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Vortrag Dr. Elisabeth Thérèse Winter

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„Die Ungläubigen umarmen“ (<strong>Thérèse</strong> von Lisieux)<br />

Impulse geistlich suchender Frauen zur Entdeckung der Potentiale<br />

treu‐distanzierter und religionsfreier Mitarbeiter in der Caritas<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Elisabeth</strong> <strong>Thérèse</strong> <strong>Winter</strong>, Garmisch‐Partenkirchen<br />

So lautet der Titel, der mir für den heutigen <strong>Vortrag</strong> vorgegeben wurde und<br />

den ich selbst mit formuliert habe. Es geht um die Entdeckung der Fähigkeiten<br />

und Liebesgaben von Menschen, die caritativ tätig sind und die sich selbst ent‐<br />

weder als distanzierte Mitglieder der christlichen Kirchen beschreiben oder auf<br />

jede Zugehörigkeit in einem institutionellen Sinn verzichten. Je länger ich über<br />

dieses Thema nachdenke, umso tiefere Schichten und Fragen erschließen sich<br />

mir.<br />

Im Gespräch mit drei geistlich suchenden Frauen möchte ich diese Fragen um‐<br />

kreisen. Alle drei sind auf ganz eigene Art in Berührung gekommen mit der Not<br />

und der Frage des Atheismus und haben eigenständige Wege der Solidarität<br />

mit den Ungläubigen und ‐ und das scheint mir doch ein springender Punkt zu<br />

sein – eigenständige Wege der „Trotzdem‐Gläubigkeit“ gefunden.<br />

1. <strong>Thérèse</strong> von Lisieux (1873 – 1897)<br />

Tomas Halik, der heute schon mehrfach genannt wurde, beschreibt in seinem<br />

Buch in einem Kapitel die Entdeckung dieser kleinen Heiligen für sein eigenes<br />

Verstehen des Atheismus. Hatte er sie früher abgetan als eine Frau, die in süß‐<br />

lich‐kitschiger Weise ihre Frömmigkeit gelebt hat in einer fest gefügten katholi‐<br />

schen Welt des Karmelklosters, so stößt er nach und nach auf die geistige und<br />

geistliche Größe dieser Heiligen. Gegen Ende ihres kurzen Lebens wird <strong>Thérèse</strong><br />

von der Erfahrung einer tiefen Glaubensnacht heimgesucht. Sie, die bis dahin in<br />

einem wunderbaren und einfachen Glaubensvertrauen zuhause war, die immer<br />

und überall von der Gegenwart Gottes erfüllt schien und ihren kleinen Weg auf<br />

restloses Vertrauen und auf eine absolute Liebe gründete, sie muss in den letz‐<br />

ten Lebensmonaten durch eine tiefe Nacht des Unglaubens, der Gottverloren‐<br />

heit und der Trostlosigkeit hindurchgehen. In vielen Notizen gibt sie darüber<br />

Aufschluss. Diese Notizen wurden zunächst zensiert von ihrer Gemeinschaft,<br />

denn es passte nicht ins Bild einer Heiligen, dass sie solche Erfahrungen mach‐<br />

1


te. Ihren Schwestern gesteht sie: „Wenn Sie wüssten, welch scheußliche Ge‐<br />

danken mich quälen. Beten Sie viel für mich, damit ich nicht auf den Dämon<br />

höre, der mich von so vielen Lügen überzeugen will. Die Denkweise der<br />

schlimmsten Materialisten drängt sich mir auf. (…) Ich will nach meinem Tod<br />

