28.02.2023 Aufrufe

66_Ausgabe Dezember 2008

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Vorwort<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

Kennen Sie jene kleine Geschichte über<br />

Weihnachten in Görlitz 1931, die Rotraud<br />

Schöne unter dem Titel “Das Weihnachtslicht”<br />

für ihr Büchlein “Bunzlauer Weihnachtsteller”<br />

mit schlesischen Weihnachtsgeschichten<br />

schrieb? (Es erschien 1991<br />

bei der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung<br />

München.) Ein junger Arbeitsloser geht<br />

bei Geschäftsschluß am 23. <strong>Dezember</strong><br />

durch das Görlitzer Stadtzentrum und<br />

denkt bitter: “Weihnachten – eine überflüssige<br />

Einrichtung! Prahlerei mit irgendwelchen<br />

Geschenken, Geschäftemacherei.<br />

Alles nach außen gestülpt. Für innen blieb<br />

nichts übrig. Ob wirklich hin und wieder<br />

mal einer nachdachte über den Ursprung<br />

dieses Festes? Früher war’s mal schön<br />

gewesen, bei den Eltern in dem kleinen<br />

Haus auf dem Lande.” Vor dem Weihnachtsbaum<br />

auf dem Wilhelmsplatz lernt<br />

er den sechsjährigen Gottlieb von der<br />

Krölstraße kennen, der ihn für den “richtigen”<br />

Nikolaus hält. Der Junge wünscht<br />

sich für die ärmliche Wohnung, wo seine<br />

kranke Mutter auf ihn wartet, am Heiligabend<br />

ein Weihnachtslicht, nur das. Auf<br />

fast abenteuerliche Weise gelingt es dem<br />

Arbeitslosen, in allerletzter Minute am 24.<br />

<strong>Dezember</strong> eine Kerze, eine Tafel Schokolade<br />

und einen Tannenzweig zu erstehen,<br />

in das schäbige Haus an der Krölstraße<br />

zu bringen und Freude zu spenden. Der<br />

letzte Satz der Geschichte: “Als die Haustür<br />

hinter ihm zuklappte, wußte er wieder,<br />

was Weihnachten für einen Sinn hatte.” Es<br />

ist eine anrührende und schlichte Episode,<br />

keineswegs rührselig. Inzwischen habe ich<br />

sie bei Adventsfeiern in Seniorenheimen<br />

oder Vereinen oft vorgelesen. Die Schilderung<br />

der Verfasserin verwob sich mit eigenen<br />

Kindheitserinnerungen aus Kriegsund<br />

Nachkriegsjahren. Versuchen Sie es<br />

doch selbst einmal, diese Geschichte zum<br />

Advent in der Familie vorzutragen! Die Zuhörer<br />

werden bald merken, was das mit<br />

heute zu tun hat.<br />

Unser <strong>Dezember</strong>heft berücksichtigt vorweihnachtliche<br />

Lesererwartungen. Ein<br />

Rückblick auf Weihnachten in Kriegsjahren<br />

mag nachdenklich stimmen. Überall in<br />

Deutschland leuchten Herrnhuter Sterne,<br />

über die berichtet wird. Ein Weihnachtsfest<br />

nach guter Tradition mit den Familien,<br />

den Hausnachbarn und mit allen, die unsere<br />

Zuwendung brauchen, danach einen<br />

würdigen, zuversichtlichen Jahreswechsel<br />

wünscht Ihnen<br />

Ihr Ernst Kretzschmar<br />

anzeige<br />

Einleitung<br />

3


Vor 65 Jahren<br />

65 Jahren<br />

–<br />

–<br />

Görlitzer Adventskranz um 1943, Foto Alfred Jaeschke<br />

Schon seit Wochen stapeln<br />

sich in den Regalen<br />

der Kaufhallen die Schokoladenweihnachtsmänner.<br />

Die<br />

Buchhalter der Kaufhausketten<br />

hoffen mit einem<br />

letzten Käuferansturm die<br />

Jahresbilanz aufzubessern.<br />

Fernsehen, Theater und<br />

Buchhandel stellen sich auf<br />

Weihnachtliches ein. Schaufenster<br />

füllen sich mit Glitzerkram<br />

aus Magazinkisten.<br />

Händler bewerben sich um<br />

Stände auf dem Christkindelmarkt.<br />

Ideenreich werden<br />

die 24 Veranstaltungen<br />

des Görlitzer Adventskalenders<br />

vorbereitet. Santa<br />

Claus hängt als putziges<br />

Klammeräffchen an Hausfassaden.<br />

Überall gräßliches<br />

US-amerikanisches Christmas-Gedudel.<br />

Einkaufshektik<br />

neben Massenarbeitslosigkeit,<br />

Kindervorfreude neben<br />

Kinderarmut, deutsche<br />

anzeige<br />

4<br />

Geschichte |


Kriegsweihnachten<br />

Soldaten zum Kriegseinsatz<br />

in fernen Ländern, wieder<br />

einmal.<br />

Nun leben nicht mehr viele,<br />

die als Kinder sechsmal<br />

Kriegsweihnachten miterlebt<br />

haben. Die über 70<br />

sind froh darüber, dass die<br />

Kinder heute das Weihnachtsfest<br />

hier in Frieden<br />

erleben können. Sie können<br />

sich aber über Bedrohliches<br />

rundum nicht einfach hinwegsetzen,<br />

die Unwägbarkeiten<br />

der näheren Zukunft<br />

nicht beschönigen. Immer<br />

deutlicher kehren die Weihnachtsfeste<br />

der Kriegsjahre<br />

ins Gedächtnis zurück.<br />

Noch immer gab es im Vergleich<br />

zu heute bescheidene<br />

Wunschzettel. Die<br />

Jungen hofften auf Lineol-<br />

Soldaten, einen Ball, vielleicht<br />

einen Pullover, von<br />

der Mutter nachts heimlich<br />

gestrickt, die Kleineren auf<br />

Weihnachtswunschzettel auf Kinder-Briefpapier, Görlitz 1943<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

5


Vor 65 Jahren<br />

65 Jahren<br />

–<br />

–<br />

mittags saß<br />

man um den<br />

Küchentisch,<br />

bastelte Tiere<br />

und Bäumchen<br />

aus Eicheln und<br />

Tannenzapfen.<br />

Mit der Laubsäge<br />

schnitt man<br />

Sperrholz zu Möbel-Bauteilchen<br />

für die Puppenstube<br />

der kleinen<br />

Schwester. Der<br />

Krieg ließ sich<br />

Dorothea Ullrich mit Schwiegermutter, Weihnachten 1943, Seydewitzstraße nicht aus dem<br />

einen Eisenbahnzug aus Holz oder einen<br />

“Wackeldackel” zum Ziehen, die Mädchen<br />

auf eine Puppe, nun mit Leinenbalg,<br />

ausgestopft mit Sägespänen und<br />

mit Kopf aus Pappmaché. Spielsachen<br />

aus kriegswichtigem Material (Blechautos,<br />

Schildkröt-Puppen aus Kunststoff)<br />

gab es nicht mehr. Pfefferkuchen auf<br />

Blechen wurden in die Kellerwerkstätten<br />

der Bäcker gebracht, statt der Mandeln<br />

klebten nun Kürbiskerne drauf. Nach-<br />

Familienalltag wegzaubern, von Jahr zu<br />

Jahr weniger.<br />

Die Görlitzer Geschäftsfrau Dorothea<br />

Ullrich, Jahrgang 1919, betrieb damals<br />

mit ihrer Schwiegermutter die stadtbekannte<br />

Parfümerie Ullrich an der Berliner<br />

Straße (neben Kino “Capitol”). Etwa 40<br />

Jahre später erzählte sie über die letzte<br />

Kriegsweihnacht: “1944 hatten wir<br />

ein trauriges Weihnachten. Alles war für<br />

uns grau in grau. Man fühlte sich ausge-<br />

anzeige<br />

6<br />

Geschichte |


Kriegsweihnachten<br />

laugt und konnte gar nicht mehr so richtig<br />

hoffen und denken und wünschen.<br />

Drohend stand der Zusammenbruch<br />

vor uns. Kurz zuvor waren Verwandte<br />

von uns, ein Ehepaar mit drei Kindern,<br />

in Regensburg beim Bombenangriff im<br />

Luftschutzbunker umgekommen. Nun<br />

bangten wir, dass die Männer, die Söhne<br />

und Verlobten aus diesem unseligen<br />

Krieg lebend nach Hause kamen. Auch<br />

mein Mann war<br />

draußen. Unserem<br />

kleinen<br />

Jungen, er war<br />

gerade ein halbes<br />

Jahr alt,<br />

gaben wir aus<br />

Grieß das Beste.<br />

Auf die Punktkarte<br />

hatten wir<br />

glücklich drei<br />

Taschentücher<br />

bekommen. Aus<br />

aufgetrieselter<br />

Wolle strickten<br />

wir Handschuhe<br />

und Schals,<br />

Brustwärmer, Pulswärmer und Ohrenschützer<br />

für die Männer in den Schneewüsten<br />

der Ostfront. Unsere Existenz als<br />

Geschäftsleute war bedroht. Alle Leute<br />

aus den nicht kriegswichtigen Betrieben<br />

sollten in die Rüstung. Wir belieferten<br />

Ärzte und Krankenhäuser mit Tonseife<br />

und Waschmitteln auf Seifenkarten.<br />

Bis nachts saßen wir beim Aufkleistern<br />

der Markenabschnitte. Im Tausch ge-<br />

Dorothea Ullrich mit Söhnchen, Weihnacht 1944<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

7


Vor 65 Jahren<br />

65 Jahren<br />

–<br />

–<br />

gen uralte Friedensbestände<br />

brachten uns<br />

Kunden etwas<br />

Mehl oder ein<br />

paar Eier. Etwas<br />

Roggenmehl<br />

für den Mohnstollen<br />

hatten<br />

wir uns nach<br />

einem langen<br />

Fußmarsch beim<br />

Bauern erbettelt.<br />

Aus irgendeinem<br />

Versteck hatte<br />

meine Schwiegermutter<br />

noch richtige Wachskerzen für<br />

den Baum hervorgekramt. Einen Weihnachtsmarkt<br />

gab es ja nicht mehr. Die<br />

Fenster mußten alle verdunkelt werden.<br />

Aber wir waren schon froh, wenn keine<br />

schlimmen Nachrichten von der Front<br />

kamen. Wir wollten nicht noch in letzter<br />

Minute Soldatenwitwen werden, wie<br />

es so vielen gleichaltrigen jungen Frauen<br />

ergangen war. Vor der bescheidenen<br />

Bescherung waren waren wir in der<br />

Görlitzer Mädchen beim Umarbeiten von Wollsachen für Soldaten der Ostfront, 1942<br />

