Bionik, Biomimetik - Naturwissenschaftliche Rundschau
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Speck, Neinhuis: <strong>Bionik</strong>, <strong>Biomimetik</strong> – Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet mit Zukunftspotential<br />
Im zweiten Forschungsprojekt, das von Volker Mosbrugger<br />
und Anita Roth-Nebelsick (Universität Tübingen) koordiniert<br />
wird, sollen nach dem Vorbild pflanzlicher Wassertransportsysteme<br />
(insbesondere Lianen, Abb. 12c) – in Zusammenarbeit<br />
mit dem ITV Denkendorf neuartige technische<br />
Textilien aus Hohlfasern für den Ferntransport von niederviskösen<br />
Flüssigkeiten entwickelt werden [53]. In den mikroskopischen<br />
Hohlfasern dieser „Textilmatten“ sollen Flüssigkeiten<br />
sicher (Embolievermeidung und Emboliereparatur<br />
durch spezielle Strukturierung der inneren Oberfläche der<br />
Hohlfasern) und bedarfsgesteuert über große Distanzen<br />
transportiert werden. Mögliche Einsatzbereiche sind wassersparende<br />
Bewässerungssysteme und schonende Entwässerungssysteme,<br />
aber auch der Bekleidungsbereich.<br />
Klimatechnik nach dem Vorbild Natur<br />
Erhebliche – und tendentiell steigende – Mengen an Energie<br />
werden in den hoch technisierten Ländern für die Klimatechnik<br />
aufgewendet. Hier verspricht die Nutzung einfacher<br />
physikalischer Prinzipien ein erhebliches Einsparpotential.<br />
Vorbild kann das Belüftungssystem der Bauten des Präriehundes<br />
(Cynomis ludovicianus) sein, das in den 70er Jahren<br />
von Wissenschaftlern um den amerikanischen Zoologen und<br />
Biophysiker Steven Vogel entdeckt wurde [3, 54].<br />
Sie zeigten, dass Präriehunde ihre unterirdischen Bauten<br />
mit zwei unterschiedlich hoch gelegenen Eingängen anlegen.<br />
Einer liegt an der Spitze eines steilwandigen Kegels aus Aushubmaterial,<br />
der andere hingegen auf einer flachen Kuppel.<br />
Wenn ein Wind über den Bau weht, wird durch diesen<br />
Höhenunterschied eine Druckdifferenz hervorgerufen, die<br />
unabhängig von der Windrichtung eine immer in einer Richtung<br />
durch den Bau ziehende Luftströmung erzeugt. Somit<br />
lüften Präriehunde unter Ausnutzung des Bernoulli-Prinzips<br />
(eine Druckdifferenz bewirkt eine entsprechende ausgleichende<br />
Strömung) durch letztlich von der Sonne induzierte<br />
Windbewegungen ihren Bau, der ohne Lüftung unbewohnbar<br />
wäre. Ein auf Temperaturunterschieden beruhendes<br />
Belüftungssystem hat bereits Mitte der 50er Jahre der<br />
Schweizer Biologe M. Lüscher bei Termitenbauten entdeckt<br />
[55]. Hierbei strömt die Luft, angetrieben durch das Wärmegefälle<br />
zwischen (warmer) Bauoberseite und den (kühlen)<br />
unterirdischen Bereichen, in einem geschlossenen Röhrensystem<br />
durch den Bau nach oben und direkt unterhalb der<br />
Bauoberfläche wieder nach unten. Da die Wände der Termitenbauten<br />
aus porösem Material bestehen, kann Kohlendioxid<br />
aus dem Bau heraus diffundieren, während Sauerstoff<br />
hinein diffundiert. Interessanterweise gibt es Parallelen in<br />
der traditionellen vorderasiatischen Architektur zur Belüftung<br />