Gutes tun; doch ich werde es nicht können! Es wird wie bei Mutter Geneviève<br />

sein: man machte sich bei ihr darauf gefasst, sie Wunder wirken zu sehen, aber<br />

vollkommene Stille breitete sich über ihrem Grab aus. (…) Muss man solche<br />

Gedanken haben, wenn man Gott so liebt! Kurz, ich opfere dieses große Leiden<br />

auf, um für die armen Ungläubigen das Licht des Glaubens zu erlangen, für alle<br />

diejenigen, die sich von den Ansichten der Kirche entfernen.“ Sie fügte hinzu,<br />

dass sie sich mit diesen finsteren Gedanken nie in eine Diskussion einließ. „Ich<br />

lasse sie notwendigerweise über mich ergehen. Aber während ich sie erleide,<br />

höre ich nicht auf, meinen Glauben zu festigen.“ (Stertenbrink 293f.) In<br />

<strong>Thérèse</strong>s Glaubensleben ist die ganze süße fromme Welt zusammengebrochen,<br />

sie sieht sich mit einer Dunkelheit konfrontiert, die sie nicht für möglich gehal‐<br />

ten hätte. Das Schöpferische in dieser Dunkelheit besteht nun darin, dass<br />

<strong>Thérèse</strong> sich nicht abwendet, sondern ihrer Dunkelheit ein Ziel zu geben weiß.<br />

Damit ist sie bereit, durch die Erfahrung des Unglaubens hindurchzugehen und<br />

sich mit denen zu solidarisieren, die – ob bewusst oder nicht – in einer ähnli‐<br />

chen Ferne zu den Dingen Gottes leben. Diese Solidarität mit den Ungläubigen<br />

macht es möglich, dass die Heilige ihre Kirchlichkeit sozusagen ins Unbestimm‐<br />

te hin ausweitet. Hier geschieht eine Art der Entgrenzung, die die Weite des<br />

Herzens von <strong>Thérèse</strong> sichtbar macht. Es genügt nicht, die eigene Heiligkeit zu<br />

sichern, wenn es noch Menschen gibt, die sich draußen befinden und ihr Ver‐<br />

lassensein auch als solches empfinden. Halik schreibt: „<strong>Thérèse</strong> wird nun kei‐<br />

nen Glauben mehr haben, wird keine Glaubensgewissheit mehr besitzen. (…)<br />

Eigentlich nur dank ihrer früheren Glaubenserfahrung kann sie das wirkliche<br />

<strong>Dr</strong>ama des Von‐Gott‐Verlassenseins so tief erleben, jenes verborgene Gesicht<br />

des Atheismus entdecken und erfahren, dem sich so manche mit solch leicht‐<br />

fertiger Selbstverständlichkeit aussetzen.“ (Halik, S. 51f.)<br />

Mit Recht weist er darauf hin, dass in der französischen Kirche der damaligen<br />

Zeit ein solches Verhältnis zu den Ungläubigen nicht denkbar war. Atheismus ist<br />

Irrtum und vor allem Sünde, die Kirche hat die Aufgabe, gegen den überhand<br />

nehmenden Atheismus vorzugehen. Sich mit den Ungläubigen zu solidarisieren,<br />

war ein umstürzender Gegenpol zur Haltung einer Kirche, die in ihrem Fes‐<br />

2


tungsdenken vor allem die Sicherung des Glaubens vor Augen hatte. Nach Halik<br />

erteilt die Kleine von Lisieux auch der heutigen Kirche eine Lektion: nämlich die<br />

Erfahrung des Unglaubens neu zu interpretieren, das Verlassensein von Gott als<br />

Platznehmen an einem Tisch mit den Ungläubigen zu deuten. Indem sie das<br />

Gebot der Liebe auf alle ausdehnt, wird sichtbar, dass in ihrer Überzeugung die<br />

Liebe den Glauben schlussendlich überholt. Es ist eine Liebe, die auch den<br />

„Tod“ des Glaubens überlebt, die fähig wird, die Ungläubigen samt deren Un‐<br />

glauben zu umarmen. Halik will seine Deutung so verstanden wissen, dass<br />

<strong>Thérèse</strong> auf diese Weise den Atheismus nicht in die Kirche zurückholt und da‐<br />

mit vereinnahmt, sondern dass sich das Terrain der Kirche um die atheistische<br />