Kreuzkirche zur Christnacht. Am Abend<br />

hörten wir uns, wie schon so oft, die<br />

Grammophonplatten mit Zarah Leander<br />

und Wilhelm Strienz an: Wovon kann der<br />

Landser denn schon träumen? Heimat,<br />

deine Sterne! Davon geht die Welt nicht<br />

unter... Aber Ängste und Zweifel ließen<br />

sich nicht mehr vertreiben. Nie gab es<br />

ein schlimmeres Weihnachten.” Der Görlitzer<br />

Kupferstecher, Maler und Grafiker<br />

Johannes Wüsten, Jahrgang 1896, starb<br />

anzeige<br />

8<br />

Geschichte |


Kriegsweihnachten<br />

bereits 1943 als politischer Häftling im<br />

Zuchthaus Brandenburg-Görden. Über<br />

dessen Weihnachtserlebnis 1940 im Pariser<br />

Exil schrieb sein damaliger Weggefährte<br />

Heinrich Oberländer 1944 (in der<br />

Kriegsgefangenenzeitung “Volk und Vaterland”<br />

der Bewegung Freies Deutschland<br />

für den Westen): “Und du hast<br />

auch Weihnachten<br />

hier draußen<br />

kennengelernt.<br />

Du hattest<br />

aus Deutschland<br />

einen kleinen<br />

Pappkarton<br />

mitgenommen,<br />

in dem sich ein<br />

Lichthalter, eine<br />

rote Kugel und<br />

etwas Lametta<br />

befanden. Wo<br />

du dich auch<br />

am 24. <strong>Dezember</strong><br />

befandest,<br />

du hattest einen<br />

kleinen Tannenzweig<br />

aufgetrieben<br />

und ihn damit geschmückt. Und<br />

wenn du dich allein oder unbeobachtet<br />

wusstest, schlugst du ein Buch mit Bildern<br />

aus deiner Heimat auf. Dann blieben<br />

deine Augen manchmal im Leeren<br />

haften. Du überlegtest vielleicht, ob viele<br />

der Millionen Reichsdeutschen dort,<br />

in ihren warmen, nach Weihnachten<br />

Wilfried Jeschkowski, Jg. 1940, Weihnachten 1942 mit Holzspielzeug,<br />

das französische Kriegsgefangene in der WUMAG gebastelt hatten.<br />

Er starb 1946 an Hunger-Typhus.<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

9


Vor 65 Jahren<br />

65 Jahren<br />

–<br />

–<br />

ne Deutschen<br />

aufzunehmen.<br />

Wir waren am<br />

Ende. Wir verduftenden<br />

Stuben, jener anderen Deutschen<br />

gedachten, die zur gleichen Zeit<br />

in der Nacht und Kälte der Konzentrationslager,<br />

der Gestapogefängnisse oder<br />

eben bestenfalls in einem Hotelzimmer<br />

die Heilige Nacht überstanden... So kam<br />

es, dass du zu Weihnachten 1940, zum<br />

Skelett abgemagert, in einer eisigen<br />

Dachkammer in der Rue Monsieur le<br />

Prince im 6.Bezirk von Paris lagst.<br />

Zum Hunger war noch die Krankheit gekommen.<br />

Du gingst buchstäblich aus<br />

Schwäche zugrunde. Du verlorst oft mitten<br />

im Sprechen die Besinnung, zogst<br />

mit deinen gelben, mageren Händen<br />

die Decke an die Lippen und begannst<br />

an ihr zu kauen. Über dir an der Wand<br />

hing ein kleiner Tannenzweig mit einem<br />

Licht, einer roten Kugel und etwas Lametta.<br />

Neben dir lag das Buch vom Riesengebirge.<br />

Wir<br />

versuchten damals,<br />

ein Bett in<br />

einem französischen<br />

Hospital<br />

für dich zu finden.<br />

Aber laut<br />

Verordnung der<br />

deutschen Militärverwaltung<br />

durften französische<br />

Krankenhäuser<br />

kei-<br />

Görlitzer Garnisontruppen des Infanterie-Regiments 30 an der Ostfront<br />

bei Staraja Russa 1942 mit Wegweiser nach Görlitz.<br />

anzeige<br />

10<br />

Geschichte |


Kriegsweihnachten<br />

kauften Flaschen<br />

und alte<br />

Zeitungen, um<br />

einen Topf voll<br />

Nudeln kochen<br />

zu können. Die<br />

Wände unserer<br />

ungeheizten<br />

Wohnung,<br />

in der wir jeden<br />

Tag den Besuch<br />

der Gestapo erwarteten,<br />

hatten<br />

sich mit Eis<br />

bedeckt...”<br />

Wer dachte auch Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A in der Görlitzer Oststadt um 1943<br />

an die Weihnacht in den Unterständen Aufstrich. 3 Esslöffel Sirup, 3 Esslöffel<br />

der Frontsoldaten, an die Kriegsgefangenenlager<br />

diesseits und jenseits, an die evtl. etwas Zucker und Pomeranzenaro-<br />

Wasser, 1 Teelöffel Mehl, 1 Prise Salz,<br />

Zwangsarbeiter der Rüstungsbetriebe in ma zusammen aufkochen, schmeckt auf<br />

ihren kargen Unterkünften, an die Kinder<br />

und Alten in den Luftschutzkellern, kolade aus Roten Rüben. Rote Rüben<br />

Vollkornbrot wie Pfefferkuchen. - Scho-<br />

an die Verwundeten in den Lazaretten, werden geraspelt und gedörrt, dann<br />

an die Verfolgten im Untergrund? auf der Kaffeemühle recht fein gemahlen.<br />

Dieser Kakao wird mit etwas Salz<br />

In dem Heftchen “50 Kochrezepte für<br />

die Tage der Not”, um 1945 in Görlitz und Zucker gekocht und durchgegossen<br />

gedruckt, lesen wir: “Pfefferkuchen- und mit Milch und etwas Mehl sämig ge-<br />

