strong> Welt angesteckt<br />
werden konnten, son<strong>der</strong>n nur voneinan<strong>der</strong>. Die<br />
Wüste ist tatsächlich eine <strong>der</strong> Hauptfiguren in dieser<br />
Arbeit. Ein Freund, <strong>der</strong> den Schnittprozess mitbekam,<br />
erkannte in <strong>der</strong> Wüste beinahe eine Transallegorie: die<br />
Wüste als Ausgangspunkt <strong>der</strong> Vorstellungskraft.<br />
206
MEIN TRAUMHAUS HAT<br />
KEINE WÄNDE…<br />
ABER EINE HEIZUNG *<br />
SARAH NEMTSOV, HEINRICH HORWITZ<br />
UND HENRIETTE GUNKEL<br />
Komponistin Sarah Nemtsov und Regisseur:in Heinrich Horwitz im Gespräch über das<br />
Musiktheaterprojekt HAUS mit Henriette Gunkel, Professorin am Lehrstuhl Transformationen<br />
audiovisueller Medien unter <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Berücksichtigung von Gen<strong>der</strong> und<br />
Queer Theory (Ruhr-Universität Bochum), mo<strong>der</strong>iert von Dramaturgin Johanna Danhauser.<br />
HAUS<br />
Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />
Musiktheater / Szenische Uraufführung<br />
ab 31. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/haus<br />
207
Johanna Danhauser (JD): Der HAUS-Zyklus ist nicht aus<br />
einem Guss, son<strong>der</strong>n über Jahre hinweg entstanden.<br />
Sarah Nemtsov (SN): HAUS ist gewuchert. Es fing 2013<br />
mit Zimmer I–III für das Ensemble Adapter an, und immer,<br />
wenn ich dachte, jetzt ist es abgeschlossen, kamen<br />
neue Wendungen und Ebenen dazu. Mit <strong>der</strong> Einladung<br />
in die Turbinenhalle und <strong>der</strong> Inszenierung von<br />
Heinrich Horwitz haben sich neue Räume aufgetan.<br />
Dafür komponiere ich gerade die Stücke Halle, Keller,<br />
Flur und Luke. Auch die schon bestehenden Teile<br />
erhalten neue Bedeutungszusammenhänge, selbst<br />
wenn die Noten gleich bleiben. Das Werk transformiert<br />
sich durch die Personen, mit denen ich in unterschiedlichen<br />
Phasen daran gearbeitet habe und wird wahrscheinlich<br />
auch durch das Publikum nochmal ganz<br />
an<strong>der</strong>s aufgeladen werden.<br />
JD: Es ist wi<strong>der</strong>sprüchlich, eine ehemalige Industriehalle<br />
als HAUS zu bezeichnen, denn <strong>der</strong> Ort ist alles an<strong>der</strong>e als<br />
intim, häuslich o<strong>der</strong> privat. In Sarahs Komposition bleibt<br />
das HAUS ein abstraktes Gebilde. Wie löst du, Heinrich,<br />
diese Metapher in deinem Regiekonzept auf?<br />
Heinrich Horwitz (HH): In meinen Arbeiten suche ich<br />
einen queer-feministischen Ansatz. Das Haus wird<br />
im bürgerlichen Verständnis oft dem Konzept <strong>der</strong><br />
Kleinfamilie zugeordnet: Küche, Bad, Schlaf-, Wohnund<br />
Kin<strong>der</strong>zimmer. Das wollen wir aufbrechen. Im<br />
queeren Kontext gibt es an<strong>der</strong>e Visionen von Zuhausesein:<br />
Orte, an denen Begegnungen, Austausch,<br />
Care und ein feministischer Kampf stattfinden können.<br />
Doch diese Orte haben in den Pandemiejahren<br />
sehr gelitten.<br />
Die Geschichte gibt Beispiele von verlassenen Orten,<br />
die aus Mangel an Alternativen von queeren Communites<br />
mit neuer Vitalität besetzt wurden. Ich denke<br />
etwa an die Piers in New York, wo sich die Gay-PoC-<br />
Community zum Cruisen getroffen hat. Das Vakuum<br />
<strong>der</strong> Industriebrache weckt in mir ein Begehren, eine<br />
Begegnungsstätte o<strong>der</strong> ein Zuhause für marginalisierte<br />
Gruppen zu stiften. Im Rückgriff auf Virginia Woolfs Ein<br />
Zimmer für sich allein wollen wir auch auf das feministisch<br />
erkämpfte Recht verweisen, als Frau einen Ort<br />
zum Arbeiten zu haben.<br />
Indem Kunst und Kultur an diesen ehemaligen Produktionsstätten<br />
Einzug gehalten haben, finden darin ohnehin<br />
schon Transformationsprozesse statt. Der Raum<br />
mutiert immer wie<strong>der</strong> neu. Das ist eine Dynamik, die ich<br />
in <strong>der</strong> Inszenierung weitertreiben und auf eine queere<br />
Idee von Transformation und Cyberfeminismus übertragen<br />
will. Wir begreifen das Gebäude als Körper, den wir<br />
aufreißen, umstrukturieren und umbauen. In unserem<br />
Konzept steht HAUS für den Trans-Körper – wir reißen<br />
ihn auf, sortieren ihn neu, fügen Unbekanntes zusammen.<br />
In den Löchern, den Schnitten und Leerstellen<br />
können neue Räume imaginiert werden, neuen Körpern<br />
und ihren Welten Platz geschaffen werden.<br />
SN: In gewisser Weise ist <strong>der</strong> Zyklus auch musikalisch<br />
ein flui<strong>der</strong> Körper, <strong>der</strong> in verschiedenen Formen<br />
auftauchen, sich präsentieren und wie<strong>der</strong> neu zusammengesetzt<br />
werden kann.<br />
Henriette Gunkel (HG): Die Turbinenhalle befindet<br />
sich in einer Region im strukturellen Wandel. Ehemalige<br />
Industriegebäude künstlerisch zu besetzen o<strong>der</strong><br />
umzunutzen, ermöglicht die Öffnung, Aneignung und<br />
Überschreibung von Raum. Euer Konzept finde ich im<br />
Kontext des Ruhrgebiets interessant, weil es eben nicht<br />
darum geht, einen frischen Anstrich zu verpassen,<br />
um leichte Verschiebungen, son<strong>der</strong>n um grundlegende<br />
Transformationsprozesse. Die Frage, ob Reparatur<br />
überhaupt möglich ist, nachdem man machtvoll und<br />
zerstörerisch in die Natur o<strong>der</strong> eine Kultur eingegriffen<br />
hat, ist komplex und zeigt sich unter an<strong>der</strong>em in<br />
den hiesigen Renaturalisierungsansätzen. Sie wird aber<br />
auch in den Black Studies im Kontext <strong>der</strong> Sklaverei und<br />
im Postkolonialismus gestellt.<br />
Im Rückblick waren <strong>der</strong> Bergbau und die gigantische<br />
Stahlindustrie des Ruhrgebiets ein futuristisches Industrieprojekt,<br />
in dem auch eine Gewaltgeschichte steckt.<br />
Der Bochumer Verein hat von Zwangsarbeiter:innen<br />
profitiert, hinzu kommen migrantische Arbeitserfahrungen<br />
und Arbeitsunfälle. In <strong>der</strong> Turbinenhalle wurden<br />
vermehrt invalide Arbeiter eingesetzt, weil es dort Maschinen<br />
gab, die auch mit körperlichen Einschränkungen<br />
bedienbar waren.<br />
Deshalb steht das Abreißen und <strong>der</strong> damit intendierte<br />
Neuanfang für mich im Spannungsfeld mit <strong>der</strong> Frage,<br />
wie man mit den im Raum gespeicherten Erfahrungen<br />
umgeht. Wie lässt sich dieser untoten Zeugenschaft<br />
nachspüren und sie in die Zukunft mitnehmen?<br />
HH: Ich will das Publikum sinnlich aktivieren. Deshalb werden<br />
die Zuschauer:innen das HAUS in einem explorativen<br />
Teil zunächst eigenständig durchlaufen, entdecken und<br />
durchkreuzen können. Ich finde es wichtig, dass es zu einem<br />
Ort <strong>der</strong> Gemeinschaft wird, in dem Blick- und Bewegungsrichtung<br />
selbstständig entschieden werden können.<br />
HG: Das Prozesshafte scheint bei euch zentral zu sein,<br />
auch wenn es zumindest musikalisch nicht direkt um<br />
Improvisation geht.<br />
HH: Improvisation steckt für mich in je<strong>der</strong> Form <strong>der</strong><br />
künstlerischen Interpretation. Es geht ja nicht nur um<br />
die Erfüllung von dem, was da auf dem Notenpapier<br />
steht, son<strong>der</strong>n darum, etwas zum Leben zu erwecken.<br />
Das ist ein Gespräch o<strong>der</strong> ein Teilen von Wissen, eine<br />
feministische Geste des Beisammenseins.<br />
SN: Auch wenn ich eine feste Notation vorgebe, interessiert<br />
mich die Freiheit des Musizierens selbst: das,<br />
was durch die individuelle Interpretation entsteht. Es<br />
bereichert mich zu erleben, wie unterschiedlich Solist:innen<br />
o<strong>der</strong> Ensembles meine Werke spielen, wie<br />
an<strong>der</strong>s die Energie eines Stücks sein kann, ohne dass<br />
etwas richtig o<strong>der</strong> falsch wäre.<br />
208
JD: In einigen Werken provozierst du die Verschiebung<br />
richtiggehend: Zum Beispiel können die Stücke Zimmer I<br />
und Zimmer II entwe<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gleichzeitig als<br />
Schichtung aufgeführt werden. Außerdem ergeben sich im<br />
installativen Teil zu Beginn des Abends zufällige Korrespondenzen<br />
zwischen den Soundstationen im Raum.<br />
SN: Die Schichtung interessiert mich als eine Art musikalische<br />
Metapher für unsere geschichtete Wirklichkeit,<br />
die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten, das<br />
Virtuelle, Reale, Innere, Äußere, das Nebeneinan<strong>der</strong>,<br />
auch das Urbane. Kompositorisch entsteht da eine<br />
beson<strong>der</strong>e Form des Kontrapunkts.<br />
HAUS IST EIN FLUIDER<br />
KÖRPER, DER IN<br />
VERSCHIEDENEN<br />
FORMEN AUFTAUCHEN,<br />
SICH PRÄSENTIEREN<br />
UND WIEDER NEU<br />
ZUSAMMENGESETZT<br />
WERDEN KANN<br />
JD: In deinen Partituren sind den Stücken oft Textzitate<br />
vorangestellt, die nicht wörtlich auskomponiert<br />
sind. Vor Tür steht beispielsweise: »Je länger man vor<br />
einer Tür zögert, desto frem<strong>der</strong> wird man.« Franz Kafka<br />
SN: Die Texte begleiten mich in unterschiedlichen<br />
Intensitäten für den Zeitraum des Komponierens. Ihr<br />
Einfluss muss dann nachher aber gar nicht immer für<br />
das Publikum re-interpretierbar sein.<br />
Bestimmte literarische Figuren wie Virginia Woolf o<strong>der</strong><br />
Sylvia Plath sind schon lange wichtig für mich. Auch<br />
ihre Biografien als weibliche Künstlerinnen gehen mir<br />
nahe. Mich auf sie zu beziehen, war für mich, als ich<br />
den Zyklus vor zehn Jahren begonnen habe, auch ein<br />
feministischer Ansatz. Seither hat sich viel getan, ich<br />
habe viel dazugelernt und bin – auch durch die Begegnung<br />
mit Heinrich – viel aufmerksamer geworden<br />
für queere Positionen.<br />
HH: Wenn ich eine Choreografie entwickle, fange ich<br />
auch immer bei einem Textimpuls an o<strong>der</strong> bei Referenzen<br />
an<strong>der</strong>er Künstler:innen. Diese Ausgangspunkte<br />
verbinden sich für mich wie<strong>der</strong> in Richtung Improvisation<br />
und Begegnung. Auch in deinen Arbeiten empfinde<br />
ich die Textzitate nie als starre Definition o<strong>der</strong><br />
Programm. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass du<br />
damit viele Assoziationsräume öffnest.<br />
JD: In diesem Musiktheater gibt es keine Sängerdarsteller:innen.<br />
In HAUS konzentriert sich die theatrale Performance<br />
auf die Instrumentalist:innen.<br />
HH: In meiner Regiearbeit interessieren mich die »unprofessionellen«<br />
Körper, weil sie durch sich selbst sprechen,<br />
in ihrer eigenen Form. Körper durchbrechen Zeit- und<br />
Raumachsen und das gibt ihnen das Potenzial, sich zu<br />
transformieren. Diese Haltung hat für mich viel mit Gen<strong>der</strong><br />
zu tun, denn ich suche nicht nach Zuschreibungen,<br />
son<strong>der</strong>n nach diversen Ausdrucksmöglichkeiten, die den<br />
Körper befähigen, sich von einem Habitus zu lösen.<br />
In HAUS werde ich choreografisch mit einer Art von<br />
Glitch (Anm. d. Red. »Fehler« o<strong>der</strong> »Makel«; ein im<br />
queer-feministischen Diskurs positiv aufgeladener Begriff)<br />
arbeiten. Ich frage mich, wo die Reibung in unser<br />
aller Körper ist, die Leerstelle, und wie man diese zu einer<br />
eigenen Sprache ermächtigen kann. Damit setzte ich<br />
mich auf eine Art auch mit den versehrten Maschinisten<br />
an den Turbinen auseinan<strong>der</strong>, von denen Henriette<br />
gesprochen hat: Menschen, die vielleicht nicht mehr voll<br />
funktionstüchtig waren, aber neue Bewegungsstrukturen<br />
erfunden haben. Diese Stärke will ich freilegen.<br />
Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite interessiert mich das Kollektiv,<br />
das Ensemble, die Vereinheitlichung. Was teilen wir?<br />
Was ist Gemeinschaft? Eine Gemeinsamkeit? Wie<br />
können die Organismen sich vereinigen – wie vervielfältigen?<br />
In <strong>der</strong> Choreografie werden sie zu Protagonist:innen<br />
<strong>der</strong> Zukunft.<br />
JD: In deinem Artikel Alienation and Queer Discontent<br />
stellst du, Henriette, queere künstlerische Strategien vor,<br />
(hetero-)normative Zeitkonstruktionen zu erschüttern.<br />
Könnte sich das auch in HAUS einlösen?<br />
HG: Die Desorientierung scheint mir in diesem Projekt<br />
auf mehreren Ebenen ein zentrales Element zu sein.<br />
Zum Beispiel entsteht sie durch die Videoarbeit, indem<br />
<strong>der</strong> Raum verdoppelt, verschoben, gedreht wird.<br />
Die Desorientierung bringt nicht nur unsere vermeintlich<br />
stabile Blickstruktur durcheinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n auch<br />
eine Wahrnehmung von Zeitlichkeit. Der Blick auf den<br />
Horizont stabilisiert unsere Betrachter:innenposition<br />
auf eine Zukunft hin. Unsere gewohnten Blickachsen<br />
sind häufig durch koloniale Positionen definiert, wie<br />
Hito Steyerl in ihrem Artikel In Free Fall: A Thought<br />
Experiment on Vertical Perspective schreibt. Im Moment<br />
<strong>der</strong> Desorientierung bricht etwas auf, das uns<br />
zwingt, unsere Umgebung an<strong>der</strong>s wahrzunehmen und<br />
uns an<strong>der</strong>s zu bewegen. Das beinhaltet auch ein an<strong>der</strong>es<br />
Hören, denn die Desorientierung führt immer zu<br />
einem bewussteren Verhältnis zum In-<strong>der</strong>-Welt-Sein.<br />
Das macht sich dieses Projekt in vielerlei Hinsicht zunutze,<br />
etwa, indem ihr das Setting selbst, die Wände,<br />
Geräte und herumliegenden Maschinenteile erklingen<br />
lasst. Gerade im Bereich <strong>der</strong> Infrastruktur ist Desorientierung<br />
eine interessante Methode: Wie kann man das,<br />
was sich unserem Auge o<strong>der</strong> Ohr entzieht, hör- und<br />
sichtbar machen? Also das infra (lat. »unterhalb«) ernst<br />
nehmen und diesem nachspüren? Da gibt es natürlich<br />
Grenzen, aber ich glaube, das ist auch genau das, was<br />
209
dich interessiert, Sarah, dass eben nicht immer alles<br />
erfassbar ist, dass es immer etwas gibt, das sich unserem<br />
Wissen entzieht. Eure aufgelöste Raumsituation<br />
schafft Angebote, den Raum an<strong>der</strong>s wahrzunehmen<br />
und sich darin auch zu bewegen.<br />
JD: Die Cyborg-Identität – ein Mischwesen aus Maschine<br />
und menschlichem Organismus – finde ich auch in Sarahs<br />
Musik wie<strong>der</strong>, die oft die Grenzen menschlich-analoger<br />
Klangerzeugung mit den Mitteln <strong>der</strong> elektronischen Musik<br />
zusammenlötet.<br />
SN: Das Hybride interessiert mich sehr. Das hat schon<br />
bei Zimmer begonnen, in dem die Harfe durch ein Kaosspad<br />
verfremdet wird. Es entsteht etwas, das nicht<br />
mehr ganz Harfe, aber auch nicht rein elektronische<br />
Musik ist, son<strong>der</strong>n irgendwas dazwischen. Das Undefinierte<br />
gefällt mir sehr, insbeson<strong>der</strong>e, weil an Instrumenten<br />
in <strong>der</strong> Regel eine nicht unbedingt immer<br />
schöne Kulturgeschichte hängt, die man unfreiwillig<br />
miterzählt. Durch elektronische Verfremdung kann<br />