Erfahrung der Gottesfinsternis erweitert und ausdehnt, in dem Sinne allumfas‐<br />

send und katholisch wird.<br />

An <strong>Thérèse</strong>s Glaubensweg wird erschütternd deutlich, dass er die höchsten<br />

Höhen der Gottesliebe, des bodenlosen Vertrauens kennt, aber eben genauso<br />

die tiefste Verlassenheit und Gebrochenheit. Wenn wir heute so vielfach den<br />

Unglauben beklagen – nicht nur in unserer Welt und Gesellschaft, sondern<br />

auch den Unglauben und versteckten Atheismus in den eigenen kirchlichen<br />

Kreisen! ‐, dann mag es den Blick weiten, dass auch die treuesten Freunde und<br />

Freundinnen Gottes diesem Nichtwissen und Nichtglauben ausgesetzt waren<br />

und noch immer sind.<br />

Bemerkenswert scheint mir, dass aus der Erfahrung der Abwesenheit Gottes<br />

aber nicht die Konsequenz einer bewussten Leugnung Gottes erwächst, son‐<br />

dern eher eine Art der Entgrenzung geschieht, die allen Erfahrungen in der je<br />

größeren Liebe einen Raum gibt.<br />

2. Madeleine Delbrêl (1904 – 1964)<br />

Ebenfalls Französin, setzt sich Madeleine vierzig Jahre später mit ähnlichen Er‐<br />

fahrungen auseinander. Vor allem die Begegnung mit dem kommunistischen<br />

Atheismus löst in ihr ein permanentes Nachdenken aus, wie das Verhältnis von<br />

gläubigen Christen zur ungläubigen Umgebung zu denken und zu leben sei. Sie<br />

selbst war in ihren ersten zwanzig Lebensjahren durch abgründige Erfahrungen<br />

des Atheismus gegangen, hatte sich der Literatur und Kunst verschrieben und<br />

setzte auf die Instanz von Vernunft und Verstand. Mit 17 erklärt sie sich als<br />

3


strikt atheistisch und verkündet den Tod Gottes. Die Erfahrungen des ersten<br />

Weltkrieges vertiefen die unsägliche Not eines abwesenden Gottes. Madeleine<br />

stürzt sich, um sich abzulenken, in den lauten Trubel der Stadt Paris. Eine zer‐<br />

brochene Liebesbeziehung bringt sie an den Rand ihrer psychischen Gesund‐<br />

heit. Erst in der Begegnung mit konkreten jungen Christinnen und Christen er‐<br />

wachen ihre Neugier und ihre Hoffnung, dass da doch etwas zu finden sei, und<br />

dass dieser Gott vielleicht doch eine gewisse Wirklichkeit besitzt. Betend er‐<br />

fährt sie die lebendige Anwesenheit eines Gottes, „den man lieben kann, wie<br />

man eine Person liebt.“ Immer wieder wird sie sagen, dass sie von Gott über‐<br />

wältigt wurde und nicht mehr sich selbst gehört. Von da an führt sie ihr Weg<br />

immer tiefer in ein mystisches Verbundensein im Gebet, in die Gemeinschaft<br />

Gleichgesinnter und in die konkrete Not der Gesellschaft. In Ivry, einem kom‐<br />

munistisch geprägten Vorort von Paris, wird Madeleine über dreißig Jahre le‐<br />

ben und arbeiten und sich mit wesentlichen Fragen herumschlagen: bis zur<br />

Qual erlebt sie den Widerspruch zwischen den am Ort lebenden Christen, die<br />

sich eingerichtet haben in ihrer bürgerlich sicheren Welt, die ihren Milieu‐<br />