anzeige<br />

Geschichte | 11


Vor 65 Jahren<br />

65 Jahren<br />

–<br />

–<br />

kocht. Täuscht<br />

absolut Schokolade<br />

vor.” Dennoch<br />

oder gerade<br />

deshalb war<br />

der Zusammenhalt<br />

der Menschen<br />

stark.<br />

Man half einander<br />

in Familie<br />

und Nachbarschaft,<br />

richtete<br />

sich gegenseitig<br />

auf, wenn<br />

die Todesnachrichten<br />

von der<br />

Front oder aus den bombardierten<br />

Großstädten kamen. Die meisten Frauen<br />

und Mütter waren standhaft, mutig<br />

und lebenstüchtig. Das letzte Kriegsweihnachtsfest<br />

war für über 10 Millionen<br />

Deutsche zugleich das letzte in der<br />

alten Heimat. Nur wenig später folgte<br />

Schlimmeres: Flucht mit wenig Habe,<br />

Häuserkämpfe und Brände, Ausplünderungen<br />

und Demütigung, Tod auf der<br />

Landstraße, Vertreibung, Hunger in den<br />

Flüchtlingswagen auf dem Obermarkt, Winter 1944/1945<br />

Notaufnahmelagern, Zusammenbruch<br />

von Lebensplänen und Überzeugungen.<br />

Gemessen an alledem, sind die Sorgen<br />

von heute immer noch halbwegs erträglich.<br />

Aber wie lange noch? Die Kriegsweihnacht<br />

vor 65 Jahren mag für die<br />

heute Jungen unendlich fern und unausdenkbar<br />

sein. Gut, möge jeder seine<br />

Weihnacht feiern. Aber nicht ohne Blick<br />

auf die Welt ringsumher.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

anzeige<br />

12<br />

Geschichte |


Kriegsweihnachten<br />

Wilhelm Kirchner<br />

in: Wos fersch Herze, Görlitz 1928<br />

anzeige<br />

Geschichte | 13


Herrnhuter<br />

Und leuchtet in die ganze<br />

Stern<br />

Welt<br />

Nun ist seine Zeit<br />

wieder gekommen.<br />

Nun darf er wieder<br />

leuchten – der<br />

Herrnhuter Stern.<br />

Gerade in den dunkelsten<br />

Wochen des<br />

Jahres, an den kürzesten<br />

Tagen und in<br />

den längsten Nächten,<br />

leuchtet er in<br />

den Straßen, Wohnungen<br />

und Kirchen.<br />

Seine Strahlen<br />

schenken Helligkeit<br />

und weisen den Weg – es ist die Zeit<br />

der Ankunft, des Advents.<br />

Der Herrnhuter Stern ist ein besonderer<br />

Stern. Sein Leuchten geht über die familiäre<br />

Besinnlichkeit und die dekorative<br />

Behaglichkeit in der Advents- und Weihnachtszeit<br />

hinaus. Der Herrnhuter Stern<br />

kommt zu uns als Botschafter mit Tradition.<br />

Und das auf eine schlichte, unaufdringliche,<br />

oft auch romantische Art. Es<br />

ist ein Leuchten, das ausstrahlt und anzieht:<br />

warmes Gelb, klares Weiß, sinnliches<br />

Rot.<br />

Bald nach Jesu Geburt kamen Sterndeuter<br />

aus dem Osten nach Jerusalem und<br />

fragten: »Wo finden wir den neugeborenen<br />

König der Juden? Wir haben seinen<br />

Stern aufgehen sehen und sind gekommen,<br />

um uns vor ihm niederzuwerfen«.<br />

… Und der Stern … ging ihnen voraus.<br />

Genau über der Stelle, wo das Kind war,<br />

blieb er stehen. Als sie den Stern sahen,<br />

kam eine große Freude über sie. Sie gingen<br />

in das Haus und fanden das Kind<br />

anzeige<br />

14<br />

Titel |


Der Herrnhuter Stern und<br />

Stern<br />

seine Geschichte<br />

mit seiner Mutter Maria. (Gute Nachricht<br />

Bibel, Aus Matthäus 2)<br />

So wie der Stern von Bethlehem vor<br />

zweitausend Jahren die Weisen aus dem<br />

Morgenland zu Jesus Christus führte,<br />

weist uns der Herrnhuter Stern heute<br />

auf das Weihnachtswunder: Christus ist<br />

geboren. Gott ist in einem kleinen Kind<br />

zu uns Menschen gekommen. Und dieser<br />

Christus spricht: »Ich bin der leuchtende<br />

Morgenstern« (Gute Nachricht Bibel,<br />

Offenbarung 22,16). Damit erfüllte<br />

er jahrhundertlange<br />

Hoffnungen seiner<br />

Mitmenschen<br />

(4. Mose 24,17)<br />

und bietet auch uns<br />

heute eine hoffnungsvolle<br />

Perspektive.<br />

Auch in unserer<br />

Zeit können wir<br />

unseren Lebensweg<br />

an Christus orientieren.<br />

Auch dies<br />

möchte uns der<br />

Herrnhuter Stern<br />

sagen.<br />

Seinen Ursprung hat der Stern gar nicht<br />

in Herrnhut, wie es sein Name vermuten<br />

lässt. Die Anfänge des Herrnhuter<br />

Sterns liegen mehr als 180 Jahre zurück.<br />

Inspiriert von seinen biblischen<br />

Vorbildern, entstand er in der Schule<br />

der Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine)<br />

in Niesky.<br />

Erstmals erwähnt wird ein beleuchteter<br />

Stern zum fünfzigjährigen Jubiläum<br />

der Nieskyer Knabenanstalt vom 4. bis<br />

6. Januar 1821: »In der Mitte hing an<br />

anzeige<br />

Titel |<br />

15


Herrnhuter<br />

Und leuchtet in die ganze<br />

Stern<br />

Welt<br />

bau vermittelte nicht nur mathematische<br />

und geometrische Kenntnisse. Zugleich<br />

bot der Stern, den die Kinder aus<br />

biblischen Erzählungen und vom nächtlichen<br />

Himmelsfirmament kannten, eine<br />

geistige Verbindung zu den Eltern in fernen<br />

Ländern. Und manch selbst gebastelter<br />

Stern ist dann durchaus auch auf<br />

die Reise nach Surinam, Labrador oder<br />

Südafrika gegangen.<br />

Als erster namentlich bekannter Bastler<br />

eines Advents- und Weihnachtssterns<br />

gilt Hermann Bourquin (1847-1913).<br />

Seine Familie berichtete, dass er während<br />

eines Ferienaufenthaltes in Herrnhut<br />

im <strong>Dezember</strong> 1867 einen Stern baute.<br />

Das Sternebasteln wird übrigens in<br />

Familien der Brüdergemeine bis heute<br />

gepflegt. So entstehen weiterhin kunstvolle<br />

Sterne mit 50, 98 oder gar 110 Zacken<br />

als Einzelstücke für Wohnungen<br />

und Kirchensäle.<br />

Überall wo ein Herrnhuter Stern leuchtete,<br />

wurden Menschen von seinen<br />

Strahlen berührt und angezogen. Der<br />

Stern und seine Botschaft breiteten sich<br />

aus. Mit den Schülern der Missionsschueiner<br />

Leine … ein großer buntfarbiger<br />

Stern mit 110 Strahlen, der durch eine<br />

große Lampe erleuchtet wurde«. Und<br />

21 Jahre später, zur 100-Jahr-Feier des<br />

Ortes Niesky am 8. und 9. August 1842,<br />

wird von einem jungen Handwerker berichtet,<br />

der ebenfalls einen »erleuchteten<br />

Papierstern« aufhängte.<br />

Die ersten Berichte zeigen, dass der<br />

Stern zunächst zum Erscheinungsfest<br />

(Dreikönigstag, 6. Januar) und sogar im<br />

Hochsommer leuchtete. Die Konzentration<br />

auf die Adventszeit erfolgte erst in<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />

als sich das Anfertigen der Sterne in den<br />

Schulen der Brüder-Unität etablierte.<br />

Die ersten gesicherten Spuren führen in<br />

die Missionsschule nach Kleinwelka bei<br />

Bautzen, die unter anderem von Kindern<br />

ausgesandter Missionare besucht wurde.<br />

Am 1. Advent 1887 staunte ein kleiner<br />

Junge, der in diesem Frühjahr aus<br />

Südafrika nach Deutschland kam, über<br />

den ersten beleuchteten Weihnachtsstern,<br />

den er sah. Später berichtete er,<br />

wie diese Sterne vor der Adventszeit in<br />

der Schule gebastelt wurden. Der Stern-<br />

anzeige<br />

16<br />

Titel |


Der Herrnhuter Stern und<br />

Stern<br />

seine Geschichte<br />

len und den Mitgliedern der<br />

weit verzweigten Brüder-Unität<br />

wurde der Stern von seiner<br />

Oberlausitzer Heimat in<br />

viele Teile der Welt getragen.<br />

Grundlage dafür war die serienmäßige<br />

Produktion, die<br />

Ausgang des 19. Jahrhunderts<br />

begann und die dem<br />

Stern seinen Namen brachte.<br />

1897 bot der Kaufmann Pieter<br />

Hendrik Verbeek (1863-<br />

1935) in seiner Herrnhuter<br />

»Buch-, Kunst-, Musikalien-<br />

und Papierhandlung« die<br />

ersten serienmäßig hergestellten<br />

Sterne an: »Herrnhuter<br />

transparente Weihnachtssterne«.<br />

Der bald mit einem<br />

Patent versehene Stern bestand<br />

aus einem Metallkörper<br />

und 25 Papierzacken mit<br />

Metallrähmchen. Er konnte<br />

auseinander gebaut und mit<br />

einer Petroleumlampe beleuchtet<br />

werden. Seine geometrische<br />

Form – Fachleute<br />

anzeige<br />

Titel | 17


Herrnhuter<br />

Und leuchtet in die ganze<br />

Stern<br />

Welt<br />

sprechen von einem<br />

Rhomben-Kuboktaeder<br />

– hat er<br />

bis heute behalten.<br />

Die Resonanz auf<br />

diesen ersten Herrnhuter<br />

Stern war<br />

überaus groß. Bereits<br />

1899 wurde<br />

eine Sternmanufaktur<br />

und 1925 die<br />

»Sterngesellschaft<br />

mbH Herrnhut« gegründet,<br />

um der<br />

wachsenden Nachfrage<br />

gerecht zu werden. Die Konstruktion<br />

des Sterns wurde weiterentwickelt,<br />

und neue Modelle ergänzten die Produktionspalette.<br />

Neben den klassischen<br />

Stern in Weiß und Rot traten weitere<br />

Farbkombinationen: Weiß-Grün-Rot,<br />

Weiß-Blau-Rot, Gelb-Rot. Auch Sterne<br />

in neuen Größen und mit anderer Zackenzahl<br />

wurden entworfen.<br />

Der Zweite Weltkrieg sorgte ab 1940 für<br />

ein Ende der Sternproduktion. Mit einer<br />

wohl einzigartigen Entwicklung in der<br />

DDR konnte der Herrnhuter Stern auf<br />

Dauer gesichert werden: Aus der 1946<br />

verstaatlichten Sterngesellschaft wurde<br />

1968 die Sternproduktion ausgegliedert<br />

und an die Brüder-Unität als ehemalige<br />

Teilhaberin zurückgegeben. So wurden<br />

ab 1969 die Sterne wieder in kirchlicher<br />

Verantwortung produziert – allerdings<br />

mit staatlichen Planvorgaben und im<br />

Rahmen der DDR-Mangelwirtschaft.<br />

Heute präsentiert sich die Herrnhuter<br />

Sterne GmbH, die 1991 den Neuan-<br />

anzeige<br />

18<br />

Titel |


Der Herrnhuter Stern und<br />

Stern<br />

seine Geschichte<br />

fang in der freien Marktwirtschaft wagte,<br />

als modernes Unternehmen mit Tradition.<br />

Im Jahr <strong>2008</strong> konnte ein neues<br />

Manufakturgebäude erbaut werden, in<br />

dessen Besucherzentrum über die Geschichte<br />

und Herstellung dieses außergewöhnlichen<br />

Sterns informiert wird.<br />

Der Herrnhuter Stern – nach wie vor<br />

in Handarbeit hergestellt – wird mittlerweile<br />

in über 65 verschiedenen Ausführungen<br />

als Außen- und Innenstern<br />

produziert. Knapp 50 Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter stellen jährlich 250.000<br />

