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Leseprobe "My Walk On The Wild Side"

In sehr jungen Jahren hat es den Autor an exotischen Orten permanent in gefährliche Situationen getrieben. Ob er es war, der das Schicksal auf die Probe stellen wollte, oder das Schicksal ihn, bleibt offen. Als Reiseleiter und Abenteurer Anfang der Achtziger war er vielleicht nur der Auslöser einer Vielzahl von Katastrophen und Kuriositäten rund um den Globus: In Caracas, Mahé, Kenia, Bombay, New York, im Himalaya und in der Cheops-Pyramide, um nur einige Stationen zu nennen. Schockierend ehrlich wirft Horst Knappe in 13 packenden Erzählungen grelle Schlaglichter auf seinen „Walk On The Wild Side“. Gewürzt mit einer latenten Verrücktheit, die ihm nach eigenem Geständnis dabei half, diese Phase unbeschadet zu überstehen. Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/1520726732

In sehr jungen Jahren hat es den Autor an exotischen Orten permanent in gefährliche Situationen getrieben. Ob er es war, der das Schicksal auf die Probe stellen wollte, oder das Schicksal ihn, bleibt offen. Als Reiseleiter und Abenteurer Anfang der Achtziger war er vielleicht nur der Auslöser einer Vielzahl von Katastrophen und Kuriositäten rund um den Globus: In Caracas, Mahé, Kenia, Bombay, New York, im Himalaya und in der Cheops-Pyramide, um nur einige Stationen zu nennen.
Schockierend ehrlich wirft Horst Knappe in 13 packenden Erzählungen grelle Schlaglichter auf seinen „Walk On The Wild Side“. Gewürzt mit einer latenten Verrücktheit, die ihm nach eigenem Geständnis dabei half, diese Phase unbeschadet zu überstehen.

Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/1520726732

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My Walk On The Wild Side

Horst Knappe

13 Erzählungen


INHALT

• Vorwort 9

Tod auf Mahé 11

Charly 17

23 32

Voodoo Chile 38

Desaparecido 50

Ganesha 58

9/11 63

Rundreise 72

Mount Annapurna 93

Money 105

Prinz Hemiunu 120

Schwarze Tiger 130

Entscheidung am Na Penyal 141

• Anmerkungen 146


Schwarze Tiger

In meinem Hotel am Strand von Negombo genoss ich eine erstaunlich ruhige

Phase. Weder Gedanken an meinen Job, den ich gerade aufgegeben hatte,

noch akute Liebschaften störten meine Kreise. In den Jahren zuvor hatte ich

im Tourismus gearbeitet, Urlauber in wechselnden Ländern betreut und mich

mit ihren Reklamationen herumgeschlagen. Jetzt war ich frei und hatte meinen

eigenen Rhythmus gefunden, den ich „aktives Nichtstun“ nannte. Ich war

in Asien unterwegs, von Sri Lanka wollte ich irgendwann nach Indien übersetzen,

den Subkontinent von Süden nach Norden durchqueren und danach

weiter ziehen in Richtung Nepal oder Tibet. Aber ich hatte es nicht eilig und

vermied bewusst, mir Zwänge aufzuerlegen, zu denen auch ein Zeitplan gezählt

hätte.

Im Hotelrestaurant saß an einem Nebentisch zuweilen ein deutsches Paar,

das ich mit meiner Gelassenheit zu provozieren schien. Anders konnte ich mir

ihr Verhalten nicht erklären. Sie waren älter als ich, so um die Dreißig, und

nicht verheiratet, vielleicht verlobt, doch mit Sicherheit nicht verliebt, wie ich

aus dem Umstand schloss, dass sie sich ohne Unterbrechung angifteten. Ich

bekam nicht mit und interessierte mich auch nicht dafür, worum es in ihren

Streitigkeiten ging. Doch aus Erfahrung diagnostizierte ich, dass sie unter dem

typischen Problem von Urlaubspaaren litten: Ferien sollten gefälligst ihre

Romantik auffrischen, die in der Routine einer Partnerschaft untergegangen

war. Und je krampfhafter beide um Harmonie kämpften (so als wollte man

Entspannung erzwingen!), desto sicherer ging es in die Hose und endete im

Rosenkrieg.

Ich hielt mich von den Leuten möglichst fern, suchte kein Gespräch, sondern

grüßte und verabschiedete mich nur immer höflich und kümmerte mich um

meinen eigenen Kram. Umso überraschter war ich, als eines Tages – ich lag

nach einem Bad im Meer auf einer Liege – die Frau ihr Handtuch auf einer

benachbarten Liege ausbreitete und diese zu mir drehte.

„Guten Morgen! Wie ist das Meer?“

Ich richtete mich auf und wirkte sicher verdutzt. „Das Meer ist prima.“ Dabei

hielt ich nach ihrem Begleiter Ausschau.

„Ich heiße Monika, und Sie?“

Monika trug einen gelben Bikini und stand so, dass ich gegen die Sonne blinzeln

musste. Ich sagte ihr meinen Vornamen, setzte die Sonnenbrille auf und

suchte die Anlage mit schnellem Radar noch einmal nach ihrem Partner ab.

„Mein Freund schläft noch, oder er ist beim Frühstück, was weiß ich. Ich bin

jedenfalls viel aktiver.“ Sie setzte sich mir gegenüber.