Katholizismus leben und sich deutlich abgrenzen vom atheistischen Umfeld,<br />

und den Kommunisten, die versuchen vor Ort auf die miserablen Lebensbedin‐<br />

gungen der Arbeiter zu reagieren, sich sozial zu engagieren und im Grunde das<br />

tun, was im Evangelium den Christen aufgetragen ist. Diesen Widerspruch er‐<br />

lebt Madeleine bis zum Zerreißen. Mehr als einmal, so wird sie später geste‐<br />

hen, erfährt sie die Versuchung, selbst zum Kommunismus überzutreten. Sie<br />

kennt die Versuchung, einer bloßen Menschlichkeit das Wort zu reden, einer<br />

Menschlichkeit, die sich selbst genügt und die Frage nach Gott aus welchen<br />

Gründen ausklammert oder negiert. Sie hat viele Freunde unter den Kommu‐<br />

nisten und geht im kommunistischen Rathaus ein und aus. Was sie letztlich ab‐<br />

hält, ist die Tatsache, dass der Kommunismus die Existenz Gottes leugnet. Hier<br />

kann Madeleine gerade nach ihrer Bekehrungserfahrung nicht zustimmen. Um‐<br />

so schärfer aber erlebt sie den Anspruch des Evangeliums: Der Christ soll nicht<br />

irgendwelche Ideen haben, sondern er ist angewiesen zu handeln. „Wir vertei‐<br />

digen Gott wie unser Eigentum, wir verkünden ihn nicht wie das Leben allen<br />

Lebens, wie den unmittelbaren Nächsten all dessen, was lebt.“ (Delbrêl, S. 238)<br />

Das Evangelium fordert eindeutig zur Tat heraus, zur Praxis, die der Liebe Got‐<br />

tes Herz, Hand und Fuß gibt. Es geht Madeleine um eine Fleisch gewordene<br />

Gläubigkeit, die bedeutet, sich einzumischen, sich hineinzubegeben in die rea‐<br />

4


len Konflikte und Nöte, Erfahrungen und Sehnsüchte der konkreten Geschichte.<br />

Gotthard Fuchs weist mit Recht darauf hin, dass Delbrêls Inkarnationsverständ‐<br />

nis nicht klerikalistisch eng geführt ist, sondern aus einem weiten Atem lebt.<br />

Lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil betont sie, dass nicht der geweih‐<br />

te Priester primär Gottes Realität repräsentieren, sondern die Glaubensge‐<br />

meinschaft insgesamt. Mit ihrer kleinen Frauengemeinschaft möchte sie mitten<br />

im kommunistischen Umfeld ein Geheimnis der Gegenwart Gottes leben, ver‐<br />

borgen, unspektakulär, aber durchaus kenntlich und sprachfähig.<br />

Ob diese Motive von der Umwelt verstanden und bejaht werden, ist dabei<br />

zweitrangig. Im Gegenteil, Madeleine betont, dass gerade das atheistische Mi‐<br />

lieu, die Umwelt des Unglaubens eine günstige Voraussetzung sein kann, unter<br />

der der Glaube kräftig wachsen und anderen weitergegeben werden kann. „Iv‐<br />

ry war meine Schule des angewandten Glaubens.“, wird sie gestehen. Es ermu‐<br />

tigt, dass Madeleine nie in jammernde Klage über die böse und oberflächliche<br />

Gesellschaft ausbricht, diese verteufelt und für unfähig erklärt, sich davon ab‐<br />

wendet und deutlich Grenzziehungen vornimmt. Stattdessen: „Im Ernstnehmen<br />

der atheistischen und agnostischen Gesamtsituation sieht sie sich neu heraus‐<br />

gefordert, überhaupt erst glauben zu lernen – und dieser Glaube seinerseits<br />

macht fähig, in äußerster Solidarität in das Gottes‐Dunkel der Zeit hineinzuge‐<br />

hen.“ (Fuchs, S.20) Dass eine solche Haltung nicht ohne die Erfahrung starker<br />