man sie umdeuten. Analoge Effektgeräte wie das Kaosspad<br />
finde ich auch deshalb toll, weil sie intuitiv von<br />
den Musiker:innen bedient werden können. An<strong>der</strong>s als<br />
hochkomplexe Live-Elektronik, für die man eine extra<br />
Ausbildung braucht. Wenn die Geräte innerhalb des<br />
Kammermusikrahmens gespielt werden, hat das für<br />
mich auch etwas Rebellisches.<br />
Das neue Stück Halle wird auf die Geschichte <strong>der</strong><br />
Turbinenhalle Bezug nehmen. Der Pianist / Keyboar<strong>der</strong><br />
/ Synthesizerspieler Sebastian Berweck hat mich<br />
auf das virtuelle Instrument, den digitalen Synthesizer<br />
»Mysteria« aufmerksam gemacht, <strong>der</strong> mit Stimm-Samples<br />
und Chören bestückt ist, die man zum Beispiel<br />
verfremden o<strong>der</strong> damit androgyne Stimmen schaffen<br />
kann. Ich denke an einen vielstimmigen Geisterchor<br />
<strong>der</strong> Menschen, die an diesem Ort gearbeitet haben.<br />
Auch mich interessiert das Dysfunktionale, weil es sehr<br />
menschlich ist. Nach meiner Erfahrung steckt in dem,<br />
was gesellschaftlich als Schwäche aufgefasst wird, oft<br />
ein beson<strong>der</strong>es Kraftzentrum.<br />
JD: Den Makel zur Superkraft aufzuwerten, um sich aus<br />
einer marginalisierten Position heraus zu behaupten, bedarf<br />
kreativer Zukunftsvisionen. Ein Tool, das in einer extremen<br />
Form in afrofuturistischen Erzählstrategien und<br />
Ästhetiken Anwendung findet, an denen du, Henriette,<br />
schwerpunktmäßig forschst. Siehst du da Anknüpfungspunkte?<br />
HG: Ich musste eben daran denken, dass <strong>der</strong> Synthesizer<br />
ein ganz wichtiger Träger <strong>der</strong> afrofuturistischen<br />
Vision ist, <strong>der</strong> bei Sun Ra zum Beispiel mit dem Jazz<br />
o<strong>der</strong> bei George Clinton mit dem Funk fusioniert und<br />
in diverse Musikrichtungen ausgestrahlt hat.<br />
Den Afrofuturismus macht ein nicht-lineares Zeitverständnis<br />
aus. Das unterscheidet ihn von an<strong>der</strong>en Futurismen,<br />
die nur nach vorne blicken wollen. Der Afrofuturismus<br />
besteht darauf, dass die Vergangenheit Teil<br />
<strong>der</strong> Zukunft ist.<br />
Unter Einbezug <strong>der</strong> spektralen Vergangenheit ist HAUS<br />
in meinen Augen auch ein futuristisches Projekt, weil<br />
es ein Begehren danach gibt, den Raum zu transformieren,<br />
damit er offen wird für alle, ohne Ausgrenzung.<br />
Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen<br />
utopischem Denken und politischem Agieren, aber<br />
die Imagination ist ein erster Schritt. Sarah schreibt in<br />
ihren Notizen zu den Stücken auch davon, Räume zu<br />
träumen. Auch in dem in <strong>der</strong> Partitur zitierten Gedicht<br />
Dark House von Sylvia Plath geht es darum. In <strong>der</strong><br />
künstlerischen Imagination wird bereits ein Prozess<br />
<strong>der</strong> Transformation aktiviert. Das Einreißen <strong>der</strong> Wände<br />
geschieht in <strong>der</strong> Imagination von etwas Zukünftigem,<br />
hat aber bereits Auswirkungen auf das Jetzt. Es ist eine<br />
Intervention im Heute.<br />
JD: Du hast auch geheime Räume komponiert, Sarah.<br />
Willst du uns einweihen?<br />
SN: Es gibt zwei akustische Verstecke. In Amplified Imagination<br />
hat die Flötistin Kopfhörer auf, worüber eine<br />
verfremdete Bach-Collage abgespielt wird, sodass sie<br />
ihr eigenes Spiel nicht hört. Sie kann sich nur vorstellen,<br />
wie sie klingt, und kann es aber nicht kontrollieren.<br />
An<strong>der</strong>erseits kann das Publikum nicht hören, was sie<br />
hört. Einsamkeit und Vereinzelung thematisiere ich oft<br />
in meinen Stücken. In HAUS hat <strong>der</strong> Schlagzeuger seinen<br />
eigenen Raum hinter dem Donnerblech, in dem er<br />
Bil<strong>der</strong> und Fotos sieht, die er zum Teil auch mittels Live-<br />
Kamera nach außen bringt. Geheime Innenräume hat<br />
je<strong>der</strong>: Gedanken, Gefühle und Erinnerungen im Verborgenen,<br />
die man nicht teilen kann, aber vielleicht gerne<br />
mitteilen würde. Das ist jedoch auch ein Schutzraum,<br />
ein Rückzugsort, um im Positiven allein sein zu können.<br />
* Heinrich Horwitz bei einem Konzeptionstreffen.<br />
210
DER KLANG<br />
DES UNFASSBAREN<br />
PHYSIK UND METAPHYSIK IM<br />
MUSIKPROGRAMM DER RUHRTRIENNALE <strong>2022</strong><br />
VON BARBARA ECKLE<br />
MYSTERIENSONATEN<br />
Heinrich Ignaz Franz Biber<br />
Konzert<br />
am 11. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 12 _______________ www.ruhr3.com/mysterien<br />
ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN<br />
Gérard Grisey / Claude Vivier / Iannis Xenakis / Giacinto Scelsi / Elisabeth Stöppler / Peter Rundel / Klangforum Wien / Chorwerk Ruhr<br />
Musiktheater / Kreation<br />
ab 11. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 14 _______________ www.ruhr3.com/grisey<br />
HARAWI<br />
Olivier Messiaen / Rachael Wilson / Virginie Déjos<br />
Konzert<br />
am 17. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 70 _______________ www.ruhr3.com/harawi<br />
VERGESSENE OPFER<br />
Galina Ustwolskaja / Franz Liszt / Olivier Messiaen / Luigi Nono / Duisburger Philharmoniker / Elena Schwarz<br />
Konzerte<br />
am 11. und 13. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 66 _______________ www.ruhr3.com/vergessen<br />
ORGANICUM<br />
Iannis Xenakis / Lucia Dlugoszewski / Sarah Nemtsov / Márton Illés / Michael Pelzel / Klangforum Wien / Patrick Hahn<br />
Konzert<br />
am 14. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 22 _______________ www.ruhr3.com/organicum<br />
HAUS<br />
Sarah Nemtsov / Heinrich Horwitz / Rosa Wernecke<br />
Musiktheater / Szenische Uraufführung<br />
ab 31. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 48 _______________ www.ruhr3.com/haus<br />
211
Heinrich Ignaz Franz Biber<br />
Das Geistliche und das Weltliche – in <strong>der</strong> Barockzeit waren<br />
es Sphären, die sich nie begegnen sollten, die sich naturgesetzartig<br />
ausschließen wie Tag und Nacht, wie Leben<br />
und Tod. Ein Leibeigener aus <strong>der</strong> böhmischen Provinz zog<br />
aus, diese scheinbar unumstößliche Regel aus den Angeln<br />
zu heben. Sein Mittel? Musik. Und zwar die virtuoseste,<br />
eigensinnigste, waghalsigste, die sich seinerzeit denken<br />
und finden ließ. Heinrich Ignaz Franz Biber, geboren 1644,<br />
gelang allein durch seine Kunst, die seinerzeit explizit als<br />
»pizar« eingestuft wurde, ein Aufstieg son<strong>der</strong>gleichen,<br />
und dies trotz seiner exzentrischen Gesinnung, die ohne<br />
Zugeständnisse an gültige Konventionen auskam. Mit<br />
Titeln wie Fidicinium Sacrum-Profanum o<strong>der</strong> Sonata die<br />
Pauern-Kirchfahrt genannt machte er unmissverständlich<br />
klar, worauf er hinauswollte: Wo Gott ist, ist auch die<br />
Welt – und wo die Welt ist, ist Gott. So war er sich auch<br />
zu einer Sonata representativa nicht zu schade: Violinistische<br />
Stimmenimitationen von Hühnern, Fröschen und<br />
Nachtigallen bilden hier den musikalischen Kern. Biber<br />
hatte we<strong>der</strong> Komik noch Klassenkampf im Sinn, so viel<br />
war auch <strong>der</strong> Obrigkeit klar, die ihn 1690 in den Adelsstand<br />
erhob. Er wollte lediglich verständlich machen, dass<br />
Gott keine Grenzen kennt. Er ist niemandem vorbehalten,<br />
keinem Klerus, keinem Adel. Er ist für alle und in allen und<br />
allem. Im Erzbischof wie im Huhn.<br />
Unter diesen Vorzeichen sind um 1674 auch seine Mysteriensonaten<br />
(auch Rosenkranzsonaten genannt) entstanden.<br />
Obschon sakrale Musik in aller Regel mit liturgischem<br />
Text einherging, während virtuose Soloinstrumentalmusik<br />
mit Unterhaltung bei Hofe und in <strong>der</strong> Kammer assoziiert<br />
war, lassen sich die fünfzehn Sonaten für Violine und Generalbass<br />
in Tanzsuitenform als sakrales Werk verstehen.<br />
Sie durchwan<strong>der</strong>n Stationen im Leben Marias und Jesu:<br />
von <strong>der</strong> Verkündigung über die Geburt, die Geißelung, die<br />
Kreuzigung, die Auferstehung, bis hin zur Krönung Mariae<br />
im Himmel. Entsprechend ist <strong>der</strong> Rosenkranz dreigeteilt<br />
in einen freudenreichen, einen schmerzhaften und einen<br />
glorreichen.<br />
Biber involviert sein Publikum direkt in den Prozess des<br />
Unfassbaren: die Transzendenz im Leben, Sterben und<br />
Auferstehen Christi. Und er tut es auf dem Weg <strong>der</strong> Sinnlichkeit,<br />
einer Kommunikationsebene potenter, unmittelbarer<br />
und konkreter als jedes Wort. So konkret bisweilen,<br />
dass man es Programmmusik nennen könnte; denn so wie<br />
dort die Hennen gackern und die Frösche quaken, schlägt<br />
hier <strong>der</strong> eiserne Hammer die Nägel ins Kreuz, bohren sich<br />
die spitzen Stacheln <strong>der</strong> Dornenkrone ins Fleisch, erschallen<br />
triumphal die Trompeten (auf <strong>der</strong> Geige), wenn<br />
Christus in den Himmel fährt.<br />
Aber Bibers sinnlicher Zugriff macht bei <strong>der</strong> Bildlichkeit<br />
nicht halt, er dringt unter die sichtbare Oberfläche in die<br />
immaterielle Welt von Spannung und Atmosphäre, von<br />
Farbe, Licht und Glanz ein, die sich über den Klang vermittelt.<br />
Dafür greift er zum damals noch kaum genutzten<br />
Mittel <strong>der</strong> Skordatur (Verstimmung <strong>der</strong> Violinsaiten) – und<br />
verfährt damit so kühn, dass es im Extremfall an Dekonstruktion<br />
und Umbau des Instruments grenzt (Kreuzung <strong>der</strong><br />
zwei mittleren Violinsaiten in <strong>der</strong> Sonate XI). Zum einen<br />
ermöglicht ihm die Skordatur gewisse Akkorde, die bei <strong>der</strong><br />
herkömmlichen Quintenstimmung kaum zu intonieren wären,<br />
zum an<strong>der</strong>en erschließt sich Biber hier durch höhere<br />
o<strong>der</strong> niedrigere Saitenspannung einen Reichtum an expressiven<br />
Klangfarben, die in <strong>der</strong> Geige verborgen sitzen.<br />
Dumpf und resonanzarm klingt demnach das Instrument<br />
auf Christus’ Kreuzgang, strahlend, hell und voller Leben<br />
wie<strong>der</strong>um bei seiner Auferstehung. Unter Verwandlung<br />
und Auflösung instrumentaler und klanglicher Substanz<br />
offenbart sich das fünfzehnstufige Exerzitium <strong>der</strong> Einkehr<br />
als große Meditation, die entlang <strong>der</strong> Christusgeschichte<br />
zusehends transzendentere Stadien erreicht, als gehe<br />
man Seite an Seite mit Jesus seinen Weg über den Tod<br />
hinaus ins ewige Leben.<br />
Gérard Grisey<br />
Bibers Suche nach dem schwer greifbaren, aber umso expressiveren<br />
Vokabular, das sich jenseits reiner Tonhöhen<br />
verbirgt, war mit diesem Skordatur-Abenteuer nicht abgeschlossen.<br />
Im Gegenteil, sie weist über viele Epochen in<br />
die Zukunft, wo dieser Wunsch immer wie<strong>der</strong> laut wurde<br />
– und bei einer Handvoll Komponisten im Paris <strong>der</strong> 1970er<br />
Jahre so laut, dass sie daraus ein neues System ableiteten:<br />
Gérard Grisey und seine Kollegen Hugues Dufourt,<br />
Michaël Levinas und Tristan Murail gründeten 1973 das<br />
Kollektiv L’Itineraire, das sich <strong>der</strong> Komposition mit dem<br />
Obertonspektrum von Tönen verschrieb. Das bedeutet:<br />
Anstelle <strong>der</strong> herkömmlichen 12 Töne, aus denen sich die<br />
chromatische Tonleiter zusammensetzt, komponieren sie<br />
mit den Obertönen, die beim einzelnen Ton mitschwingen.<br />
Diese physikalisch begründeten Naturtöne bilden<br />
eine weitläufige Skala, die immer weiter von <strong>der</strong> temperierten<br />
Stimmung in den Bereich kleinster Mikrotöne abweicht,<br />
je höher sie steigt. Sie bildet die Grundlage einer<br />
eigenen Harmonik, die hauptsächlich auf die Klangfarben<br />
(Timbres) ausgerichtet ist, die man erzielen möchte. Denn<br />
212
Dimension nach dem Tod in Aussicht; in Tod <strong>der</strong> Stimme<br />
blickt die 19-jährig verstorbene griechische Dichterin Erinna<br />
ins Reich <strong>der</strong> Schatten, wo jeglicher Schall erstickt; in<br />
Tod <strong>der</strong> Menschheit schließlich beschwört eine Passage<br />
aus dem Gilgamesch-Epos die apokalyptische Sintflut -<br />
und die Ruhe, die ihr folgt: Alles, auch die Menschheit,<br />
hat sich aufgelöst, verflüssigt. Das schlammartige Meer,<br />
das zurückbleibt, ist die Quelle neuen Lebens. So wird das<br />
Wiegenlied, mit dem Grisey seine Schwellengesänge beschließt,<br />
zum Geleit nicht in den ewigen Schlaf, son<strong>der</strong>n<br />
in ein neues Dasein. Leben ist Tod ist Leben. Anfang ist<br />
Ende ist Anfang.<br />
die spezifische Konstellation von Obertönen ist es, die<br />
die Farbe eines jeden Klangs generiert und definiert. An<strong>der</strong>s<br />
als <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>gründig erklingende Grundton wird die<br />
Klangfarbe auf einer schwer zu verortenden Ebene wahrgenommen:<br />
Es ist gewissermaßen die Aura des Tons.<br />
Spektralmusik (musique spectrale) ist die offizielle Bezeichnung,<br />
wobei Grisey den Begriff Schwellenmusik<br />
(musique liminale) bevorzugte, da ihre Domäne die hochaufgelösten<br />
Randgebiete und Binnenstrukturen <strong>der</strong> Töne<br />
sind. Dank <strong>der</strong> besagten mikrotonalen Technik werden<br />
aus harten Tongrenzen durchlässige Membrane, lebendige<br />
Gewebe, durch die man in an<strong>der</strong>e, scheinbar unzugängliche<br />
Sphären übergehen – o<strong>der</strong> metaphysisch gesprochen:<br />
transzendieren kann. In keinem seiner Werke erfüllt sich<br />
dieses Potenzial musikalisch wie inhaltlich so umfassend<br />
und explizit wie in seinen Quatre chants pour franchir le<br />
seuil (Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten) von 1998,<br />
Griseys letztem Werk, bevor er 52-jährig plötzlich an einem<br />
Aneurysma starb. Die Schwelle, die er hier viermal<br />
passiert, ist jene ultimative zwischen Leben und Tod. Die<br />
Gesänge sind poetische, metaphysische Manifestationen<br />
von Leere, Stille, Verschwinden, von Echos und Schatten<br />
im existenziellen wie im akustischen Sinne. Tatsächlich<br />
sah Grisey in den Obertonspektren eine Art immaterielles<br />
Schattenreich: »Mit dem Schatten <strong>der</strong> Klänge zu komponieren,<br />
bedeutet das Imaginieren einer Instrumentierung,<br />
die die Tiefen beleuchtet, in denen die verschiedenen Farben<br />
(timbres) zum Leben erwachen«, schreibt er in seinem<br />
Buch Ècrits ou l’invention de la musique spectrale. Vier<br />
poetische Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten und<br />
Kulturen führen in den Quatre chants über die Schwelle:<br />
in Tod des Engels offenbart <strong>der</strong> Dichter Christian Guez-<br />
Ricord, dass die Lebensaufgabe eines jeden in seinem<br />
Sterben liegt; in Tod <strong>der</strong> Zivilisation stellen altägyptische<br />
Sarkophaginschriften den Eingang in eine astrale<br />
Olivier Messiaen<br />