Monika war von kräftiger Statur, nicht schlank und auch nicht zu dick, mittelblondes

langes Haar, große Brüste, aber leider mit herben, fast männlichen

Gesichtszügen. Ich war jemand, der aus zahllosen beruflichen und privaten

Spontan-Begegnungen darauf trainiert war, dem Eindruck der ersten Sekunde,

den ein Fremder auf mich machte, bedingungslos zu vertrauen. Und so war

mir von Anfang an klar, dass Monika mich nicht in Versuchung führte. Ihre

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burschikose Art und ein überstürzter Wechsel zum „Du“ schufen kumpelhafte

Nähe, aber keine Erotik.

Wir führten ein belangloses Gespräch, ihrer zweiten Aufforderung gab ich

schließlich nach, gemeinsam im Meer zu schwimmen, aber nur kurz. Irgendwann

tauchte sogar ihr Begleiter auf, der im Vorbeigehen winkte und sich mit

einer Zeitung in den Schatten setzte. Aus einer Laune heraus, ohne Rücksicht

auf Diskretion fragte ich sie, wie es um ihre Beziehung stünde.

Monika räkelte sich, als freute sie sich über die Frage, und wie ein übermütiger

Teenager ließ sie die Träger ihres Oberteils schnippen. „Wir sind schon

ewig zusammen, inzwischen mehr aus Gewohnheit. Die Luft ist eigentlich

raus, aber das Gute daran ist, jeder hat seine Freiheit. Verstehst du?“

Ich verstand. Aber genauso sicher war ich mir, nicht der zu sein, mit dem

Monika ihre Freiheit ausleben würde. Irgendwie schien sie das bereits in meiner

Körpersprache zu lesen. Nach erfolglosen Flirtversuchen und scheinbar

zufälligen Berührungen beim Schwimmen, die ich nicht erwidert hatte, musste

sie spüren, dass sie mich kalt ließ.

Das hielt sie jedoch nicht davon ab, für den nächsten und übernächsten Tag

gemeinsame Touren vorzuschlagen. Sie und ihr Freund hätten ein Auto gemietet,

das aber kaum genutzt würde. Ihr Begleiter wäre zu faul für so etwas

und bestimmt einverstanden, wenn wir damit durch Sri Lanka führen. Ich entschied,

ihn abends lieber selbst zu fragen, und erhielt die Bestätigung. „Fahrt

nur, amüsiert euch!“ Der Mann war angetrunken, aber definitiv nicht eifersüchtig.

Also fuhr ich mit Monika in einem kleinen roten Toyota über die Insel. Mir

gefiel, wie sie ihr Kleid hoch raffte, wenn sie am Steuer saß. Sie war Angestellte

einer Versicherung in Hamburg, bei der auch ihr Freund arbeitete. Die Eintönigkeit

ihres Jobs und das Wetter in Norddeutschland ließen sie neidisch

seufzen, als ich einen Abriss meiner bisherigen Stationen und der augenblicklichen

Reise lieferte. Trotzdem brachte uns das nicht näher, weil ich einfach

nicht wollte. Wir bummelten durch Colombo, wo Monika ein paar bunte Tücher,

Souvenirs für ihre Familie und zwei Flaschen Rum kaufte. Am selben Tag

fuhren wir sogar noch weiter bis nach Kandy, um den Bogambara Lake und

den legendären Zahntempel wenigstens von außen zu sehen. Monika schoss

Dutzende von Fotos in allen möglichen Situationen, auch von mir, was mir

irgendwann auf die Nerven ging. Brav hörte sie damit auf.

In einem Café gab es im Schatten von Palmen, deren Blätter sich bis auf die

Tische senkten, Eiscreme und Tee. Im Hintergrund spielten junge Mädchen

einheimische Musik. Was nicht ins Bild passte, war Monikas Griff in ihre Tüte,

um den Bacardi aufzuschrauben und einen tiefen Zug von ihrem lauwarmen

Rum zu trinken. „Willst du? Tut gut!“

Ich lehnte dankend ab und durfte mitansehen, wie sie noch drei oder vier

Mal große Schlucke direkt aus der Flasche nahm und in der feuchten Hitze

schlagartig betrunken wurde. Einfach so, es gab weder etwas zu feiern noch

Ärger runterzuspülen. Monika schoss sich ihre Lichter aus und lästerte immer

lauter über die Musik, die stacheligen Palmblätter und die Kellner in ihrer traditionellen

Kleidung. Gottlob kostete es mich kaum Mühe, sie zur Heimfahrt

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zu bewegen. Und sie protestierte auch nicht, als ich mich ans Steuer setzte.

Mindestens eine Stunde unserer Rückfahrt verbrachte Monika im Tiefschlaf,

bei Ankunft in Negombo war sie wieder erstaunlich fit.

Abends im Restaurant erzählte sie ihrem Freund begeistert und lautstark

von unserem Trip. Und wenn ich es richtig mitbekam, leerten die beiden zum

Essen mühelos noch zwei Flaschen Wein. In einem unbeobachteten Moment

zog ich mich zurück und begab mich auf einen nächtlichen Streifzug durch die

Nachbarhotels.

