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73. Deutscher Juristentag Die Themen des Fachprogramms Viele gesellschaftliche Entwicklungen stellen das Recht vor Herausforderungen. Sechs Bereiche, in denen Diskussionen über eine Rechtsfortbildung besonders dringend sind, behandelt der 73. Deutsche Juristentag. Der Beitrag stellt die Themen des Fachprogramms vor. Von Dr. Georg Gebhardt, Dr. Christopher Sachse und Torben Wiegand Abteilung Zivilrecht Ein selbstfahrendes Auto beschleunigt, statt zu bremsen, und verursacht einen schweren Unfall. Ein Chatbot, der aus Konversationen zwischen Menschen lernt, stößt rassistische Beleidigungen aus. Ein „Jobprofil-Matching“-System sortiert mit Hilfe künstlicher Intelligenz Bewerbungen auf eine ausgeschriebene Stelle aus – und diskriminiert dabei weibliche Bewerber. Das alles passiert schon jetzt. Die drängende Frage liegt auf der Hand: Wer haftet? Verschiedene Antworten sind möglich: Der Hersteller oder Lieferant des Systems, der Nutzer – als Betreiber oder Bediener – oder gar das System selbst als „e-Person“? Vorhalle des WCC mit Wabendach 14 VERLAG C.H.BECK
73. Deutscher Juristentag Die Themen des Fachprogramms Das geltende Recht kennt ganz unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Haftung: Deliktische Haftung, die an ein Verschulden anknüpft. Eine Haftung, die an besondere Gefahrenquellen anknüpft, wie die Haftung des Tierhalters oder Kfz-Halters. Darüber hinaus gibt es Produkthaftung, Produzentenhaftung oder auch eine Haftung für Hilfspersonen. Das Gutachten von Prof. Dr. Herbert Zech geht der Frage nach, ob sich für die neuen Risiken durch die Entscheidungen digitaler autonomer Systeme neue Regeln zur Verantwortung und Haftung empfehlen. Der Gutachter Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer hält vor diesem Hintergrund nachhaltige Reformen des bestehenden Alterssicherungssystems für unvermeidbar. Angesichts des Wechsels und der fließenden Grenze zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung als Ausprägung der modernen Arbeitswelt plädiert er für eine Einbeziehung aller Erwerbstätigen in einer Erwerbstätigenversicherung. Dabei sollten bestehende gesetzliche Sicherungssysteme wie die berufsständischen Versorgungswerke und die Beamtenversorgung zwar nicht aufgelöst, aber besser mit der gesetzlichen Rentenversicherung koordiniert werden. Zudem sei eine kontinuierliche Anpassung der Altersgrenzen langfristig unvermeidbar. Sie sollte zudem durch Teilrentenmodelle, auch in der betrieblichen Altersversorgung, flankiert werden. Der Gutachter plädiert – insbesondere bei hochautomatisierten Fahrzeugen – für eine Haftung des Herstellers. Damit würden sinnvollere Anreize gesetzt als durch die bestehende Halterhaftung, denn der Hersteller programmiert und trainiert das System. Die wichtigste Herausforderung liege darin, die spezifische Gefahr hinreichend genau zu definieren. Spannend dabei auch: Kann der Benutzer eines autonomen Systems tatsächlich aus der Haftung entlassen werden? Nochmals Fahrt aufgenommen hat die Diskussion durch einen Verordnungsvorschlag der Europäischen Union über die Haftung für den Betrieb von Systemen mit künstlicher Intelligenz. Das „Autonomierisiko“ wird auch dort zum Ausgangspunkt der Haftung gemacht. Vorgeschlagen ist eine zweispurige Haftung: Für Systeme mit hohem Risiko eine Gefährdungshaftung, im Übrigen eine Haftung für vermutetes Verschulden. Abteilung Arbeits- und Sozialrecht Mit der Rentenreform vor 65 Jahren wandelte sich die Rente von einem Zubrot zu einer umfassenden Absicherung bei Renteneintritt. Die Reform veränderte das zuvor vornehmlich kapitalbasierte Rentensystem von Grund auf und prägt es bis heute. Mit dem Umlageverfahren war der Generationenvertrag geboren. Das Alterssicherungssystem steht heute vor neuen Herausforderungen, die insbesondere durch die demografischen Rahmendaten bestimmt sind. Eine höhere Lebenserwartung bedeutet auch eine längere Rentenbezugszeit. Diese betrug 1960 im Durchschnitt rund 9,9 Jahre. 2020 waren es bereits 20,2 Jahre. Zusätzlich schrumpft die erwerbstätige Bevölkerung und verändert sich die Arbeitswelt durch die fortschreitende Digitalisierung. Abteilung Strafrecht Der Strafprozess und seine gesetzliche Basis, die Strafprozessordnung, befinden sich in seinem ständigen und rechtspolitisch brisanten Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot der umfassenden Aufklärung von Straftaten einerseits und dem Gebot unmittelbarer Beweiserhebung andererseits. Räumt man dem Gebot der unmittelbaren Beweiserhebung den Vorrang ein und lässt einen Beweistransfer nicht zu, hat dies zur Folge, dass die Bemühungen um Aufklärung von Straftaten abgebrochen werden müssen, wenn ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr zur Verfügung steht oder sich nicht mehr erinnert. Das ist unbefriedigend, weil ein Rückgriff auf die dokumentierten Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens möglich wäre. Der Gutachter der strafrechtlichen Abteilung, Prof. Dr. Mark Deiters, analysiert in seiner Untersuchung eingehend die derzeitige Rechtslage des Beweistransfers. Dabei legt er Unklarheiten, Wertungswidersprüche sowie Defizite der bisherigen gesetzlichen Regelung offen. Zugleich entwickelt er Leitlinien und einen detaillierten Gesetzesvorschlag für eine Reform. Dessen Kernbestandteile sind die umfassende Integration neuer tech nischer Methoden des Beweistransfers, insbesondere die grundsätzliche Bild-Ton-Aufzeichnung schon der ersten Vernehmung des Beschuldigten, wenn die Hauptverhandlung im VERLAG C.H.BECK 15
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