66_Ausgabe Dezember 2008
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Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
Kennen Sie jene kleine Geschichte über<br />
Weihnachten in Görlitz 1931, die Rotraud<br />
Schöne unter dem Titel “Das Weihnachtslicht”<br />
für ihr Büchlein “Bunzlauer Weihnachtsteller”<br />
mit schlesischen Weihnachtsgeschichten<br />
schrieb? (Es erschien 1991<br />
bei der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung<br />
München.) Ein junger Arbeitsloser geht<br />
bei Geschäftsschluß am 23. <strong>Dezember</strong><br />
durch das Görlitzer Stadtzentrum und<br />
denkt bitter: “Weihnachten – eine überflüssige<br />
Einrichtung! Prahlerei mit irgendwelchen<br />
Geschenken, Geschäftemacherei.<br />
Alles nach außen gestülpt. Für innen blieb<br />
nichts übrig. Ob wirklich hin und wieder<br />
mal einer nachdachte über den Ursprung<br />
dieses Festes? Früher war’s mal schön<br />
gewesen, bei den Eltern in dem kleinen<br />
Haus auf dem Lande.” Vor dem Weihnachtsbaum<br />
auf dem Wilhelmsplatz lernt<br />
er den sechsjährigen Gottlieb von der<br />
Krölstraße kennen, der ihn für den “richtigen”<br />
Nikolaus hält. Der Junge wünscht<br />
sich für die ärmliche Wohnung, wo seine<br />
kranke Mutter auf ihn wartet, am Heiligabend<br />
ein Weihnachtslicht, nur das. Auf<br />
fast abenteuerliche Weise gelingt es dem<br />
Arbeitslosen, in allerletzter Minute am 24.<br />
<strong>Dezember</strong> eine Kerze, eine Tafel Schokolade<br />
und einen Tannenzweig zu erstehen,<br />
in das schäbige Haus an der Krölstraße<br />
zu bringen und Freude zu spenden. Der<br />
letzte Satz der Geschichte: “Als die Haustür<br />
hinter ihm zuklappte, wußte er wieder,<br />
was Weihnachten für einen Sinn hatte.” Es<br />
ist eine anrührende und schlichte Episode,<br />
keineswegs rührselig. Inzwischen habe ich<br />
sie bei Adventsfeiern in Seniorenheimen<br />
oder Vereinen oft vorgelesen. Die Schilderung<br />
der Verfasserin verwob sich mit eigenen<br />
Kindheitserinnerungen aus Kriegsund<br />
Nachkriegsjahren. Versuchen Sie es<br />
doch selbst einmal, diese Geschichte zum<br />
Advent in der Familie vorzutragen! Die Zuhörer<br />
werden bald merken, was das mit<br />
heute zu tun hat.<br />
Unser <strong>Dezember</strong>heft berücksichtigt vorweihnachtliche<br />
Lesererwartungen. Ein<br />
Rückblick auf Weihnachten in Kriegsjahren<br />
mag nachdenklich stimmen. Überall in<br />
Deutschland leuchten Herrnhuter Sterne,<br />
über die berichtet wird. Ein Weihnachtsfest<br />
nach guter Tradition mit den Familien,<br />
den Hausnachbarn und mit allen, die unsere<br />
Zuwendung brauchen, danach einen<br />
würdigen, zuversichtlichen Jahreswechsel<br />
wünscht Ihnen<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
3
Vor 65 Jahren<br />
65 Jahren<br />
–<br />
–<br />
Görlitzer Adventskranz um 1943, Foto Alfred Jaeschke<br />
Schon seit Wochen stapeln<br />
sich in den Regalen<br />
der Kaufhallen die Schokoladenweihnachtsmänner.<br />
Die<br />
Buchhalter der Kaufhausketten<br />
hoffen mit einem<br />
letzten Käuferansturm die<br />
Jahresbilanz aufzubessern.<br />
Fernsehen, Theater und<br />
Buchhandel stellen sich auf<br />
Weihnachtliches ein. Schaufenster<br />
füllen sich mit Glitzerkram<br />
aus Magazinkisten.<br />
Händler bewerben sich um<br />
Stände auf dem Christkindelmarkt.<br />
Ideenreich werden<br />
die 24 Veranstaltungen<br />
des Görlitzer Adventskalenders<br />
vorbereitet. Santa<br />
Claus hängt als putziges<br />
Klammeräffchen an Hausfassaden.<br />
Überall gräßliches<br />
US-amerikanisches Christmas-Gedudel.<br />
Einkaufshektik<br />
neben Massenarbeitslosigkeit,<br />
Kindervorfreude neben<br />
Kinderarmut, deutsche<br />
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4<br />
Geschichte |
Kriegsweihnachten<br />
Soldaten zum Kriegseinsatz<br />
in fernen Ländern, wieder<br />
einmal.<br />
Nun leben nicht mehr viele,<br />
die als Kinder sechsmal<br />
Kriegsweihnachten miterlebt<br />
haben. Die über 70<br />
sind froh darüber, dass die<br />
Kinder heute das Weihnachtsfest<br />
hier in Frieden<br />
erleben können. Sie können<br />
sich aber über Bedrohliches<br />
rundum nicht einfach hinwegsetzen,<br />
die Unwägbarkeiten<br />
der näheren Zukunft<br />
nicht beschönigen. Immer<br />
deutlicher kehren die Weihnachtsfeste<br />
der Kriegsjahre<br />
ins Gedächtnis zurück.<br />
Noch immer gab es im Vergleich<br />
zu heute bescheidene<br />
Wunschzettel. Die<br />
Jungen hofften auf Lineol-<br />
Soldaten, einen Ball, vielleicht<br />
einen Pullover, von<br />
der Mutter nachts heimlich<br />
gestrickt, die Kleineren auf<br />
Weihnachtswunschzettel auf Kinder-Briefpapier, Görlitz 1943<br />
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Geschichte |<br />
5
Vor 65 Jahren<br />
65 Jahren<br />
–<br />
–<br />
mittags saß<br />
man um den<br />
Küchentisch,<br />
bastelte Tiere<br />
und Bäumchen<br />
aus Eicheln und<br />
Tannenzapfen.<br />
Mit der Laubsäge<br />
schnitt man<br />
Sperrholz zu Möbel-Bauteilchen<br />
für die Puppenstube<br />
der kleinen<br />
Schwester. Der<br />
Krieg ließ sich<br />
Dorothea Ullrich mit Schwiegermutter, Weihnachten 1943, Seydewitzstraße nicht aus dem<br />
einen Eisenbahnzug aus Holz oder einen<br />
“Wackeldackel” zum Ziehen, die Mädchen<br />
auf eine Puppe, nun mit Leinenbalg,<br />
ausgestopft mit Sägespänen und<br />
mit Kopf aus Pappmaché. Spielsachen<br />
aus kriegswichtigem Material (Blechautos,<br />
Schildkröt-Puppen aus Kunststoff)<br />
gab es nicht mehr. Pfefferkuchen auf<br />
Blechen wurden in die Kellerwerkstätten<br />
der Bäcker gebracht, statt der Mandeln<br />
klebten nun Kürbiskerne drauf. Nach-<br />
Familienalltag wegzaubern, von Jahr zu<br />
Jahr weniger.<br />
Die Görlitzer Geschäftsfrau Dorothea<br />
Ullrich, Jahrgang 1919, betrieb damals<br />
mit ihrer Schwiegermutter die stadtbekannte<br />
Parfümerie Ullrich an der Berliner<br />
Straße (neben Kino “Capitol”). Etwa 40<br />
Jahre später erzählte sie über die letzte<br />
Kriegsweihnacht: “1944 hatten wir<br />
ein trauriges Weihnachten. Alles war für<br />
uns grau in grau. Man fühlte sich ausge-<br />
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6<br />
Geschichte |
Kriegsweihnachten<br />
laugt und konnte gar nicht mehr so richtig<br />
hoffen und denken und wünschen.<br />