Am nächsten Morgen war ich froh, dass zum Frühstück nur Monikas Begleiter

auftauchte und mir mit reichlich verquollenen Augen anvertraute: „Sie

fühlt sich nicht wohl und muss leider den Ausflug für heute absagen. Aber Sie

können den Wagen benutzen, wenn Sie allein herumfahren möchten.“ Er gab

mir die Schlüssel. „Ach ja, Monika bat mich noch Ihnen auszurichten, dass wir

heute Abend mit Ihnen essen möchten. Nicht im Hotel, sondern gegenüber in

dem kleinen Gartenlokal. Einverstanden?“

Aus Höflichkeit und Dankbarkeit für den überlassenen Wagen musste ich

zusagen, auch das würde ich noch überstehen. Hauptsache, ich konnte den

ganzen Tag ohne die beiden verbringen. Schnell warf ich ein paar Sachen und

einen Plan von Sri Lanka in den Toyota und fuhr los. An Colombo vorbei rollte

ich gemütlich die Westküste hinunter und hielt zum ersten Mal in Beruwala,

wo ich mich zufällig vor einer Moschee wiederfand, die hier genauso ins Bild

passte wie ein goldener Buddha in Teheran. Auch sonst stieß ich auf Sri Lanka

häufig auf Widersprüche, religiöse und gesellschaftliche, die ich nicht einordnen

konnte ... was ich damals auch gar nicht erst versuchte.

Jemand hatte mir den Strand von Hikkaduwa empfohlen, zu dem ich schließlich

weiterfuhr und der sich als echtes Paradies entpuppte. Kilometerlanger

schneeweißer Sand, kaum Gebäude, ein paar Hippies und Surfer, kein Pauschaltourismus.

Irgendwo am Narigama Beach kaufte ich eine Tauchermaske

mit Schnorchel, fand ein schattiges Plätzchen und schwamm hinaus zum Korallenriff.

Die Unterwasserwelt war wieder einmal schuld daran, dass ich mir

einen neuen, aber nur leichten Sonnenbrand holte. Während ich im letzten

Licht des Tages zum Ufer zurück schwamm, sah ich hinter Palmen einen endlosen

Passagierzug auf der Bahnlinie Colombo-Galle. Was ich nicht wusste:

Gut dreißig Jahre später, wenn Hikkaduwa längst eine boomenden Hotelstadt

geworden war, würde an genau dieser Stelle ein Tsunami einen solchen Zug

ins Meer reißen und 1.700 Menschen auf einmal töten.

Nachdem ich mich im Hotel gründlich von Meersalz und Sand befreit und

sogar rasiert hatte, betrat ich in frischen Sachen die Lobby und ließ mich in

einen Sessel fallen. Von dort bot sich mir wenig später das Bild, wie Monika

und ihr Partner aus der Hotelbar kamen, wobei diesmal der Mann merklich

Schlagseite hatte und sich auf Monika stützte. Er redete vor sich hin, löste sich

dann abrupt aus ihrem Griff und marschierte zu einem geöffneten Fahrstuhl.

Monika hatte mich schon entdeckt, blieb stehen, bis sich die Fahrstuhltür

schloss, und kam zu mir.

„Sorry, nichts zu machen. Mit dem ist nichts mehr anzufangen, wir müssen

zu zweit ins Restaurant gehen, okay?“

132


Nun, so sollte es wohl sein. Beim Überqueren der Straße roch ich an Monika

ihr Parfüm, das ich kannte, aber auch etwas anderes, das ich ebenfalls kannte

und mir in die Nase stach: Bacardi. Nicht nur aus Monikas Mund, sondern aus

allen Poren ihres Körpers drang der Gestank von Rum. Ihr tief ausgeschnittenes

Kleid, aus dem mehr als nur der Ansatz ihres Busens ragte, konnte den

ekelhaften Mief einer Hafenkneipe, den sie verströmte, auch nicht wettmachen.

Wir fanden einen freien Tisch, bestellten und redeten aneinander vorbei,

ohne dass es einen von uns gestört hätte. Mit heimlicher Freude verfolgte

ich, wie Monika nach den ersten Drinks schläfrig und immer stiller wurde.

Nach dem Essen beachtete ich sie überhaupt nicht mehr. Nur einmal noch fuhr

sie hoch, als ihre brennende Zigarette ein Loch in ihr Kleid schmorte. Monika

fluchte und kippte ein halbvolles Glas Wasser darüber, gleichzeitig zu Tode

betrübt, dass das Kleid ruiniert war, und hysterisch darüber lachend, dass sie

den Brand auf Anhieb gelöscht hatte. Danach sank sie auf ihren Stuhl zurück

und schloss die Augen.

Ich checkte die übrigen Gäste im Restaurant, das eigentlich eine weite, überdachte

Terrasse war. Kein billiger Laden, aber auch nicht übertrieben elegant,

an den Tischen saßen viele Einheimische, Paare und Familien mit Geld und

guten Manieren. Mein Blick kreuzte sich mit dem eines jungen Mannes, der

allein am Tisch saß. Ein gepflegter, sehr hellhäutiger Ceylonese, der beinahe

blass wirkte. Vielleicht waren es auch seine außergewöhnlich großen, rabenschwarzen

Augen, die den Rest seines Gesichts schmal und bleich machten.

Er trank Cola und schien sich zu bemühen, entspannt zu wirken, war es aber

nicht. Sein Blick wanderte unruhig hin und her, und immer, wenn ich merkte,

dass er zu mir hersah, schlug er sofort die Augen nieder, als hätte man ihn bei

etwas erwischt.

„Du hörst mir ja gar nicht zu!“ fauchte mich Monika plötzlich an.

