Leben erleben
Leben erleben ist das Thema der aktuellen eXperimenta.
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Künstlerin des Monats
Essay
Werner Friedl
Liebe Leserinnen und liebe Leser, Sprache ist faszinierend. Ich wünsche Ihnen
einen großen Lesegenuss mit dieser Ausgabe und möchte Sie einladen zu
genießen, die Texte und Bilder, die Sie sehen und die bei Ihnen entstehen, kritisch
zu betrachten, sich inspirieren zu lassen, zu staunen und zu hinterfragen.
Ich würde mich für Sie und für die experimenta sehr freuen, wenn Sie sich
angesprochen fühlten.
Verbunden mit den besten Wünschen an die experimenta zum 20-jährigen
Bestehen grüße ich Sie sehr herzlich.
Marlene Schulz
www.marleneschulz.info
× Marlene Schulz *1961, Studien des belletristischen
und journalistischen Schreibens, 2008-2010
Stipendiatin am INKAS-Institut für kreatives
Schreiben in Bad Kreuznach, seit 2005 beteiligt an DIE
SCHREIBWERKSTATT bei syntagma in Frankfurt
am Main; zahlreiche Veröffentlichungen (Prosa,
Lyrik) in Literaturzeitschriften und Anthologien im
deutschsprachigen Raum, www.marleneschulz.info
Finden im Verlieren
Gedanken zu Robert Frosts Gedicht „Directive“ 1 – 2. Teil
(Das Gedicht Directive von Robert Frost und die individuelle Kindheit. Und hier ist jede Nostalgie
deutsche Übertragung sind in der Juni-Ausgabe der sinnlos, denn der Blick des Erwachsenen auf das
experimenta abgedruckt.)
Leben unterscheidet sich radikal von dem des
Kindes. Die beiden „Weltanschauungen“ können nie
Wir sollten den Rat des Sprechers noch einmal mehr in Übereinstimmung gebracht werden. Legt
genau prüfen: handelt es sich wirklich um die
man einen kindlichen Maßstab an, so ist die Welt
Empfehlung, zurück in eine idealisierte (oder
tatsächlich simple, was in keiner Hinsicht „besser“
auch schmerzhafte) Vergangenheit zu fliehen? oder „schlechter“ bedeutet, nur eben völlig anders.
Dass Frost die Fallgruben der Erinnerung sehr Es ist eine Sichtweise, zu der in der Regel kein
bewusst gewesen sind, zeigt zuallererst eines Erwachsener wieder zurückfindet – aber gerade
seiner bekanntesten (und, wie David Orr, Kolumnist hierin liegt womöglich eine zentrale Aussage des
der New York Times Book Review, schreibt 1 , am Gedichts. Kann die Aufforderung Back out of all this
meisten missverstandenen) Gedichte, The Road now nicht einfach heißen: Werdet wie die Kinder? Da
Not Taken von 1916: Hier vermutet der Wanderer Frost in den Schlusszeilen das Markusevangelium
(das lyrische Ich), dass er sich eines fernen Tages zitiert, scheue ich mich nicht, das des Matthäus
an die Situation, in der er zwischen zwei Wegen zu anzuführen: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet
wählen hatte, in einer Weise erinnern wird, die ihm wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich
vorgaukelt, er hätte einen der beiden Wege, nämlich kommen. 2 Ist es also dieses Ziel, zu dem uns der
den weniger begangenen gewählt, und diese Wahl Führer, der nichts als unser getting lost im Sinn hat,
hätte in seinem Leben einen entscheidenden
lenken will? Er zeigt uns die Spielsachen, die wir auf
Unterschied gemacht: I took the one less traveled der Reise in die Kindheit wiederfinden: zerbrochen
by, / And that has made all the difference. Diese nach den Jahrzehnten, die zwischen den
letzten beiden Zeilen des Gedichts suggerieren, Kinderjahren und der Rückschau liegen, er will uns
eine lebensentscheidende Wahl getroffen und sich rühren (was sonst gewiss nicht Frosts Haltung ist),
vom mainstream gelöst zu haben. Das Gedicht indem er uns daran erinnert, mit welch nichtigen
ist aber derart verfänglich gestaltet, dass ein mit Dingen ein Kind glücklich sein kann. Wir alle
Frosts Doppelbödigkeit noch unvertrauter Leser waren einmal Kind. Und darum geht es hier (unter
glatt übersehen kann, wie vorher im Text dreimal anderem) möglicherweise: um das reine Glücksdie
Gleichartigkeit der beiden Wege – und damit die und Ganzheitsempfinden, zu dem wir als Kinder
Bedeutungslosigkeit der Wahl – betont wird.
imstande waren, als wir uns ins Spiel verlieren,
Zeit und Raum vergessen konnten. Dieses Getting
Daher liegt es nahe, in Directive nach einem
lost ist eine Fähigkeit, die im Erwachsenenalter im
anderen Aspekt dieses Ratschlags zu suchen: Die Allgemeinen nur noch Menschen erreichen, die
Vergangenheit eines jeden Menschen ist neben außerhalb der geschäftigen Welt stehen. Dichter,
der durchlebten historischen Vergangenheit,
zum Beispiel. 3
die er mit allen anderen Zeitgenossen teilt, seine
1
Orr, David, The Road Not Taken, New York, Penguin, 2015,
passim
2
Matthäus 18,3
3
Ich sehe eine Verwandtschaft zwischen diesem Getting lost
und der „Müdigkeit“, wie sie von Peter Handke und Gerhard
Meier beschrieben wird: Es handelt sich um eine Art meditativen
Zustands.
4 07/ 08/2022 www.experimenta.de 5