Drohend stand der Zusammenbruch<br />
vor uns. Kurz zuvor waren Verwandte<br />
von uns, ein Ehepaar mit drei Kindern,<br />
in Regensburg beim Bombenangriff im<br />
Luftschutzbunker umgekommen. Nun<br />
bangten wir, dass die Männer, die Söhne<br />
und Verlobten aus diesem unseligen<br />
Krieg lebend nach Hause kamen. Auch<br />
mein Mann war<br />
draußen. Unserem<br />
kleinen<br />
Jungen, er war<br />
gerade ein halbes<br />
Jahr alt,<br />
gaben wir aus<br />
Grieß das Beste.<br />
Auf die Punktkarte<br />
hatten wir<br />
glücklich drei<br />
Taschentücher<br />
bekommen. Aus<br />
aufgetrieselter<br />
Wolle strickten<br />
wir Handschuhe<br />
und Schals,<br />
Brustwärmer, Pulswärmer und Ohrenschützer<br />
für die Männer in den Schneewüsten<br />
der Ostfront. Unsere Existenz als<br />
Geschäftsleute war bedroht. Alle Leute<br />
aus den nicht kriegswichtigen Betrieben<br />
sollten in die Rüstung. Wir belieferten<br />
Ärzte und Krankenhäuser mit Tonseife<br />
und Waschmitteln auf Seifenkarten.<br />
Bis nachts saßen wir beim Aufkleistern<br />
der Markenabschnitte. Im Tausch ge-<br />
Dorothea Ullrich mit Söhnchen, Weihnacht 1944<br />
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Geschichte |<br />
7
Vor 65 Jahren<br />
65 Jahren<br />
–<br />
–<br />
gen uralte Friedensbestände<br />
brachten uns<br />
Kunden etwas<br />
Mehl oder ein<br />
paar Eier. Etwas<br />
Roggenmehl<br />
für den Mohnstollen<br />
hatten<br />
wir uns nach<br />
einem langen<br />
Fußmarsch beim<br />
Bauern erbettelt.<br />
Aus irgendeinem<br />
Versteck hatte<br />
meine Schwiegermutter<br />
noch richtige Wachskerzen für<br />
den Baum hervorgekramt. Einen Weihnachtsmarkt<br />
gab es ja nicht mehr. Die<br />
Fenster mußten alle verdunkelt werden.<br />
Aber wir waren schon froh, wenn keine<br />
schlimmen Nachrichten von der Front<br />
kamen. Wir wollten nicht noch in letzter<br />
Minute Soldatenwitwen werden, wie<br />
es so vielen gleichaltrigen jungen Frauen<br />
ergangen war. Vor der bescheidenen<br />
Bescherung waren waren wir in der<br />
Görlitzer Mädchen beim Umarbeiten von Wollsachen für Soldaten der Ostfront, 1942<br />
Kreuzkirche zur Christnacht. Am Abend<br />
hörten wir uns, wie schon so oft, die<br />
Grammophonplatten mit Zarah Leander<br />
und Wilhelm Strienz an: Wovon kann der<br />
Landser denn schon träumen? Heimat,<br />
deine Sterne! Davon geht die Welt nicht<br />
unter... Aber Ängste und Zweifel ließen<br />
sich nicht mehr vertreiben. Nie gab es<br />
ein schlimmeres Weihnachten.” Der Görlitzer<br />
Kupferstecher, Maler und Grafiker<br />
Johannes Wüsten, Jahrgang 1896, starb<br />
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8<br />
Geschichte |
Kriegsweihnachten<br />
bereits 1943 als politischer Häftling im<br />
Zuchthaus Brandenburg-Görden. Über<br />
dessen Weihnachtserlebnis 1940 im Pariser<br />
Exil schrieb sein damaliger Weggefährte<br />
Heinrich Oberländer 1944 (in der<br />
Kriegsgefangenenzeitung “Volk und Vaterland”<br />
der Bewegung Freies Deutschland<br />
für den Westen): “Und du hast<br />
auch Weihnachten<br />
hier draußen<br />
kennengelernt.<br />
Du hattest<br />
aus Deutschland<br />
einen kleinen<br />
Pappkarton<br />
mitgenommen,<br />
in dem sich ein<br />
Lichthalter, eine<br />
rote Kugel und<br />
etwas Lametta<br />
befanden. Wo<br />
du dich auch<br />
am 24. <strong>Dezember</strong><br />
befandest,<br />
du hattest einen<br />
kleinen Tannenzweig<br />
aufgetrieben<br />
und ihn damit geschmückt. Und<br />
wenn du dich allein oder unbeobachtet<br />
wusstest, schlugst du ein Buch mit Bildern<br />
aus deiner Heimat auf. Dann blieben<br />
deine Augen manchmal im Leeren<br />
haften. Du überlegtest vielleicht, ob viele<br />
der Millionen Reichsdeutschen dort,<br />
in ihren warmen, nach Weihnachten<br />
Wilfried Jeschkowski, Jg. 1940, Weihnachten 1942 mit Holzspielzeug,<br />
das französische Kriegsgefangene in der WUMAG gebastelt hatten.<br />
Er starb 1946 an Hunger-Typhus.<br />
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Geschichte |<br />
9
Vor 65 Jahren<br />
65 Jahren<br />
–<br />
–<br />
ne Deutschen<br />
aufzunehmen.<br />
Wir waren am<br />
Ende. Wir verduftenden<br />
Stuben, jener anderen Deutschen<br />
gedachten, die zur gleichen Zeit<br />
in der Nacht und Kälte der Konzentrationslager,<br />
der Gestapogefängnisse oder<br />
eben bestenfalls in einem Hotelzimmer<br />
die Heilige Nacht überstanden... So kam<br />
es, dass du zu Weihnachten 1940, zum<br />
Skelett abgemagert, in einer eisigen<br />
Dachkammer in der Rue Monsieur le<br />
Prince im 6.Bezirk von Paris lagst.<br />
Zum Hunger war noch die Krankheit gekommen.<br />
Du gingst buchstäblich aus<br />
Schwäche zugrunde. Du verlorst oft mitten<br />
im Sprechen die Besinnung, zogst<br />
mit deinen gelben, mageren Händen<br />
die Decke an die Lippen und begannst<br />
an ihr zu kauen. Über dir an der Wand<br />
hing ein kleiner Tannenzweig mit einem<br />
Licht, einer roten Kugel und etwas Lametta.<br />
Neben dir lag das Buch vom Riesengebirge.<br />
Wir<br />
versuchten damals,<br />
ein Bett in<br />
einem französischen<br />
Hospital<br />
für dich zu finden.<br />
Aber laut<br />
Verordnung der<br />
deutschen Militärverwaltung<br />
durften französische<br />
Krankenhäuser<br />
kei-<br />
Görlitzer Garnisontruppen des Infanterie-Regiments 30 an der Ostfront<br />
bei Staraja Russa 1942 mit Wegweiser nach Görlitz.<br />
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10<br />
Geschichte |
Kriegsweihnachten<br />
kauften Flaschen<br />
und alte<br />
Zeitungen, um<br />
einen Topf voll<br />
Nudeln kochen<br />
zu können. Die<br />
Wände unserer<br />
ungeheizten<br />
Wohnung,<br />
in der wir jeden<br />
Tag den Besuch<br />
der Gestapo erwarteten,<br />
hatten<br />
sich mit Eis<br />
bedeckt...”<br />
Wer dachte auch Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A in der Görlitzer Oststadt um 1943<br />
an die Weihnacht in den Unterständen Aufstrich. 3 Esslöffel Sirup, 3 Esslöffel<br />
der Frontsoldaten, an die Kriegsgefangenenlager<br />
diesseits und jenseits, an die evtl. etwas Zucker und Pomeranzenaro-<br />
Wasser, 1 Teelöffel Mehl, 1 Prise Salz,<br />
Zwangsarbeiter der Rüstungsbetriebe in ma zusammen aufkochen, schmeckt auf<br />
ihren kargen Unterkünften, an die Kinder<br />