Das stimmte, ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie etwas gesagt hatte. Womöglich

hatte sie das auch nicht, aber ich war mir nicht sicher. „Tut mir leid,

ich war in Gedanken. Worum ging es?“

„Das gibt´s doch gar nicht!“ Sie versuchte, sich eine neue Zigarette anzuzünden,

doch abwechselnd fielen ihr Feuerzeug und Zigarette immer wieder aus

der Hand. „Scheiße!“

Leute blickten zu uns herüber, die (wie ich) sofort merkten, dass Monika

hinüber war. Kellner räumten geflissentlich unsere Teller ab, fragten, ob wir

noch Kaffee oder Tee oder Dessert wollten. Ich verneinte höflich, doch Monika

wurde schon wieder laut: „Was du willst oder nicht willst, ist mir doch egal!

Ich will noch einen Bacardi!“ Und an den schmächtigen Kellner gewandt: „Auf

Eis! Na los!“

Der Kleine huschte davon, doch kurz darauf erschien der breitschultrige Chef

des Ladens. „Entschuldigen Sie, Lady, aber wir möchten Sie bitten, das Lokal

zu verlassen.“ Sein ruhiger Ton und seine Statur hätten sogar mich davon

überzeugt, dass dies nicht der Moment für Protest wäre.

Doch Monika fuhr aufgebracht herum, starrte erst den Mann und dann mich

wütend an. „Ihr Männer! Alles Arschlöcher, kein Benehmen!“ Ihr Wasserglas

fiel von Tisch und zerbrach.

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Der Inhaber raunte mir zu: „Sie brauchen nichts zu bezahlen, nur bitte gehen

Sie jetzt – sofort!“

Aber bevor ich antworten oder irgendetwas tun konnte, war Monika schon

aufgesprungen, wobei sie ihren Stuhl umwarf. Sie stürzte wie ein Raubtier aus

dem Restaurant, rannte über die Straße und verschwand gegenüber im Hotel.

Mehrere Augenpaare hatten sie ungläubig, aber erleichtert dabei verfolgt.

Auch ich atmete auf und fragte den Muskelmann, ob ich bleiben und noch

einen Kaffee haben könnte.

„Selbstverständlich! Und Ihre Rechnung bekommen Sie auch, wann immer

Sie danach verlangen.“ Er hatte keine Veranlassung mehr jemanden einzuladen.

Nachdem das Chaos an meinem Tisch behoben war, stand irgendwann der

bestellte Kaffee darauf. Gerade hob ich den Blick, als der blasse junge Mann

mit seiner Cola zu mir kam und direkt fragte: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Im ersten Moment dachte ich, er wäre schwul. So schmal und zerbrechlich,

mit diesen Rehaugen und seinen schwarzen Locken. Er trug ein weißes Hemd

mit lässig aufgekrempelten Manschetten über sehr feingliedrigen Händen. Ich

zögerte, hatte keine Lust auf noch mehr Trouble an diesem Abend. Aber etwas

sagte mir, dass der Bursche interessant war und nicht wirklich homosexuell.

Für den Fall, dass ich mich irrte, konnte ich ihn jederzeit abschütteln. „Okay!“

Er dankte, gab mir höflich die Hand (für Ceylonesen sehr untypisch) und

setzte sich steif wie eine Schaufensterpuppe. „Ich heiße James. Meinen ceylonesischen

Namen mag ich nicht, auch nicht Jim oder Jimmy, also nennen Sie

mich bitte James!“ Ähnlich hölzern begann unsere Unterhaltung, wir sprachen

über Negombo, die bevorstehende Regenzeit, Hotelpreise und im Grunde über

nichts. Mit keinem Wort erwähnte er die Szene mit Monika, und ich fragte

mich, wieso James an meinen Tisch gekommen war.

Ich erzählte ungefragt von meinem letzten Job, von ein paar Reisen und –

damit es keine Missverständnisse gab – weiblichen Flirts auf der anderen Seite

der Welt. Meist gelang es mir auf diese Weise, mein Gegenüber anzuregen,

auch seine Story zu erzählen, Gemeinsamkeiten auszuloten und im Idealfall

ein Terrain zu finden, auf dem es Interessantes auszutauschen gab. Ich wollte

wissen, womit dieser Kerl seinen Lebensunterhalt verdiente, was ihn in dieses

Lokal und ausgerechnet an meinen Tisch geführt hatte.

Doch James verweigerte die Aussage, würden Juristen sagen. Er wich aus

und flüchtete in Gegenfragen, ob ich den Norden von Sri Lanka kannte, den

Namen des Präsidenten, die Unterdrückungspolitik der Regierung, den Unterschied

zwischen Buddhismus und Hinduismus usw.. Die meisten Fragen

musste ich verneinen und auch meine Unwissenheit darüber eingestehen, warum

vor zehn Jahren aus Ceylon der Name Sri Lanka geworden war und ob

die singhalesische Schrift die der Tamilen dominierte. Kurzum: Ich hatte eine

ungefähre Ahnung, dass es zwischen Hindus und Singhalesen Ärger gab, irgendwo

im Norden des Inselstaates, mehr auch nicht. Dass Tamilen die Unabhängigkeit

ihrer Region forderten und erste Anschläge verübten, hatte ich gehört

und als den gleichen Schwachsinn abgetan wie Berichte von gewalttätigen

Kurden, Basken oder den Kämpfern der IRA. Mit der Erbfeindschaft zwischen

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Singhalesen und Tamilen hatte ich mich nie befasst. Und um ehrlich zu sein,

fehlte mir jegliches Interesse, es jemals zu tun.