Sterne her. Mit ihrem Wirtschaftsunternehmen<br />

Herrnhuter Sterne GmbH<br />

weiß sich die Brüder-Unität der christlichen<br />

Sozialethik verpflichtet. Die Arbeit<br />

soll durch »Wahrhaftigkeit, Treue<br />

und soziale Gesinnung bestimmt sein«<br />

(Kirchenordnung der Brüder-Unität).<br />

Unternehmensgewinne kommen der diakonischen,<br />

pädagogischen und missionarischen<br />

Arbeit zugute.<br />

Herrnhuter Sterne leuchten schon längst<br />

nicht mehr nur in Deutschland, sondern<br />

auch in Mali und Nicaragua, in Israel und<br />

Kanada und vielen Teilen dieser Erde.<br />

Ihr Licht bringt Wärme und Geborgenheit<br />

zu den Menschen und weist sie auf<br />

die Botschaft des Sterns hin: Christus ist<br />

als Licht für alle Menschen in die Welt<br />

gekommen.<br />

Thomas Przyluski<br />

Morgenstern auf finstre Nacht,<br />

Der die Welt voll Freude macht,<br />

Jesulein, komm herein,<br />

leucht in meines Herzens Schrein.<br />

Deinem freudenreichen Strahl<br />

Folgt man willig überall;<br />

Schönster Stern, nah und fern<br />

Ehr man dich als Gott den Herrn.<br />

Johann Scheffler (1624 – 1677)<br />

Literaturtipp<br />

… und leuchtet in die ganze Welt<br />

Der Herrnhuter Stern und seine Geschichte<br />

ISBN 978-3-9812139-1-1<br />

80 Seiten, 40 Abbildungen<br />

6,90 Euro<br />

anzeige<br />

Titel | 19


Görlitzer Straßennamen Teil II –<br />

Von vielen bereits lang<br />

erwartet, liegt jetzt Teil<br />

II „Aus der Geschichte<br />

der Görlitzer Straßennamen“<br />

als Publikation<br />

des Stadtbild-Verlages<br />

in Buchform vor. In dem<br />

erfolgreichen Teil I beschäftigte<br />

sich der Autor<br />

Erich Feuerriegel mit<br />

der Historie der nach<br />

Görlitzer Persönlichkeiten<br />

benannten Straßen<br />

und Plätze. Im Teil II<br />

unternimmt der Autor<br />

nunmehr den Versuch,<br />

dem Ursprung und der<br />

Entwicklung der Namen<br />

von ausgewählten Straßen,<br />

Plätzen und Örtlichkeiten<br />

in Görlitz auf<br />

den Grund zu gehen.<br />

Nach ausführlichen Nachforschungen<br />

im Ratsarchiv,<br />

in Zeitungsarchiven<br />

und anderer einschlägiger<br />

Literatur wurden rund 70<br />

anzeige<br />

20<br />

Geschichte |


Straßen und Plätze<br />

und<br />

mit Geschichtsbezug<br />

Plätze<br />

Straßen und Plätze alphabetisch geordnet<br />

von ihrer ersten geschichtlichen Erwähnung<br />

teilweise bis in die Neuzeit erforscht.<br />

So erschließen sich dem Leser<br />

interessante Einblicke von der Ersterwähnung<br />

dieser Namen als Gassen und<br />

Wege bis hin zu ihrer Umwandlung in<br />

Straßen im 19. Jahrhundert. Dadurch<br />

gewinnt der Leser einen breiten Einblick<br />

in die wechselvolle Geschichte der<br />

Stadt, ihre bauliche Entwicklung sowie<br />

in die mittelalterlichen Handwerkstraditionen<br />

in bestimmten Stadtvierteln. Die<br />

reiche Geschichte der einst mächtigsten<br />

Stadt im Sechsstädtebund spiegelt sich<br />

auch in vielen Namensgebungen von<br />

Straßen, Plätzen und Bauwerken wider.<br />

Die Industrialisierung und der Aufstieg<br />

von Görlitz zu einem bedeutenden Wirtschaftsstandort<br />

hinterließen Spuren,<br />

sowohl in den Bauwerken, als auch in<br />

manchen Namensgebungen.<br />

Von besonderem Interesse dürften auch<br />

die Straßen und Plätze sein, die infolge<br />

des Wechsels politischer Verhältnisse oft<br />

mehrmals ihren Namen ändern mussten.<br />

Aber auch einstmals bedeutende<br />

Bevölkerungsgruppen in der Stadt hinterließen<br />

ihre Spuren. Besondere Erwähnung<br />

verdienen die Juden. Von der<br />

Bedeutung Letzterer zeugen manche<br />

Baudenkmäler und Namen, die seit dem<br />

14. Jahrhundert überliefert sind.<br />

Der vorliegende Band erhebt keinen Anspruch<br />

auf Vollständigkeit, insbesondere<br />

fehlen die heute im polnischen Teil<br />

der Stadt liegenden historischen Straßen<br />

und ihre teilweise wechselvolle Geschichte.<br />

Die verdienstvolle Veröffentlichung von<br />

Erich Feierriegel könnte ein willkommenes<br />

Weihnachtsgeschenk sein und wird<br />

deshalb allen Heimatfreunden besonders<br />

empfohlen.<br />

Bertram Oertel<br />

Literaturtipp<br />

Görlitzer Straßennamen Teil II<br />

ISBN 978-3-939655-80-0<br />

120 Seiten, 132 Abbildungen<br />

9,95 Euro<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

21


Magister Johannes Frauenburg –<br />

Drüben in seinem Haus an der Brüdergasse<br />

mochten sie schon lange auf ihn<br />

warten, aber noch immer saß der Magister<br />

Johannes Frauenburg im Rathause<br />

und schrieb, bis endlich die 21 Pergamentblätter<br />

gefüllt waren. Gewiß, er<br />

wußte sich im Lateinischen gewandt<br />

auszudrücken, aber diesmal hatte er<br />

gutes, kräftiges Deutsch gewählt, wie<br />

es die Leute in den Hallen rund um den<br />

Untermarkt sprachen.<br />

Auch Frauenburg war, wie etliche bedeutende<br />

Persönlichkeiten der Görlitzer<br />

Geschichte, nicht in dieser Stadt geboren.<br />

Wahrscheinlich kam er aus Danzig,<br />

und von dort brachte er den selbstbewußten,<br />

tatkräftigen Sinn des Hansestädters<br />

mit. Als Student und Dozent<br />

an der Universität der weltoffenen Messestadt<br />

Leipzig erwarb er von 1451 bis<br />

1462 Gelehrsamkeit, Charakterstärke<br />

und Sicherheit im Auftreten. 1462 trat<br />

er sein Amt als Schuldirektor in Görlitz<br />

an und brachte es bald zum Schwiegersohn<br />

und begüterten Erben des Bürgermeisters<br />

Canitz, zum Hausbesitzer<br />

und Stadtschreiber, zweimal zum Bürgermeister.<br />

Vierzehn Jahre lang versah<br />

er das Schöffenamt und bewährte sich<br />

1474 als geschickter Unterhändler der<br />

Stadt beim geldhungrigen Ungarnkönig<br />

Matthias Corvinus, der in seinem Streit<br />

mit Polen und Böhmen auf die reichen<br />

Hilfsquellen der Stadt setzte.<br />

Und nun, im Jahre 1476, drängte es ihn,<br />

eigene Erfahrungen und Wünsche weiterzugeben<br />

in dieser “Anweisung, wie<br />

sich ein Bürgermeister in seinem Amte<br />

halten soll”. Da schrieb er unter mancherlei<br />

anderen Ratschlägen, der Bürgermeister<br />

solle auf seine Ratsleute<br />

achten, die ihm das ganze Jahr über zur<br />

Seite stehen, daß sie füreinander einstehen<br />

in Liebe, Freundschaft und Einigkeit.<br />

Er solle sich in der Gewalt haben,<br />

daß ihm kein Ratsuchender Zorn<br />

oder Launenhaftigkeit anmerken könne.<br />

Die frommen und guten Leute solle er<br />

mit linden und guten Worten, die Ordnungsbrecher<br />

mit eindringlicher Rede,<br />

aber ohne Zorn und Schreien, behandeln.<br />

Beim Zumessen von Strafen solle<br />

man berücksichtigen, ob das Vergehen<br />

aus Schwäche oder aus Aufsässigkeit<br />

und Bosheit entstand.<br />

Der Bürgermeister solle in seinem Tun<br />

darauf achten, daß er von den Bürgern<br />

mehr geliebt als gefürchtet werde und<br />

anzeige<br />

22<br />

Geschichte |


Johannes<br />

Wie der Bürgermeister<br />

Frauenburg<br />

regieren sollte<br />

daß er sich in allen Dingen gerecht,<br />

maßvoll und bescheiden verhalte, statt<br />

sich von Gunst, Liebe, Freundschaft,<br />

Zorn, Feindschaft, Barmherzigkeit, Neid<br />

oder Haß leiten zu lassen. Auch müsse<br />

der Bürgermeister im Rathaus täglich<br />

zu sprechen zu sein, aber nicht durch<br />

einen zu familiären Umgang mit den<br />

Bürgern die Würde seines Amtes herabsetzen.<br />

Das Ansehen der Stadt verlange<br />

vom Bürgermeister Gastfreundschaft<br />

und Freigebigkeit gegenüber Fremden<br />

und Einwohnern, eine anständige, beispielgebende<br />

Kleidung und eine knappe,<br />

überlegte, der Sache angemessene<br />

Redeweise. Die Diener der Stadt müsse<br />

er dazu anhalten, der Allgemeinheit<br />

zu nützen und niemand ohne Grund Gewalt<br />

anzutun; sie sollten ihre Aufträge<br />

gern und mit Eifer ausführen, und versagten<br />

sie, so sollten sie bestraft und<br />

davongejagt werden. Alle Briefe an den<br />

Rat sollten sofort geöffnet, gelesen und<br />

beantwortet werden.<br />

“Und ein Bürgermeister achte auf Herrlichkeit,<br />

Rechte und Freiheit der Stadt,<br />

damit sie zu Nutz und Frommen der<br />

Görlitzer Stadtwappen mit Inschrift von<br />

Johannes Frauenburg, 1477<br />

Stadt in keiner Weise beeinträchtigt<br />

werden. Und daß er mit Leib und Gut<br />

und der Ratsleute Hilfe gegen Feinde<br />

der Stadt auftrete. Denn es ist ganz<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