und Alten in den Luftschutzkellern, kolade aus Roten Rüben. Rote Rüben<br />
Vollkornbrot wie Pfefferkuchen. - Scho-<br />
an die Verwundeten in den Lazaretten, werden geraspelt und gedörrt, dann<br />
an die Verfolgten im Untergrund? auf der Kaffeemühle recht fein gemahlen.<br />
Dieser Kakao wird mit etwas Salz<br />
In dem Heftchen “50 Kochrezepte für<br />
die Tage der Not”, um 1945 in Görlitz und Zucker gekocht und durchgegossen<br />
gedruckt, lesen wir: “Pfefferkuchen- und mit Milch und etwas Mehl sämig ge-<br />
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Geschichte | 11
Vor 65 Jahren<br />
65 Jahren<br />
–<br />
–<br />
kocht. Täuscht<br />
absolut Schokolade<br />
vor.” Dennoch<br />
oder gerade<br />
deshalb war<br />
der Zusammenhalt<br />
der Menschen<br />
stark.<br />
Man half einander<br />
in Familie<br />
und Nachbarschaft,<br />
richtete<br />
sich gegenseitig<br />
auf, wenn<br />
die Todesnachrichten<br />
von der<br />
Front oder aus den bombardierten<br />
Großstädten kamen. Die meisten Frauen<br />
und Mütter waren standhaft, mutig<br />
und lebenstüchtig. Das letzte Kriegsweihnachtsfest<br />
war für über 10 Millionen<br />
Deutsche zugleich das letzte in der<br />
alten Heimat. Nur wenig später folgte<br />
Schlimmeres: Flucht mit wenig Habe,<br />
Häuserkämpfe und Brände, Ausplünderungen<br />
und Demütigung, Tod auf der<br />
Landstraße, Vertreibung, Hunger in den<br />
Flüchtlingswagen auf dem Obermarkt, Winter 1944/1945<br />
Notaufnahmelagern, Zusammenbruch<br />
von Lebensplänen und Überzeugungen.<br />
Gemessen an alledem, sind die Sorgen<br />
von heute immer noch halbwegs erträglich.<br />
Aber wie lange noch? Die Kriegsweihnacht<br />
vor 65 Jahren mag für die<br />
heute Jungen unendlich fern und unausdenkbar<br />
sein. Gut, möge jeder seine<br />
Weihnacht feiern. Aber nicht ohne Blick<br />
auf die Welt ringsumher.<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
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12<br />
Geschichte |
Kriegsweihnachten<br />
Wilhelm Kirchner<br />
in: Wos fersch Herze, Görlitz 1928<br />
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Geschichte | 13
Herrnhuter<br />
Und leuchtet in die ganze<br />
Stern<br />
Welt<br />
Nun ist seine Zeit<br />
wieder gekommen.<br />
Nun darf er wieder<br />
leuchten – der<br />
Herrnhuter Stern.<br />
Gerade in den dunkelsten<br />
Wochen des<br />
Jahres, an den kürzesten<br />
Tagen und in<br />
den längsten Nächten,<br />
leuchtet er in<br />
den Straßen, Wohnungen<br />
und Kirchen.<br />
Seine Strahlen<br />
schenken Helligkeit<br />
und weisen den Weg – es ist die Zeit<br />
der Ankunft, des Advents.<br />
Der Herrnhuter Stern ist ein besonderer<br />
Stern. Sein Leuchten geht über die familiäre<br />
Besinnlichkeit und die dekorative<br />
Behaglichkeit in der Advents- und Weihnachtszeit<br />
hinaus. Der Herrnhuter Stern<br />
kommt zu uns als Botschafter mit Tradition.<br />
Und das auf eine schlichte, unaufdringliche,<br />
oft auch romantische Art. Es<br />
ist ein Leuchten, das ausstrahlt und anzieht:<br />
warmes Gelb, klares Weiß, sinnliches<br />
Rot.<br />
Bald nach Jesu Geburt kamen Sterndeuter<br />
aus dem Osten nach Jerusalem und<br />
fragten: »Wo finden wir den neugeborenen<br />
König der Juden? Wir haben seinen<br />
Stern aufgehen sehen und sind gekommen,<br />
um uns vor ihm niederzuwerfen«.<br />
… Und der Stern … ging ihnen voraus.<br />
Genau über der Stelle, wo das Kind war,<br />
blieb er stehen. Als sie den Stern sahen,<br />
kam eine große Freude über sie. Sie gingen<br />
in das Haus und fanden das Kind<br />
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14<br />
Titel |
Der Herrnhuter Stern und<br />
Stern<br />
seine Geschichte<br />
mit seiner Mutter Maria. (Gute Nachricht<br />
Bibel, Aus Matthäus 2)<br />
So wie der Stern von Bethlehem vor<br />
zweitausend Jahren die Weisen aus dem<br />
Morgenland zu Jesus Christus führte,<br />
weist uns der Herrnhuter Stern heute<br />
auf das Weihnachtswunder: Christus ist<br />
geboren. Gott ist in einem kleinen Kind<br />
zu uns Menschen gekommen. Und dieser<br />
Christus spricht: »Ich bin der leuchtende<br />
Morgenstern« (Gute Nachricht Bibel,<br />
Offenbarung 22,16). Damit erfüllte<br />
er jahrhundertlange<br />
Hoffnungen seiner<br />
Mitmenschen<br />
(4. Mose 24,17)<br />
und bietet auch uns<br />
heute eine hoffnungsvolle<br />
Perspektive.<br />
Auch in unserer<br />
Zeit können wir<br />
unseren Lebensweg<br />
an Christus orientieren.<br />
Auch dies<br />
möchte uns der<br />
Herrnhuter Stern<br />
sagen.<br />
Seinen Ursprung hat der Stern gar nicht<br />
in Herrnhut, wie es sein Name vermuten<br />
lässt. Die Anfänge des Herrnhuter<br />
Sterns liegen mehr als 180 Jahre zurück.<br />
Inspiriert von seinen biblischen<br />
Vorbildern, entstand er in der Schule<br />
der Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine)<br />
in Niesky.<br />
Erstmals erwähnt wird ein beleuchteter<br />
Stern zum fünfzigjährigen Jubiläum<br />
der Nieskyer Knabenanstalt vom 4. bis<br />
6. Januar 1821: »In der Mitte hing an<br />
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Titel |<br />
15
Herrnhuter<br />
Und leuchtet in die ganze<br />
Stern<br />
Welt<br />
bau vermittelte nicht nur mathematische<br />
und geometrische Kenntnisse. Zugleich<br />
bot der Stern, den die Kinder aus<br />
biblischen Erzählungen und vom nächtlichen<br />
Himmelsfirmament kannten, eine<br />
geistige Verbindung zu den Eltern in fernen<br />
Ländern. Und manch selbst gebastelter<br />
Stern ist dann durchaus auch auf<br />
die Reise nach Surinam, Labrador oder<br />
Südafrika gegangen.<br />
Als erster namentlich bekannter Bastler<br />
eines Advents- und Weihnachtssterns<br />
gilt Hermann Bourquin (1847-1913).<br />
Seine Familie berichtete, dass er während<br />
eines Ferienaufenthaltes in Herrnhut<br />
im <strong>Dezember</strong> 1867 einen Stern baute.<br />
Das Sternebasteln wird übrigens in<br />
Familien der Brüdergemeine bis heute<br />
gepflegt. So entstehen weiterhin kunstvolle<br />
Sterne mit 50, 98 oder gar 110 Zacken<br />
als Einzelstücke für Wohnungen<br />
und Kirchensäle.<br />
Überall wo ein Herrnhuter Stern leuchtete,<br />
wurden Menschen von seinen<br />
Strahlen berührt und angezogen. Der<br />
Stern und seine Botschaft breiteten sich<br />
aus. Mit den Schülern der Missionsschueiner<br />