Kaum hatte ich James das wissen lassen, ging mit ihm eine Verwandlung

vor. Als hätte man plötzlich den Strom eingeschaltet, der durch unsichtbare

Elektroden in seinen Körper schoss, spannten sich seine Muskeln an. Aus seinem

braven, fast kindlichen Gesicht wurde eine wilde Grimasse, die verriet,

wie sehr er (vergeblich) um Beherrschung rang. „Wir kämpfen gegen unsere

Unterdrückung! Mein Volk wird gequält, vertrieben und getötet, und dir ist

das gleichgültig!“

Mir wurde klar, dass ich einen dieser radikalen Tamilen vor mir hatte. Doch

was sollte ich tun? Oder anders gefragt: Was wollte der von mir?

James gewann einen Teil seiner Fassung zurück und holte zu einer ungestümen

Rede aus, in der er von der historischen Misshandlung seiner Glaubensbrüder

auf Sri Lanka berichtete. Ich erfuhr von politischen Säuberungen

zu Kolonialzeiten, im alten Ceylon bis in die Neuzeit, ständig unterfüttert von

grausamen Details, die einfach nur eklig waren. „Aber wir werden kämpfen,

wir schlagen zurück! Die Schwarzen Tiger werden siegen!“

Ich hörte kommentarlos zu und übte mich in der Kunst, so interessiert wie

möglich zu wirken. Wobei ich mich immer eindringlicher fragte, wieso er mir

das alles erzählte. Er schien dem Missionszwang verfallen, Fremde, Besucher

seines Landes aufzuklären, und ich war zufällig sein Opfer geworden. Doch

statt mich von seinem Eifer anstecken zu lassen, setzte ich auf Entspannung

und bot an, ein paar Drinks zu spendieren.

In seinen Augen die falsche Reaktion, denn sofort ging James wieder in die

Offensive: „Ihr Europäer mit euren ständigen Drinks und dieser geheuchelten

Lässigkeit! Pure Ignoranz, bis zum Umfallen, wie deine betrunkene Freundin!

Wann öffnet ihr endlich die Augen?“ Das ging noch eine Weile so weiter, steigerte

sich zu blanker Angriffslust, die sich mit Phasen wütender Resignation

abwechselte. Auf einmal wusste ich, woran mich James die ganze Zeit erinnerte:

In einem Horrorfilm den ich kürzlich gesehen hatte, war das Böse in

ein Kinderspielzeug gefahren, in eine Puppe, die nachts zum Leben erwachte

und zum blutrünstigen Monster mutierte. Eine solche Metamorphose hatte ich

hier vor mir, aus einem ehemals liebenswürdigen Gesicht sprühten Hass und

Mordlust. (Wer auf so etwas steht, sollte auch „Lunar Park“ von Bret Easton

Ellis lesen.)

Irgendwann muss meine Tarnung aufgeflogen sein. James schien zu merken,

dass mein Interesse an seinen Parolen restlos erloschen war. Seine Frage, ob

ich müde wäre, beantwortete ich wahrheitsgemäß, zahlte die Rechnung und

wollte Lebewohl sagen.

Doch schon verwandelte er sich zurück in einen netten, gut erzogenen Jungen

aus dem Land des Lächelns, der mir herzlich die Hand schüttelte. „Bitte

entschuldige, dass ich dich so heftig mit meinen Problemen bestürmt habe! Es

tut mir wirklich leid, kannst du mir verzeihen? Was musst du nur denken, in

deinem Urlaub von einem Irren wie mir gestört zu werden. Ich schäme mich!“

Er schlug die Augen nieder und schmollte, ich vergab ihm. „Falls du morgen

Abend Zeit hast, lade ich dich zum Dinner ein, zur Versöhnung, genau hier auf

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dieser Terrasse.“

Ich versprach nichts, war eher skeptisch, dass mir etwas an der Fortsetzung

unserer Bekanntschaft lag. Beim Überqueren der Straße sah ich aus den Augenwinkeln,

wie James ein kleines Moped bestieg und in die Nacht knatterte.

Im Hotel sortierte ich meinen Papierkram und checkte das nächste Flugticket.

In Kürze würde es nach Madurai weiter gehen.

Am darauffolgenden Tag gelang es mir, Monika und ihrem Freund aus dem

Weg zu gehen. Ich hatte beide im Hotel gesehen, zur Abwechslung anscheinend

mal nüchtern, doch ich zog es vor, unsichtbar zu bleiben. Auch abends

spürte ich kein Bedürfnis, denen im Hotelrestaurant zu begegnen. Ich trat auf

die Straße, unschlüssig, ob ich James noch einmal treffen oder lieber woanders

essen wollte. Doch im selben Moment wurde ich schon entdeckt und von gegenüber

gerufen: James in seinem weißen Hemd ruderte mit den Armen, ich

konnte nicht mehr entkommen.