Auch Griseys Lehrer Olivier Messiaen, 1908 geboren, assoziierte<br />
mit dem Tod des Leibes nicht eine Begrenzung<br />
o<strong>der</strong> gar das Ende. Ganz im Gegenteil – wie schon seine<br />
Antwort auf die Frage, ob er sich für Raumfahrt interessiere,<br />
nahelegt: »Ja, das ist wun<strong>der</strong>bar, aber ich denke,<br />
dass sie mir nach meinem Tod auf ganz natürliche Weise<br />
ermöglicht werden wird, wenn we<strong>der</strong> Entfernungen noch<br />
die Materie mich mehr werden aufhalten können.« Messiaen<br />
ist ein Mann des Überzeitlichen. Der Tod ist kein<br />
grimmiger Schnitter, <strong>der</strong> allem Schönen und Lebendigen<br />
ein Ende setzt. In Messiaens Lie<strong>der</strong>zyklus Harawi (1945)<br />
bringt <strong>der</strong> Tod wahre Liebe überhaupt erst zur Erfüllung.<br />
Inspiriert von <strong>der</strong> transzendenten Idee des Liebestods aus<br />
dem Tristan-Mythos schuf Messiaen eine ganze Werktrilogie.<br />
Und Harawi, <strong>der</strong>en erster Teil, beschwört einen Typus<br />
Liebeslied aus <strong>der</strong> Andenregion, bei dem <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong><br />
Liebenden das definierende Element ist.<br />
Messiaens sublimierter Liebesbegriff geht aus seinem<br />
christlichen Glauben hervor, <strong>der</strong> die göttliche Liebe als<br />
213
die einzig wahre anerkennt. Und im Liebestod wird die<br />
menschliche Liebe quasi von <strong>der</strong> göttlichen berührt, wodurch<br />
sie selbst zu einer ewigen wird. Ob als Komponist,<br />
Ornithologe o<strong>der</strong> Organist – Messiaen widmete sein ganzes<br />
Schaffen <strong>der</strong> Fassbarmachung des Heiligen, Immateriellen,<br />
Spirituellen. Ekstase und Exzess, die notwendig<br />
sind, um den Menschen seiner alltäglichen spirituellen<br />
Begrenztheit zu entheben, sind daher Schlüsselmomente<br />
seiner Musik. Häufig dienen ihm Kontemplation und Meditation<br />
als Mittel, die christlichen Mysterien musikalisch<br />
erlebbar zu machen. Aber auch <strong>der</strong> indirekte, oft rauschhafte<br />
Weg über vermittelnde Instanzen wie Farben (als<br />
Synästhet sah er Klänge tatsächlich als konkrete Farben<br />
vor Augen) o<strong>der</strong> Vogelgesang (er übertrug dessen melodische<br />
und rhythmische Strukturen in Musik) ermöglichte<br />
ihm, das Unbegreifliche hörbar zu machen. Dass er in seiner<br />
Musik als zutiefst Gläubiger meist Ungläubigen von<br />
Gott kündete, empfand er als Tragödie seines Lebens. Bereits<br />
in seinem frühen Orchesterwerk Les offrandes oubliées<br />
(Die vergessenen Opfer) von 1930 klingt diese verzweifelte<br />
Erkenntnis Messiaens an. In dieser sinfonischen<br />
Meditation ruft er das Opfer Christi, <strong>der</strong> für die Menschheit<br />
am Kreuz gestorben ist, in Erinnerung. Ein sanfter<br />
Farbenrausch, in dem er den Zuhörer ertrinken lässt, um<br />
die Liebe Christi spürbar zu machen, rahmt das Werk. Im<br />
Zentrum aber steht <strong>der</strong> Schmerz, die musikalische Inkarnation<br />
<strong>der</strong> Sünde, die diese Atmosphäre scharf und jäh<br />
zerschneidet, das göttliche Liebesopfer quasi schändet.<br />
Galina Ustwolskaja<br />
Eine Frau, die Messiaen in seinem Schmerz und seiner<br />
Verzweiflung verstanden hätte, ist Galina Ustwolskaja, die<br />
vielleicht kompromissloseste Komponistin des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
So kompromisslos, dass sich ihre Musik in <strong>der</strong><br />
Welt, in <strong>der</strong> sie lebte, gänzlich verbat. Und sie sie trotzdem<br />
schrieb. Und sei es für die Schublade. Fremd und<br />
ungestüm schlug ihre Klangsprache, die keiner Schule<br />
und keiner Strömung folgte, in die zeitgenössische Musiklandschaft<br />
im Russland <strong>der</strong> Nachkriegszeit ein. Das Handwerk<br />
hatte sie von Dmitri Schostakowitsch erlernt, dessen<br />
Schüler:innen für ihre Schostakowitsch-Mimesis bekannt<br />
waren. Nicht so Galina Ustwolskaja. Ihr Lehrer bewun<strong>der</strong>te<br />
ihre Eigenständigkeit, hielt sogar um ihre Hand an,<br />
ohne Erfolg.<br />
Mit ihrem unbestechlichen Charakter war Galina Ustwolskaja<br />
1919, zwei Jahre nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution, in<br />
eine denkbar ungünstige Zeit hineingeboren. Die Familie<br />
lebte in materieller Not, ihre Kindheit und Jugend waren<br />
von profundem Einsamkeitsgefühl überschattet. Einzelgängertum<br />
pflasterte ihren Lebensweg, auch wenn dies<br />
<strong>der</strong> normierenden Staatsdoktrin des Sozialistischen Realismus,<br />
<strong>der</strong> seit Anfang <strong>der</strong> 30er Jahre den Kulturbetrieb<br />
bestimmte, quer entgegenstand. Religiöse, spirituelle Inhalte<br />
in Musik zu verarbeiten, wofür Ustwolskaja bekannt<br />
wurde, war selbst nach Stalins Tod 1953 jahrelang tabu.<br />
Die meisten ihrer Werke <strong>der</strong> 40er und 50er Jahre, die <strong>der</strong><br />
Staatsdoktrin zumindest äußerlich Rechnung tragen (darunter<br />
ihre 1. Sinfonie von 1955), wollte die Komponistin<br />
später aus ihrem Werkkatalog, <strong>der</strong> nur 25 gültige Stücke<br />
zählt, verbannt wissen.<br />
Zwischen 1960 und 1970 ergriff Ustwolskaja die konsequent<br />
drastische Maßnahme, praktisch gar keine neuen<br />
Kompositionen mehr an die Öffentlichkeit zu bringen.<br />
Nach ihrem Wie<strong>der</strong>auftauchen im sowjetischen Musikleben<br />
weisen ihre Werke fast ausnahmslos religiöse, liturgische<br />
Titel und Texte auf. Im Unterschied zu Messiaen ist<br />
Ustwolskajas Religiosität aber an eine abstrakte göttliche<br />
Macht gerichtet, stellt sich nicht in den Dienst einer Glaubensinstitution.<br />
Auch ästhetisch dominiert bei ihr eine<br />
ganz an<strong>der</strong>e Sprache: Anstelle von Entwicklung, Fluss und<br />
Farbenrausch stehen hier Klarheit, Bruch und Kollision.<br />
Harmonik kennt ihre vollkommen horizontal konzipierte<br />
Musik höchstens in Form von Clustern (dichten Tonballungen),<br />
wie sie etwa die 3. Sinfonie in eindringlicher Wie<strong>der</strong>holung<br />
eröffnen.<br />
Während das politische Tauwetter <strong>der</strong> 70er Jahre viele<br />
russische Komponist:innen veranlasste, die westliche<br />
Avantgarde zu erforschen und für ihre Arbeit fruchtbar zu<br />
machen, verän<strong>der</strong>te sich Ustwolskajas Musik nur dahingehend,<br />
dass sie charakteristische Eigenschaften noch<br />
radikalisierte: dynamische Extreme, Reduktion <strong>der</strong> Mittel<br />
und ungewöhnliche Konstellationen von Instrumenten.<br />
Dazu kommt die Eigenart, in ihren Sinfonien kein volles<br />
Orchester mehr einzusetzen. Nicht einmal annähernd:<br />
Instrumente <strong>der</strong> Mittellage entfallen typischerweise,<br />
manchmal sogar ganze Instrumentenfamilien: in <strong>der</strong> 2.<br />
Sinfonie etwa die gesamte Streichersektion. Mit je<strong>der</strong><br />
Sinfonie wird die Besetzung kammermusikalischer und die<br />
klangliche Kontrast- und Konturschärfung intensiver, was<br />
Ustwolskaja mit ihrer Tendenz zu schmerzhaft scharfen,<br />
harten Einsätzen noch potenziert.<br />
Schmerz ist nicht nur ihr Begleiter im Rückzug von <strong>der</strong> Welt,<br />
Schmerz ist auch das Transportmittel, das Galina Ustwolskaja<br />
in ihrer Musik in eine an<strong>der</strong>e Sphäre beför<strong>der</strong>t.<br />
214
Das Gefühl <strong>der</strong> Überwältigung wird bisweilen zu einem<br />
geradezu körperlichen Erlebnis, hinter dem sich eine<br />
metaphysische Dimension auftut – und um diese scheint<br />
es <strong>der</strong> Komponistin zu gehen. Der Schmerz, <strong>der</strong> in die<br />
wie<strong>der</strong>holten Faustschläge auf das Klavier und die brachialen<br />
Paukenschläge eingeschrieben ist, evoziert in <strong>der</strong><br />
3. Sinfonie Gedanken an Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung<br />
angesichts <strong>der</strong> höchsten, rettenden Macht, die<br />
sie im Text anruft. Es ist, als würde im Schmerz <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Realität gefangene Körper zum Fluchtweg in eine überkörperliche,<br />
sublimierte – o<strong>der</strong> eben metaphysische Sphäre.<br />
Iannis Xenakis<br />
Dass auch die physische Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten<br />
mehr als nur eine Fessel sein kann, die uns in <strong>der</strong><br />
irdischen Realität verhaftet hält, hat ein Komponist bewiesen,<br />
<strong>der</strong> Schmerz ebenso kannte wie Galina Ustwolskaja.<br />
Als politischer Flüchtling kam Iannis Xenakis mit<br />
schwerer Gesichtsverletzung 1947 in Paris an. In Griechenland<br />
hatte er im Wi<strong>der</strong>stand gegen die Okkupation<br />
durch die Deutschen gekämpft, war verwundet worden,<br />
im Gefängnis gesessen, zum Tode verurteilt. Im Pariser<br />
Exil fand er in seinem erlernten Beruf als Architekt und<br />
Ingenieur im Atelier von Le Corbusier Anstellung. Komponiert<br />
hatte er bis dahin nur autodidaktisch, um nun aber<br />
das Handwerk systematisch zu erlernen. Seine naturwissenschaftlich<br />
geprägte Biografie hatte ihn mit einer<br />
Denkstruktur ausgestattet, die in Komponistenkreisen zunächst<br />
fremd anmutete. Ausgerechnet Olivier Messiaen,<br />
musikalisches Sprachrohr <strong>der</strong> christlichen Mysterien, erkannte<br />
das Potenzial in <strong>der</strong> Voraussetzung seines Schülers<br />
und ermutigte ihn, exakt dieses Denken und Wissen<br />
für seine Musik kreativ zu nutzen. Das Resultat: eine in<br />
<strong>der</strong> Musikgeschichte einzigartige, fulminante Stimme, die<br />
über ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t zahllose Konventionen (auch<br />
die eigenen) produktiv in Frage gestellt hat und für zahllose<br />
Komponist:innen ein Quell <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung und Inspiration<br />
wurde.<br />
Die Werke seines umfangreichen Oeuvres beziehen sich<br />
nahezu ausnahmslos auf mathematische o<strong>der</strong> physikalische<br />
Gesetze und Phänomene wie Stochastik, Spieltheorie,<br />
Mengentheorie, Chaostheorie o<strong>der</strong> Siebtheorie.<br />
Letztere liegt auch seinem Ensemblestück Thalleïn zugrunde.<br />
Die ungestüm rohe Kraft seiner glissandostarken,<br />
gestischen Musik deutet an, dass hinter diesen scheinbar<br />
kühl analytischen Vorgängen emotional prägende<br />
Erinnerungen stecken, die für einen musikalischen Ausdruckswillen<br />
ausschlaggebend sind, und folge die Komposition<br />
auch noch so abstrakten Prinzipien. So lieferte<br />
ihm etwa das konkrete Erlebnis <strong>der</strong> Demonstrationen und<br />
Straßenschlachten die gedankliche Substanz zu seinem<br />
mathematisch streng durchkalkulierten Durchbruchsstück<br />
Metastaseis (im Programm <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021).<br />
»Ich hörte den Klang <strong>der</strong> Massen, wie sie auf das Zentrum<br />
Athens zumarschierten, die Parolenrufe, und dann, als sie<br />
auf die Panzer <strong>der</strong> Nazis trafen, die unregelmäßigen Schüsse<br />
<strong>der</strong> Maschinengewehre, das Chaos«, schil<strong>der</strong>te er dem<br />
Musikverleger Bálint András Varga in einem Gespräch.<br />
»Ich werde niemals diese Verwandlung des regelmäßigen,<br />
rhythmischen Lärms hun<strong>der</strong>ttausen<strong>der</strong> Menschen<br />
in ein fantastisches Durcheinan<strong>der</strong> vergessen... Nie hätte<br />
ich gedacht, dass das alles eines Tages wie<strong>der</strong> hochkommen<br />
und zu Musik werden würde.« In diesem Wissen erscheinen<br />
auch die sumerischen und assyrischen Silben<br />
und Phoneme in seinem Chorstück Nuits als direkte, klar<br />
artikulierte Schreie <strong>der</strong> Widmungsträger dieses Nachtstücks:<br />
politischer Gefangener dieser Welt, wie Xenakis<br />
selbst einer war, denen die Stimme geraubt wurde.<br />
So wie die Kriegserlebnisse hatten sich aber auch Natureindrücke<br />
aus Vorkriegszeiten in sein Bewusstsein eingraviert,<br />
wie er sich später in demselben Gespräch erinnert:<br />
»Ich machte oft Ausflüge aufs Land in <strong>der</strong> Nähe<br />
von Athen. Ich nahm dann mein Fahrrad, suchte mir einen<br />
Ort aus, wo ich mein Zelt aufstellte, und hörte den Klängen<br />
<strong>der</strong> Natur zu. Zikaden zum Beispiel: Ihr Zirpen kam<br />
aus allen Richtungen und verän<strong>der</strong>te sich ständig. Auch<br />
das sind Massenklänge, verstehen Sie?« Paradoxerweise,<br />
aber auch faszinieren<strong>der</strong>weise, erlaubt ihm das Mittel,<br />
das ihn einschneidende Erfahrungen mathematisch systematisieren<br />
und analysieren lässt, auch ihre emotionale<br />
Gewalt deutlicher zum Vorschein zu bringen.<br />
Sarah Nemtsov<br />
Die Essenz einer Sache aus ihrem natürlichen Habitat<br />
herauszulösen und auf an<strong>der</strong>er Ebene sinnlich erfahrbar<br />
und tiefer verstehbar zu machen, ist eine Eigenschaft, die<br />
auch die Musik <strong>der</strong> Berliner Komponistin Sarah Nemtsov<br />
auszeichnet – wenn auch auf gänzlich an<strong>der</strong>e Weise. Den<br />
Impuls zu ihrem Ensemblestück MOOS gewann sie tatsächlich<br />
aus einem Naturphänomen, das oberflächlich<br />
jedem bekannt ist. Je<strong>der</strong> kennt das Gefühl, auf Moos zu<br />
gehen, wie es dem Fuß den festen Tritt auf dem Boden versagt,<br />
wie <strong>der</strong> luftig weiche Pflanzenteppich ein angenehm<br />
215
Moos: Er reguliert Lautstärke und Verfremdung <strong>der</strong> Verstärkung,<br />
schlägt selbst auf seinen Instrumenten jedoch keinen<br />
Ton an.<br />
Zugleich greift Nemtsov die scheinbar unzerstörbare und<br />
kaum nachvollziehbare Wucherstruktur von Moos auf an<strong>der</strong>er<br />
Ebene auf: »Kompositorisch sind verschiedene musikalische<br />
Elemente horizontal verwoben, momentweise<br />
vertikal ›zertreten‹, werden entwickelt und wie<strong>der</strong> vergessen«,<br />
beschreibt sie die Struktur ihrer Komposition und<br />
lässt darin das Prinzip Überleben durch Vergessen anklingen<br />
– eine Gnade, zu <strong>der</strong> nicht nur Moos, son<strong>der</strong>n auch<br />
das menschliche Gehirn in <strong>der</strong> Lage ist.<br />
instabiles, fast märchenhaftes Gefühl hervorruft. Sarah<br />
Nemtsov hat das Gewächs von Nahem betrachtet. Aus<br />
<strong>der</strong> scheinbar chaotischen Verästelung, die sich horizontal<br />
nach allen Seiten ausbreitet, hat sie für ihre Komposition<br />
ein System abgeleitet, bei dem die Schlaginstrumente<br />
reine Resonatorenfunktion haben. Durch sie erklingen die<br />
Instrumente des Ensembles, <strong>der</strong>en Klang durch Mikrofone<br />
abgenommen und über Transducer an sie übertragen wird.<br />
Das indirekte Spiel des Schlagzeugers gleicht dem Gang auf<br />
Immer wie<strong>der</strong> und in unterschiedlichsten Kontexten übersetzt<br />
Sarah Nemtsov ein System auf ein an<strong>der</strong>es: ein<br />
verbales auf ein musikalisches, ein organisches auf ein<br />
künstliches, ein psychisches auf ein akustisches. Und<br />