Leine … ein großer buntfarbiger<br />
Stern mit 110 Strahlen, der durch eine<br />
große Lampe erleuchtet wurde«. Und<br />
21 Jahre später, zur 100-Jahr-Feier des<br />
Ortes Niesky am 8. und 9. August 1842,<br />
wird von einem jungen Handwerker berichtet,<br />
der ebenfalls einen »erleuchteten<br />
Papierstern« aufhängte.<br />
Die ersten Berichte zeigen, dass der<br />
Stern zunächst zum Erscheinungsfest<br />
(Dreikönigstag, 6. Januar) und sogar im<br />
Hochsommer leuchtete. Die Konzentration<br />
auf die Adventszeit erfolgte erst in<br />
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />
als sich das Anfertigen der Sterne in den<br />
Schulen der Brüder-Unität etablierte.<br />
Die ersten gesicherten Spuren führen in<br />
die Missionsschule nach Kleinwelka bei<br />
Bautzen, die unter anderem von Kindern<br />
ausgesandter Missionare besucht wurde.<br />
Am 1. Advent 1887 staunte ein kleiner<br />
Junge, der in diesem Frühjahr aus<br />
Südafrika nach Deutschland kam, über<br />
den ersten beleuchteten Weihnachtsstern,<br />
den er sah. Später berichtete er,<br />
wie diese Sterne vor der Adventszeit in<br />
der Schule gebastelt wurden. Der Stern-<br />
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16<br />
Titel |
Der Herrnhuter Stern und<br />
Stern<br />
seine Geschichte<br />
len und den Mitgliedern der<br />
weit verzweigten Brüder-Unität<br />
wurde der Stern von seiner<br />
Oberlausitzer Heimat in<br />
viele Teile der Welt getragen.<br />
Grundlage dafür war die serienmäßige<br />
Produktion, die<br />
Ausgang des 19. Jahrhunderts<br />
begann und die dem<br />
Stern seinen Namen brachte.<br />
1897 bot der Kaufmann Pieter<br />
Hendrik Verbeek (1863-<br />
1935) in seiner Herrnhuter<br />
»Buch-, Kunst-, Musikalien-<br />
und Papierhandlung« die<br />
ersten serienmäßig hergestellten<br />
Sterne an: »Herrnhuter<br />
transparente Weihnachtssterne«.<br />
Der bald mit einem<br />
Patent versehene Stern bestand<br />
aus einem Metallkörper<br />
und 25 Papierzacken mit<br />
Metallrähmchen. Er konnte<br />
auseinander gebaut und mit<br />
einer Petroleumlampe beleuchtet<br />
werden. Seine geometrische<br />
Form – Fachleute<br />
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Titel | 17
Herrnhuter<br />
Und leuchtet in die ganze<br />
Stern<br />
Welt<br />
sprechen von einem<br />
Rhomben-Kuboktaeder<br />
– hat er<br />
bis heute behalten.<br />
Die Resonanz auf<br />
diesen ersten Herrnhuter<br />
Stern war<br />
überaus groß. Bereits<br />
1899 wurde<br />
eine Sternmanufaktur<br />
und 1925 die<br />
»Sterngesellschaft<br />
mbH Herrnhut« gegründet,<br />
um der<br />
wachsenden Nachfrage<br />
gerecht zu werden. Die Konstruktion<br />
des Sterns wurde weiterentwickelt,<br />
und neue Modelle ergänzten die Produktionspalette.<br />
Neben den klassischen<br />
Stern in Weiß und Rot traten weitere<br />
Farbkombinationen: Weiß-Grün-Rot,<br />
Weiß-Blau-Rot, Gelb-Rot. Auch Sterne<br />
in neuen Größen und mit anderer Zackenzahl<br />
wurden entworfen.<br />
Der Zweite Weltkrieg sorgte ab 1940 für<br />
ein Ende der Sternproduktion. Mit einer<br />
wohl einzigartigen Entwicklung in der<br />
DDR konnte der Herrnhuter Stern auf<br />
Dauer gesichert werden: Aus der 1946<br />
verstaatlichten Sterngesellschaft wurde<br />
1968 die Sternproduktion ausgegliedert<br />
und an die Brüder-Unität als ehemalige<br />
Teilhaberin zurückgegeben. So wurden<br />
ab 1969 die Sterne wieder in kirchlicher<br />
Verantwortung produziert – allerdings<br />
mit staatlichen Planvorgaben und im<br />
Rahmen der DDR-Mangelwirtschaft.<br />
Heute präsentiert sich die Herrnhuter<br />
Sterne GmbH, die 1991 den Neuan-<br />
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18<br />
Titel |
Der Herrnhuter Stern und<br />
Stern<br />
seine Geschichte<br />
fang in der freien Marktwirtschaft wagte,<br />
als modernes Unternehmen mit Tradition.<br />
Im Jahr <strong>2008</strong> konnte ein neues<br />
Manufakturgebäude erbaut werden, in<br />
dessen Besucherzentrum über die Geschichte<br />
und Herstellung dieses außergewöhnlichen<br />
Sterns informiert wird.<br />
Der Herrnhuter Stern – nach wie vor<br />
in Handarbeit hergestellt – wird mittlerweile<br />
in über 65 verschiedenen Ausführungen<br />
als Außen- und Innenstern<br />
produziert. Knapp 50 Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter stellen jährlich 250.000<br />
Sterne her. Mit ihrem Wirtschaftsunternehmen<br />
Herrnhuter Sterne GmbH<br />
weiß sich die Brüder-Unität der christlichen<br />
Sozialethik verpflichtet. Die Arbeit<br />
soll durch »Wahrhaftigkeit, Treue<br />
und soziale Gesinnung bestimmt sein«<br />
(Kirchenordnung der Brüder-Unität).<br />
Unternehmensgewinne kommen der diakonischen,<br />
pädagogischen und missionarischen<br />
Arbeit zugute.<br />
Herrnhuter Sterne leuchten schon längst<br />
nicht mehr nur in Deutschland, sondern<br />
auch in Mali und Nicaragua, in Israel und<br />
Kanada und vielen Teilen dieser Erde.<br />
Ihr Licht bringt Wärme und Geborgenheit<br />
zu den Menschen und weist sie auf<br />
die Botschaft des Sterns hin: Christus ist<br />
als Licht für alle Menschen in die Welt<br />
gekommen.<br />
Thomas Przyluski<br />
Morgenstern auf finstre Nacht,<br />
Der die Welt voll Freude macht,<br />
Jesulein, komm herein,<br />
leucht in meines Herzens Schrein.<br />
Deinem freudenreichen Strahl<br />
Folgt man willig überall;<br />
Schönster Stern, nah und fern<br />
Ehr man dich als Gott den Herrn.<br />
Johann Scheffler (1624 – 1677)<br />
Literaturtipp<br />
… und leuchtet in die ganze Welt<br />
Der Herrnhuter Stern und seine Geschichte<br />
ISBN 978-3-9812139-1-1<br />
80 Seiten, 40 Abbildungen<br />
6,90 Euro<br />
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Titel | 19
Görlitzer Straßennamen Teil II –<br />
Von vielen bereits lang<br />
erwartet, liegt jetzt Teil<br />
II „Aus der Geschichte<br />
der Görlitzer Straßennamen“<br />
als Publikation<br />
des Stadtbild-Verlages<br />
in Buchform vor. In dem<br />
erfolgreichen Teil I beschäftigte<br />
sich der Autor<br />
Erich Feuerriegel mit<br />
der Historie der nach<br />
Görlitzer Persönlichkeiten<br />
benannten Straßen<br />
und Plätze. Im Teil II<br />
unternimmt der Autor<br />
nunmehr den Versuch,<br />
dem Ursprung und der<br />
Entwicklung der Namen<br />
von ausgewählten Straßen,<br />