Beim Überqueren der Straße sah ich bereits einen weiteren Typ an seinem

Tisch sitzen. Ein mürrisch blickender Kerl, muskulös, in einem schwarzen T-

Shirt, der bei der Begrüßung kaum den Blick hob und einen Namen nannte,

den ich nicht verstand. Umso aufgekratzter war James, übertrieben erfreut

darüber, dass ich gekommen war. Er drängte mir die Speisekarte auf und

wiederholte zwei Mal, dass ich eingeladen wäre. Auf meine Zurückhaltung reagierte

er mit der Erklärung, dass sein Freund kaum Englisch verstünde und

ich deshalb seine Verschlossenheit entschuldigen möge. Obwohl ich das mit

den Sprachkenntnissen bezweifelte, war es mir letztlich egal. Wir aßen eine

Kleinigkeit mit Chicken Wings und Reis und tranken Bitter Lemon, und ich

schöpfte schon Hoffnung, einen harmonischen Abend zu verbringen. Doch

langsam aber sicher braute sich das Gegenteil zusammen.

James zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor. „Erinnerst du dich, worüber

wir gestern sprachen?“ Natürlich erinnerte ich mich, obwohl ich selbst kaum

etwas gesagt, sondern nur seine Propaganda ertragen hatte. Mir schwante,

dass es gleich damit weiter ginge. Aber James hielt die Luft an, entfaltete das

Papier und schob es mir hin. „Lies!“ Es war ein Flugblatt, in fetter Schrift rief

es zum Kampf auf. An den Rändern waren Gewehre und andere Waffen abgebildet,

die Sprachen waren Englisch und Tamil, und es wimmelte nur so von

Ausrufezeichen. Ein Aufruf zur Revolte, alle Hindus sollten sich vereinen, organisieren,

gemeinsam mit den „Schwarzen Tigern“ gegen ihre Unterdrücker

kämpfen und den neuen Staat „Tamil Eelam“ gründen. Eine in meinen Augen

ziemlich primitive, böse Hetze und Kampfansage, mit der ich nichts zu tun

haben wollte. James schien das an meiner Mimik abzulesen. „Nun, was meinst

du?“

„Nichts. Geht mich absolut nichts an!“

Statt einen erneuten Wutausbruch zu bekommen, der fraglos in ihm aufkeimte,

säuselte James in einem künstlichen Tonfall, den er garantiert geübt

hatte: „Du hast recht, mein Freund. Was geht dich schließlich unsere Notlage

an? Du bist ein Besucher, auf der Durchreise, keineswegs verpflichtet, dich mit

unseren Problemen zu belasten.“

Er sprach mir aus der Seele, und ich hatte deswegen nie weniger Gewissens-

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bisse als in diesem Moment. Obwohl mir Fanatiker wie er auch immer irgendwie

leidtaten. Was sollte ich tun? Immerhin hörte ich weiter zu.

„Ich dachte nur, vielleicht könntest du uns wenigstens einen kleinen Gefallen

tun, rein menschlich ... aus Freundschaft.“ Dabei setzte er wieder sein

Unschuldslächeln auf, mit dem er zum beliebtesten Schüler jeder High School

gewählt worden wäre. Sogar sein Begleiter, der bisher keinen Ton gesagt hatte,

blickte erschrocken auf. James fuhr unbeirrt fort. „Wir glauben, dass wir dir

vertrauen können, eine Kleinigkeit für unsere Sache zu erledigen, eine gute

Tat, wie Pfadfinder zu sagen pflegen.“

Ich horchte instinktiv auf, als ich zwei Mal das Wort „wir“ hörte. Wer waren

„wir“?

„Wir sind die Unterdrückten, die Guten, die Minderheit. Die Singhalesen

beleidigen und verdrängen uns. Wenn wir uns nicht endlich wehren, vernichten

uns die Buddhisten. Im Norden müssen wir uns täglich vor Übergriffen

schützen!“

Fest überzeugt, mich keinesfalls, auch nicht mit der kleinsten Gefälligkeit

in diesen Konflikt einzumischen, fragte ich dennoch, was ich seiner Meinung

nach tun könnte.

„Ganz einfach, nur eine Kleinigkeit, wie ich schon sagte. Im Rathaus von

Colombo gibt es einen Kontaktmann, einen Tamilen, der diese Flugblätter (er

tippte auf sein Pamphlet) in allen Büros und öffentlichen Bereichen verteilen

und aufhängen wird. Er arbeitet dort in der Putzkolonne. James zwinkerte mir

zu.

„Na schön, und was hat das mit mir zu tun?“

„Du bist ein unauffälliger Tourist, du kannst ein Paket mit diesen Flugblättern

beim Besuch der Cinnamon Gardens problemlos ins Rathaus schmuggeln,

wenn eine Reisegruppe das „kleine Capitol“ besichtigt.

Das Rathaus von Colombo war baulich dem Capitol in Washington nachempfunden,

wie ich schon gesehen hatte, nur eben viel kleiner. Aber warum sollte

ich Flugblätter dort hinein schmuggeln, die ein Angestellter selbst mitbringen

konnte?

„Kann er eben nicht! Alle, die dort arbeiten, werden bei Betreten des Gebäudes

gründlich gefilzt. Nicht ein einziges Flugblatt könnte unser Mann ungehindert

dort einschleusen, geschweige denn einen ganzen Packen. Aber du in einer

Besuchergruppe mit Rucksäcken und Tüten, die kein Mensch kontrolliert,

kannst die Flugblätter mitnehmen ... und dort auf einer Toilette verstecken.