Einsamkeit lebbar ist, dürfte nachvollziehbar sein. Madeleine hat die Spannung<br />

beider Pole (Weltzugewandtheit und Weltdifferenz) immer wieder ausgehalten<br />

und durchgetragen. Vor allem hat sie sich ein tiefes Gespür dafür bewahrt, dass<br />

der Glaube, wo er existentiell gelebt wird, letztlich eine befremdliche Kraft<br />

bleibt, die nicht in innerweltlicher Logik aufgeht.<br />

In keinem anderen Buch hat sich Madeleine so intensiv und ringend wahrhaftig<br />

mit dieser Frage auseinandergesetzt als in der Schrift „Wir Nachbarn der Kom‐<br />

munisten“. Darin schreibt sie: „In der gegenwärtigen Stunde, die wir durchle‐<br />

ben, erhalten die Worte: Licht, Finsternis, wie mir scheint, einen sehr betonten<br />

Sinn. Das biblische Wort Finsternis wird durch Leute, mit denen wir umgehen,<br />

erläutert; sie ist dunkler als irgendwann und irgendwo. Nicht allein der lebendi‐<br />

ge Gott, der sich endgültig im Evangelium offenbart hat, ist verworfen worden,<br />

sondern jeder Abstrahl, jede Spur von einem Gott. Der Mensch genügt sich. Der<br />

will kein anderes Licht als sich selbst … Und so kommt der Christ, wenn er ins<br />

Innere der Mentalität seiner Brüder und Schwestern eindringt, in Kontakt mit<br />

5


einer Finsternis von außerordentlicher Dichte. Diese steigert sich für den Chris‐<br />

ten noch durch den Kontrast zum Licht, das er in sich trägt. Sie steigert sich<br />

noch mehr durch den Kontrast zu dem aus großen Teilen der Menschheit ver‐<br />

jagten Licht. Je mehr ein Christ Gottes Licht in sich aufnimmt, umso tragischer<br />

wird demnach auch der Kontrast.“(Delbrêl, S. 191)<br />

Madeleines Konsequenz aus dieser Situation geht in eine ähnliche Richtung wie<br />

die der kleinen <strong>Thérèse</strong>; es geht im Letzten um die tatkräftige Liebe Gottes, die<br />

im Christen als einem „Scharnier der Gnade“ Raum und Gestalt gewinnt. In die<br />

Liebe lässt sich nicht mehr auseinanderhalten, ob der Adressat Gott oder die<br />

Welt ist. In Madeleines Worten: „Lernen wir, dass es nur eine einzige Liebe<br />

gibt: Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt; wer in seinem Herzen<br />

das Gewicht Gottes aufnimmt, empfängt auch das Gewicht der Welt.“ (zitiert<br />

bei Fuchs, S.10)<br />

Könnte man diese Verhältnisbestimmung auch umdrehen? Simone Weil würde<br />

sagen: ja. Wer den Menschen liebt und das Gewicht der Welt mitzutragen be‐<br />

reit ist, der liebt darin Gott, ob er es weiß oder nicht.<br />

3. Simone Weil (1909 – 1943)<br />

Simone Weil, Zeitgenossin Madeleine Delbrêls, jüdischer Herkunft, in agnosti‐<br />

schem Geist aufgewachsen, kennt ebenfalls eine lange Zeit anhaltende atheisti‐<br />

sche Phase auf ihrem spirituellen Weg. In ihre geistlichen Autobiographie, ei‐<br />

nem Brief an Pater Perrin, formuliert sie im Rückblick, dass sie es lange Zeit ab‐<br />

lehnte, die Gottesfrage überhaupt zu stellen, weil in ihren Augen hienieden die<br />