Plätzen und Örtlichkeiten<br />
in Görlitz auf<br />
den Grund zu gehen.<br />
Nach ausführlichen Nachforschungen<br />
im Ratsarchiv,<br />
in Zeitungsarchiven<br />
und anderer einschlägiger<br />
Literatur wurden rund 70<br />
anzeige<br />
20<br />
Geschichte |
Straßen und Plätze<br />
und<br />
mit Geschichtsbezug<br />
Plätze<br />
Straßen und Plätze alphabetisch geordnet<br />
von ihrer ersten geschichtlichen Erwähnung<br />
teilweise bis in die Neuzeit erforscht.<br />
So erschließen sich dem Leser<br />
interessante Einblicke von der Ersterwähnung<br />
dieser Namen als Gassen und<br />
Wege bis hin zu ihrer Umwandlung in<br />
Straßen im 19. Jahrhundert. Dadurch<br />
gewinnt der Leser einen breiten Einblick<br />
in die wechselvolle Geschichte der<br />
Stadt, ihre bauliche Entwicklung sowie<br />
in die mittelalterlichen Handwerkstraditionen<br />
in bestimmten Stadtvierteln. Die<br />
reiche Geschichte der einst mächtigsten<br />
Stadt im Sechsstädtebund spiegelt sich<br />
auch in vielen Namensgebungen von<br />
Straßen, Plätzen und Bauwerken wider.<br />
Die Industrialisierung und der Aufstieg<br />
von Görlitz zu einem bedeutenden Wirtschaftsstandort<br />
hinterließen Spuren,<br />
sowohl in den Bauwerken, als auch in<br />
manchen Namensgebungen.<br />
Von besonderem Interesse dürften auch<br />
die Straßen und Plätze sein, die infolge<br />
des Wechsels politischer Verhältnisse oft<br />
mehrmals ihren Namen ändern mussten.<br />
Aber auch einstmals bedeutende<br />
Bevölkerungsgruppen in der Stadt hinterließen<br />
ihre Spuren. Besondere Erwähnung<br />
verdienen die Juden. Von der<br />
Bedeutung Letzterer zeugen manche<br />
Baudenkmäler und Namen, die seit dem<br />
14. Jahrhundert überliefert sind.<br />
Der vorliegende Band erhebt keinen Anspruch<br />
auf Vollständigkeit, insbesondere<br />
fehlen die heute im polnischen Teil<br />
der Stadt liegenden historischen Straßen<br />
und ihre teilweise wechselvolle Geschichte.<br />
Die verdienstvolle Veröffentlichung von<br />
Erich Feierriegel könnte ein willkommenes<br />
Weihnachtsgeschenk sein und wird<br />
deshalb allen Heimatfreunden besonders<br />
empfohlen.<br />
Bertram Oertel<br />
Literaturtipp<br />
Görlitzer Straßennamen Teil II<br />
ISBN 978-3-939655-80-0<br />
120 Seiten, 132 Abbildungen<br />
9,95 Euro<br />
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Geschichte |<br />
21
Magister Johannes Frauenburg –<br />
Drüben in seinem Haus an der Brüdergasse<br />
mochten sie schon lange auf ihn<br />
warten, aber noch immer saß der Magister<br />
Johannes Frauenburg im Rathause<br />
und schrieb, bis endlich die 21 Pergamentblätter<br />
gefüllt waren. Gewiß, er<br />
wußte sich im Lateinischen gewandt<br />
auszudrücken, aber diesmal hatte er<br />
gutes, kräftiges Deutsch gewählt, wie<br />
es die Leute in den Hallen rund um den<br />
Untermarkt sprachen.<br />
Auch Frauenburg war, wie etliche bedeutende<br />
Persönlichkeiten der Görlitzer<br />
Geschichte, nicht in dieser Stadt geboren.<br />
Wahrscheinlich kam er aus Danzig,<br />
und von dort brachte er den selbstbewußten,<br />
tatkräftigen Sinn des Hansestädters<br />
mit. Als Student und Dozent<br />
an der Universität der weltoffenen Messestadt<br />
Leipzig erwarb er von 1451 bis<br />
1462 Gelehrsamkeit, Charakterstärke<br />
und Sicherheit im Auftreten. 1462 trat<br />
er sein Amt als Schuldirektor in Görlitz<br />
an und brachte es bald zum Schwiegersohn<br />
und begüterten Erben des Bürgermeisters<br />
Canitz, zum Hausbesitzer<br />
und Stadtschreiber, zweimal zum Bürgermeister.<br />
Vierzehn Jahre lang versah<br />
er das Schöffenamt und bewährte sich<br />
1474 als geschickter Unterhändler der<br />
Stadt beim geldhungrigen Ungarnkönig<br />
Matthias Corvinus, der in seinem Streit<br />
mit Polen und Böhmen auf die reichen<br />
Hilfsquellen der Stadt setzte.<br />
Und nun, im Jahre 1476, drängte es ihn,<br />
eigene Erfahrungen und Wünsche weiterzugeben<br />
in dieser “Anweisung, wie<br />
sich ein Bürgermeister in seinem Amte<br />
halten soll”. Da schrieb er unter mancherlei<br />
anderen Ratschlägen, der Bürgermeister<br />
solle auf seine Ratsleute<br />
achten, die ihm das ganze Jahr über zur<br />
Seite stehen, daß sie füreinander einstehen<br />
in Liebe, Freundschaft und Einigkeit.<br />
Er solle sich in der Gewalt haben,<br />
daß ihm kein Ratsuchender Zorn<br />
oder Launenhaftigkeit anmerken könne.<br />
Die frommen und guten Leute solle er<br />
mit linden und guten Worten, die Ordnungsbrecher<br />
mit eindringlicher Rede,<br />
aber ohne Zorn und Schreien, behandeln.<br />
Beim Zumessen von Strafen solle<br />
man berücksichtigen, ob das Vergehen<br />
aus Schwäche oder aus Aufsässigkeit<br />
und Bosheit entstand.<br />
Der Bürgermeister solle in seinem Tun<br />
darauf achten, daß er von den Bürgern<br />
mehr geliebt als gefürchtet werde und<br />
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22<br />
Geschichte |
Johannes<br />
Wie der Bürgermeister<br />
Frauenburg<br />
regieren sollte<br />
daß er sich in allen Dingen gerecht,<br />
maßvoll und bescheiden verhalte, statt<br />
sich von Gunst, Liebe, Freundschaft,<br />
Zorn, Feindschaft, Barmherzigkeit, Neid<br />
oder Haß leiten zu lassen. Auch müsse<br />
der Bürgermeister im Rathaus täglich<br />
zu sprechen zu sein, aber nicht durch<br />
einen zu familiären Umgang mit den<br />
Bürgern die Würde seines Amtes herabsetzen.<br />
Das Ansehen der Stadt verlange<br />
vom Bürgermeister Gastfreundschaft<br />
und Freigebigkeit gegenüber Fremden<br />
und Einwohnern, eine anständige, beispielgebende<br />
Kleidung und eine knappe,<br />
überlegte, der Sache angemessene<br />
Redeweise. Die Diener der Stadt müsse<br />
er dazu anhalten, der Allgemeinheit<br />
zu nützen und niemand ohne Grund Gewalt<br />
anzutun; sie sollten ihre Aufträge<br />
gern und mit Eifer ausführen, und versagten<br />
sie, so sollten sie bestraft und<br />
davongejagt werden. Alle Briefe an den<br />
Rat sollten sofort geöffnet, gelesen und<br />
beantwortet werden.<br />
“Und ein Bürgermeister achte auf Herrlichkeit,<br />
Rechte und Freiheit der Stadt,<br />
damit sie zu Nutz und Frommen der<br />
Görlitzer Stadtwappen mit Inschrift von<br />
Johannes Frauenburg, 1477<br />
Stadt in keiner Weise beeinträchtigt<br />
werden. Und daß er mit Leib und Gut<br />
und der Ratsleute Hilfe gegen Feinde<br />