Ganz einfach, oder?“

Ich war nicht sicher, ob mir die Vorstellung gefiel. In der Regel mochte ich

ungewisse Situationen. Doch hierbei fehlte es mir einfach an Enthusiasmus

oder Anreiz, warum ich mich darauf einlassen sollte. Auch wusste ich nicht,

wann und wie das konkret ablaufen sollte.

„Morgen, mein Freund, startet die nächste Tour nach Colombo mit Stadtrundfahrt.

Du kannst den Trip direkt in deinem Hotel buchen, auch morgen

früh noch. Wir zahlen das Ticket, kein Problem. Du nimmst unser Päckchen

mit, das du vor der Fahrt bekommst, und im Rathaus lässt du es auf der Besuchertoilette.

Details sage ich dir noch, okay?“

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„Wie groß ist das Paket?“

„Nicht groß, etwa so.“ James zeigte ein handliches Maß. „Auch nicht schwer.

Passt in jeden Rucksack.“

„Kann ich das mal sehen?“

„Nein, wir geben es dir erst morgen.“

„Ich meine, kann ich das Paket aufmachen, bevor ich es mitnehme?“ Erst als

ich dies aussprach, wurde mir bewusst, was ich sagte. Wie bei einem Zeitzünder

(kein zufälliger Vergleich!) realisierte ich mit Verzögerung, was ich NICHT

gesagt ... und dadurch erst angedeutet hatte!

James gefror augenblicklich zu einer Statue, aus seinem Gesicht wich der

letzte Rest Farbe. Nur seine Augen waren noch lebendig und suchten die seines

Begleiters. Der schien plötzlich aufzuwachen und beherrschte ebenso plötzlich

die englische Sprache: „Nein! Das Paket bleibt verschnürt.“ Sein Versuch, trotz

Entschlossenheit freundlich zu wirken, misslang. „Wir vertrauen dir, du vertraust

uns, alles klar?“

Meine Gedanken kreisten noch um das Wort „Zeitzünder“, während sämtliche

Alarmglocken meines verdorbenen Charakters schrillten. „Nichts ist klar,

meine Freunde!“ Ich warf ihnen abwechselnd irre Blicke zu. „Wir vertrauen

einander, okay?“ Dabei musste ich unwillkürlich kichern, wie über meinen eigenen

Wahnsinn. „Also ich beweise euch mein Vertrauen: Wenn ich das Paket

öffnen kann und darin wirklich nur Flugblätter sind, bringe ich die ins Rathaus,

versprochen!“

Die beiden unterhielten sich auf einmal lebhaft auf Tamil, ich verstand kein

Wort. Doch ihre Gestik und ihr Ton verrieten, dass sie stritten. James schien

den anderen Burschen beruhigen zu wollen, doch der sprang immer wieder

auf und wurde lauter. Ihr Streit eskalierte, und der Inhaber des Ladens, der

am Vortag schon Monika an die Luft gesetzt hatte, näherte sich unserem Tisch.

Die beiden bekamen das mit, beruhigten sich schließlich und hoben entschuldigend

die Hände.

Unterdessen tickte in mir (schon wieder so eine Assoziation!) mein angeborener

Warnmechanismus, der gewöhnlich vom „worst case“ ausging: Falls ich

es hier wirklich mit Terroristen und Bombenlegern zu tun hätte, läge es nicht

in der Natur der Sache, dass sie mich als Mitwisser und möglichen Verräter auf

der Stelle beseitigten? Oder bei nächster Gelegenheit, zumindest bevor ich mit

anderen sprach? Ich musste mich kooperativ zeigen. „Okay, noch einmal ganz

ruhig: Ich werde euer Paket morgen mitnehmen, wenn da nur Flugblätter drin

sind. Versprecht ihr das?“ Es fiel mir schwer, so viel Naivität zu simulieren.

Doch es funktionierte.

James lächelte wieder und drückte meinen Arm. „Ich wusste vom ersten Moment

an, dass du unser Freund bist! Natürlich verspreche ich dir, dass es hier

nur um Flugblätter geht. Wir danken dir für dein Vertrauen!“ Sogar der andere

Typ zwang sich zu einem schiefen Lächeln, das ich instinktiv als Grinsen eines

Mannes einstufte, der schon getötet hatte.

Wir vereinbarten Ort und Zeit der Übergabe am nächsten Morgen und

schlüpften unauffällig aus dem Restaurant. Ein neurales Rumoren verfolgte

mich indessen noch bis tief in die Nacht. Vielleicht hatten auch die beiden ihre

138


Loyalität nur gespielt und berieten sich gerade, wann und wo sie mich umlegen

würden. Oder falls nicht: Wie würde das Treffen ablaufen? Wäre im Paket

wirklich nur Papier, würde man es mir zeigen – aber darauf vertraute ich nicht.

Man würde verlangen, dass ich dem Versprechen glaubte. Und dann? Wenn

ich das Ding einmal bei mir hatte, konnte ich nicht mehr aussteigen, es nicht

einfach irgendwo in die Natur werfen. Womöglich sprengte ich mich bei dem

Versuch selbst in die Luft. Gab es einen Zeitzünder? Wann würde das Ding

hochgehen? Vielleicht gar nicht. Und falls doch, warum sollte man mich nachträglich

nicht einfach beseitigen? Musste man das nicht sogar? Sollte ich vielleicht

mitten in der Nacht meinen Kram packen und aus dem Hotel verschwinden?