23


Magister Johannes Frauenburg<br />

schädlich, das vor langen Jahren ehrlich<br />

Erworbene zu verlieren, und ein Bürgermeister<br />

sollte sich lieber einen ehrbaren<br />

Tod wünschen, statt in seiner Amtszeit<br />

durch seine Nachlässigkeit Rechte,<br />

Freiheiten und Ansehen der Stadt aufs<br />

Spiel zu setzen.” Und mit diesen Ermahnungen<br />

solle er aufstehen und schlafen<br />

gehen, dann werde er täglich reichlich<br />

zu tun haben und in seinem Amte keine<br />

Ruhe, dafür aber große Freude, Wonne<br />

und Seligkeit finden.<br />

Frauenburg stand auf. Er schaute hinab<br />

zum Untermarkt, über den sich die langen<br />

Schatten der Abendsonne gebreitet<br />

hatten. Nachdem alles aufgeschrieben<br />

war, fühlte er sich erleichtert. Dennoch<br />

empfand er beunruhigende Zweifel. Waren<br />

denn die Männer, die sich hier Jahr<br />

um Jahr auf dem Bürgermeisterstuhle<br />

abwechselten, so hohen Ansprüchen<br />

an ihr Amt gewachsen? Sie kamen immer<br />

aus den gleichen Familien der “Geschlechter”.<br />

Wog bei ihrer Auswahl nicht<br />

ihr Besitz weit höher als Kenntnis und<br />

Charakter? Waren es nicht oft ungebildete<br />

und unentschlossene Herren, denen<br />

die eigenen Geldtruhen mehr bedeuteten<br />

als die Interessen der Stadt?<br />

Und hätte denn er selbst es zugelassen<br />

und zulassen können, daß alle Leute<br />

gleichermaßen ihr Anliegen vortrugen<br />

und zu ihrem Recht kamen? Hatte<br />

er nicht damals, 1468, die Parteigänger<br />

Podiebrads mit dem Richtschwert aus<br />

dem Wege räumen lassen, als sie ihn,<br />

Frauenburg, hatten stürzen wollen? Und<br />

wäre er nicht ebenso gegen die Tuchmacher<br />

vorgegangen, hätten sie Anteil<br />

am Ratsregiment verlangt? Vielleicht<br />

war die Zeit noch nicht reif für die gerechten<br />

Bürgermeister. Und doch redete<br />

der Magister Frauenburg sich ein, die<br />

Mühe des Schreibens sei nicht umsonst<br />

gewesen. Seine Gedanken über die<br />

Pflichten eines Stadtoberhauptes mochten<br />

einmal ihr Gewicht bekommen, sehr<br />

viel später.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

Aus: Geschichten aus Alt-Görlitz, 1983<br />

anzeige<br />

24<br />

Geschichte |


Richard Jecht zum<br />

Jecht<br />

150. Geburtstag<br />

Richard Jecht als Stadtführer, Zeichnung von Otto Engelhardt-Kyffhäuser<br />

Richard Jecht, geboren am 4. September<br />

1858 im mansfeldischen Neuglück<br />

bei Bornstedt, bezog 1877 in Universität<br />

Halle/Saale, um dort klassische Philologie,<br />

Deutsch und Geschichte zu studieren.<br />

Es folgten Promotion (1881) und<br />

Staatsexamen (1882). Nach einem kurzen<br />

Intermezzo am Gymnasium und Realgymnasium<br />

Guben erhielt er im Jahre<br />

1883 eine feste Anstellung am traditionsreichen<br />

Görlitzer Gymnasium. Schon<br />

in Guben hinterließ Jecht bezeichnende<br />

und für sein Wesen wohl recht charakteristische<br />

Spuren. Der Gymnasialdirektor<br />

Wagler bescheinigte ihm folgendes:<br />

“Der Kandidat hat, unterstützt durch<br />

sein gutes Lehrgeschick,<br />

lebendig in<br />

seinem Vortrage,<br />

ruhig und besonnen<br />

in der Behandlung<br />

und Beurteilung seiner<br />

Schüler, recht<br />

erfreuliche Erfolge<br />

in seinem Unterricht<br />

erzielt.“ Wichtig sei<br />

Jecht besonders die<br />

„Pflichttreue“. Jecht<br />

war auch später, wie<br />

die ungeheure Menge<br />

an Vorträgen vor<br />

unterschiedlichstem<br />

Publikum zeigte, nicht der arrogant erscheinende,<br />

blutleere „Professor“, sondern<br />

zugleich ein Jünger der Muse Klio,<br />

ein ebenso ernsthafter, humor- und<br />

temperamentvoller, manchmal bissiger<br />

wie phantasievoller populärwissenschaft-<br />

anzeige<br />

Persönlichkeit |<br />

25


Richard Jecht zum<br />

Jecht<br />

150. Geburtstag<br />

Richard Jecht im Ratsarchiv<br />

licher Vermittler neuester Forschungsergebnisse.<br />

Bezeichnend<br />

sind in diesem Zusammenhang<br />

auch die Worte Jechts im Nekrolog<br />

für den von ihm als größter<br />

Geschichtsschreiber der Oberlausitz<br />

bezeichneten Knothe. Jener<br />

habe, so rühmt er ihn, die<br />

goldene Mittelstraße zwischen<br />

strenger Wissenschaftlichkeit und<br />

volkstümlicher Geschichtsschreibung<br />

gehalten, so dass jeder Leser<br />

seine Rechnung dabei finde<br />

und ihn mit Behagen lese. Dies<br />

trifft gleichermaßen wohl vorzüglich<br />

auf Jecht selbst zu. Bereits<br />

im Jahre 1884 gehörte Jecht zu<br />

den Mitgliedern der Oberlausitzischen<br />

Gesellschaft der Wissenschaften.<br />

Seit 1888 fungierte er<br />

als ihr stellvertretender, ab 1889<br />

als ihr alleiniger Sekretär. Schon<br />

1890 begannen seine Arbeiten<br />

an den Quellen des Ratsarchivs,<br />

welche er völlig neu ordnete und<br />

zum Großteil erstmals erschloss.<br />

Im Ergebnis entstanden die<br />

anzeige<br />

26<br />

Persönlichkeit |


Richard Jecht zum<br />

Jecht<br />

150. Geburtstag<br />

„Quellen zur Geschichte der Stadt Görlitz“,<br />

das erste seiner Standardwerke bis<br />

heute. In nahezu allen Görlitzer Stadtbüchern<br />

hinterließ der Stift Jechts seine<br />

Spuren. Heute schaudert dem Archivar<br />

ob dieses Tuns. Aber wegen des Wertes<br />

der Randnotizen hält er es zuletzt wohl<br />

mit den alten Römern: „Quod licet jovi,<br />

non licet bovi.“<br />

Seit 1890 litt Jecht an einem Gehörleiden,<br />

was ihn Ostern 1904 veranlasste, seinen<br />

Dienst als Gymnasiallehrer zu quittieren.<br />

Wohl bereits seit den 90er Jahren hoffte<br />

er aus diesem Grunde auf eine Anstellung<br />

als Görlitzer Ratsarchivar. Aber erst<br />

die nicht erfolgte Wiederwahl des Oberbürgermeisters<br />

Büchtemann ermöglichte<br />

dessen Eintritt in dieses Amt zum 1.<br />

Januar 1907.<br />

So wurde er der erste fest angestellte<br />

oberlausitzische Ratsarchivar. Die Vereinigung<br />

dieser beiden wissenschaftlichen<br />

Ämter, des Sekretärs der Oberlausitzischen<br />

Gesellschaft der Wissenschaften<br />

und des Görlitzer Ratsarchivars, bildeten<br />

den Humus für das fruchtbare Schaffen<br />

der kommenden Jahre. So entstanden<br />

17 Bücher, neun selbstständige Veröffentlichungen,<br />

81 Aufsätze und Abhandlungen<br />

im Neuen Lausitzischen Magazin,<br />

21 Beiträge in Festschriften und Heimatbüchern<br />

sowie über 130 populärwissenschaftliche<br />

heimatgeschichtliche<br />

Beiträge. Sehr kennzeichnend für seine<br />

Bücher und Abhandlungen sind folgende<br />

Merkmale: Zum ersten der Mangel an<br />

einer stärkeren Gliederung, zum zweiten<br />

die Vorliebe des Autors, die Quellen<br />

kommentarlos selbst sprechen zu<br />

lassen, sowie deren häufige Nüchternheit<br />

und enorme Länge. Das wichtigste<br />

Ergebnis seines Schaffens, so sah er<br />

es auch selbst, war die Herausgabe der<br />

Bände II bis V des „Codex diplomaticus<br />

Lusatiae superioris“. Quelleneditionen<br />

sind zeitlos, von bleibendem Wert, unabhängig<br />

vom sich ändernden Blick auf<br />

die Geschichte. Schon deshalb sollte es<br />

auch zukünftig ein wichtiges Anliegen<br />

der Oberlausitzischen Gesellschaft der<br />

Wissenschaften sein, dieses Vermächtnis<br />

Richard Jechts fortzusetzen.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Roland Otto Ratsarchiv Görlitz<br />

anzeige<br />

Persönlichkeit | 27


Swing in Görlitz<br />

in<br />

nach<br />

Görlitz<br />

1945<br />

Die meisten Musiker,<br />

über die ich<br />

kürzlich schrieb,<br />

waren Profis. Nun<br />

noch ein paar<br />

Zeilen über den<br />

Nachwuchs. Im<br />

Vergleich zu heute<br />

waren es nicht<br />

viele, die ein Instrument<br />

lernen<br />

konnten oder wollten.<br />

Das lag an<br />

den schwierigen<br />

Zeiten. Auch gab<br />

es noch keine Instrumente zu kaufen.<br />

(Ich selbst hatte das Glück, daß ich eine<br />

elektrische Eisenbahn besaß und diese<br />

gegen eine gebrauchte Trompete<br />

tauschen konnte. Das Schlagzeug hatte<br />

ich mir vorher Stück für Stück mühsam<br />

zusammengeschachert.) Aber dann<br />

entstand 1947 doch eine Big Band im<br />

Rahmen der FDJ, die sich Jugend-Tanzorchester<br />

Görlitz (JTG) nannte. Die musikalische<br />

Leitung hatte Hans Schulze,<br />

Sohn der Inhaberin des Konzerthauses<br />

an der Leipziger Str.. Er war sehr musikalisch,<br />

wurde später Profi und war<br />

u.a. Dirigent des Orchesters des Friedrichstadt-Palastes<br />

in Berlin. Als ich Mai<br />

- Dez. 1948 als Trompeter dabei war,<br />

bestand die Band aus 3 Trompetern, 3<br />

Posaunisten, 4 Saxophonisten, je 1 Pianist,<br />

Bassist, Gitarrist und Schlagzeuger.<br />

Alle waren um die 18 Jahre jung.<br />

Die Beherrschung der Instrumente ließ<br />

noch manche Wünsche offen, doch wurde<br />

dieser Mangel weitgehend ausgegli-<br />

anzeige<br />

28<br />

Geschichte |


Teil II<br />

II<br />

Jugendtanzorchester Görlitz 1947 mit (v.l.n.r.) Jochen Balzer,<br />

Horst Böhm, Hans Schulze, Siegfried Runge, Siegfried Wolf<br />

chen durch die große Begeisterung, mit<br />

der wir swingten. Heute, 47 Jahre später,<br />

ist diese Begeisterung bei fast allen<br />

Jazzern von finanziellen Interessen verdrängt<br />

worden.<br />

Soweit ich mich erinnere, bekamen wir<br />

für die Auftritte kein Geld. Wenn wir auf<br />

dem Land spielten, gab es schon mal<br />

Bockwurst mit Kartoffelsalat – etwas<br />

ganz Besonderes in dieser Hungerzeit.<br />

Wir spielten z.B. in einem Barackenlager<br />

in der Reichertstr.<br />

für heimatvertriebene<br />

Schlesier (die<br />

mit unserer Musik<br />

nichts anfangen<br />

konnten) und auch<br />

in der Stadthalle<br />

bei Boxkampf-Turnieren<br />

sowie einem<br />

Kapellenwettstreit<br />

mit dem Jugendtanzorchester<br />

aus Leisnig<br />

(den wir verloren)<br />

anläßlich eines<br />

Tanzabends. Probe<br />

war jeden Sonntagvormittag im Konzerthaus.<br />

Danach machten wir manchmal<br />

eine Jam-Session. Dabei entstand<br />

eine tolle Atmosphäre, besonders dann,<br />

wenn sich die Bläser mit ihren Improvisationen<br />

gegenseitig inspirierten und zu<br />

übertreffen suchten. Gejazzt, besser gesagt<br />

gehottet, wurden Evergreens aus<br />

den 20er Jahren wie “Lady Be Good” und<br />

“Sweet Sue”. Auch heute noch denke ich<br />

gern an diese Musik zurück, wenn ich<br />

mit meiner Swing-Combo solche Stücke<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