Voraussetzungen fehlten, diese adäquat beantworten zu können. Von daher<br />

beschließt sie, die Frage nach Gott nicht zu stellen, sich stattdessen, und das<br />

mit ganzem Herzen, sozial zu engagieren, vor allem in der kommunistischen<br />

Arbeiterbewegung. Als junge Philosophin und dem Marxismus nahestehende<br />

Lehrerin ist ihr die Solidarität mit den Arbeitern, die unter zum Teil menschen‐<br />

unwürdigen Bedingungen leben und arbeiten, wichtig. Unter Einsatz der gan‐<br />

zen Existenz begibt sie sich als Experiment selber ein Jahr in die Fabrik, um in<br />

eigene Tuchfühlung zu kommen mit den Härten der Arbeiterschaft. Der Weg<br />

zum Menschen, das sozial aktivistische Engagement scheint ihr die einzig mög‐<br />

liche Sinndeutung und Rechtfertigung des Daseins zu sein. Immer ist sie erfüllt<br />

von dem <strong>Dr</strong>ang, sich auf die Seite der Opfer zu stellen, an ihrer Seite für mehr<br />

6


Gerechtigkeit zu kämpfen. Im buchstäblichen Sinn tut sie dies in den Wirren<br />

des Spanischen Bürgerkrieges, zu dem sie als junge Frau aufbricht in der Hoff‐<br />

nung, an der Seite der Opfer kämpfen zu können. Erst die drei Berührungen mit<br />

dem Christentum erschließen ihr auf intensive Weise die Welt des Glaubens<br />

und des christlichen Geistes. Die Auseinandersetzung mit der Kirche, mit der<br />

Frage nach der Taufe und ihrer Entscheidung zur Distanz kennzeichnen die<br />

letzten Lebensjahre. Immer wieder betont sie, dass sie einerseits große Sehn‐<br />

sucht nach der Zugehörigkeit zur Kirche hat, andererseits aber auch zu viele<br />

Vorbehalte gegen die Institution Kirche auf ihr lasten. Aus dem Gebot der intel‐<br />

lektuellen Redlichkeit heraus, das sie sich selbst auferlegt, verbleibt sie auf der<br />

Schwelle, wie sie sagt. Zum einen, weil die Kirche zu wenig katholisch im voll<br />

umfänglichen Sinn des Wortes ist (die Exkommunikation scheint ihr ein Unrecht<br />

– die Kirche sollte die Menschen in ihren Zweifeln und Leugnungen eher als<br />

Menschen begreifen, die auf dem Weg sind), zum anderen, weil Simone selbst<br />

nicht in den Genuss des Heiles kommen will, solange es noch Ungläubige gibt,<br />

die aus welchen Gründen immer außerhalb der Kirche verbleiben. Sie selbst<br />

erfährt dieses Außen vor Bleiben geradezu als ihre Berufung. Auch sie bewegt<br />

das Motiv der Solidarität mit den Ausgegrenzten oder sich selbst Ausgrenzen‐<br />

den.<br />

Im letzten Jahr vor ihrem frühen Tod schreibt Simone Weil einen Text mit dem<br />

Titel „Implizite Formen der Gottesliebe“. Sie bedenkt darin, dass es, bevor eine<br />

Seele explizit von der Liebe Gottes ergriffen ist und diese auch so erkennt und<br />

deutet, Vorstufen der Vorbereitung geben kann, in denen implizit der Glaube<br />

bereits vorhanden ist. Auf verborgene, verhüllte Weise sei Gott in den religiö‐<br />

sen Gebräuchen, in der Schönheit der Welt, im Nächsten und in der Freund‐<br />

schaft bereits anwesend. Die Schönheit der Schöpfung, der Kunst, der Musik ist<br />

nach Weil eine vornehmliche Weise, das Herz des Menschen auf die Erfahrung<br />

von Transzendenz hinzulenken, zu berühren und einzustimmen. Gott zeigt sich<br />

darin verborgen. Ein zentrales Zitat von ihr soll dies deutlich machen:<br />

„Schließlich ist die Berührung mit Gott das wahrhafte Sakrament. Aber man<br />

darf nahezu sicher sein, dass die, bei denen die Gottesliebe die anderen irdi‐<br />

schen Formen der reinen Liebe zum Verschwinden gebracht hat, falsche Freun‐<br />

de Gottes sind. Der Nächste, die Freunde, die religiösen Bräuche, die Schönheit<br />

der Welt sinken nicht etwa zu unwirklichen Dingen herab, nachdem die unmit‐<br />