so wie sie 2012 in ihrem instrumentalen Musiktheater<br />
A Long Way Away Geschichten über Erinnerung von Marcel<br />
Proust, W. G. Sebald, Walter Benjamin und Mirko Bonnés<br />
ohne Worte, nur durch Instrumente und den Klang von<br />
Alltagsgegenständen erzählte, sodass man meint, man<br />
hätte die Geschichten gehört, geradezu in ihnen gelebt,<br />
beschreibt sie gemeinsam mit <strong>der</strong> Regisseur:in Heinrich<br />
Horwitz in ihrem inszenierten Instrumentalzyklus HAUS<br />
durch die Bochumer Turbinenhalle hindurch den Prozess<br />
des sich verwandelnden Transkörpers. Wer o<strong>der</strong> was ermöglicht<br />
ihr, allein kraft ihrer Musik den Verwandlungsprozess<br />
eines Körpers durch ein altes Industriegebäude<br />
hindurch erlebbar zu machen, wenn nicht das Vertrauen<br />
in die Macht <strong>der</strong> Imagination? Das Haus <strong>der</strong> Imagination<br />
ist das Gehirn, das mit Sicherheit metaphysischste Organ<br />
innerhalb <strong>der</strong> menschlichen Physik.<br />
BARBARA ECKLE ist Leitende Dramaturgin für Musiktheater und Konzert <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–23. Als Autorin und Mo<strong>der</strong>atorin im Bereich Neuer<br />
Musik ist sie seit vielen Jahren für den Deutschlandfunk und die verschiedenen<br />
Programme des ARD-Hörfunks tätig. 2018–2020 war sie Dramaturgin<br />
für Oper und Konzert an <strong>der</strong> Staatsoper Stuttgart.<br />
Fotos: Gérard Grisey Estate (Gérard Grisey), Malcolm Ball (Olivier Messiaen), Ralph Fassey (Iannis Xenakis), Neda<br />
Navaee (Sarah Nemtsov)<br />
216
BEGEGNUNGS-<br />
KANTEN<br />
II<br />
DREI GESPRÄCHE<br />
WEGE<br />
Aljoscha Begrich, Lagartijas tiradas al sol, Azadeh Ganjeh, Lisandro Rodriguez,<br />
Stefan Schnei<strong>der</strong>, Anna Kpok, loekenfranke, RUHRORTER, tehran re:public<br />
12. August – 18. September <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 80 _______________ www.ruhr3.com/wege<br />
217
Die 2021 begonnene künstlerische Bespielung <strong>der</strong> Wege zwischen den Spielorten <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> wird auch in diesem Jahr fortgesetzt. Drei internationale Künstler:innen entwickeln<br />
Begleitformate für drei neue Strecken und ergänzen das bestehende Angebot <strong>der</strong> fünf<br />
lokalen Wege. Als beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung – auch im Sinne des Klimaschutzes – entwickelten<br />
die Künstler:innen dieses Jahr ihre Werke ohne Anreise, stattdessen versuchten sie das<br />
Ruhrgebiet nur durch Gespräche, Videokonferenzen, Fotostapel und Statistiken zu verstehen.<br />
Ein wichtiger Baustein war aber auch <strong>der</strong> direkte Austausch mit den lokalen Künstler:innen<br />
und ihren Erfahrungen. So wie im Ruhrgebiet permanent unterschiedliche Raumnutzungskonzepte<br />
aufeinan<strong>der</strong>stoßen (Fel<strong>der</strong> auf Wohnsiedlungen, Autobahnen auf Industrieviertel und<br />
Schienen wege auf Erholungsgebiete) – Wissenschaftler:innen sprechen dabei von Begegnungskanten<br />
–, so kommen unterschiedliche Arbeits- und Denkweisen zueinan<strong>der</strong>.<br />
LISANDRO RODRIGUEZ<br />
& RUHRORTER<br />
Lisandro Rodriguez aus Buenos Aires begann seine Annäherung<br />
damit, dass er uns Fragen schickte, listenweise.<br />
Zunächst beantworteten wir sie ihm mithilfe von Statistiken<br />
und Grafiken, dann mit immer persönlicheren Einschätzungen<br />
und später auch mit Fantasie und Quatsch.<br />
Lisandro merkte irgendwann, dass das Fragenstellen seine<br />
eigentliche Kunst werden würde. Er probierte die Fragen<br />
an den Straßenrän<strong>der</strong>n in Buenos Aires aus und entwarf<br />
einen Fragenkatalog für den Weg vom Duisburger Hauptbahnhof<br />
zum Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Passant:innen<br />
werden sie entdecken, still auf sie antworten, sie<br />
als Frage weitergeben o<strong>der</strong> als Infragestellung behalten.<br />
RUHRORTER aus Mülheim umschreiben anlässlich dreier<br />
seiner Fragen ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Arbeitsansätze.<br />
Lisandro Rodríguez: Ist Kunst <strong>der</strong> neue Bergbau?<br />
RUHRORTER: Bergbau ist die arbeits- und technologieintensive<br />
Extraktion von Rohstoffen zur Energiegewinnung.<br />
Mit deiner Frage können wir darauf<br />
schauen, inwiefern Kunst hier in <strong>der</strong> Gegend eine neue<br />
Arbeitsform des Abbaus von Rohstoffen und dementsprechend<br />
<strong>der</strong> Gewinnung neuer Energien darstellt.<br />
Anhand <strong>der</strong> Gründung von Kunstinstitutionen, ungefähr<br />
ab Ende <strong>der</strong> 1990er-Jahre, lässt sich beobachten,<br />
dass das Ruhrgebiet seit rund 20 Jahren immer dichter<br />
von Künstler:innen und Kunstinstitutionen beackert<br />
wird. Zu sehen ist das etwa an <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>, bei<br />
PACT Zollverein, Maschinenhaus Essen, Zeche Eins<br />
Bochum, Urbane Künste Ruhr, Hartware KunstMedien<br />
Verein Dortmund usw. Sie gesellen sich zu den schon<br />
älteren Institutionen, den Stadttheatern, Museen und<br />
Konzerthäusern.<br />
Es scheint gute Bedingungen für die Produktion von<br />
Kunst zu geben: Geld und Räume für die Institutionen,<br />
auch für die Künstler:innen.<br />
Lisandro Rodríguez: Wessen Arbeit ist das?<br />
RUHRORTER: Künstlerische Arbeit ist etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />
als <strong>der</strong> industrielle Abbau von Steinkohle. Sie ist<br />
in <strong>der</strong> Regel weniger körperlich anstrengend und stellt<br />
eine geringere Gefahr für das Leben dar. Auch die<br />
langfristigen Umweltfolgen sind weniger schwerwiegend.<br />
Ohne die Montanindustrie wären aber wir alle,<br />
die diese Antwort schreiben, und diejenigen, die sie lesen,<br />
das Magazin, in dem <strong>der</strong> Text steht und auch das<br />
Festival <strong>der</strong> schönen Künste, das das Magazin herausbringt,<br />
gar nicht hier. Nun ist die Kohleindustrie schon<br />
lange weg, dorthin, wo die Arbeit billiger ist. Viele Leute<br />
bedauern das, weil damit auch ein bestimmtes Lohnniveau<br />
verschwunden ist. Es gibt hier einfach nicht<br />
ausreichend gut bezahlte Arbeit. Und die Kulturinstitutionen<br />
beschäftigen nicht all die Leute.<br />
Die Kultur soll trotzdem einlösen, was <strong>der</strong> Begriff<br />
Strukturwandel (und die sozialdemokratischen Politiker:innen,<br />
die ihm das Wort reden) verspricht. Ersetzen,<br />
was nicht gleichwertig ersetzt werden kann. Sie<br />
sollen einen neuen Raum beschreiben, im Zusammenhang<br />
mit Universitäten, Einkaufshäusern und so weiter.<br />
Wie das genau geht, ist immer noch nicht ganz klar.<br />
Was dann passiert, auch nicht.<br />
Lisandro Rodríguez: Was möchtet ihr zu Tage för<strong>der</strong>n?<br />
RUHRORTER: Im Zuge unserer Arbeit sind wir ständig<br />
mit Situationen, Menschen und Problemen konfrontiert,<br />
auf die wir erst mal keine Antwort haben. Das ist<br />
manchmal unangenehm, aber immer eine gute Ausgangsbasis,<br />
etwas nicht zu wissen. Es klingt vielleicht<br />
kitschig, aber wir lernen und verän<strong>der</strong>n uns dadurch,<br />
wenn wir mit Menschen sprechen; etwas aufnehmen<br />
und wie<strong>der</strong> hören.<br />
Unsere Gruppe RUHRORTER hat sich gegründet, um<br />
Menschen mit Fluchterfahrung in Mülheim an <strong>der</strong> Ruhr<br />
ein Theaterangebot zu machen. Zum Zuschauen und<br />
Selberspielen. Unsere Proben sind Möglichkeiten, zusammenzukommen<br />
und sich auszutauschen, sie basieren<br />
auf gemeinsamen Improvisationen und nicht<br />
auf <strong>der</strong> Verwendung von Biografien.<br />
Was wir aus <strong>der</strong> Arbeit ziehen, ist ein an<strong>der</strong>er Blick auf<br />
uns selbst, unsere Nächsten und die Umgebung. Und<br />
das möchten wir teilen.<br />
218
AZADEH GANJEH &<br />
TEHRAN RE:PUBLIC<br />
Azadeh Ganjeh und die beiden Künstler des Kollektivs<br />
Tehran Re:public kennen sich bereits aus früheren Tagen,<br />
als sie noch im Iran lebten. Da sie alle Farsi sprechen und<br />
gegenseitig ihre performativen Arbeiten schätzen, fiel es<br />
ihnen nicht schwer, in einem gemeinsamen Gespräch über<br />
das Ruhrgebiet, das Projekt, die Routen und ihre Erfahrungen<br />
im vergangenen Jahr zu sprechen. Azadeh Ganjeh<br />
hat daraus wichtige Erkenntnisse für ihre Hörstationen<br />
ziehen können, die für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> auf dem<br />
Weg zwischen Essen und Duisburg eingerichtet werden.<br />
In ihrer Arbeit schärfen Audiospuren den Blick auf Flusslandschaften<br />
in Mülheim Styrum. Eine Perspektive, die von<br />
konkreten Geschichten aus dem Iran überlagert wird. Der<br />
hier abgedruckte Austausch vermittelt einen Eindruck von<br />
<strong>der</strong> Arbeit, die Amirhossein Mashaherifard und Shahab<br />
Anousha für Bochum entwickelt haben.<br />
Azadeh Ganjeh: Ihr seid Tehran Re:public. Wie empfindet<br />
ihr die Verbindung zwischen Teheran und Bochum? Gibt<br />
es eine Verbindung?<br />
Tehran Re:public: Für uns ist das eine organische Verbindung,<br />
aber abhängig von dem jeweiligen Projekt.<br />
Natürlich kommt es vor, dass wir uns bei einem bestimmten<br />
Projekt bewusst für ein Thema entscheiden,<br />
das sich auf die Beziehung zwischen Teheran und Bochum<br />
o<strong>der</strong> Berlin bezieht, doch meistens entwickelt<br />
sich das ganz natürlich. Denn selbst wenn wir über die<br />
Berliner Mauer reden, reden wir ja als Menschen, die<br />
aus Teheran stammen. Für uns ist es selbstverständlich,<br />
unseren Herkunftshintergrund in unsere Kunst<br />
einfließen zu lassen. Wir sehen keine Notwendigkeit,<br />
das stets aktiv zu betonen.<br />
Azadeh Ganjeh: Der Audiowalk hat mich sehr bewegt. Ich<br />
hatte das Gefühl, als Fremde vollständig verstanden zu<br />
werden. Ich hörte die Beschreibung eines Ortes, an dem<br />
ich mich gar nicht befand, aber <strong>der</strong> detaillierte Text, seine<br />
Länge und die Pausen erlaubten mir, mir die Landschaft<br />
vorzustellen, die ich vor mir hätte sehen sollen. Darin lag<br />
für mich eine Botschaft. Ihr könnt euch in die Lage eines<br />
Fremden in einer Stadt einfühlen. Das hat sicherlich damit<br />
zu tun, dass ihr an<strong>der</strong>s seid. Ihr wisst aus Erfahrung, wie<br />
es ist, fremd zu sein.<br />
Tehran Re:public: Ich denke, das hat zwei Gründe: Zum<br />
einen sind wir nicht aus Deutschland, und Shabab hat<br />
nie in Bochum gelebt. Wir sind also gewissermaßen<br />
Fremde o<strong>der</strong> »die An<strong>der</strong>en« in dieser Stadt. Das gab<br />
uns die Möglichkeit, unsere Umgebung auf eine neutralere<br />
Art und aus gewisser Distanz zu beschreiben. Zum<br />
an<strong>der</strong>en haben wir versucht, die Bewohner:innen <strong>der</strong><br />
Stadt in Fremde zu verwandeln. Durch die Strategie <strong>der</strong><br />
Verfremdung hofften wir, unserem Publikum die Möglichkeit<br />
geben zu können, die Stadt in einem an<strong>der</strong>en<br />
Licht betrachten zu können – wie jemand, <strong>der</strong> sie zum<br />
ersten Mal besucht. Vielleicht ist das <strong>der</strong> Grund, wieso<br />
du dich angesprochen gefühlt hast, da auch du fremd<br />
in <strong>der</strong> Stadt bist. Du bist gewissermaßen in <strong>der</strong>selben<br />
Situation wie die Teilnehmer:innen des Audiowalks.<br />
Azadeh Ganjeh: Meine letzte Frage bezieht sich auf eure<br />
Intention, einen Blick hinter die Dinge zu werfen, wie es<br />
auch in den Audioaufnahmen von Inside Out zu erleben<br />
ist. Ihr führt die Teilnehmer:innen in den Bedeutungsraum<br />
hinter den Dingen. Ich fand es sehr interessant, wie ihr<br />
diesem Phänomenen auf den Grund geht. Wenn urbane<br />
Körper Phänomene im Raum sind, in welcher Form tauchen<br />
sie in eurer Performance auf?<br />
Tehran Re:public: Der Ansatz des Dahinterblickens<br />
kam aus <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Thematik. Wenn wir über soziales<br />
Design sprechen – beispielsweise über das Design<br />
einer Sitzbank in <strong>der</strong> Innenstadt –, dann geht es nicht<br />
nur um ästhetische Aspekte, son<strong>der</strong>n auch um die<br />
Doppelfunktionalität dahinter. In diesem Fall bedeutet<br />
das, dass man auf <strong>der</strong> Bank sitzen kann, sich jedoch<br />
nicht darauflegen o<strong>der</strong> sie als Skateboar<strong>der</strong> befahren<br />
kann. Die Dualität des Davor und Dahinter hat hier<br />
ihren Ursprung.<br />
LAGARTIJAS TIRADAS AL SOL<br />
& LOENKENFRANKE<br />
Bei dem Performancekollektiv Lagartijas tiradas al sol aus<br />
Mexiko-Stadt und den Dokumentarfilmer:innen loenkenfranke<br />
aus Witten sind Sprache, Form und Arbeitsweise<br />
sehr unterschiedlich, aber sie eint vielleicht das Interesse<br />
an den konkreten individuellen Tragödien im Alltag, ein humorvoller<br />
Blick auf Details sowie <strong>der</strong> Wille zur Verarbeitung<br />
des Realen beziehungsweise ihr Ansatz, das Reale<br />
verarbeiten zu wollen. Und so ist es kein Zufall, dass, nachdem<br />
loenkenfranke die Besucher:innen auf einen Ausflug<br />
ins Grüne zwischen Gelsenkirchen und Essen einluden,<br />
Lagartijas tiradas al sol nun zu einer Partie in den Süden<br />
Essens laden, um ein Ruhrgebiet jenseits des Gewohnten<br />
zu zeigen.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wer seid ihr?<br />
loenkenfranke: Wir richten unseren Blick konkret auf<br />
Menschen und ihre Lebenslagen, Lebensumstände<br />
und auf gesellschaftliche Phänomene. Wir spiegeln in<br />
unseren Filmen das Politische im Privaten wi<strong>der</strong> und<br />
machen große gesellschaftliche Themen im Erleben<br />
Einzelner sichtbar.<br />
Wenn wie bei <strong>der</strong> Montagsdemo in Leipzig von <strong>der</strong><br />
Menge skandiert wird: »Wir sind das Volk« und plötzlich<br />
ein einzelnes Schild »Ich bin Volker« auftaucht,<br />
dann beginnt es für uns spannend zu werden.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Glaubt ihr, dass die Zukunft besser<br />
sein wird als die Gegenwart?<br />
loenkenfranke: Wir halten es da sehr mit Alexan<strong>der</strong><br />
Kluge: »Ich hüte mich als Schriftsteller, Cassandra zu<br />
sein. Wir wissen über die Zukunft nichts. Ich kann nur<br />
über Vergangenheiten o<strong>der</strong> Gegenwarten reden und<br />
ich kann über Möglichkeiten sprechen – im Konjunktiv<br />
und selbst Futur 2 kann ich noch: Ich werde gewesen<br />
sein. Aber mit <strong>der</strong> Zukunft habe ich es nicht im Sinn.«<br />
Wir beschäftigen uns mit den Gegenwarten, Vergangenheiten<br />
und Möglichkeiten in den letzten 15 Jahren,<br />
bezogen auf den Wandel <strong>der</strong> Ruhrgebietslandschaft<br />
219
und <strong>der</strong> Welt, und wie dieser Wandel die Lebensrealität<br />
<strong>der</strong> Menschen beeinflusst. Unsere Arbeitsweise<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass wir viele situative<br />