29


Swing in Görlitz<br />

in<br />

nach<br />

Görlitz<br />

1945<br />

blase. Zum Nachwuchs gehörte auch<br />

Wolfgang Lange von der Lessingstr., etwas<br />

schrulliger Einzelgänger. Er spielte<br />

Akkordeon, meist allein oder nur mit einem<br />

Schlagzeuger zusammen, war also<br />

einer der ersten Alleinunterhalter, wurde<br />

Profi und war später irgendwie Görlitzer<br />

Original. Ich kannte ihn von der Schule<br />

her – er mochte auch Swing, fummelte<br />

an Saxophon, Geige und Schlagzeug<br />

rum, war aber zu faul zum Üben.<br />

1946 spielte er zum<br />

Wochenendtanz im<br />

“Kulmbacher Postillion”<br />

in Biesnitz<br />

ländlich-sittlich mit<br />

2 Musikern und seiner<br />

Mutter als Sängerin.<br />

Die alternde<br />

Dame sang “Ich<br />

tanze mit dir in den<br />

Himmel hinein....”,.<br />

Es war grauenhaft.<br />

Aber Lange wußte<br />

halt schon, daß<br />

Musiker vom Jazz<br />

allein nicht leben<br />

können und sich nach dem Publikum<br />

richten müssen.<br />

Lange dichtete auch zuweilen. Zur Melodie<br />

der Räuberballade schrieb und sang<br />

er einen netten zeitkritischen Text: “Es<br />

war einmal ein Schieber, der ging zum<br />

schwarzen Markt......”<br />

Einmal kam ich zu ihm, weil wir zusammen<br />

üben wollten, er Saxophon und ich<br />

Tanzkapelle Martin Viertel, Konzerthaus, 1953<br />

anzeige<br />

30<br />

Geschichte |


Teil II<br />

II<br />

an seinem Schlagzeug. Da zeigte er mir<br />

freudig seine mit vielen halbrunden Eisenblechen<br />

gepflasterten Schuhsohlen<br />

und sagte, er wolle nun Steptanz üben.<br />

Der wäre wieder modern, hatte er von<br />

Swing-Heinis gehört. Er traute sich wohl<br />

nicht, allein zu üben, denn ich sollte<br />

das mitmachen. Ich war begeistert und<br />

ließ mir auch vom Schuster die Schuhe<br />

(meine einzigen) mit diesen Blechen<br />

beschlagen, die eigentlich dazu dienten,<br />

die Spitzen der Sohlen und Absätze vor<br />

Abnutzung zu schützen. Dann ging ich<br />

zu ihm, er legte eine Swing–Platte aufs<br />

Grammophon, und wir versuchten, auf<br />

dem Steinfußboden der Küche zu steppen.<br />

Es dauerte nicht lange, da kam seine<br />

sonst singende Mutter schreiend herein<br />

und warf uns hinaus. Wir hatten das<br />

Steppen dann schnell aufgegeben, es<br />

war zu mühsam.....<br />

Mühsam wurde ab 1948 auch das Swingen.<br />

Die neuen Machthaber lehnten den<br />

Jazz als “Ausgeburt des anglo–amerikanischen<br />

Imperialismus” ab. Im Zeitungsbericht<br />

über unseren Kapellenwettstreit<br />

wurde gerügt, daß wir “Tanzmusik auf<br />

amerikanische Manier” spielten und daß<br />

eine ”gewisse kulturelle Note” fehlte. Das<br />

war noch vergleichsweise gnädig ausgedrückt,<br />

da es sich um eine Veranstaltung<br />

der FDJ handelte. Im Radio nahmen<br />

Jazzsendungen rapide ab, amerikanische<br />

Titel mußten in deutscher Übersetzung<br />

angesagt und auch auf Schallplatten–Etiketten<br />

gedruckt werden (z.B.<br />

statt American Patrol “Nächtliche Patrouille”).<br />

Schallplatten aus Westdeutschland<br />

gab es nicht mehr. Die Sowjetisierung<br />

wurde auch im kulturellen Bereich<br />

verstärkt, die Zwangsmitgliedschaft in<br />

der FDJ für Amateurmusiker und im<br />

FDGB für Profis war lästig, und viele<br />

Musiker setzten sich in den Westen ab,<br />

sogar komplette Kapellen. (Später war<br />

Jazz zeitweise überhaupt verboten. Erst<br />

in den 70er Jahren kam eine Liberalisierung.)<br />

So wurde der Swing bedeutungslos<br />

im Musikleben Ostdeutschlands und<br />

vegetierte nur noch in einer geglätteten<br />

deutschen Variante dahin. Auch in Görlitz,<br />

so daß mein Bericht mit dem Jahr<br />

1949 endet.<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

31


Swing in Görlitz<br />

in<br />

nach<br />

Görlitz<br />

1945<br />

In jener Zeit entstanden<br />

allerhand Jux–<br />

Texte, die spontan<br />

von irgendwelchen<br />

Zeitgenossen zu beliebten<br />

Swingmelodien<br />

gedichtet wurden.<br />

Oft nur wenige Zeilen<br />

lang, charakterisierten<br />

sie doch gut das<br />

schwere Leben in<br />

den Nachkriegsjahren.<br />

Damals suchten<br />

wir weggeworfene<br />

Zigarettenkippen,<br />

hatten nasse Socken, weil niemand die<br />

Schuhe flicken konnte, hielten auf dem<br />

Balkon oder sonstwo etwas Kleinvieh<br />

zur Aufbesserung der knappen Lebensmittelration<br />

usw. Hier sind die Texte, an<br />

die ich mich erinnern kann.<br />

Zur Melodie von<br />

Hey-Ba-Be-Re-Bop:<br />

Hey-Ba-Be-Re-Ba,<br />

mein Vater ist ein Schieber.<br />

Er handelt mit Tomaten,<br />

das darf ich nicht verraten....<br />

Künstlertreffen 1999, Pension Schellergrund, mit Manfred Raupach,<br />

Siegfried Wolf, Siegfried Runge und Hans Schulze-Bargin<br />

Dob´s Boogie:<br />

Haste kalte Beene, haste kalte Beene?<br />

Tanzte Boogie-Woogie, haste keene.<br />

Haste nasse Socken, haste nasse Socken?<br />

Tanzte Boogie-Woogie, wer´nse trocken.<br />

Haste Kummer, wirste froh,<br />

wie der Mops im Paletot<br />

beim Boogie.<br />

Sentimental Journey:<br />

Hätten wir´ne Chesterfield zu rauchen!<br />

anzeige<br />

32<br />

Geschichte |


Teil II<br />

II<br />

Manfred Raupach (Mitte) bei einer Geburtstagsfeier 1999 auf der Landeskrone;<br />

links Sängerin Julia Axen, rechts Saxophonist Kurt “Saftl” Gerlach<br />

Stell dir vor, wie schön das wär,<br />

brauchten keine Kippen mehr zu<br />

schmauchen,<br />

und das Leben wär halb so schwer.<br />

Auf den Rathaustreppen<br />

nackte Neger steppen,<br />

und die singen immer<br />

In The Mood.<br />

Was eine Frau im<br />

Frühling träumt:<br />

Bei uns zu Haus auf<br />

dem Balkon<br />

da steht ein alter<br />

Pappkarton.<br />

Darinnen wohnt der<br />

Max, das ist unser<br />

Kaninchen<br />

und die Thusnelda, das ist unser kleines<br />

Hühnchen....<br />

Die Räuberballade:<br />

Es war einmal ein Schieber,<br />

der ging zum schwarzen Markt,<br />

verkaufte Butter, Eier und auch<br />

Quark....<br />

Schönes Wetter heute:<br />

Auf der Friedhofmauer<br />

sitzt ein Mann in Trauer,<br />

und der hottet immer In The Mood.<br />

Manfred Raupach<br />

Bad Wildungen (geschrieben 1995)<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

33


Görlitzer<br />

Glocken meiner Heimatstadt<br />

Glocken<br />

Görlitz –<br />

St. Peter und Paul<br />

Die Geschichte der Glocken von St. Peter<br />

und Paul ist eine sehr wechselvolle und von<br />

interessanten Begebenheiten geprägte Geschichte<br />

unserer Stadt.<br />

Die älteste, an Hand einer Rechnung aus<br />

dem Jahre 1377 nachweisbare Glocke, die<br />

in Görlitz gegossen wurde, fertigte Meister<br />

Lukas zu Görlitz mit einem Gewicht von 38<br />

Zentnern.<br />

Nicht nachweisbar ist, ob diese Glocke für<br />

die seit 1225 bestehende Peterskirche oder<br />

für St. Nikolai, die damalige Hauptkirche,<br />

bestimmt war.<br />

Eine weitere Glocke goss man 1429, deren<br />

Material nach ihrem Zerspringen 1516<br />

für einen Neuguss verwendet wurde. Am<br />

12. Juli 1472 fertigte Matthias Haubitz aus<br />

Brünn drei Glocken auf der Viehweide, dem<br />

heutigen Stadtpark. Darunter war die erste<br />

„Große Glocke“, die „Susanna“ mit 108<br />

Zentnern, 3 Stein und 7 Pfund.<br />

Eine 1512, auf den Namen „Maria“ geweihte<br />

Glocke wurde 1518 an die Gemeinde<br />

nach Leopoldshain verkauft, wie aus einer<br />

Eintragung im Kirchenregister zu entnehmen<br />

war.<br />

Am 24. September 1516 gossen die Freiberger<br />

Brüder Martin und Andreas Hilliger<br />

die 165 Zentner schwere Glocke „Maria“,<br />

bei deren Guss das Material der zersprungenen<br />

Salve – Glocke von 1429 verwendet<br />

wurde. Außerdem ließ der Rat der Stadt bei<br />

den Bürgern messingene und kupferne Ge-<br />

anzeige<br />

34<br />

Geschichte |


Görlitzer<br />

Die Glocken von St.<br />

Glocken<br />

Peter und Paul Görlitz<br />

fäße einsammeln. Die am 22. März 1517<br />

durch Pfarrer Martinus Faber geweihte Glocke<br />

konnte aber erst am 22. Mai 1531 auf<br />

den Turm gezogen werden. Davor hing sie<br />

14 Jahre in einem Glockenhause neben der<br />

Kirche.<br />

Andreas Hilliger fertigte dazu 1521 in Breslau<br />

die neue „Vesper – Glocke“. Ein Amtsdiener<br />

wurde durch den Rat beauftragt mit<br />

der Übergabe des Metalls sowie dem Text<br />

und Glockenzier an den Meister.<br />

Unter den Textzeilen: „PRO AEDE DIVI<br />

PETRI IN GOERLIZ FVSVM EST HOC VAS<br />

VRATISLAVIAE PER ANDREAM HILLIGER<br />

MDXXI“ war das Stadtwappen und auf der<br />

Gegenseite ein Petrusrelief aufgebracht.<br />

Bei der Zusammenstimmung der alten Glocken<br />

hielt Maria f°, Susanna a°, die Salve –<br />

Glocke c°, die Vesper Glocke f ` und das<br />

Schlussglöckchen c`.<br />

Bei einem Grabgeläute am 5. September<br />

1597 zersprang die 1472 gegossene „Susanna“,<br />

und man schrieb: „und war ihr Ton,<br />

als wenn man mit einem Beil auf ein Brett<br />

schläget“.<br />

Nachdem man sie am 30. Juni 1598 vom<br />

Turm genommen und vor dem Vogtshofe<br />

zerschlagen hatte, gossen Urban Schober<br />

und Martin Weigel am 24. Juli eine Glocke<br />

von 114 Zentnern und 3 ½ Pfund. Die neue<br />

„Susanna“ brachte man unter Anteilnahme<br />

von „viel Volk“ am 18. August zur Peterskirche<br />

und zog sie am 21. des Monats auf<br />

den Turm. Das erste Läuten erklang am 26.<br />

August zum Abendgebet.<br />

Neben umfangreichen Inschriften zierte<br />

die Glocke das Stadtwappen mit der Umschrift:<br />

Senatus Populusque Gorlicensis. Auf der<br />

gegenüberliegende Flanke waren die Wappen<br />

der Herren Consulum, der Herren Sebastian<br />

Hoffmann und Alexander Schnitterer<br />

aufgebracht und darüber die Inschrift:<br />

Tausend fünffhundert und achtundneuntzig<br />

Jahr. Goß mich Urban Schober und Martin<br />

Weigel. Das ist wahr. Neben dem Wappen<br />

des Bürgermeisters Bartholomäi Sculteti<br />

befanden sich am Wolm, dem unteren Umkreis<br />

der Glocke, noch Textzeilen, die den<br />

Sieg Rudolphs II. in der Schlacht bei Raab<br />

(Györ) gegen die Türken 1598 erwähnen.<br />

Im gleichen Jahr wurde auch die Salve –<br />

Glocke umgegossen.<br />

Der große Stadtbrand vom 19. März 1691<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