der Stadt auftrete. Denn es ist ganz<br />
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Geschichte |<br />
23
Magister Johannes Frauenburg<br />
schädlich, das vor langen Jahren ehrlich<br />
Erworbene zu verlieren, und ein Bürgermeister<br />
sollte sich lieber einen ehrbaren<br />
Tod wünschen, statt in seiner Amtszeit<br />
durch seine Nachlässigkeit Rechte,<br />
Freiheiten und Ansehen der Stadt aufs<br />
Spiel zu setzen.” Und mit diesen Ermahnungen<br />
solle er aufstehen und schlafen<br />
gehen, dann werde er täglich reichlich<br />
zu tun haben und in seinem Amte keine<br />
Ruhe, dafür aber große Freude, Wonne<br />
und Seligkeit finden.<br />
Frauenburg stand auf. Er schaute hinab<br />
zum Untermarkt, über den sich die langen<br />
Schatten der Abendsonne gebreitet<br />
hatten. Nachdem alles aufgeschrieben<br />
war, fühlte er sich erleichtert. Dennoch<br />
empfand er beunruhigende Zweifel. Waren<br />
denn die Männer, die sich hier Jahr<br />
um Jahr auf dem Bürgermeisterstuhle<br />
abwechselten, so hohen Ansprüchen<br />
an ihr Amt gewachsen? Sie kamen immer<br />
aus den gleichen Familien der “Geschlechter”.<br />
Wog bei ihrer Auswahl nicht<br />
ihr Besitz weit höher als Kenntnis und<br />
Charakter? Waren es nicht oft ungebildete<br />
und unentschlossene Herren, denen<br />
die eigenen Geldtruhen mehr bedeuteten<br />
als die Interessen der Stadt?<br />
Und hätte denn er selbst es zugelassen<br />
und zulassen können, daß alle Leute<br />
gleichermaßen ihr Anliegen vortrugen<br />
und zu ihrem Recht kamen? Hatte<br />
er nicht damals, 1468, die Parteigänger<br />
Podiebrads mit dem Richtschwert aus<br />
dem Wege räumen lassen, als sie ihn,<br />
Frauenburg, hatten stürzen wollen? Und<br />
wäre er nicht ebenso gegen die Tuchmacher<br />
vorgegangen, hätten sie Anteil<br />
am Ratsregiment verlangt? Vielleicht<br />
war die Zeit noch nicht reif für die gerechten<br />
Bürgermeister. Und doch redete<br />
der Magister Frauenburg sich ein, die<br />
Mühe des Schreibens sei nicht umsonst<br />
gewesen. Seine Gedanken über die<br />
Pflichten eines Stadtoberhauptes mochten<br />
einmal ihr Gewicht bekommen, sehr<br />
viel später.<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
Aus: Geschichten aus Alt-Görlitz, 1983<br />
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24<br />
Geschichte |
Richard Jecht zum<br />
Jecht<br />
150. Geburtstag<br />
Richard Jecht als Stadtführer, Zeichnung von Otto Engelhardt-Kyffhäuser<br />
Richard Jecht, geboren am 4. September<br />
1858 im mansfeldischen Neuglück<br />
bei Bornstedt, bezog 1877 in Universität<br />
Halle/Saale, um dort klassische Philologie,<br />
Deutsch und Geschichte zu studieren.<br />
Es folgten Promotion (1881) und<br />
Staatsexamen (1882). Nach einem kurzen<br />
Intermezzo am Gymnasium und Realgymnasium<br />
Guben erhielt er im Jahre<br />
1883 eine feste Anstellung am traditionsreichen<br />
Görlitzer Gymnasium. Schon<br />
in Guben hinterließ Jecht bezeichnende<br />
und für sein Wesen wohl recht charakteristische<br />
Spuren. Der Gymnasialdirektor<br />
Wagler bescheinigte ihm folgendes:<br />
“Der Kandidat hat, unterstützt durch<br />
sein gutes Lehrgeschick,<br />
lebendig in<br />
seinem Vortrage,<br />
ruhig und besonnen<br />
in der Behandlung<br />
und Beurteilung seiner<br />
Schüler, recht<br />
erfreuliche Erfolge<br />
in seinem Unterricht<br />
erzielt.“ Wichtig sei<br />
Jecht besonders die<br />
„Pflichttreue“. Jecht<br />
war auch später, wie<br />
die ungeheure Menge<br />
an Vorträgen vor<br />
unterschiedlichstem<br />
Publikum zeigte, nicht der arrogant erscheinende,<br />
blutleere „Professor“, sondern<br />
zugleich ein Jünger der Muse Klio,<br />
ein ebenso ernsthafter, humor- und<br />
temperamentvoller, manchmal bissiger<br />
wie phantasievoller populärwissenschaft-<br />
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Persönlichkeit |<br />
25
Richard Jecht zum<br />
Jecht<br />
150. Geburtstag<br />
Richard Jecht im Ratsarchiv<br />
licher Vermittler neuester Forschungsergebnisse.<br />
Bezeichnend<br />
sind in diesem Zusammenhang<br />
auch die Worte Jechts im Nekrolog<br />
für den von ihm als größter<br />
Geschichtsschreiber der Oberlausitz<br />
bezeichneten Knothe. Jener<br />
habe, so rühmt er ihn, die<br />
goldene Mittelstraße zwischen<br />
strenger Wissenschaftlichkeit und<br />
volkstümlicher Geschichtsschreibung<br />
gehalten, so dass jeder Leser<br />
seine Rechnung dabei finde<br />
und ihn mit Behagen lese. Dies<br />
trifft gleichermaßen wohl vorzüglich<br />
auf Jecht selbst zu. Bereits<br />
im Jahre 1884 gehörte Jecht zu<br />
den Mitgliedern der Oberlausitzischen<br />
Gesellschaft der Wissenschaften.<br />
Seit 1888 fungierte er<br />
als ihr stellvertretender, ab 1889<br />
als ihr alleiniger Sekretär. Schon<br />
1890 begannen seine Arbeiten<br />
an den Quellen des Ratsarchivs,<br />
welche er völlig neu ordnete und<br />
zum Großteil erstmals erschloss.<br />
Im Ergebnis entstanden die<br />
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26<br />
Persönlichkeit |
Richard Jecht zum<br />
Jecht<br />
150. Geburtstag<br />
„Quellen zur Geschichte der Stadt Görlitz“,<br />
das erste seiner Standardwerke bis<br />
heute. In nahezu allen Görlitzer Stadtbüchern<br />
hinterließ der Stift Jechts seine<br />
Spuren. Heute schaudert dem Archivar<br />
ob dieses Tuns. Aber wegen des Wertes<br />
der Randnotizen hält er es zuletzt wohl<br />
mit den alten Römern: „Quod licet jovi,<br />
non licet bovi.“<br />
Seit 1890 litt Jecht an einem Gehörleiden,<br />
was ihn Ostern 1904 veranlasste, seinen<br />
Dienst als Gymnasiallehrer zu quittieren.<br />
Wohl bereits seit den 90er Jahren hoffte<br />
er aus diesem Grunde auf eine Anstellung<br />
als Görlitzer Ratsarchivar. Aber erst<br />
die nicht erfolgte Wiederwahl des Oberbürgermeisters<br />
Büchtemann ermöglichte<br />
dessen Eintritt in dieses Amt zum 1.<br />
Januar 1907.<br />
So wurde er der erste fest angestellte<br />
oberlausitzische Ratsarchivar. Die Vereinigung<br />
dieser beiden wissenschaftlichen<br />
Ämter, des Sekretärs der Oberlausitzischen<br />
Gesellschaft der Wissenschaften<br />
und des Görlitzer Ratsarchivars, bildeten<br />
den Humus für das fruchtbare Schaffen<br />
der kommenden Jahre. So entstanden<br />
17 Bücher, neun selbstständige Veröffentlichungen,<br />