telbare Berührung zwischen der Seele und Gott stattgefunden hat. Im Gegen‐<br />

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teil, das alles wird dann erst wahrhaft wirklich.“ (Weil, S. 233f.) Anders gewen‐<br />

det: Ob einer durch das Feuer der Liebe Gottes hindurchgegangen ist, zeigt sich<br />

nicht daran, wie er von den himmlischen Dingen spricht, sondern von den irdi‐<br />

schen.<br />

Es gibt also nach Simone Weil in den menschlichen Handlungen, ob sie nun<br />

nach dem üblichen Wortgebrauch religiös motiviert sind oder nicht, sofern<br />

ihnen eine innere Wahrhaftigkeit und Menschenliebe eignet, eine verhüllte<br />

Ausrichtung auf das Gute, auf das bien absolu, das wir Gott nennen. In der Lie‐<br />

be zu anderen und zum Schönen ist die Liebe zum Göttlichen mit eingeschlos‐<br />

sen, also impliziert. Insofern liebt jeder Mensch, der Gutes will und Gutes tut,<br />

immer auch Gott, ob es ihm ausdrücklich bewusst ist oder nicht. Diese indirekte<br />

Liebe speist sich vor allem aus der Sehnsucht und dem Hunger des Menschen<br />

nach Licht und Heil. Für Simone Weil strebt diese Auffassung auf Christus zu,<br />

der die Wahrheit ist. Die Agnostikerin, die sich nie als Jüdin verstand, die sich<br />

mit vielen Spielarten von Philosophie und Religion beschäftigte, identifiziert<br />

sich immer wieder und gegen Ende ihres Lebens immer intensiver mit dem<br />

christlichen Glauben, mit der Erfahrung des Kreuzes, mit der Sehnsucht nach<br />

der Vereinigung mit Christus im Sakrament der Kommunion.<br />

Zusammenfassung:<br />

<strong>Dr</strong>ei Frauen Frankreichs, die auf unterschiedliche Weise mit dem Atheismus in<br />

seinen verschiedenen Ausformungen konfrontiert sind, versuchen Wegspuren<br />

aufzuzeigen.<br />

<strong>Thérèse</strong> erfährt am eigenen Leib die dunkle Nacht der Gottesferne und verbin‐<br />

det sich mit der Finsternis der Ungläubigen, in geduldigem dunklem Aufschau‐<br />

en zu Gott. Dadurch weitet und entgrenzt sich ihre eigene Glaubensvorstellung,<br />

wird sie fortgeführt von den eigenen vermeintlichen Gewissheiten hin zu einer<br />

Art „Andersglauben“.<br />

Madeleine deutet den Unglauben ihrer Nachbarschaft als fruchtbaren Boden,<br />

das Evangelium radikal ernst zu nehmen, sich selbst zur Verfügung zu stellen,<br />

damit Gott Mensch werden kann. Dies schließt die Bereitschaft ein, die existen‐<br />

tielle Spannung von Liebe und Fremdheit auszuhalten und fruchtbar werden zu<br />

lassen.<br />

8


Simone bleibt aus Solidarität mit den Ungläubigen auf der Schwelle zur Kirche<br />

und begreift die Formen aufrichtiger menschlicher Liebe als verhüllte Weisen<br />

der verborgenen Gottesliebe. Zugleich ringt sie ein Leben lang um die Wahr‐<br />

heit.<br />

Alle drei stellen sich damit der Erfahrung des Atheismus, sie verurteilen ihn<br />

nicht und grenzen ihn nicht aus. Müssten sie entscheiden zwischen Orthodoxie<br />

oder Orthopraxie, würden sie vermutlich der in die Tat umgesetzten tätigen<br />

Liebe mit Herz, Hand und Fuß den Vorrang geben. Allen drei Frauen ist auch<br />

die Erfahrung des Unglaubens und Zweifelns selber nicht erspart geblieben. Sie<br />

besitzen ein gesättigtes Erfahrungswissen vom „schmerzhaften Fehl Gottes“<br />

(vgl. Fuchs S.38) in dieser Welt und bleiben doch beharrlich und geduldig auf<br />

dem Weg. Auch die noch so bisweilen quälend empfundene Abwesenheit Got‐<br />

tes führt bei keiner dazu, die Existenz Gottes zu bestreiten oder als überflüssig,<br />

belanglos abzutun. In ihnen lebt eine vitale „theozentrische Unruhe“ (Fuchs S.<br />