35


Görlitzer<br />

Glocken meiner Heimatstadt<br />

Glocken<br />

Görlitz –<br />

Hannibal Brors “Betglocke” 1697<br />

zerstörte alle Glocken. „Maria“ wurde am 2.<br />

August 1695 durch die eingestürzten Gewölbe<br />

abgenommen und zerschlagen.<br />

Hannibal Brors, ein Gießer, der sich 1695<br />

in Schweidnitz niedergelassen hatte und<br />

1702 in Zittau verstarb, wurde mit der Anfertigung<br />

der neuen „Großen Glocke“ beauftragt.<br />

Nachdem der Guss 1695 zweimal<br />

misslang, entstand in einem extra hergerichteten<br />

Gießhause am 3. August 1696 die<br />

217 Zentner, 2 Stein und 18 Pfund wiegende<br />

„Susanna“, die zur damaligen Zeit viertgrößte<br />

Glocke im „deutschen Lande“. Die<br />

reich verzierte Glocke mit Bildnissen der<br />

Apostel Petrus und Paulus sowie dem Görlitzer<br />

Stadtwappen konnte am 26. Mai 1697<br />

erstmals geläutet werden. Leider fiel dieses<br />

wunderbare Werk dem Rüstungswahnsinn<br />

des 1. Weltkrieges zum Opfer. Ein Zeitungsartikel<br />

vom 16. Juli 1917 berichtet über die<br />

Zerstörung der Glocke im Turm unter der<br />

Aufsicht eines Oberrichtmeisters Putze von<br />

der Glockengießerei Schilling & Söhne aus<br />

Apolda. Mit ihr wurden in Görlitz noch weitere<br />

11Glocken von den Türmen genommen.<br />

Darunter auch die 1737 von dem<br />

Görlitzer Gießer Benjamin Körner umgegossene<br />

Vesper – Glocke. Von diesen beiden<br />

ehemaligen Klangkörpern der Peterskirche<br />

kann man heute nur noch die Gipsmodelle<br />

im hinteren Teil des Kirchenschiffes bewundern.<br />

Sie zeugen von der hohen handwerklichen<br />

Kunst der Glockengießer dieser Zeit.<br />

anzeige<br />

36<br />

Geschichte |


Görlitzer<br />

Die Glocken von St.<br />

Glocken<br />

Peter und Paul Görlitz<br />

“Tuchmacherglocke”<br />

Umguss von Benjamin Körner 1737<br />

Eine zweite – die „Betglocke“ – wurde am<br />

24. Januar 1697 ebenfalls von Brors gegossen.<br />

Die Gewichtsangaben schwanken<br />

zwischen 112 und 120 Zentnern. Am 18.<br />

April 1697 zog man sie durch die drei Gewölbe<br />

in den Turm. In der Mitte der Flanke<br />

zeigt sie das Stadtwappen. An der Schulter<br />

umlaufend die Namen Elias Richter, Michael<br />

Steinbach, Johann Kiesling und darunter<br />

der Text:<br />

IgnIs ego saLVa rable vItIata res Vrgo Kis-<br />

LIngI CvrIs et, WIDeManne, tVIs.<br />

(«Ich durch wilde Flut des Feuers verdorben,<br />

erstehe wieder durch eure Sorg`,<br />

Kiesling und Widemann, neu“)<br />

Die Beschriftung auf dem unteren Reifen<br />

sagt aus, dass die Glocke aus dem Material<br />

der 2. Susanna von 1598, auf Anordnung<br />

des Bürgermeisters Kiesling und des Skabinus<br />

Christian Widemann gegossen wurde.<br />

Der vollständige Text lautet:<br />

Fusa haec Campana MDXCVIII sed. An.<br />

MDCXCI d. XIX. Mart. Eodem, quo coeterae<br />

funesto incendio labefactae, Aedis hujus<br />

Petro – Paulinae Curatorum, Johannis<br />

Kislingii, Cons. Et L. Christiani Widemanni,<br />

Scabini, auspiciis. Anno MDCXCVII. Mense<br />

Jan. Restaurata est operi Joach. Hannibalis<br />

Brorsii.<br />

Diese Glocke, die im Nominal fis° erklingt,<br />

kann noch heute in der Glockenstube des<br />

linken Turmes bestaunt werden.<br />

Ein Geschenk der Görlitzer Tuchmacher<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

37


Görlitzer<br />

Glocken meiner Heimatstadt<br />

Glocken<br />

Görlitz –<br />

Aufzug der neuen Glocken nach der Weihe am<br />

6. Oktober 1957 (Foto: Maschel)<br />

war die vom Dresdner Glockengießer Michael<br />

Weinhold gefertigte „Tuchmacherglocke“<br />

von 1716, mit einem Gewicht von 12<br />

Zentnern und 87 Pfund. Da beim Guss der<br />

richtige Ton nicht getroffen wurde, erhielt<br />

Benjamin Körner 1737 den Auftrag, diese<br />

mit der bereits genannten Vesper – Glocke<br />

umzugießen. Inschriften und Reliefdarstellungen<br />

wurden übernommen. Diese Glocke<br />

hängt heute an einem gekröpften<br />

Stahljoch im oberen Gefach des<br />

Stahlglockenstuhles. Der Umguss<br />

mit einem Durchmesser von 1 020<br />

mm ist gestimmt auf fis `. Der an<br />

der Schulter mit Wasserwogenband<br />

und hängendem Akanthusfries verzierte<br />

Klangkörper trägt zwischen<br />

zwei Rundstegen die Inschrift:<br />

Ao 1716 GEGOSSEN VON MICHAEL<br />

WEINHOLD AVS DRESSDEN.<br />

Ao 1737 DER HARMONIE WEGEN<br />

VMGEGOSSEN VON BENJAMIN<br />

KÖRNER.<br />

Die Flanke des Glockenkörpers ziert<br />

ein Relief des Tuchmacherwappens<br />

mit Werkzeugen. Reversseitig füllt<br />

folgender Text die gesamte Flanke:<br />

Dem Dreyeinigem Gott zu Ehren hat Anno<br />

1716 die löbl. Zunft der Tuchmacher allhier<br />

in Görlitz auf ihre Kosten diese Glocke lassen<br />

gießen, und in diese Kirche wohlmeinend<br />

verehret und sind zu der Zeit Eltesten<br />

gewesen: Martin Täschner, Georg Schneider,<br />

Daniel Wießner, Gottfried Ullrich, Gottfried<br />

Seibt, Andreas Altenberger, David Wiedemann,<br />

Joachim Firle, Christian Schmidt,<br />

anzeige<br />

38<br />

Geschichte |


Görlitzer<br />

Die Glocken von St.<br />

Glocken<br />

Peter und Paul Görlitz<br />

Johann Schneider, Christian Hoffmann, Johann<br />

Friedrich Nöffe.<br />

Zu den beiden nach zwei Weltkriegen erhalten<br />

gebliebenen Glocken von Hannibal<br />

Brors 1697 und der Tuchmacherglocke<br />

von Benjamin Körner erwarb die Gemeinde<br />

1956 zwei Eisenhartguss – Glocken der<br />

Firma Schilling & Lattermann. Die beiden<br />

Klangkörper haben ein Gewicht von 2 700<br />

kg und 1 830 mm im Durchmesser sowie 1<br />

600 kg und einen Durchmesser von 1 530<br />

mm. Gestimmt sind sie auf die Nominale<br />

cis ` und e `. Für das schlichte Dekor und<br />

die Gestaltung der Reliefbildnisse von Petrus<br />

und Paulus zeichnete die damals bekannte<br />

Greizer Künstlerin Elly – Viola Nahmmacher<br />

verantwortlich.<br />

Die Inschrift an der größeren Glocke (cis `)<br />

an der Schulter umlaufend.:<br />

+ IN DER NOT RUFE ICH DICH AN DU<br />

WOLLTEST MICH ERHÖREN<br />

Darunter an der Flanke das Reliefbildnis<br />

von Petrus (mit Schlüssel) und dem beidseitigem<br />

Schriftzug:<br />

ALLE EURE SORGEN WERFET AUF IHN<br />

DENN ER SORGET FÜR EUCH<br />

Auf der Flanke des Glockenkörpers ist neben<br />

dem Gießerzeichen vermerkt:<br />

MEINE SCHWESTERN NAHM DER KRIEG<br />

ICH KÜND WIEDER GOTTES SIEG MCM-<br />

LVI<br />

Die kleinere der Glocken (e `) trägt an der<br />

Schulter das Gießersiegel und die Textzeile:<br />

DEIN REICH IST EIN EWIGES UND DEINE<br />

HERRSCHAFT WAEHRET FÜR UND FÜR<br />

Das Reliefbildnis von Paulus (mit Schwert)<br />

wird gerahmt von der Inschrift:<br />

SEID FLEISSIG ZU HALTEN DIE EWIG-<br />

KEIT DURCH DAS BAND DES FRIEDENS<br />

IM GEIST<br />

und auf der Rückseite: WAS DER KRIEG<br />

ZERSTÖRTE GOTT UNS NEU BESCHERTE<br />

MCMLVI<br />

In dem im Regio Kultur - Verlag Görlitz erschienenen<br />

Buch „Görlitzer Glockenlandschaft<br />

in Vergangenheit und Gegenwart“<br />

kann der interessierte Leser mehr über die<br />

Geschichte der Glocken auf den Görlitzer<br />

und Zgorzelecer Kirch – und Stadttürmen<br />

erfahren.<br />

Dipl. – Ing. (FH) Michael Gürlach<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