Momente drehen, begleiten, genau hinsehen und zuhören.<br />
So versuchen wir stets, den Dingen von ihrem<br />
Wesen her näherzukommen. Die Gegenwart ist ohne<br />
das Bewusstsein über die Vergangenheit nicht denkbar.<br />
Die Frage, ob die Zukunft besser sein wird als die<br />
Gegenwart, gehört ins Reich <strong>der</strong> Spekulation. »Besser<br />
als etwas sein« ist eine Bewertung – wir versuchen,<br />
nicht zu werten …<br />
Lagartijas tiradas al sol: Worauf können die Menschen in<br />
<strong>der</strong> Region stolz sein?<br />
loenkenfranke: Die Menschen in <strong>der</strong> Region haben in<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit ungeheure Umbrüche gemeistert<br />
und sind gegenwärtig wie<strong>der</strong> mit einer großen Transformation<br />
konfrontiert. Kollektiver Stolz hat immer<br />
auch mit Identität zu tun. Hier in <strong>der</strong> Region wurde diese<br />
Identität maßgeblich durch ihre gemeinsame Arbeit<br />
in <strong>der</strong> Großindustrie geprägt. Wir glauben allerdings an<br />
das Individuum. Kollektiver Stolz einer ganzen Gesellschaft<br />
hat für uns einen Beigeschmack.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wo sind die Minen geblieben?<br />
loenkenfranke: Die Minen sind, wo sie sind, nämlich<br />
hun<strong>der</strong>te Meter unter <strong>der</strong> Erdoberfläche. Aber ihre Bedeutung<br />
für die Menschen hat sich grundlegend geän<strong>der</strong>t.<br />
Sie dienen nicht mehr dazu, den Menschen in<br />
<strong>der</strong> Region einen (hohen) Lebensstandard zu sichern,<br />
son<strong>der</strong>n die Menschen müssen sich um ihre Folgen als<br />
Ewigkeitsschäden kümmern.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wie geht man mit dem Gefühl um,<br />
dass das Leben woan<strong>der</strong>s stattfindet?<br />
loenkenfranke: Das Leben findet immer im Hier und<br />
Jetzt und in <strong>der</strong> Kunst statt. Das, was uns originär interessiert,<br />
ist, Momente und Augenblicke festzuhalten,<br />
sie zu archivieren und sie in Beziehung zueinan<strong>der</strong><br />
zu bringen. So entstehen Filme, die ein Stück Zeitgeschichte<br />
sind und immer nur im Moment ihrer Rezeption<br />
im Verhältnis zur Gegenwart Bedeutung und Sinn<br />
ergeben. Große Umbrüche, die immer einhergehen mit<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung. Zeitenwende, Wandel, Verschwinden.<br />
Neue Möglichkeiten tun sich auf, mit ihnen neue<br />
Identifikationen – alte brechen weg. In einer Zeit, in<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Alltag immer digitaler wird, in <strong>der</strong> alles je<strong>der</strong>zeit<br />
online verfügbar ist, in <strong>der</strong> das Internet alle Fragen<br />
zu beantworten scheint, entsteht die Sehnsucht nach<br />
einer alternativen Realität. Offensichtlich eröffnet die<br />
Hinwendung zur Natur (die es ja im ursprünglichen<br />
Sinn in unseren Breiten gar nicht mehr gibt) für viele<br />
Menschen aktuell den Zugang zu dieser alternativen<br />
Realität. Beim Wege- Projekt haben wir uns aus diesem<br />
Grund für den ornithologischen Blick entschieden.<br />
Ganz allein mit sich und <strong>der</strong> Natur lässt <strong>der</strong> Blick<br />
durch das Fernglas o<strong>der</strong> Spektiv die Welt klein und<br />
übersichtlich erscheinen. Ein geeigneter Zufluchtsort,<br />
um den Herausfor<strong>der</strong>ungen und Einschränkungen des<br />
Alltags zu begegnen – und ihnen etwas entgegenzusetzen.<br />
Dadurch wird <strong>der</strong> Blick auf das Wesen des<br />
Menschen geschärft, auf seine Eigenarten, seine Träume<br />
und Ängste. Und damit zu einem Indikator für den<br />
Zustand <strong>der</strong> Gesellschaft. Unweigerlich wird man mit<br />
dem konfrontiert, was das Menschsein ausmacht.<br />
Lagartijas tiradas al sol: Wie Fortschritt denken in einer<br />
Region, die selbst vergessen wurde?<br />
loenkenfranke: Unseren letzten Film haben wir mit<br />
einem Gedicht von Andreas Gryphius begonnen:<br />
Alles ist eitel (1640)<br />
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.<br />
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:<br />
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,<br />
Auf <strong>der</strong> ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.<br />
Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.<br />
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,<br />
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.<br />
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.<br />
Wandel als ein nie enden<strong>der</strong> Prozess. Ihn nicht als<br />
Grundlage allen Denkens zu akzeptieren, käme einer<br />
Hybris gleich.<br />
Aus dem Englischen und Deutschen von Cornelia Enger<br />
220
THE HUDDLE<br />
VON<br />
KATJA AUFLEGER<br />
VON NORA SDUN<br />
THE HUDDLE<br />
Katja Aufleger<br />
Installation<br />
ab 13. August <strong>2022</strong><br />
Siehe S. 20 _______________ www.ruhr3.de/huddle<br />
221
(…) SCHLÖTE, JAHRHUNDERTEALT, STEHEN AUF,<br />
RINGELN SICH, BIEGEN SICH KATZENHAFT,<br />
FLIEGEN AUF UND DAVON. EISENBAHNWAGEN,<br />
NICHTRAUCHER, DIENSTABTEIL, HOLM UND SPANT,<br />
WERDEN ZU RIPPENKÖRBEN, STÄHLERNE SCHIENEN<br />
REISSEN SICH VON DEN DÄMMEN LOS<br />
UND SPRINGEN WIE SCHOTEN IM HERBST.<br />
DIE NEVA-BRÜCKE BRICHT VON DEN UFERN,<br />
EIN STÄHLERNER STRUDEL IM STROM.<br />
MENSCHENFRUCHT, WANDERNDER KÜRBIS,<br />
WAS FÜR EINE SAAT IST DA IN DIR AUFGEGANGEN,<br />
WAS SCHWIMMT DA AUF DICH ZU, IM AUFRUHR:<br />
NIE GESEHENE GESCHÖPFE MIT SCHRECKLICHEN SOHLEN,<br />
UND UNTER DEN SOHLEN: MATSCH. EIN NICHTS,<br />
EINE NICHTIGE DRÜSE SIND MENSCHEN UND TIERE<br />
VOR DIESEM SKELETT AUS KUPFER UND STAHL,<br />
DAS DROHEND ÜBER DER STADT STEHT.<br />
DIE SCHLINGERNDEN SCHLOTE SAGEN<br />
DER MENSCHHEIT DEN UNTERGANG AN,<br />
SIE SINGEN, DIE GEISTERSCHLOTE,<br />
VOM SCHLANGENNEST, DER MENSCHENBRUST,<br />
VOM TODESKUSS, VOM KNOCHENMANN.<br />
DIE DINGE HABEN EURE AFFENLIEBE SATT,<br />
DIE DINGE MEUTERN GEGEN EUCH!<br />
Velimir Chlebnikov, Der Kranich (1914), in: Anke Hennig, Über die Dinge, Texte <strong>der</strong> russischen Avantgarde, 2010.<br />
222
Ich gebe Applaus für alle und zu allem, egal, wer kommt.<br />
Ich bin <strong>der</strong> Facebook-Like in Stahl. Ich klatsche, je mehr<br />
Likes desto besser. Ich kann es, also tue ich es. Meine<br />
Materialität gibt es her, ich kann das noch sehr lange<br />
fortführen. Meine Verwandtschaft kommt aus dem Arbeitermilieu<br />
und ich kann meine Herkunft nicht leugnen.<br />
Ich will es auch gar nicht, trotzdem bin ich natürlich nicht<br />
mehr damit befasst, in <strong>der</strong> Erde zu wühlen – das macht<br />
dann eben doch einen Unterschied. Ich beschäftige mich<br />
jetzt mit ganz an<strong>der</strong>en, ungeahnten Dingen, zum Beispiel<br />
mit dem Beifall, denn ich kann klatschen.<br />
Das ist laut und hört sich nach wie vor nach Baustelle an.<br />
Mein Äußeres und dieser Sound erhalten die Illusion von<br />
schwerer Arbeit aufrecht, auch wenn ich längst ganz an<strong>der</strong>e<br />
Fähigkeiten besitze. Meine Größe ist unverän<strong>der</strong>t.<br />
Ich flöße Respekt ein. Menschen lachen womöglich über<br />
meine Begrüßung, fürchten sich aber auch, nicht nur vor<br />
meiner Größe, son<strong>der</strong>n vor allem vor den Bewegungen,<br />
die ich potenziell auszuführen in <strong>der</strong> Lage bin. Die Furcht<br />
vor uns Maschinen ist schon sehr alt, <strong>der</strong> Aufstand <strong>der</strong><br />
Dinge wird bereits seit Jahrhun<strong>der</strong>ten immer mal prognostiziert.<br />
Ich habe einen natürlichen Hoheitsbereich:<br />
Abhängig von <strong>der</strong> Vorstellungskraft <strong>der</strong> Passant:innen<br />
wird ein jeweils an<strong>der</strong>er Sicherheitsabstand eingenommen.<br />
Strecke ich meinen Gelenkarm voll aus, habe ich<br />
einen Aktionsradius von mehreren Metern.<br />
Sicherheit o<strong>der</strong> Sicherheitsabstand ist auch ein wichtiges<br />
Thema, das mich stolz auf meine Herkunft macht. Und<br />
damit spreche ich für uns alle, momentan sind wir hier ja<br />
nur zu dritt, aber wir sind viele. Wir sind keine Trendroboterchen<br />
mit designtem Kindchenschema und allseits abgerundeten<br />
Ecken, die zu vertuschen versuchen, dass sie<br />
überhaupt eine Arbeit verrichten. Und obendrein sofort<br />
kleinlaut stoppen, sobald sie sich zum Beispiel als Staubsaug-<br />
o<strong>der</strong> Rasenmähroboter zwischen zwei Stuhlbeinen<br />
verklemmen und dann jämmerlich piepsen.<br />
»Das cute Objekt hat Macht über seinen Guardian. In <strong>der</strong><br />
hyperkommodifizierten Realität können wir den cuten Augen,<br />
dem cuten Blick nicht entkommen, er sucht sich uns.<br />
Die dummen Roboterhunde, <strong>der</strong> glupschäugige Avatar<br />
eines VTubers, <strong>der</strong> Wolf auf den Cornflakes-Schachteln.<br />
Überall simulieren wir hilflose Wesen wie eine umgedrehte,<br />
globale Pareidolie, in <strong>der</strong> nicht Gesichter in zufälligen<br />
Mustern herbeihalluziniert werden, son<strong>der</strong>n die Welt zugekleistert<br />
wird mit Wesen, die uns anstarren, damit wir<br />
uns nicht so einsam fühlen. Der Niedlichkeit können wir<br />
nicht entkommen.«<br />
Rudi Nuss, Unwesen <strong>der</strong> Asche o<strong>der</strong>: von <strong>der</strong> niedlichen, toten<br />
Welt schreiben, in: Kapsel Magazin, 2021.<br />
Wir sind da an<strong>der</strong>s. Wir nehmen keine Rücksicht auf Gegenstände<br />
o<strong>der</strong> Körperteile, die in unseren Radius geraten<br />
und uns zu stoppen versuchen. Wir sind von robuster<br />
Natur und müssen Verletzungen nicht fürchten. An<strong>der</strong>s<br />
als diese Plastikfreunde, die noch nicht einmal im Regen<br />
stehen können.<br />
Ich sage ja nicht, dass wir Leuten absichtlich den Kopf<br />
abreißen. Für eine dem Menschen ähnliche Kurzschlusshandlung<br />
fehlt uns ohnehin die nötige Wut. In <strong>der</strong> Unklarheit<br />
unserer Anliegen vibriert eine Beunruhigung, ob<br />
sich hier eine Maschinenspezies aus den Abhängigkeiten<br />
und Klassifikationsweisen zu entfernen gedenkt. Mit<br />
Pierre Bourdieu gesprochen sind wir Emporkömmlinge,<br />
haben den Aufgabenbereich unserer Maschinengruppe<br />
verlassen. Wir sind die Patenkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Readymades und<br />
haben uns von <strong>der</strong> funktionalen Eindeutigkeit emanzipiert.<br />
Wir performen. Man vergleicht uns sogar mit Balletttänzer:innen<br />
o<strong>der</strong> Storchenfamilien, die klappernd in<br />
ihren Nestern stehen.<br />
Was wir besprechen, wenn wir unsere Köpfe zum Huddle<br />
zusammenstecken, weiß kein Mensch.<br />
NORA SDUN, geboren 1974, hat zunächst Freie Kunst an <strong>der</strong> HFBK Hamburg<br />
bei Werner Büttner studiert und absolvierte daran anschließend den<br />
Studiengang Germanistik. Heute arbeitet Nora Sdun als Autorin und<br />
unterrichtet gelegentlich an <strong>der</strong> Hochschule für Künste in Bremen. Vor<br />
allem aber ist sie Verlegerin und Lektorin beim Textem Verlag, Hamburg,<br />
und dort u.a. Mitherausgeberin des Magazins Kultur & Gespenster und <strong>der</strong><br />
Schriftenreihe Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden.<br />
223
224
225SERVICE
SPIELSTÄTTEN / VENUES<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle und<br />
Turbinenhalle, Bochum<br />
Die Geschichte <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum beginnt im Jahr 1902, als<br />
die Halle dem Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation<br />
auf einer Industrie- und Gewerbeschau in Düsseldorf, <strong>der</strong> sogenannten<br />
»kleinen Weltausstellung«, als Ausstellungshalle diente. Über den Winter<br />
1902/1903 wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die<br />
Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als<br />
Gaskraftzentrale auf. Die Gaskraftzentrale verarbeitete das in den Hochofen<br />
anfallende Gichtgas und versorgte über 60 Jahre lang das Werk und<br />
umliegende Siedlungen mit Energie. 100 Jahre nach ihrer Errichtung in<br />
Bochum – am 30. April 2003 – wurde die durch einen funktionalen Vorbau<br />
erweiterte und nunmehr denkmalgeschützte Jahrhun<strong>der</strong>thalle im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> zweiten Saison <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> ihrer neuen Bestimmung<br />
als »Montagehalle für die Kunst« (Gerard Mortier) übergeben.<br />
The story of the Jahrhun<strong>der</strong>thalle Bochum begins in 1902, when the hall<br />
served as an exhibition hall for the Bochumer Verein für Bergbau und<br />
Gußstahlfabrikation (Bochum Association for Mining and Steel Casting)<br />
at an industrial and trade show in Düsseldorf, the »small world exhibition«.<br />
The monumental steel construction was transported from the Rhine<br />
to the Ruhr over the winter of 1902/1903 and assumed and assumed its<br />
function as a gas power station in the heart of the steelworks. The gas<br />
power station processed the blast furnace gas and supplied the plant and<br />
surrounding settlements with energy for over 60 years. 100 years after its<br />
construction in Bochum – on 30 April 2003 – the Jahrhun<strong>der</strong>thalle, which<br />
was extended by a functional porch and is now a listed building, was given<br />
a new purpose as an »assembly hall for art« (Gerard Mortier) during the<br />
opening of the second season of the <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle 1<br />
44793 Bochum<br />
ruhr3.com/jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 302, 305 o<strong>der</strong> 310 bis<br />
Haltestelle Bochumer Verein /<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />
Tram 302, 305 or 310 to Bochumer Verein /<br />
Jahrhun<strong>der</strong>thalle. Approx. 5 min. walk.<br />
Pkw / By Car<br />
Navigation: An <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>thalle,<br />
44793 Bochum<br />
Parkhaus Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
Im Parkhaus stehen zwei Parkplätze mit Ladestation<br />
für E-Fahrzeuge sowie fünf Behin<strong>der</strong>tenparkplätze<br />
zur Verfügung.<br />
Car park Westpark / Jahrhun<strong>der</strong>thalle<br />
The multi-storey car park has two parking spaces<br />
with charging stations for e-vehicles and five<br />
disabled parking spaces.<br />
STÜH33, Bochum<br />
Das Café STÜH33 ist Teil <strong>der</strong> KoFabrik, einem Ort für Begegnungen im<br />
Bochumer Stadtteil Gleisdreieck, und befindet sich im ehemaligen Magazin<br />
<strong>der</strong> Eisenhütte Heinzmann. Seit 2018 wurde das Backsteingebäude<br />
aus dem Jahr 1899 zur KoFabrik umgewandelt und beherbergt heute neben<br />
dem Café Coworkingflächen, Veranstaltungsräume, Büros und variabel<br />
nutzbare Räume für kreativen Austausch. Das Nachbarschaftscafé eröffnete<br />
2020 und ist <strong>2022</strong> erstmalig Spielstätte <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Café STÜH33 is part of the KoFabrik, a gathering place in the Gleisdreieck<br />