30), die ihnen eine tiefe spirituelle Verankerung und Weite ermöglicht. Sie sind<br />

in aller Gebrochenheit Zeuginnen Gottes in dieser Welt und Gesellschaft.<br />

Was heißt dies für unsere Fragestellung?<br />

Es scheint mir wichtig, in der Auseinandersetzung von gläubigen und ungläu‐<br />

big/andersgläubigen MitarbeiterInnen zwei Gräben zu vermeiden: einerseits zu<br />

behaupten, nur der gläubige, kirchlich sozialisierte und bekennende Mensch<br />

handelt vollgültig caritativ, andererseits festzustellen, nur der religionsfreie,<br />

distanzierte Mitarbeiter engagiere sich im Namen der Menschlichkeit. Man<br />

kann nicht das eine gegen das andere ausspielen.<br />

Meines Erachtens tut Unterscheidung Not. Natürlich ist es ein Geschenk, wenn<br />

Menschen sich für andere einsetzen, oft ohne Rücksicht auf sich selbst, mit<br />

bewundernswerter Leidenschaft. Und mancher mag sagen, das genügt. Und in<br />

gewisser Weise genügt es auch. Aber das darf nicht dispensieren von der eben‐<br />

so notwendigen Leidenschaft für die Sache Gottes, für die Frage des Glaubens.<br />

Ich meine, dass es wesentlich darum geht, auch die Gottesfrage im Gespräch zu<br />

bewahren, und sei es nur in der Form, dass Gott einer ist, der in unserer Zeit<br />

fehlt. Die heutige Sprachlosigkeit des Menschen über das, was er seinen Glau‐<br />

ben nennt, bewegt und beschäftigt mich zusehends. Vielen Menschen genügt<br />

es, sich von der Kirche abzuwenden (und es gibt hundert Gründe, dies zu ver‐<br />

9


stehen) und zu sagen, was sie ablehnen. Damit sind sie fertig, und es drängt<br />

mich bisweilen, sie zu fragen: Aber welches sind deine Texte, Lieder, Gebete,<br />

Bilder, Rituale, die deinem Glauben eine Heimat geben, die einen Raum auftun,<br />

die deiner Spiritualität Gesicht und Gestalt geben?<br />

In gewiss subjektiver, aber prägnanter Weise hat Martin Walser dies unlängst<br />

so formuliert: „Seit zweitausend Jahren wird gefragt, ob wir zu rechtfertigen<br />

seien durch das, was wir tun, oder durch das, was wir glauben. Die Religion ist<br />

anspruchsvoller als jede andere Denk‐ und Ausdrucksbemühung … Wer sich<br />

heute fast instinktiv erhaben fühlt über alles Religiöse, weiß nicht, was er verlo‐<br />

ren hat. Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei.<br />

Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben. Wer sagt, es gebe Gott nicht, und<br />

nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“<br />

(CiG Nr.47/2011, 536)<br />

Literatur:<br />

� Rudolf Stertenbrink, Allein die Liebe, Freiburg im Br. 1980<br />

� Tomas Halik, Geduld mit Gott, Freiburg im Br. 2011<br />

� Madeleine Delbrêl, Wir Nachbarn der Kommunisten, Einsiedeln 1975<br />

� Gotthard Fuchs, „ … in ihren Armen das Gewicht der Welt“, Frankfurt am<br />

Main 1995<br />

� Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, München 1953<br />

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