39


Die Kirche<br />

Kirche<br />

vor 1715<br />

vor 1715<br />

Nachdem über die Gründung von<br />

Deutsch-Ossig, über seine Herrschaften<br />

und Pfarrer im Lauf der Jahre und<br />

die elenden Zeiten des Dreißigjährigen<br />

Krieges aus der Sicht der Oberlausitz<br />

und der Stadt Görlitz berichtet wurde,<br />

steht jetzt die wechselvolle Geschichte<br />

der Kirche im Mittelpunkt unserer Reihe<br />

über Deutsch-Ossig.<br />

Mit Beginn des 15. Jahrhunderts war die<br />

Ordnung in der Oberlausitz soweit gediehen,<br />

dass sich Papst Innozenz VII.<br />

selbst um Deutsch-Ossig bemühte und<br />

1104 die Genehmigung zum Bau einer<br />

Kirche erteilte, die 1410 eingeweiht<br />

wurde. Die 1715 gefundene Urkunde<br />

lautet ins Deutsche übersetzt: Im Jahre<br />

1410, den 9.10., am Tage des Heiligen<br />

Dionysius, ist die gegenwärtige<br />

Kirche und der Altar durch den ehrwürdigen<br />

Vater in Christo, Herrn Johannes,<br />

Titular-Bischof von Sardes zu Ehren der<br />

Heiligen Dreifaltigkeit, des Leibes Christi,<br />

der Heiligen Jungfrau Maria, des Heiligen<br />

Bischof Nikolaus, und aller Heiligen<br />

geweiht worden.<br />

Bereits 1424 wurde der Zustand der Kir-<br />

che verbessert. Zugleich dachte man<br />

auch an einen Glockenturm, der aber<br />

erst 1449 fertiggestellt wurde. Hinter<br />

diesen Bauangaben standen die Hussiteneinfälle.<br />

Es ist daher kaum anzunehmen,<br />

dass die Kapelle bei ihrer Einweihung<br />

„unansehnlich“ war. Auch ist<br />

auszuschließen, dass der freistehende<br />

und mit der Kirche nicht verbundene<br />

Turm erst zu diesem Zeitpunkt ausgeführt<br />

wurde. Bei dem Neubau handelte<br />

es sich auch um eine Erweiterung zum<br />

Glockenturm. Die Glocken selbst wurden<br />

erst nach 1460 aufgehängt, die mittlere<br />

von ihnen trägt diese Jahreszahl. Über<br />

die Inschriften gibt es verschiedene Angaben.<br />

Da die Glocken mehrmals sprangen<br />

und umgegossen wurden, kann am<br />

Ende sicher Pfarrer Johannes Schneider<br />

gefolgt werden, der bei der Herausgabe<br />

und Vernichtung der Glocken im 1.<br />

Weltkrieg in Deutsch-Ossig amtierte.<br />

Demnach lauteten die Inschriften:<br />

Große Glocke - Vivos voco, mortuos<br />

plango, fulgura frango (Die Lebenden<br />

rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze<br />

breche ich); Mittlere Glocke - O Rex<br />

anzeige<br />

40<br />

Geschichte |


Deutsch-Ossig<br />

Gloriae, veni cum pace (O König<br />

der Ehren, komm mit Frieden)<br />

Maria beroth (Maria, berate uns)<br />

1460; Kleine Glocke - wie mittlere,<br />

dazu die abgekürzten Namen<br />

der Evangelisten Johannes und<br />

Lukas. Die Inschrift der kleinen<br />

Glocke ist die ursprüngliche.<br />

1518 ist der Bau einer Mauer um<br />

den Kirchhof vermerkt. Sie hatte<br />

einen Nord- und einen Südausgang.<br />

Auch hier dürfte es sich um<br />

einen Erweiterungsbau gehandelt<br />

haben. Es entspricht nicht<br />

dem Charakter der Deutsch-<br />

Ossiger Anlage, dass sie unbefestigt<br />

gewesen ist. Auch sind<br />

Reste einer Doppelmauer nach<br />

Osten einschließlich einer kleinen<br />

Ausfalltür im inneren Ring<br />

und versetzt einer etwas größeren<br />

im äußeren erkennbar. Daran<br />

schloß sich das sogenannte<br />

Vorwerk (Mittel-Deutsch-Ossig<br />

II) an. Der neue Mauerbau ist<br />

auch ausschließlich für die Kirche<br />

vermerkt.<br />

Altar der Hoffnungskirche Königshufen (früher Deutsch-Ossig)<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

41


Die Kirche<br />

Kirche<br />

vor 1715<br />

vor 1715<br />

schnitzereien versehen.<br />

Die erste Orgel erhielt<br />

die Kirche<br />

1699, im gleichen<br />

Jahr wurde sie von<br />

Grund auf renoviert<br />

und die bis dahin<br />

fehlenden Emporen,<br />

die mit Bildern<br />

aus der biblischen<br />

Geschichte<br />

geschmückt waren,<br />

ergänzt.<br />

Ein neues Kapitel<br />

in der Geschichte<br />

der Deutsch-Ossiger<br />

Tauf-Engel Hoffnungskirche<br />

Kirche wurde<br />

Der freie Raum zwischen Kirche und<br />

Turm wurde 1508 geschlossen, der Turm<br />

nunmehr in die Kirche eingebunden. Die<br />

Kirche hatte sieben kleine schmale Fenster<br />

und zwei Türen gegen Süden. Unter<br />

Caspar Exner wurde die Kirche 1678<br />

nach Norden hin in der Breite erweitert.<br />

Im gleichen Jahr wurde auch der Altar<br />

erneuert und mit Blindflügeln und Holz-<br />

mit ihrer gänzlichen Erneuerung aufgeschlagen.<br />

Anno 1715 wurde im Namen<br />

der minderjährigen Erben des Herrn<br />

Tobias Martin Trautner, weiland Erbsassen<br />

auf Nieder-Deutsch-Ossig, der<br />

Kirchenneubau beschlossen. Herr Christian<br />

Schäffer, wohlangesehener Bürger<br />

in Görlitz, ließ den Grund graben, den<br />

ersten Grundstein am 16. Juni legen<br />

anzeige<br />

42<br />

Geschichte |


Deutsch-Ossig<br />

Erb- und Lehnsherr<br />

wie auch wohlverdienter<br />

Scabinus<br />

und Curator der<br />

Hauptkirche St. Peter<br />

und Paul in Görlitz,<br />

über. Dieser ließ<br />

sowohl in diesem<br />

als auch dem folgenden<br />

Jahre 1717<br />

innen die Kirchstände<br />

und Chöre, den<br />

Altar und die Kanzel,<br />

Beichtstuhl und<br />

Taufengel verfertigen.<br />

Endlich übernahm<br />

die letzte Bausorge<br />

Hoffnungskirche, Ostseite<br />

Herr Johann Friedrich<br />

Junge auf Ober-Deutsch-Ossig<br />

und Köslitz wie auch hochverdienter<br />

Stadtrichter und Handelsherr in Zittau.<br />

und so fortfahren, dass noch in diesem<br />

Jahr das Mauerwerk nebst den sieben<br />

Flügelmauern fertig wurde. Anno 1716<br />

übernahm die Fortsetzung des Baues<br />

Herr Tobias Engelmann, Erbsasse auf<br />

Deutsch-Ossig wie auch Bürgermeister<br />

und Handelsmann in Bernstadt. Von<br />

diesem ging die fernere Bausorge in die<br />

Hände von Herrn D. Balthasar Dietrich,<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Dieter Liebig, Volker Richter, Zusammengestellt<br />

durch Dr. Ingrid Oertel<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

43


Görlitzer<br />

Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr<br />

<strong>Dezember</strong> 1978: Das Ende der WUMAG-<br />

Triebwagen im regulären Linieneinsatz<br />

Im <strong>Dezember</strong> 1978 - also vor exakt<br />

dreißig Jahren - endete der reguläre<br />

Einsatz der WUMAG- Triebwagen im<br />

Görlitzer Linienverkehr<br />

nach<br />

fast 53 Jahren.<br />

Wie kein anderer<br />

Straßenbahntyp<br />

haben sie<br />

über viele Jahre<br />

das Görlitzer<br />

Straßenbild entscheidend<br />

mitgeprägt.<br />

1963<br />

beginnend reduzierte<br />

sich deren<br />

Zahl von<br />

einst sechzehn<br />

ab 1977 nur noch einer. Besonders der<br />

Einsatz mit den deutlich über vierzig<br />

Jahre jüngeren Rekofahrzeugen ab Februar<br />

1974 wirkte recht seltsam, aber<br />

der Betrieb konnte noch nicht völlig auf<br />

die hochbetagten Oldtimer verzichten.<br />

allmählich, bis<br />

1975 nur noch<br />

vier von ihnen<br />

23II, 25II, 35II, <strong>Dezember</strong> 1978<br />

im Linieneinsatz verblieben waren. Noch Die Einheitszweiachser der LOWA- und<br />

1976 mußten nicht selten zwei oder drei Gothabauart hatten inzwischen auch<br />

Umläufe von ihnen bestritten werden, ein recht hohes Alter erreicht und wa-<br />

anzeige<br />

44<br />

Geschichte |


Görlitzer<br />

Das Ende der WUMAG-<br />

Stadtverkehr<br />

Triebwagen<br />

planmäßigen Linieneinsatz zurückkehrte,<br />

kam es nach einer Absprache zwischen<br />

dem langjährigen Betriebsleiter,<br />

Herrn Bindig, sowie Herrn Blasius und<br />

dem Autor am 27.12.1978 zu einer Besichtigung<br />

der verbliebenen Triebwagen<br />

Nr.23(II), 25(II)<br />

und 35(II) im<br />

Beisein eines<br />

Mitarbeiters der<br />

Werkstatt. An<br />

diesem Tag erfolgte<br />

die endgültige<br />

Auswahl<br />

des zu erhaltenden<br />

Oldtimers.<br />

Der Termin wurde<br />

auch für ein<br />

Shooting genutzt,<br />

wenngleich unter<br />

ren dadurch sehr störanfällig. Aus heutiger<br />

Sicht ist es ganz sicher ein Segen,<br />

dass die anstehende Außerdienststellung<br />

immer wieder verschoben werden<br />

musste. Wahrscheinlich wäre der<br />

historische Triebwagen 23(II) nicht er-<br />

denkbar schwierigen<br />

Lichtverhältnissen.<br />

Hier<br />

28II, Sommer 1976 an der Landeskrone<br />

gelang es, alle<br />

halten geblieben. Nachdem am Beginn Fahrzeuge verschieden zu beschildern<br />

der zweiten <strong>Dezember</strong>woche 1978 letztmalig<br />

ein WUMAG – Triebwagen vom aufzustellen. Noch fast zehn Jahre<br />

und in der Reihenfolge ihrer Nummern<br />

ver-<br />

anzeige<br />

Geschichte |<br />

45


Görlitzer<br />

Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr<br />

gingen seitdem,<br />

bis das Unternehmen<br />

völlig<br />

auf die formschönen<br />

Straßenbahnen<br />

auch im innerbetrieblichen<br />

Einsatz verzichten<br />

konnte. Immerhin<br />

dienten<br />

ab 1967 sechs<br />

von ihnen als<br />

Arbeitswagen<br />

in unterschiedlichen<br />

Verwendungen,<br />

von denen<br />

1978 noch<br />

vier zum Einsatz<br />

kamen. Wir werden den WUMAG – heute jeweils ein Vertreter in Görlitz und<br />

Atw. 103II und 104II im Juli 1978<br />

Triebwagen sicher auch in anderen Folgen<br />

zu verschiedenen Themen wieder<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

in Cottbus.<br />

begegnen. An ihre große Zeit erinnern Andreas Riedel, Wiesbaden<br />

anzeige<br />

46<br />

Geschichte |


Machen Sie Ihrer Familie, Ihren Freunden und Bekannten oder sich selbst<br />

ein ganz besonderes Geschenk.<br />

In der Görlitz-Information der Europastadt Görlitz-Zgorzelec GmbH werden Sie<br />

garantiertfündig:Theater-undVeranstaltungstickets,Stadtführungen,Wochenendarrangements<br />

oder die Görlitzer Schatzkiste, ein hochwertiger Koffer mit<br />

regionalen Spezialitäten. Und wenn Sie sich nicht entscheiden können, verschenken<br />

Sie einfach einen unserer Gutscheine. Wir freuen uns auf Sie.<br />

Aktuelle Öffnungszeiten:<br />

Montag - Freitag 09.00 - 18.00 Uhr, Samstag 09.30 - 16.00 Uhr, Sonntag/Feiertag 09.30 - 14.00 Uhr<br />

Obermarkt 32, 02826 Görlitz, Fon: 03581 47 57 0, Fax: 03581 47 57 47, willkommen@europastadt-goerlitz.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!