Oder erst einmal mitspielen und auf eine bessere Chance hoffen? Das

Karussell in meinem Kopf raste immer schneller und raubte mir den Schlaf.

Entsprechend zerschlagen war ich morgens beim Frühstück, das einerseits

meine Henkersmahlzeit sein konnte, andererseits – oder gerade deshalb - neue

Kräfte in mir weckte. Immerhin lebte ich noch. Auch hatte ich mich entschieden,

die Dinge auf mich zu kommen zu lassen und erst zu agieren, wenn der

Moment günstig war. Ich hatte in der Nacht viele gefährliche Situationen, die

ich schon überstanden hatte, Revue passieren lassen und erkannt, dass ich mit

dieser Einstellung immer am besten gefahren war. Abwarten, wachsam sein,

blitzschnell anderen zuvor kommen!

Ich war sogar pünktlich am Treffpunkt, aber nichts passierte. Niemand

tauchte auf, weder Tamilen noch Päckchen. Urlauber stiegen in den Bus nach

Colombo, ich blieb in der Hotelhalle und nahm mir eine Zeitung, um die Lage

noch ein Weilchen zu beobachten. Aber es geschah nichts, ich wurde nie wieder

kontaktiert und sollte auch James oder seinen dunklen Spießgesellen nie

wieder sehen.

In den nächsten Tagen, die ich noch in Negombo verbrachte, hatte ich

manchmal das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Obwohl es keine

konkreten Anhaltspunkte dafür gab und ich, anders als in vergleichbaren Situationen,

niemanden identifizierte, der mir „zufällig“ wiederholt begegnete.

Irgendwann tat ich das Gefühl erfolgreich als Hirngespinst ab. Monika und

ihr Partner waren von der Bildfläche verschwunden, vermutlich abgereist, was

ich sehr begrüßte. Und da ich genauso wenig erpicht auf ein Wiedersehen mit

James war, mied ich tunlichst das Gartenrestaurant auf der anderen Straßenseite.

Bis zu meiner Abreise unternahm ich überhaupt nur noch wenig auf Sri

Lanka, bei Flaute lag ich am Pool, bei Wind surfte ich vor der Küste auf und

ab. Im Shop des Hotels kaufte ich mir ein Buch über Indien, das ich aber noch

nicht zu lesen begann. Die Lektüre der Tageszeitungen wurde zunehmend

spannender: Täglich berichteten sie über die sich ausweitenden Unruhen in

den nördlichen Regionen. Guerillas der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam)

verbreiteten Angst und Schrecken. Genauso brutal schlugen Regierungstruppen

zurück und statuierten Exempel an Kämpfern und ganzen Dörfern

der Hindu-Minderheit. Ich war froh, den drohenden Auseinandersetzungen

rechtzeitig zu entkommen.

(Ein Jahr später hatten sich die Unruhen über die gesamte Insel ausgebreitet.

1983 brach offiziell der Bürgerkrieg aus, begleitet von schweren Kämpfen und

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Attentaten. Singhalesen und Tamilen zerfleischten sich in blinder Wut. Autobomben

töteten immer wieder Soldaten, irgendwann den Staatspräsidenten

und einmal sogar mit über 50 Opfern die gesamte Spitze der Oppositionspartei

UNP.)

Als ich nach Indien flog, folgten 25 Jahre Terror auf Sri Lanka, die erst 2009

vorüber waren. Ich landete in Madurai und durchkreuzte, bevor es mich in

den Norden und weiter nach Nepal trieb, zunächst die Südspitze des Subkontinents.

Trotz schreiender Armut war mir das Riesenland sofort sympathischer

als Sri Lanka. Warum? Weil ich keine Gewalt spürte, weder offen noch unterschwellig.

Es gab ein Kastensystem, das alles regelte, es gab die täglichen

kleinen Gaunereien, aber ich fühlte mich sicher und musste mich nicht ständig

umsehen, ob von irgendwem Gefahr drohte.

In Mysore glaubte ich, das Paradies zu betreten. In der Dämmerung erreichte

ich Brindavan Gardens und wurde kurz vor Hereinbrechen der Dunkelheit

vom Ausmaß dieser gigantischen Terrassenanlage überwältigt. Gesäumt von

Bougainvillea und Hängen voller Blumen-Ornamente lagen vor mir, so weit

das Auge reichte, ein Meer von Blüten, dazwischen sattgrüne Rasenflächen

und zahllose kleine Labyrinthe aus kunstvoll gestutzten Hecken. Alles auf weiten,

sanft abfallenden Terrassen, die von breiten und schmalen Kanälen mit

Fontänen und fröhlichen Wasserfällen durchzogen wurden: Der Wirklichkeit

gewordene Traum eines Maharadschas, der einst hier regierte. Kaum legte sich

die Nacht über dieses Wunder, wurde es magisch von Millionen bunter Lichter

erfüllt. Entlang aller Pfade und Blumenbeete, aller Wasserläufe und Kaskaden

und Fontänen erstrahlten kleine, farbige Lichtquellen, die sich bis zum Horizont

erstreckten. Ich durfte teilhaben an Indiens wahrer Wunderwelt.

Hier war es, wo ich am nächsten Tag in meinem Hotel die Zeitung aufschlug

und auf dem Foto der Titelseite ein Gebäude wiedererkannte: Das Rathaus von

Colombo, das dem US-Capitol so ähnlich sah. Darüber prangte die Schlagzeile

„Bombenanschlag!“

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