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“Zuckerrieseln”

Essay

Björn Jeske

“Zuckerrieseln”

Gisela Baudy

Eitle Diamanten

Ich blickte auf die trockenen Croissants, erdrosselt von drei Stunden

Meetingluft.

Auf dem Flipboard las ich: Lean Startup Methode, Innovation Trigger, den Rest

konnte oder wollte ich nicht mehr entziffern.

Sie ratterte ihren Verkaufstext runter.

»Die Agentur ICC begleitet Sie als Innovationspartner bei der Schaffung

Ihrer Innovationskultur. Gemeinsam erreichen wir ein wichtiges Ziel: Normen,

Wertvorstellungen und Denkhaltungen so zu beeinflussen, dass die am

Neuerungsprozess beteiligten Personen ihr Verhalten…«

Und so weiter.

Ich stellte mir vor wie, sie kinder- und ziellos in den Sommerferien durch

Barcelona vögelte.

Wo ich mal wieder hin könnte?, dachte ich.

Eine halbe Stunde noch.

Ganz langsam ließ ich Zucker in meinen Kaffee rieseln.

Ich sah wie die Kristalle vom Wasser aufgelöst wurden und es hörte sich an, wie

das Rauschen eines weit entfernten Ozeans.

Leise.

Einsiedler sieht man selten. Das liegt schon in der Natur der Sache. Auch sprachliche Diamanten

bekommt man kaum zu Gesicht. Sie ziehen sich auf das Notwendige zurück. Was bleibt, ist ein fester

Kern oder eine dichte Erfahrung, die in sich selber ruht.

Aphorismen gehören zu diesen Diamanten. Sie sondern sich von ihrer Umgebung ab, wie schon

die alten Griechen wussten (aphorizein: absondern) und verdichten Sprache und Erfahrungen zu

kernigen Sätzen. Alles andere ist verbaler Mainstream. Oder Müll. Im quasi luftleeren Raum verbinden

sich fremde Wörter zu einem neuen Ganzen. Paradoxien oder Doppeldeutigkeiten heißen die bunten

Gewänder, die den neugeborenen stolzen Wesen einen besonderen Reiz verleihen.

Oh, diese Eitelkeit ... Wie vermessen sie doch sind, diese glitzernden Geschöpfe, sich alleine auf dem

sprachlichen Olymp der absoluten Sprachkunst zu wähnen! Gibt es sie doch auch, hochfliegende

Mitspieler, die ebenso kompakt und farbenfroh daherkommen.

Nehmen wir doch mal dieses Haiku, das sich auch als Aphorismus lesen lässt: "Was an uns Licht gibt

/ sind Lichtungen im Alltag. / Helle Momente." Na und?", höre ich schon die eitlen Wesen sagen. "Wir

können auf den letzten Vers gut verzichten, das Haiku aber nicht."

Wie recht sie doch haben! Sie schaffen es sogar, mit ihren intensiven Strahlen uns alle zu erreichen.

Wohlan, es lebe die Eitelkeit! Und der Aphorismus.

Das zitierte Haiku stammt aus dem Gedichtband "Blaues Ufer" von Gisela Baudy.

× Gisela Baudy. Altphilologin, Germanistin, freie Journalistin, Online-Redakteurin und Autorin in Hamburg. Eigenständige

Gedichtbände seit 2016: "Tonspuren – Lyrisches Tagebuch“ (Verlag in Wien), "Worthaut", "Blaues Ufer" (Verlag in

Hamburg). Ferner Gedichte, Kurzgeschichten in Anthologien /Zeitschriften.

Aber da.

Dann horchte ich auf:

»Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte sie.

Ich lächelte.

× Björn Jeske, geboren 1980 im Schwarzwald, arbeitet als freier Texter und Designer.

Er sammelt Sneaker, Bücher, Erfahrungen und schreibt Short Storys, Drehbücher, Gedichte ohne Reim.

Er lebt mit seiner Familie in Wedel bei Hamburg..

20 07/ 08/2022 www.experimenta.de 21

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