von Gebäuden, die erst in neuerer Zeit gewürdigt werden.<br />
Ein weiteres Phänomen, welches ebenfalls für Fragen der<br />
Gebäudeklimatisierung interessant ist, wurde von dem Berliner<br />
Physikochemiker Helmuth Tributsch und Mitarbeitern<br />
beim Eisbären (Ursus maritimus) entdeckt. Beim Eisbärfell<br />
leiten die weißen Haare die einfallende Licht- und Wärmestrahlung<br />
ähnlich wie Lichtleiter nach unten zur dunklen<br />
Hautoberfläche, die sie absorbiert. Dies führt in Zusammen-<br />
Abb. 13. Stabilität<br />
von natürlichen<br />
und<br />
künstlichen Faserverbundmaterialien.<br />
– a. Knickversuch<br />
mit einem Internodium<br />
des Pfahlrohrs<br />
(Arundo<br />
donax) aus dem<br />
mittleren Halmbereich.<br />
Die Pfeile<br />
markieren das<br />
a<br />
erste Vorversagensereignis<br />
und den Punkt<br />
endgültigen Halmversagens.<br />
Nach<br />
jedem der bis zu<br />
10 kleinen Vorversagensereignisse<br />
stabilisiert sich der<br />
Halm wieder und<br />
b<br />
toleriert bei weiter<br />
ansteigendem<br />
Biegemoment eine zunehmende Krümmung, bis es zum nächsten<br />
Vorversagensereignis kommt. Hierdurch kann die durch die Pflanze<br />
tolerierbare Krümmung um bis zu 300% erhöht werden. Aus [48]. –<br />
b. Im Labormaßstab hergestelltes strukturoptimiertes Naturfasermaterial<br />
mit hervorragendem Energieabsorptionsvermögen und gutmütigem<br />
Bruchverhalten. Bei diesem biomimetisch inspirierten Material wurden<br />
Gewebe aus Pflanzenfasern in mehreren Schichten in Polyurethanschaum<br />
eingebettet. Aus [50]<br />
spiel mit den im dicken Fell eingeschlossenen, isolierenden<br />
Lufträumen zu einem Wärmegewinn [2, 56]. 1996 haben Werner<br />
Nachtigall und sein Mitarbeiter G. Rummel (Universität<br />
Saarbrücken) ein Niedrigenergiehaus konzipiert, welches<br />
das Lüftungsprinzip der Termitenbauten (passive Porenlüftung)<br />
und das beim Eisbärfell verwirklichte Prinzip der<br />
transparenten Wärmedämmung nutzt [57].<br />
Flusskrebsauge und Röntgenastronomie<br />
Mitte der 1970er Jahre entdeckten unabhängig voneinander<br />
zuerst der Zoologe Klaus Vogt (damals Stuttgart, heute<br />
Universität Freiburg) und kurze Zeit später M. F. Land (University<br />
of Sussex, England) das Funktionsprinzip der Komplexaugen<br />
von Flusskrebsen (Orconectes, Astacus [58–60]).<br />
Das Flusskrebsauge ist wie die Komplexaugen aller Gliederfüßer<br />
aus vielen kegelförmigen Einzelaugen (Ommatidien)<br />
zusammengesetzt. Im Gegensatz zu den als getrennte<br />
Linsensysteme wirkenden, sechseckigen Ommatidien der<br />
Insekten bilden die quadratischen Ommatidien der Flusskrebse<br />
in ihrer Gesamtheit eine Art facettierte Spiegellinse<br />
(Abb. 14a, b). Hierdurch entsteht ein Auge mit großem Sehfeld<br />
(etwa 90°), großer Lichtstärke und hoher Bildschärfe. Die<br />
einfallenden Lichtstrahlen werden durch Spiegelung an den<br />
Randflächen der quadratkegelförmigen Ommatidien auf die<br />
darunter liegenden Sinneszellen geleitet. Entscheidend ist<br />
<strong>Naturwissenschaftliche</strong> <strong>Rundschau</strong> | 57. Jahrgang, Heft 4, 2004 187