district of Bochum, and is located in the former warehouse of the<br />
Heinzmann ironworks. Since 2018, the brick building from 1899 has been<br />
transformed into the KoFabrik and, in addition to the café, now houses<br />
co working spaces, event spaces, offices and variable-use spaces for creative<br />
exchange. The neighbourhood café opened in 2020 and will be a<br />
venue for the <strong>Ruhrtriennale</strong> for the first time in <strong>2022</strong>.<br />
Stühmeyerstraße 33<br />
44787 Bochum<br />
ruhr3.com/stueh33<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 302, 305, 306, 310, 316 o<strong>der</strong> U-Bahn<br />
U35 bis Haltestelle Bochum Rathaus. Fußweg<br />
ca. 8 Minuten.<br />
Tram 302, 305, 306, 310, 316 or Un<strong>der</strong>ground U35<br />
to Bochum Rathaus. Approx. 8 min. walk.<br />
Leihfahrrad / Rental bike<br />
metropolradruhr Radstation 7107 Rathaus /<br />
Willy-Brandt-Platz 2. Fußweg ca. 6 Minuten.<br />
Bike station 7107 Rathaus (town hall) /<br />
Willy-Brandt-Platz 2. Approx. 6 min. walk.<br />
PKW / By Car<br />
Tiefgarage P3 Rathaus (kostenpflichtig), Fußweg<br />
ca. 4 Minuten. Im Parkhaus stehen Ladepunkte<br />
für E-Fahrzeuge sowie Behin<strong>der</strong>tenparkplätze zur<br />
Verfügung.<br />
Car park P3 Rathaus (chargeable), approx. 4 min.<br />
walk. Charging points for e-vehicles and disabled<br />
parking spaces are available in the car park.<br />
Paid parking in front of STÜH33.<br />
Kostenpflichtige Parkplätze vor dem STÜH33.<br />
226
Landschaftspark Duisburg-Nord,<br />
Gebläsehalle und Schalthaus Ost<br />
Das Stahlwerk im Duisburger Norden wurde 1902 von August Thyssen<br />
als Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb gegründet. Bis zum Jahr 1908<br />
wurden fünf Hochöfen in Betrieb genommen. Außer dem Hüttenwerk<br />
gab es auf dem 200 Hektar großen Gelände noch eine Schachtanlage,<br />
eine Sinterei, eine Kokerei und eine Gießerei. Die Gebläsehalle ist Teil des<br />
Dampf gebläse hauses, einem Gebäudekomplex aus <strong>der</strong> Gründungsphase<br />
des Werkes. Noch heute befinden sich hier vier Elektroturbogebläse, mit<br />
denen Hoch ofenwind erzeugt wurde, <strong>der</strong> zur Erschmelzung des Roheisens<br />
notwendig war.<br />
The steelworks in the north of Duisburg was founded in 1902 by August<br />
Thyssen as a joint stock company for metallurgical operations. Five blast<br />
furnaces were put into operation by 1908. In addition to the iron and<br />
steelworks, the 200-hectare site also included a pit, a sintering plant, a<br />
coking plant and a foundry. The Gebläsehalle (blower hall) is part of the<br />
steam blower house, a building complex from the founding period of the<br />
plant. Today, four electric turbo blowers still remain, which were used to<br />
generate the blast furnace wind needed to smelt the pig iron.<br />
Landschaftspark Duisburg-Nord<br />
Emscherstraße 71<br />
47137 Duisburg-Mei<strong>der</strong>ich<br />
ruhr3.com/landschaftspark<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 903 bis Landschaftspark-Nord.<br />
Fußweg ca. 12 Minuten.<br />
Tram 903 to Landschaftspark-Nord stop.<br />
Approx. 12 min. walk.<br />
Leihfahrrad / Rental bike<br />
metropolradruhr<br />
Radstation 7417 Eingang Landschaftspark.<br />
Fußweg ca. 4 Minuten.<br />
Bike station 7417 main entrance Landschaftspark<br />
Approx. 4 min. walk.<br />
Pkw / By Car<br />
Navigation: Emscherstraße 71, 47137 Duisburg<br />
(Mei<strong>der</strong>ich)<br />
Auf dem Parkplatz stehen zwei Ladepunkte für<br />
E-Fahrzeuge zur Verfügung.<br />
There are two charging points for e-vehicles in<br />
the car park.<br />
PACT Zollverein, Essen<br />
Mit <strong>der</strong> 1907 fertiggestellten Waschkaue <strong>der</strong> größten Zeche des Ruhrgebietes<br />
wurde Schacht 1/2/8 zum Dreh- und Angelpunkt <strong>der</strong> Bergleute <strong>der</strong><br />
Zeche Zollverein. Die Kaue ist ein Umklei<strong>der</strong>aum mit Duschen, ausgelegt<br />
für 3.000 Bergleute. In <strong>der</strong> Weißkaue legten die Bergleute ihre Straßenkleidung<br />
und in <strong>der</strong> Schwarzkaue ihre Arbeitskleidung in Körben ab, die<br />
sie dann unter die Decke zogen. Im Jahr 1964 mo<strong>der</strong>nisiert, war die Kaue<br />
bis zur Einstellung <strong>der</strong> Kohleför<strong>der</strong>ung 1986 in Betrieb.<br />
Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre entdeckten Choreograph:innen <strong>der</strong> Region die<br />
Kaue als Aufführungsort für den Tanz. In den Folgejahren wurde die Verwandlung<br />
in ein Haus für den zeitgenössischen Tanz auf Zollverein vorangetrieben,<br />
die Anfang 2002 im Zusammenschluss des Choreographischen<br />
Zentrums NRW und <strong>der</strong> Tanzlandschaft Ruhr zu PACT Zollverein<br />
ihren vorläufigen Hohepunkt und Abschluss fand.<br />
Completed in 1907, the washhouse of the largest colliery in the Ruhr region<br />
made shaft 1/2/8 the linchpin of the miners at the Kokerei Zollverein<br />
(Zollverein colliery). The baths are a changing room with showers designed<br />
for 3,000 miners. The white bath is where miners put their street clothes<br />
and the black bath is where they put their work clothes in baskets, which<br />
they then pulled un<strong>der</strong> the ceiling. Mo<strong>der</strong>nised in 1964, the bath was in<br />
operation until coal mining ceased in 1986.<br />
In the early 1990s, choreographers from the region started using the pithead<br />
as a performance space for dance. In the following years, its transformation<br />
into a house for contemporary dance at Zollverein was driven<br />
forward, which reached its temporary climax and conclusion at the beginning<br />
of 2002 with the merger of the Choreographisches Zentrum NRW<br />
and the Tanzlandschaft Ruhr to form PACT Zollverein.<br />
Welterbe Zollverein, Areal B<br />
Bullmannaue 20a, 45327 Essen<br />
ruhr3.com/pact<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 107 bis Haltestelle Abzweig<br />
Katernberg. Fußweg ca. 6 Minuten<br />
RB 32/35 bis Bahnhof Essen Zollverein Nord.<br />
Fußweg ca. 7 Minuten.<br />
Tram 107 to Katernberg stop. Approx. 6 min. walk.<br />
RB 32/35 to Essen Zollverein Nord<br />
station. Approx. 7 min. walk<br />
Leihfarrad / Rental bike<br />
metropolradruhr<br />
Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />
sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation 7597.<br />
Fußweg ca. 7 Minuten.<br />
Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />
behind the Ruhr Museum. Approx. 7 minutes’ walk.<br />
Pkw / By Car<br />
Bitte nutzen Sie den Parkplatz B, Zufahrt über die<br />
Bullmannaue. Es stehen keine Ladepunkte für<br />
E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />
Please use car park B, access via Bullmannaue.<br />
There are no charging points available for<br />
e-vehicles in the immediate vicinity.<br />
227
Salzlager und Halle 5, Welterbe<br />
Zollverein, Essen<br />
Mit einer För<strong>der</strong>leistung von mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle täglich<br />
war die Zeche Zollverein einst die leistungsfähigste Zeche <strong>der</strong> Welt. Die<br />
Zentralschachtanlage XII, von 1928–1932 nach Plänen von Fritz Schupp<br />
und Martin Kremmer gebaut, gilt als technisches und ästhetisches Meisterwerk<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Im Jahr 2001 wurde das Areal offiziell als Industriekomplex<br />
Zeche Zollverein in die Welterbeliste <strong>der</strong> UNESCO aufgenommen.<br />
Die Kokerei Zollverein entstand 1957–1961 in Anbindung an die Zeche Zollverein.<br />
Aus rund 10.000 Tonnen Kohle konnten hier täglich circa 7.500<br />
Tonnen Koks gewonnen werden. Auf diesem Areal liegt das Salzlager, in<br />
dem bis in die 1980er Jahre Dünger hergestellt wurde – gewonnen aus<br />
Ammoniak und Schwefelsäure. Die Kokerei wurde 1993 stillgelegt. Seit<br />
2001 befindet sich hier die begehbare Rauminstallation Palast <strong>der</strong> Projekte<br />
<strong>der</strong> Künstler Ilya und Emilia Kabakov.<br />
Auf Schacht XII befand sich auch die Zentralwerkstatt für alle Zollverein-<br />
Betriebe. In <strong>der</strong> Halle 5 waren die Schmiede und die Schlosserei untergebracht.<br />
Die schlichte Architektur beeindruckt durch ihre großzügigen<br />
Dimensionen und grafischen Strukturen. Nach Abschluss des Umbaus im<br />
Jahr 1992 wird die Halle heute für Ausstellungen, Konzerte und Events<br />
genutzt.<br />
With an output of more than 23,000 tonnes of raw coal per day, the Kokerei<br />
Zollverein (Zollverein colliery) was once the most efficient colliery in the<br />
world. The central shaft XII, built between 1928 and 1932 according to plans<br />
by Fritz Schupp and Martin Kremmer, is consi<strong>der</strong>ed a mo<strong>der</strong>n technical<br />
and aesthetic masterpiece. In 2001, the site was officially listed as Zollverein<br />
Coal Mine Industrial Complex on the UNESCO World Heritage List.<br />
The Kokerei Zollverein (Zollverein coking plant) was built between 1957<br />
and 1961 in connection with the Zollverein colliery. Approximately 7,500<br />
tonnes of coke could be produced here daily from around 10,000 tonnes<br />
of coal. The Salzlager (salt warehouse) where fertiliser– made from ammonia<br />
and sulphuric acid – was produced until the 1980s is located on this<br />
site. The coking plant was shut down in 1993. Since 2001, it has housed<br />
the walk-in installation Palace of Projects by the artists Ilya and Emilia<br />
Kabakov.<br />
Shaft XII was also home to the central workshop for all Zollverein operations.<br />
Halle 5 (Hall 5) housed the forge and the locksmith’s shop. The<br />
simple architecture impresses with its generous dimensions and graphic<br />
structures. After the reconstruction was completed in 1992, the hall is now<br />
used for exhibitions, concerts and events.<br />
Salzlager<br />
Welterbe Zollverein,<br />
Areal C Heinrich-Imig-Straße 11<br />
45141 Essen<br />
Halle 5<br />
Gelsenkirchener Straße 181<br />
45309 Essen<br />
ruhr3.com/zollverein<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Straßenbahn 107 bis Haltestelle Zollverein. Fußweg<br />
Salzlager ca. 15 Min. / Fußweg Halle 5 ca. 2 Min.<br />
Bus 183 bis Haltestelle Kokerei Zollverein<br />
(Salzlager) / Haltestelle Kohlenwäsche (Halle 5)<br />
Tram 107 to Zollverein stop. Approx. 15 minutes’<br />
walk. to Salzlager / 2 minutes’ walk to Halle 5.<br />
Bus 183 to Kokerei Zollverein stop. Approx.<br />
3 minutes’ walk. (Salzlager) / Kohlenwäsche stop<br />
(Halle 5)<br />
Leihfarrad / Rental bike<br />
metropolradruhr<br />
Auf dem Gelände des Welterbe Zollverein befindet<br />
sich hinter dem Ruhr Museum die Radstation<br />
7597. Fußweg ca. 10 Minuten.<br />
Bike station 7597 is located at Welterbe Zollverein<br />
behind the Ruhr Museum. Approx. 10 min. walk.<br />
Pkw / By Car<br />
Salzlager<br />
Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz C<br />
Verfügung, Zufahrt über Arendahls Wiese. Ca. 5<br />
Minuten Fußweg.<br />
Free parking is available in Area C (Kokerei), car<br />
park C: approach via Arendahls Wiese. Approx.<br />
5 minutes’ walk.<br />
Halle 5<br />
Kostenlose Parkplätze stehen auf Parkplatz A1<br />
und A2 zur Verfügung, Anfahrt über Fritz-Schupp-<br />
Allee o<strong>der</strong> Bullmannaue. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />
Free parking is available in carparks A1 or A2,<br />
approach via Fritz-Schupp-Allee or Bullmannaue.<br />
Approx. 5 minutes’ walk.<br />
228
Maschinenhaus Essen<br />
Das Maschinenhaus Essen ist Teil <strong>der</strong> ehemaligen Schachtanlage Carl,<br />
die ab 1855 errichtet wurde. Erbaut wurde das Backsteingebäude im Jahr<br />
1900 als Standort für die Dampfmaschine, die den För<strong>der</strong>korb bewegte.<br />
1929 wurde die Kohleför<strong>der</strong>ung eingestellt. Bis 1970 war Schacht Carl<br />
noch für Seilfahrt, Materialför<strong>der</strong>ung und Bewetterung in Betrieb, und die<br />
oberirdischen Gebäude wie das Maschinenhaus wurden als Werkstätten<br />
genutzt. Seit 1985 wird das Maschinenhaus als Produktions- und Veranstaltungshaus<br />
von dem Kunstverein Carl Stipendium e. V. getragen.<br />
The Maschinenhaus Essen (Essen engine house) is part of the former Zeche<br />
Carl (Carl pit), which was built from 1855 onwards. The brick building<br />
was built in 1900 to house the steam engine that moved the pit cage. Coal<br />
production ceased in 1929. Until 1970, Carl shaft was still in operation for<br />
rope haulage, material handling and ventilation, and the buildings above<br />
ground, such as the engine house, were used as workshops. Since 1985,<br />
the Maschinenhaus has been used as a production and event centre by<br />
the Carl Stipendium e. V. art association.<br />
Maschinenhalle Zweckel<br />
Gladbeck<br />
Die imposante Maschinenhalle <strong>der</strong> einstigen Zeche Zweckel in Gladbeck<br />
wurde 1909 errichtet. Das Gebäude bildete die »elektrische Centrale« <strong>der</strong><br />
Zeche und beherbergte Kompressoren, Generatoren und Umformer zur<br />
Erzeugung von Druckluft und elektrischer Energie. Die Zechengebäude<br />
sowie die Schornsteine und Kühltürme sind verschwunden, lediglich die<br />
stählernen För<strong>der</strong>gerüste von 1911/1912, die über die Halle hinausragen,<br />
verweisen unmittelbar auf die Zeit des Bergbaus. 1963 wurde die Zeche<br />
Zweckel stillgelegt, die Maschinenhalle diente noch bis in die 1990er Jahre<br />
als Wasserspeicher für umliegende Zechen. Wie groß die Wertschätzung<br />
<strong>der</strong> Maschinenhalle war, lässt die repräsentative Innenausstattung<br />
noch heute erahnen. Seit 1997 ist die Maschinenhalle Zweckel einer <strong>der</strong><br />
Standorte <strong>der</strong> Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur und<br />
seit 2002 regelmäßiger Spielort <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
The imposing Maschinenhalle (machine hall) of the former Zeche Zweckel<br />
(Zweckel colliery) in Gladbeck was built in 1909. The building formed the<br />
colliery’s »electrical centre« and housed compressors, generators and<br />
converters to produce compressed air and electrical energy. The colliery<br />
buildings have disappeared, along with the chimneys and cooling towers;<br />
only the steel winding frames from 1911/1912, which protrude above the<br />
hall, serve as a direct remin<strong>der</strong> of the mining era. Zeche Zweckel was<br />
closed down in 1963, but the machine hall continued to serve as a water<br />
reservoir for surrounding collieries until the 1990s. The high esteem in<br />
which the machine hall was held can still be seen today in the impressive<br />
interior design. Since 1997, the Maschinenhalle Zweckel has been one<br />
of the sites of the Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur<br />
(Foundation for the Preservation of Industrial Monuments and Historical<br />