81 Aufsätze und Abhandlungen<br />
im Neuen Lausitzischen Magazin,<br />
21 Beiträge in Festschriften und Heimatbüchern<br />
sowie über 130 populärwissenschaftliche<br />
heimatgeschichtliche<br />
Beiträge. Sehr kennzeichnend für seine<br />
Bücher und Abhandlungen sind folgende<br />
Merkmale: Zum ersten der Mangel an<br />
einer stärkeren Gliederung, zum zweiten<br />
die Vorliebe des Autors, die Quellen<br />
kommentarlos selbst sprechen zu<br />
lassen, sowie deren häufige Nüchternheit<br />
und enorme Länge. Das wichtigste<br />
Ergebnis seines Schaffens, so sah er<br />
es auch selbst, war die Herausgabe der<br />
Bände II bis V des „Codex diplomaticus<br />
Lusatiae superioris“. Quelleneditionen<br />
sind zeitlos, von bleibendem Wert, unabhängig<br />
vom sich ändernden Blick auf<br />
die Geschichte. Schon deshalb sollte es<br />
auch zukünftig ein wichtiges Anliegen<br />
der Oberlausitzischen Gesellschaft der<br />
Wissenschaften sein, dieses Vermächtnis<br />
Richard Jechts fortzusetzen.<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
Roland Otto Ratsarchiv Görlitz<br />
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Persönlichkeit | 27
Swing in Görlitz<br />
in<br />
nach<br />
Görlitz<br />
1945<br />
Die meisten Musiker,<br />
über die ich<br />
kürzlich schrieb,<br />
waren Profis. Nun<br />
noch ein paar<br />
Zeilen über den<br />
Nachwuchs. Im<br />
Vergleich zu heute<br />
waren es nicht<br />
viele, die ein Instrument<br />
lernen<br />
konnten oder wollten.<br />
Das lag an<br />
den schwierigen<br />
Zeiten. Auch gab<br />
es noch keine Instrumente zu kaufen.<br />
(Ich selbst hatte das Glück, daß ich eine<br />
elektrische Eisenbahn besaß und diese<br />
gegen eine gebrauchte Trompete<br />
tauschen konnte. Das Schlagzeug hatte<br />
ich mir vorher Stück für Stück mühsam<br />
zusammengeschachert.) Aber dann<br />
entstand 1947 doch eine Big Band im<br />
Rahmen der FDJ, die sich Jugend-Tanzorchester<br />
Görlitz (JTG) nannte. Die musikalische<br />
Leitung hatte Hans Schulze,<br />
Sohn der Inhaberin des Konzerthauses<br />
an der Leipziger Str.. Er war sehr musikalisch,<br />
wurde später Profi und war<br />
u.a. Dirigent des Orchesters des Friedrichstadt-Palastes<br />
in Berlin. Als ich Mai<br />
- Dez. 1948 als Trompeter dabei war,<br />
bestand die Band aus 3 Trompetern, 3<br />
Posaunisten, 4 Saxophonisten, je 1 Pianist,<br />
Bassist, Gitarrist und Schlagzeuger.<br />
Alle waren um die 18 Jahre jung.<br />
Die Beherrschung der Instrumente ließ<br />
noch manche Wünsche offen, doch wurde<br />
dieser Mangel weitgehend ausgegli-<br />
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28<br />
Geschichte |
Teil II<br />
II<br />
Jugendtanzorchester Görlitz 1947 mit (v.l.n.r.) Jochen Balzer,<br />
Horst Böhm, Hans Schulze, Siegfried Runge, Siegfried Wolf<br />
chen durch die große Begeisterung, mit<br />
der wir swingten. Heute, 47 Jahre später,<br />
ist diese Begeisterung bei fast allen<br />
Jazzern von finanziellen Interessen verdrängt<br />
worden.<br />
Soweit ich mich erinnere, bekamen wir<br />
für die Auftritte kein Geld. Wenn wir auf<br />
dem Land spielten, gab es schon mal<br />
Bockwurst mit Kartoffelsalat – etwas<br />
ganz Besonderes in dieser Hungerzeit.<br />
Wir spielten z.B. in einem Barackenlager<br />
in der Reichertstr.<br />
für heimatvertriebene<br />
Schlesier (die<br />
mit unserer Musik<br />
nichts anfangen<br />
konnten) und auch<br />
in der Stadthalle<br />
bei Boxkampf-Turnieren<br />
sowie einem<br />
Kapellenwettstreit<br />
mit dem Jugendtanzorchester<br />
aus Leisnig<br />
(den wir verloren)<br />
anläßlich eines<br />
Tanzabends. Probe<br />
war jeden Sonntagvormittag im Konzerthaus.<br />
Danach machten wir manchmal<br />
eine Jam-Session. Dabei entstand<br />
eine tolle Atmosphäre, besonders dann,<br />
wenn sich die Bläser mit ihren Improvisationen<br />
gegenseitig inspirierten und zu<br />
übertreffen suchten. Gejazzt, besser gesagt<br />
gehottet, wurden Evergreens aus<br />
den 20er Jahren wie “Lady Be Good” und<br />
“Sweet Sue”. Auch heute noch denke ich<br />
gern an diese Musik zurück, wenn ich<br />
mit meiner Swing-Combo solche Stücke<br />
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Geschichte |<br />
29
Swing in Görlitz<br />
in<br />
nach<br />
Görlitz<br />
1945<br />
blase. Zum Nachwuchs gehörte auch<br />
Wolfgang Lange von der Lessingstr., etwas<br />
schrulliger Einzelgänger. Er spielte<br />
Akkordeon, meist allein oder nur mit einem<br />
Schlagzeuger zusammen, war also<br />
einer der ersten Alleinunterhalter, wurde<br />
Profi und war später irgendwie Görlitzer<br />
Original. Ich kannte ihn von der Schule<br />
her – er mochte auch Swing, fummelte<br />
an Saxophon, Geige und Schlagzeug<br />
rum, war aber zu faul zum Üben.<br />
1946 spielte er zum<br />
Wochenendtanz im<br />
“Kulmbacher Postillion”<br />
in Biesnitz<br />
ländlich-sittlich mit<br />
2 Musikern und seiner<br />
Mutter als Sängerin.<br />
Die alternde<br />
Dame sang “Ich<br />
tanze mit dir in den<br />
Himmel hinein....”,.<br />
Es war grauenhaft.<br />
Aber Lange wußte<br />
halt schon, daß<br />
Musiker vom Jazz<br />
allein nicht leben<br />
können und sich nach dem Publikum<br />
richten müssen.<br />
Lange dichtete auch zuweilen. Zur Melodie<br />
der Räuberballade schrieb und sang<br />
er einen netten zeitkritischen Text: “Es<br />
war einmal ein Schieber, der ging zum<br />
schwarzen Markt......”<br />
Einmal kam ich zu ihm, weil wir zusammen<br />
üben wollten, er Saxophon und ich<br />
Tanzkapelle Martin Viertel, Konzerthaus, 1953<br />
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30<br />
Geschichte |
Teil II<br />
II<br />
an seinem Schlagzeug. Da zeigte er mir<br />
freudig seine mit vielen halbrunden Eisenblechen<br />
gepflasterten Schuhsohlen<br />
und sagte, er wolle nun Steptanz üben.<br />
Der wäre wieder modern, hatte er von<br />
Swing-Heinis gehört. Er traute sich wohl<br />
nicht, allein zu üben, denn ich sollte<br />
das mitmachen. Ich war begeistert und<br />
ließ mir auch vom Schuster die Schuhe<br />
(meine einzigen) mit diesen Blechen<br />
beschlagen, die eigentlich dazu dienten,<br />
die Spitzen der Sohlen und Absätze vor<br />
Abnutzung zu schützen. Dann ging ich<br />
zu ihm, er legte eine Swing–Platte aufs<br />
Grammophon, und wir versuchten, auf<br />