Culture) and has been a regular venue of the <strong>Ruhrtriennale</strong> since 2002.<br />
Wilhelm-Nieswandt-Allee 100<br />
45326 Essen<br />
ruhr3.com/maschinenhaus<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
U17 o<strong>der</strong> U11 bis Haltestelle Altenessen Mitte,<br />
Ausgang in Richtung Zeche Carl, Beschil<strong>der</strong>ung<br />
Zeche Carl folgen. Fußweg ca. 5 Minuten.<br />
U17 or U11 to Altenessen Mitte stop, exit in the<br />
direction of Zeche Carl, follow signs to Zeche Carl.<br />
Approx. 5 min. walk.<br />
Leihfarrad / Rental bike<br />
metropolradruhr<br />
Radstation 7554 Altenessen Mitte Fußweg ca.<br />
5 Minuten.<br />
Bike station 7597 Altenenssen Mitte<br />
Approx. 5 min. walk.<br />
PKW / By car<br />
Navigation: Wilhelm-Nieswandt-Allee 100,<br />
45326 Essen.<br />
Der Besucherparkplatz befindet sich direkt am<br />
Eingang zum Gelände. Es stehen keine Ladepunkte<br />
für E-Fahrzeuge in direkter Nähe zur Verfügung.<br />
The car park is located directly at the entrance<br />
to the grounds. There are no charging points<br />
available for e-vehicles in the immediate vicinity.<br />
Frentroper Straße 74<br />
45966 Gladbeck<br />
www.ruhr3.com/zweckel<br />
Nahverkehr / Public Transport<br />
Bus 188 von Gladbeck West Bf bis<br />
Maschinenhalle Zweckel<br />
Bus 188 from Gladbeck West Bf to<br />
Maschinenhalle Zweckel<br />
Shuttle Service<br />
Ein kostenloser Shuttle-Service verkehrt von Essen<br />
Hbf und Gladbeck West Bf zur Maschinenhalle<br />
Zweckel in Gladbeck und zurück. Weitere<br />
Informationen und Buchungsmöglichkeiten finden<br />
Sie online unter www.ruhr3.com/shuttle<br />
A free shuttle service runs from Essen Hbf and<br />
Gladbeck West Bf to Maschinenhalle Zweckel<br />
in Gladbeck and back. Further information and<br />
booking options can be found online at<br />
www.ruhr3.com/shuttle<br />
Pkw / By Car<br />
Navigation: Frentroper Straße 74,<br />
45966 Gladbeck.<br />
Es stehen keine Ladepunkte für E-Fahrzeuge<br />
in direkter Nähe zur Verfügung.<br />
There are no charging points available for<br />
e-vehicle in the immediate vicinity.<br />
229
TICKETS<br />
Online<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
Beim Online-Ticketkauf können Sie zwischen zwei Versandoptionen<br />
wählen.<br />
print@home: Drucken Sie Ihre Tickets bequem zu Hause<br />
aus. Die Buchung ist bis drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn<br />
möglich.<br />
Tickets per Post: Erhalten Sie Tickets per Post an Ihre<br />
Wunschadresse. Eine Buchung ist bis vier Tage vor Veranstaltung<br />
möglich, für den Versand wird eine Gebühr von<br />
4,50 € pro Sendung erhoben. Online steht Ihnen die Zahlung<br />
per PayPal, Kreditkarte o<strong>der</strong> Lastschrift zur Verfügung.<br />
Telefonisch<br />
Lassen Sie sich durch die Mitarbeiter:innen <strong>der</strong> Telefonhotline<br />
beraten o<strong>der</strong> buchen Sie hier Ihre Tickets. Der Versand<br />
kostet 4,50 € pro Sendung, die Zahlung erfolgt per<br />
Lastschrift o<strong>der</strong> Kreditkarte.<br />
+49 (0)221 280-210<br />
Mo–Fr 8–20 Uhr / Sa 9–18 Uhr / So 10–16 Uhr<br />
Allgemeine Vorverkaufsstellen<br />
An über 2.500 Vorverkaufsstellen erhalten Sie deutschlandweit<br />
Tickets für die Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Bitte erkundigen Sie sich online über die Erreichbarkeit<br />
und die Öffnungszeiten Ihrer Vorverkaufsstelle:<br />
www.eventim.de<br />
Abendkasse<br />
Die Abendkassen an den Spielorten öffnen jeweils eine<br />
Stunde vor Vorstellungsbeginn. Unsere Tickethotline informiert<br />
Sie unter +49 (0)221 280-210 gerne vorab über<br />
verfügbare Karten. An den Abendkassen können Sie bar<br />
o<strong>der</strong> per EC-Karte zahlen.<br />
KombiTicket<br />
Die Eintrittskarten zur <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> gelten am Tag <strong>der</strong><br />
Veranstaltung im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr<br />
(VRR) in allen Bussen und Nahverkehrszügen (2. Klasse) für<br />
Hin- und Rückfahrt zum bzw. vom Veranstaltungsort. Die<br />
Tickets gelten am Besuchstag bis 3.00 des Folgetages. Die<br />
Tickets sind nicht übertragbar.<br />
Allgemeine Geschäftsbedingungen<br />
Die Allgemeinen Geschäftsbedinungen <strong>der</strong> Kultur Ruhr<br />
können Sie unter folgendem Link finden ruhr3.com/agb<br />
Online<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
You can choose between two delivery options when purchasing<br />
tickets online.<br />
print@home: Print your tickets in the comfort of your own<br />
home. Booking is possible up to three hours before the<br />
start of the event.<br />
Tickets by post: Receive tickets by post to your preferred<br />
address. Bookings can be made up to four days before the<br />
event. A fee of €4.50 per item will be charged for postage.<br />
You can pay online by PayPal, credit card or direct debit.<br />
By phone<br />
Let the staff on the telephone hotline advise you or book<br />
your tickets here. Shipping costs € 4.50 per shipment, payment<br />
is done by direct debit or credit card.<br />
+49 (0)221 280-210<br />
Mon–Fri 8am–8pm / Sat 9am–6pm / Sun 10am–4pm<br />
General advance booking offices<br />
Tickets for <strong>Ruhrtriennale</strong> events are available at over 2,500<br />
advance booking offices throughout Germany. Please<br />
enquire online about the availability and opening hours of<br />
your advance booking office: www.eventim.de<br />
Box office<br />
The box offices at the performance venues open one hour<br />
before the performance begins. Our ticket hotline will be<br />
happy to inform you in advance about available tickets on<br />
+49 (0)221 280-210. You can pay cash or by EC card at<br />
the box office.<br />
KombiTicket<br />
Tickets for the <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> are valid on the day<br />
of the event in the entire Rhine-Ruhr transport network<br />
(VRR) on all buses and local trains (2nd class) for the outward<br />
and return journey to and from the venue. The tickets<br />
are valid on the day of the visit until 3am the following<br />
day. The tickets are not transferable.<br />
General Terms and Conditions<br />
The General Terms and Conditions of Kultur Ruhr GmbH<br />
can be found at www.ruhr3.com/agb<br />
230
Ermäßigungen<br />
50% Rabatt<br />
auf Karten im Vorverkauf erhalten Schüler:innen, Auszubildende,<br />
Studierende sowie Bundesfreiwilligendienstleistende<br />
und Erwerbslose. Bitte halten Sie Ihre Berechtigung<br />
am Einlass bereit.<br />
Last-Minute-Ticket<br />
Ab 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn können Ermäßigungsberechtigte<br />
nach Verfügbarkeit Last-Minute-Tickets<br />
für 10 € an <strong>der</strong> Abendkasse erwerben. Ausgenommen ist<br />
die Veranstaltung The Third Room X Respublika.<br />
Professional Tickets<br />
Professionals erhalten 50% Ermäßigung auf Tickets.<br />
Akkreditierung unter www.ruhr3.com/professionals<br />
RuhrKultur.Card<br />
Inhaber:innen <strong>der</strong> RuhrKultur.Card erhalten bei <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ein Veranstaltungsticket nach Wahl zum halben<br />
Preis. Diese Regelung gilt nicht für Premierenveranstaltungen.<br />
Einlösbar über die Tickethotline, an den Vorverkaufsstellen<br />
und an <strong>der</strong> Abendkasse.<br />
Informationen und Buchung <strong>der</strong> RuhrKultur.Card unter<br />
www.ruhrkulturcard.de.<br />
Familienticket<br />
Familien, bestehend aus mindestens einem Kind in Ausbildung<br />
und einer erwachsenen Person, mit insgesamt<br />
bis zu fünf Mitglie<strong>der</strong>n, erhalten bei den Produktionen<br />
promise me und Hillbrowfication vergünstigten Eintritt.<br />
Schulklassen<br />
Nach Verfügbarkeit können Tickets für Schulklassen<br />
und -kurse bis nach den Sommerferien (spätestens<br />
14 Tage vor <strong>der</strong> Vorstellung) reserviert werden. Klassen<br />
und Schulkurse ab 10 Personen erhalten Tickets für<br />
5 € pro Schüler:in und pro Begleitperson (max. zwei pro<br />
Klasse/Kurs) für alle Veranstaltungen. Ein Besuch <strong>der</strong><br />
Performance Follow me kostet 3,50 € pro Person für<br />
Schüler:innen und begleitende Lehrkräfte.<br />
Bei direkter Buchung ohne vorherige Reservierung müssen<br />
Karten für Schulgruppen mindestens sieben Werktage<br />
vor <strong>der</strong> Veranstaltung gebucht werden.<br />
Schulen reservieren und bestellen Tickets bitte unter<br />
jungetriennale@ruhrtriennale.de o<strong>der</strong> +49 (0)234 97483375<br />
Discounts<br />
50% discount<br />
on advance tickets are available to schoolchildren, trainees,<br />
students, volunteers and the unemployed. Please have your<br />
authorisation ready at the entrance.<br />
Last-Minute-Ticket<br />
Starting 30 minutes before the performance, concession<br />
hol<strong>der</strong>s can purchase last-minute tickets for €10 at the<br />
box office, subject to availability. The Third Room X Respublika<br />
event is excluded.<br />
Professional tickets<br />
Professionals also receive a 50% discount on tickets.<br />
Accreditation at www.ruhr3.com/professionals<br />
RuhrKultur.Card<br />
RuhrKultur.Card hol<strong>der</strong>s receive an event ticket of their<br />
choice at half price at the <strong>Ruhrtriennale</strong>. This rule does<br />
not apply to premiere events. Redeemable via the ticket<br />
hotline, at advance booking offices and at the box office.<br />
Information and booking of the RuhrKultur.Card at<br />
www.ruhrkulturcard.de.<br />
Family ticket<br />
Families consisting of at least one child in education<br />
and one adult, with up to five family members in total,<br />
receive a discount for the productions promise me and<br />
Hillbrowfication.<br />
School classes<br />
Subject to availability, Tickets for school classes and<br />
courses can be reserved until after the summer holidays<br />
(14 days before the performance at the latest). Classes<br />
and school courses of 10 or more receive tickets for €<br />
5 per pupil and per accompinying person (max. two per<br />
class/course) for all events. A ticket for the performance<br />
Follow me costs €3.50 per pupil and accompinying<br />
teachers.<br />
When booking the tickets without a previous reservation<br />
tickets for school classes and courses need to be booked<br />
seven business days prior to the performance. Reservation<br />
and booking at jungetriennale@ruhrtriennale.de or<br />
+49 (0)234 97483375<br />
231
IHR BESUCH<br />
Corona Information<br />
Aufgrund <strong>der</strong> aktuellen Situation kann es noch zu COVID-<br />
19-bedingten Maßnahmen und Programmän<strong>der</strong>ungen kommen.<br />
Die Gesundheit des Publikums, <strong>der</strong> Künstler:innen<br />
und aller Mitwirkenden steht dabei immer an erster Stelle.<br />
Auch für die <strong>Ruhrtriennale</strong> <strong>2022</strong> wurde ein umfangreiches<br />
Hygiene- und Infektionsschutzkonzept erarbeitet.<br />
Bitte informieren Sie sich vor dem Veranstaltungsbesuch<br />
auf unserer Website über die aktuell geltenden Bestimmungen.<br />
Sie haben darüber hinaus Fragen? Dann senden<br />
Sie eine E-Mail an service@ruhrtriennale.de o<strong>der</strong> informieren<br />
Sie sich unter ruhr3.com/faq.<br />
Audioeinführungen<br />
Auch in diesem Jahr werden Einführungen zu vielen Produktionen<br />
vorab als Audioeinführungen bereitgestellt. Über den<br />
gesamten Festivalzeitraum liefert das künstlerische Team<br />
des Festivals spannende Hintergrundinformationen, spricht<br />
mit Künstler:innen und Beteiligten und gewährt Einblicke in<br />
berauschende Musikstücke. Alle Audioeinführungen unter<br />
ruhr3.com/audio<br />
Rollstuhlplätze<br />
In fast allen Veranstaltungen stehen Rollstuhlplätze zur<br />
Verfügung. Die Eintrittskarte für eine Begleitperson ist frei.<br />
Buchung und weitere Informationen über die Tickethotline<br />
+49 (0) 221 280-210.<br />
Nacheinlass<br />
Bitte beachten Sie: je nach Produktion ist ein Einlass nach<br />
Vorstellungsbeginn nicht immer möglich.<br />
Übernachtung<br />
Besucher:innen, die für ihren Aufenthalt während <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
ein Hotel buchen möchten, empfehlen wir eine<br />
Nacht in einem <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>-Partnerhotels zu exklusiven<br />
Konditionen. Alle Partnerhotels und Informationen zu<br />
den Konditionen und zur Buchung unter ruhr3.com/reisen<br />
Metropole Ruhr<br />
Kostenfreies Informationsmaterial rund um die Metropole<br />
Ruhr, weitere Hotelangebote und Unterkünfte erhalten Sie<br />
auch bei unserer Partnerin, <strong>der</strong> Ruhr Tourismus GmbH unter<br />
ruhr-tourismus.de. Infohotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0,20<br />
€ pro Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunkpreise<br />
max. 0,60 € pro Anruf<br />
Corona Information<br />
Due to the current situation, COVID-19-related measures<br />
and programme changes may still occur. The health of the<br />
audience, the artists and all participants is always the top<br />
priority. A comprehensive hygiene and infection prevention<br />
concept has also been drawn up for the <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
<strong>2022</strong>. Please familiarise yourself about the current regulations<br />
on our website before attending the event. Do you<br />
have any further questions? If so, please send an e-mail to<br />
service@ruhrtriennale.de or visit ruhr3.com/corona for the<br />
latest information.<br />
Audio introductions<br />
Once again this year, audio introductions to many productions<br />
will be made available in advance. Throughout the<br />
festival, the artistic team of the festival will provide exciting<br />
background information, talk to artists and participants and<br />
offer insights into exhilarating pieces of music.<br />
All audio introductions are available at<br />
ruhr3.com/audio<br />
Wheelchair spaces<br />
Wheelchair spaces are available at almost all events. The<br />
ticket for an accompanying person is free.<br />
Booking and further information via the ticket hotline<br />
+49 (0) 221 280-210.<br />
Late admission<br />
Please note: depending on the production, admission after<br />
the start of the performance may not always be possible.<br />
Accommodation<br />
Visitors who would like to book a hotel for their stay during<br />
the <strong>Ruhrtriennale</strong> are recommended to spend the night in<br />
one of the <strong>Ruhrtriennale</strong> partner hotels at special rates. All<br />
partner hotels and information on rates and booking are<br />
available at ruhr3.com/reisen<br />
Metropole Ruhr<br />
Free information material about the Metropole Ruhr, further<br />
hotel offers and accommodation is also available from<br />
our partner, Ruhr Tourismus GmbH at ruhr-tourismus.de.<br />
Information hotline: +49 (0) 180 618 16 20 (0.20 € per call<br />
from the German fixed network; mobile phone prices max.<br />
€ 0.60 per call<br />
232
FREUNDESKREIS & CLUB.RUHR<br />
Der Freundeskreis ist näher dran!<br />
Der <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis versteht sich als Gemeinschaft<br />
von Kunstbegeisterten, die sich aktiv in das<br />
Festival einbringen und die Kulturlandschaft <strong>der</strong> Region<br />
gemeinsam erleben möchten. Als För<strong>der</strong>verein engagiert<br />
sich <strong>der</strong> Freundeskreis für die <strong>Ruhrtriennale</strong> und ihre<br />
Künstler:innen und för<strong>der</strong>t die Realisierung von ausgewählten<br />
Festivalproduktionen. Durch Ticketpatenschaften<br />
setzt sich <strong>der</strong> Verein dafür ein, einem vielfältigen<br />
Publikum den Zugang zum Festival zu ermöglichen. Ein<br />
weiteres zentrales Anliegen ist die Vermittlung des Festivalprogramms<br />
an junge Menschen und Studierende.<br />
The Freundeskreis is up close and personal!<br />
The <strong>Ruhrtriennale</strong> Freundeskreis is a community of art enthusiasts<br />
who want to be actively involved in the festival<br />
and would like to experience the cultural landscape of the<br />
region together. As a support association, the Freundeskreis<br />
is committed to the <strong>Ruhrtriennale</strong> and its artists and<br />
promotes the realisation of selected festival productions.<br />
The association is committed to providing access to the<br />
festival for a diverse audience through ticket sponsorships.<br />
Communicating the festival programme to young people<br />
and students is another core objective of the association.<br />
Club.Ruhr<br />
Kunstbegeisterte Menschen bis 35 Jahre können sich für<br />
eine Mitgliedschaft im jungen Freundeskreis entscheiden:<br />
Der Club.Ruhr erlebt nicht nur die <strong>Ruhrtriennale</strong> jedes<br />
Jahr gemeinsam, son<strong>der</strong>n trifft sich auch außerhalb des<br />
Festivals, um gemeinsam die Kulturinstitutionen <strong>der</strong> Region<br />
zu erkunden.<br />
Möchten Sie Mitglied werden o<strong>der</strong> mehr erfahren? Weitere<br />
Informationen und das Antragsformular finden Sie unter:<br />
freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />
Art enthusiasts up to 35 years of age can choose to become<br />
members of the young Freundeskreis: The Club.Ruhr<br />
does more than just experience the <strong>Ruhrtriennale</strong> together<br />
every year, it also meets outside the festival to explore<br />
the region’s cultural institutions together.<br />
Ihre Vorteile<br />
Exklusives Vorkaufsrecht<br />
Kaufen Sie Ihre Tickets für die <strong>Ruhrtriennale</strong> bereits eine<br />
Woche vor dem offiziellen Vorverkaufsstart.<br />
Persönliche Vorstellung des Festivalprogramms<br />
Bei <strong>der</strong> jährlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlung erhalten Sie<br />
schon vor allen an<strong>der</strong>en Einblicke in das Programm <strong>der</strong><br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> und haben die Gelegenheit, die Intendanz<br />
und das künstlerische Team <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> persönlich<br />
zu treffen.<br />
Einladung zum Prolog<br />
Für den Freundeskreis startet das Festival bereits früher:<br />
Beim Prolog erhalten Sie vor <strong>der</strong> Eröffnung einen beson<strong>der</strong>en<br />
Blick hinter die Kulissen des Festivals.<br />
Generalprobenbesuche<br />
Besuchen Sie gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n des Freundeskreises<br />
öffentliche Generalproben <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>.<br />
Mitglie<strong>der</strong>brief<br />
Mit dem Newsletter erhalten Sie alle Informationen rund<br />
um die <strong>Ruhrtriennale</strong> als Erste.<br />
Wir sagen Danke!<br />
Wir bedanken uns bei allen Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong><br />
und insbeson<strong>der</strong>e bei den För<strong>der</strong>:innen des Jahres <strong>2022</strong>,<br />
Ingeborg El Dib, Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Ursula<br />
Müller, N. N. und Andrea Steinle für ihr Engagement!<br />
Freundeskreismitglie<strong>der</strong>n stehen verschiedene För<strong>der</strong>modelle<br />
zur Auswahl:<br />
Club.Ruhr: bis 35 Jahre, ab 20 € / Jahr<br />
Freund:in, Einzelperson: ab 95 € / Jahr<br />
Freund:in, Paare: ab 140 € / Jahr<br />
För<strong>der</strong>:in: ab 1.000 € / Jahr<br />
Partner:in: ab 5.000 € / Jahr<br />
Would you like to become a member or find out more?<br />
You can find more information and the application form at:<br />
freundeskreis.ruhrtriennale.de<br />
233
TEAM<br />
Intendanz und Geschäftsführung /<br />
Artistic Direction and General Management<br />
Barbara Frey<br />
Geschäftsführerin / General Management<br />
Dr. Vera Battis-Reese<br />
Assistent <strong>der</strong> Intendantin /<br />
Assistant to the Artistic Director<br />
Maximilian Brands<br />
Mitarbeiterin <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
und Sponsoring / Assistant to the<br />
managing director and sponsoring<br />
Regina Weidmann<br />
Justiziariat / Legal Adviser’s Department<br />
Valentina Lori, Melina Schimmöller,<br />
Annika Trockel<br />
Controlling<br />
Birgit Schuurman<br />
Künstlerisches Betriebsbüro / Produktionsbüro /<br />
Artistic Management / Production Office<br />
Lisa Katharina Holzberg, Christiane Biallas,<br />
Katharina Flick, Stephanie Morawietz,<br />
Denise Oppenberg, Katharina Rückl, Karina Wozniak<br />
Künstlerische Beratung Sounddesign: Thomas Wegner<br />
Künstlerische Programmgestaltung /<br />
Artistic Curation<br />
Barbara Eckle, Judith Gerstenberg, Sara Abbasi,<br />
Nina Bade, Aljoscha Begrich, Johanna Danhauser (Gast),<br />
Mats Staub (Scouting), Andri Hardmeier (Autor/Lektor)<br />
Junge Triennale<br />
Anne Britting, Timo Kemp, Alicia Ulfik (FSJ Kultur)<br />
Konzept Internationaler Festivalcampus /<br />
Concept International Festival Campus<br />
Philipp Schulte, Carla Gesthuisen<br />
Presse / Press<br />
Angela Vucko, Stefanie Matjeka, Julia Nückel<br />
Grafikdesign / Graphic Design<br />
Dominik Blase, Sophie Schäfer<br />
Ticketing<br />
Ulrike Graf, Barbara Frie<strong>der</strong>ichsen-Mehta, Anja Nole<br />
Technik und Ausstattung / Technical Department<br />
Max Schubert, Mirko Bartoš, Marie Gäthke,<br />
Georg Kolacki, Tanja Martin, Lina Nole,<br />
Veronika Obermeier, Anne Prietzsch, Julia Reimann,<br />
Ioannis Siaminos, Saskia Tappe, Erik Trupin,<br />
Holger Vollmert, Anke Wolter<br />
Kostüm und Maske / Costumes and Make-up<br />
Anna Dressendörfer, Christina Hillinger, Pia Norberg<br />
Verwaltung / Administration Department<br />
Vanessa Sán Roman Domínguez, Tanja Alstede,<br />
Joanne Budzier, Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger,<br />
Nick Hosberg, Dominika Hourtz, Rebecca Heinzelmann,<br />
Stefanie Kusenberg, Franz-Josef Lortz,<br />
Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel,<br />
Max Schomann, Julia Schmidt, Roland Sieberg,<br />
Michael Turrek<br />
Veranstaltungsorganisation / Event Organisation<br />
Claudia Klein, Eileen Berger, Sven Mesterjahn<br />
Chorwerk Ruhr<br />
Jürgen Wagner, Martina Ossoble, Marcus Fuchs<br />
Urbane Künste Ruhr<br />
Künstlerische Leitung: Britta Peters; Projektleitung:<br />
Daniel Klemm; Technische Leitung: Stefan Göbel;<br />
Kuratorische Assistenz: Alisha Raissa Danscher;<br />
Leitungsassistenz: Tanja Borchert; Projektmanagement:<br />
Anna Dobrucki (in Elternzeit), Roy Huschenbeth,<br />
Larissa Koch; Kunstvermittlung: İpek Gençtürk,<br />
Jose phine Hofmann, Kim Lempelius; Marketing:<br />
Leonie Böhmer; Presse: Ana Djokic, Laura Konert<br />
Auszubildende / Trainees<br />
Abdulrahman Alajati, Katharina Härtling<br />
Marketing und Vertrieb / Marketing and Sales<br />
Franca Lohmann, Daniel Eißing, Fabio Gorchs,<br />
Moritz Kappen<br />
234
DANK<br />
Unser beson<strong>der</strong>er Dank gilt den För<strong>der</strong>nden, Sponsor:innen<br />
und Freund:innen <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong>. Ohne sie könnten wir<br />
so ein ambitioniertes Programm nicht realisieren. Mit ihrer<br />
Unterstützung ermöglichen sie uns die Freiheit, Ideen zu<br />
verwirklichen und Ort für außergewöhnliche künstlerische<br />
Produktionen und Erfahrungen zu sein.<br />
Our special thanks goes to the supporters, sponsors and<br />
partners of the <strong>Ruhrtriennale</strong>. Without them, we could<br />
not realise such an ambitious programme. With their<br />
support, they give us the freedom to realise ideas and<br />
provide a place for extraordinary artistic productions and<br />
experiences.<br />
GESELLSCHAFTER UND ÖFFENTLICHE FÖRDERER / ASSOCIATES AND PUBLIC SECTOR SUPPORTERS<br />
GEFÖRDERT DURCH DIE /<br />
FUNDED BY THE GERMAN FEDERAL<br />
CULTURAL FOUNDATION<br />
GEFÖRDERT VON / FUNDED BY THE<br />
FEDERAL GOVERNMENT COMMISSIONER<br />
FOR CULTURE AND THE MEDIA<br />
PROJEKTFÖRDERUNG / PROJECT SUPPORTERS<br />
RUHRTRIENNALE<br />
FREUNDESKREIS<br />
MEDIENPARTNERSCHAFTEN / MEDIA PARTNERS<br />
KOOPERATIONSPARTNER:INNEN / CO-OPERATION PARTNERS<br />
Bochum Marketing / Buchhandlung Proust / kritik-gestalten / Kultur.Pott Ruhr / Publicity Werbung GmbH /<br />
RuhrBühnen / Ruhr Tourismus GmbH / Stiftung Zollverein / Ströer Media GmbH<br />
235
NOW!<br />
DAS FESTIVAL<br />
FÜR NEUE MUSIK<br />
27.10.-6.11.<strong>2022</strong><br />
Horizonte<br />
NOW FESTIVAL<br />
BURKINA ELECTRIC – ENSEMBLE MUSIKFABRIK – JAGYEONG RYU<br />
FRED FRITH – FOLKWANG UNIVERSITÄT DER KÜNSTE – RYOKO AOKI<br />
WDR SINFONIEORCHESTER – VARIJASHREE VENUGOPAL – KYAI<br />
FATAHILLAH ENSEMBLE – ALEXEJ GERASSIMEZ – CLAUDE VIVIER<br />
BOCHUMER SYMPHONIKER – JOONGBAE JEE – TAN DUN – DUISBURGER<br />
PHILHARMONIKER – IWAN GUNAWAN – UNSUK CHIN – PETER RUNDEL<br />
RICCARDO NOVA – ENSEMBLE BRUCH – LUKAS LIGETI – BRIAN<br />
FERNEYHOUGH – ARDITTI QUARTET – NORIKO BABA – YOUNGHI<br />
PAGH-PAAN – GÜNTER STEINKE – MARTIN VON DER HEYDT<br />
PHILIPPE MANOURY – XU ZHIBIN – BENJAMIN LEUSCHNER<br />
ENSEMBLE S201 – HANNA EIMERMACHER – FELIZ ANNE MACAHIS<br />
PIERLUIGI BILLONE – DIETER MACK – JONATHAN STOCKHAMMER<br />
TOSHIO HOSOKAWA – MALIKA KISHINO – ENSEMBLE FONS<br />
ACHIM BORNHÖFT – MARC BARDEN – SEBASTIAN R. A. WENDT<br />
EMILIO POMÀRICO – ISANG YUN – GEORG FRIEDRICH HAAS U. A.<br />
Die Philharmonie Essen richtet NOW! gemeinsam mit <strong>der</strong> Folkwang Universität <strong>der</strong> Künste,<br />
<strong>der</strong> Stiftung Zollverein und dem Landesmusikrat NRW aus.<br />
Das Festival NOW! wird ermöglicht durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung<br />
und die Kunststiftung NRW.<br />
Das komplette Festivalprogramm mit allen Konzerten unter<br />
www.philharmonie-essen.de | Tickets 02 01 81 22-200
# MusikfestBerlin<br />
27.8. –<br />
19.9.<br />
<strong>2022</strong><br />
Concertgebouworkest<br />
Amsterdam<br />
Klaus Mäkelä<br />
Orchestre Révolutionnaire<br />
et Romantique /<br />
Monteverdi Choir<br />
John Eliot Gardiner<br />
The Philadelphia Orchestra<br />
Yannick Nézet-Séguin<br />
London Symphony<br />
Orchestra<br />
Sir Simon Rattle<br />
The Cleveland Orchestra<br />
Franz Welser-Möst<br />
In Zusammenarbeit mit<br />
und viele weitere Gastorchester,<br />
Ensembles und Solist*innen<br />
MFB22_Anz_<strong>Ruhrtriennale</strong>__200x150mm__psoUncoatedV3__RZ.indd 1 16.05.<strong>2022</strong> 17:39:42<br />
Bereits im 20. Jahr begleiten wir die<br />
<strong>Ruhrtriennale</strong> an fast allen Spielstätten<br />
mit unseren Bücher- und CD-Tischen.<br />
Wir freuen uns auf Barbara Frey,<br />
ihr Team und das Programm.<br />
proust . Wörter. Töne<br />
Am Handelshof 1 / 45127 Essen<br />
Tel. 0201 / 839 68 40<br />
www.buchhandlung-proust.de<br />
Mo. – Fr. 10.00 – 18.00, Sa. 10.00 – 16.00
Save the Date!<br />
30.09. &<br />
01.10.<strong>2022</strong><br />
www.pact-zollverein.de<br />
20 Jahre PACT<br />
Jubiläumsfest<br />
Part 2<br />
Wir sind 20! <strong>2022</strong> feiern wir zusammen die Begegnung und<br />
die Kraft <strong>der</strong> Kunst – mit einem vielfältigen Programm<br />
und zahlreichen Überraschungen. Wir freuen uns auf Euch!<br />
xx, PACT<br />
PACT ZOLLVEREIN<br />
Choreographisches Zentrum<br />
NRW Betriebs-GmbH<br />
Bullmannaue 20 a<br />
45327 Essen<br />
Öffentliche För<strong>der</strong>er
Das Feuilleton<br />
im Radio.<br />
Deutschlandfunk Kultur berichtet<br />
von <strong>der</strong> <strong>Ruhrtriennale</strong> Rang 1<br />
Das Theatermagazin<br />
Samstag, 14.05 Uhr<br />
Kompressor<br />
Das Popkulturmagazin<br />
Montag – Freitag, 14.05 Uhr<br />
bundesweit und werbefrei<br />
UKW, DAB+, Online und<br />
in <strong>der</strong> Dlf Audiothek App<br />
deutschlandfunkkultur.de<br />
Fazit<br />
Kultur vom Tage<br />
Montag – Sonntag, 23.05 Uhr<br />
14 TAGE GRATIS:<br />
Jetzt lesen: waz.de/testen<br />
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Reportagen auf WAZ.de
PINA BAUSCH
eiheit<br />
beginnt im Kopf.<br />
Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.<br />
Sie steht für die Vielfalt <strong>der</strong> Perspektiven. Für die Kraft<br />
<strong>der</strong> Fakten. Mit Tiefe und Intelligenz, mit sach lichem Blick<br />
und besonnenem Stil analysiert die Frankfurter Allgemeine<br />
das Geschehen und ordnet es ein. Demokratie beruht<br />
auf Freiheit. – Freiheit beginnt im Kopf.<br />
Freiheit hat viele Seiten –<br />
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VON HERZEN UND VON HIER.
IMPRESSUM<br />
Herausgeberin<br />
Kultur Ruhr GmbH<br />
Gerard-Mortier-Platz 1<br />
44793 Bochum<br />
Geschäftsführung<br />
Barbara Frey, Dr. Vera Battis-Reese<br />
Kontakt<br />
Tel.: +49 (0)234 97483-300<br />
info@ruhrtriennale.de<br />
www.ruhrtriennale.de<br />
Redaktion<br />
Dramaturgie, Junge Triennale,<br />
Künstlerisches Betriebsbüro,<br />
Marketing und Pressestelle<br />
Bildserie<br />
Mischa Leinkauf / VG Bild-Kunst<br />
Übersetzungen<br />
David Tushingham, Bochert Translations,<br />
Tess Lewis, PANTHEA – Oliver Chrzanowski,<br />
Rose-Anne Clermont, Cornelia Enger,<br />
Jen Theodor, Golbarg Zolfaghari<br />
Art Direction und Grafik Design<br />
María José Aquilanti &<br />
Ann Christin Sievers<br />
Satz<br />
María José Aquilanti, Dominik Blase,<br />
Sophie Schäfer, Ann Christin Sievers<br />
Druck und Herstellung<br />
Kunst- und Werbedruck GmbH & Co. KG,<br />
Bad Oeynhausen<br />
Redaktionsschluss<br />
19. Mai <strong>2022</strong><br />
Än<strong>der</strong>ungen vor be halten.<br />
Das Gespräch Promise me (S.192) mit<br />
den Choreograf:innen Joke Laureyns<br />
und Kwint Manshoven entnahmen wir<br />
ihrem Programmflyer.<br />
Wir haben uns bemüht, alle Urheberrechte<br />
zu ermitteln. Sollten darüber hinaus<br />
Ansprüche bestehen, bitten wir, uns diese<br />
mitzuteilen.<br />
Korrektorat<br />
Supertext<br />
Die <strong>Ruhrtriennale</strong> 2021–2023 ist Partnerin des Aktionsnetzwerkes Nachhaltigkeit in Kultur und Medien.<br />
Die Programmübersicht wurde klimaneutral gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.<br />
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