dem Steinfußboden der Küche zu steppen.<br />
Es dauerte nicht lange, da kam seine<br />
sonst singende Mutter schreiend herein<br />
und warf uns hinaus. Wir hatten das<br />
Steppen dann schnell aufgegeben, es<br />
war zu mühsam.....<br />
Mühsam wurde ab 1948 auch das Swingen.<br />
Die neuen Machthaber lehnten den<br />
Jazz als “Ausgeburt des anglo–amerikanischen<br />
Imperialismus” ab. Im Zeitungsbericht<br />
über unseren Kapellenwettstreit<br />
wurde gerügt, daß wir “Tanzmusik auf<br />
amerikanische Manier” spielten und daß<br />
eine ”gewisse kulturelle Note” fehlte. Das<br />
war noch vergleichsweise gnädig ausgedrückt,<br />
da es sich um eine Veranstaltung<br />
der FDJ handelte. Im Radio nahmen<br />
Jazzsendungen rapide ab, amerikanische<br />
Titel mußten in deutscher Übersetzung<br />
angesagt und auch auf Schallplatten–Etiketten<br />
gedruckt werden (z.B.<br />
statt American Patrol “Nächtliche Patrouille”).<br />
Schallplatten aus Westdeutschland<br />
gab es nicht mehr. Die Sowjetisierung<br />
wurde auch im kulturellen Bereich<br />
verstärkt, die Zwangsmitgliedschaft in<br />
der FDJ für Amateurmusiker und im<br />
FDGB für Profis war lästig, und viele<br />
Musiker setzten sich in den Westen ab,<br />
sogar komplette Kapellen. (Später war<br />
Jazz zeitweise überhaupt verboten. Erst<br />
in den 70er Jahren kam eine Liberalisierung.)<br />
So wurde der Swing bedeutungslos<br />
im Musikleben Ostdeutschlands und<br />
vegetierte nur noch in einer geglätteten<br />
deutschen Variante dahin. Auch in Görlitz,<br />
so daß mein Bericht mit dem Jahr<br />
1949 endet.<br />
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Geschichte |<br />
31
Swing in Görlitz<br />
in<br />
nach<br />
Görlitz<br />
1945<br />
In jener Zeit entstanden<br />
allerhand Jux–<br />
Texte, die spontan<br />
von irgendwelchen<br />
Zeitgenossen zu beliebten<br />
Swingmelodien<br />
gedichtet wurden.<br />
Oft nur wenige Zeilen<br />
lang, charakterisierten<br />
sie doch gut das<br />
schwere Leben in<br />
den Nachkriegsjahren.<br />
Damals suchten<br />
wir weggeworfene<br />
Zigarettenkippen,<br />
hatten nasse Socken, weil niemand die<br />
Schuhe flicken konnte, hielten auf dem<br />
Balkon oder sonstwo etwas Kleinvieh<br />
zur Aufbesserung der knappen Lebensmittelration<br />
usw. Hier sind die Texte, an<br />
die ich mich erinnern kann.<br />
Zur Melodie von<br />
Hey-Ba-Be-Re-Bop:<br />
Hey-Ba-Be-Re-Ba,<br />
mein Vater ist ein Schieber.<br />
Er handelt mit Tomaten,<br />
das darf ich nicht verraten....<br />
Künstlertreffen 1999, Pension Schellergrund, mit Manfred Raupach,<br />
Siegfried Wolf, Siegfried Runge und Hans Schulze-Bargin<br />
Dob´s Boogie:<br />
Haste kalte Beene, haste kalte Beene?<br />
Tanzte Boogie-Woogie, haste keene.<br />
Haste nasse Socken, haste nasse Socken?<br />
Tanzte Boogie-Woogie, wer´nse trocken.<br />
Haste Kummer, wirste froh,<br />
wie der Mops im Paletot<br />
beim Boogie.<br />
Sentimental Journey:<br />
Hätten wir´ne Chesterfield zu rauchen!<br />
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32<br />
Geschichte |
Teil II<br />
II<br />
Manfred Raupach (Mitte) bei einer Geburtstagsfeier 1999 auf der Landeskrone;<br />
links Sängerin Julia Axen, rechts Saxophonist Kurt “Saftl” Gerlach<br />
Stell dir vor, wie schön das wär,<br />
brauchten keine Kippen mehr zu<br />
schmauchen,<br />
und das Leben wär halb so schwer.<br />
Auf den Rathaustreppen<br />
nackte Neger steppen,<br />
und die singen immer<br />
In The Mood.<br />
Was eine Frau im<br />
Frühling träumt:<br />
Bei uns zu Haus auf<br />
dem Balkon<br />
da steht ein alter<br />
Pappkarton.<br />
Darinnen wohnt der<br />
Max, das ist unser<br />
Kaninchen<br />
und die Thusnelda, das ist unser kleines<br />
Hühnchen....<br />
Die Räuberballade:<br />
Es war einmal ein Schieber,<br />
der ging zum schwarzen Markt,<br />
verkaufte Butter, Eier und auch<br />
Quark....<br />
Schönes Wetter heute:<br />
Auf der Friedhofmauer<br />
sitzt ein Mann in Trauer,<br />
und der hottet immer In The Mood.<br />
Manfred Raupach<br />
Bad Wildungen (geschrieben 1995)<br />
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Geschichte |<br />
33
Görlitzer<br />
Glocken meiner Heimatstadt<br />
Glocken<br />
Görlitz –<br />
St. Peter und Paul<br />
Die Geschichte der Glocken von St. Peter<br />
und Paul ist eine sehr wechselvolle und von<br />
interessanten Begebenheiten geprägte Geschichte<br />
unserer Stadt.<br />
Die älteste, an Hand einer Rechnung aus<br />
dem Jahre 1377 nachweisbare Glocke, die<br />
in Görlitz gegossen wurde, fertigte Meister<br />
Lukas zu Görlitz mit einem Gewicht von 38<br />
Zentnern.<br />
Nicht nachweisbar ist, ob diese Glocke für<br />
die seit 1225 bestehende Peterskirche oder<br />
für St. Nikolai, die damalige Hauptkirche,<br />
bestimmt war.<br />
Eine weitere Glocke goss man 1429, deren<br />
Material nach ihrem Zerspringen 1516<br />
für einen Neuguss verwendet wurde. Am<br />
12. Juli 1472 fertigte Matthias Haubitz aus<br />
Brünn drei Glocken auf der Viehweide, dem<br />
heutigen Stadtpark. Darunter war die erste<br />
„Große Glocke“, die „Susanna“ mit 108<br />
Zentnern, 3 Stein und 7 Pfund.<br />
Eine 1512, auf den Namen „Maria“ geweihte<br />
Glocke wurde 1518 an die Gemeinde<br />
nach Leopoldshain verkauft, wie aus einer<br />
Eintragung im Kirchenregister zu entnehmen<br />
war.<br />
Am 24. September 1516 gossen die Freiberger<br />
Brüder Martin und Andreas Hilliger<br />
die 165 Zentner schwere Glocke „Maria“,<br />
bei deren Guss das Material der zersprungenen<br />
Salve – Glocke von 1429 verwendet<br />
wurde. Außerdem ließ der Rat der Stadt bei<br />
den Bürgern messingene und kupferne Ge-<br />
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34<br />
Geschichte |
Görlitzer<br />
Die Glocken von St.<br />
Glocken<br />
Peter und Paul Görlitz<br />
fäße einsammeln. Die am 22. März 1517<br />
durch Pfarrer Martinus Faber geweihte Glocke<br />
konnte aber erst am 22. Mai 1531 auf<br />
den Turm gezogen werden. Davor hing sie<br />
14 Jahre in einem Glockenhause neben der<br />
Kirche.<br />
Andreas Hilliger fertigte dazu 1521 in Breslau<br />
die neue „Vesper – Glocke“. Ein Amtsdiener<br />
wurde durch den Rat beauftragt mit<br />
der Übergabe des Metalls sowie dem Text<br />
und Glockenzier an den Meister.<br />
Unter den Textzeilen: „PRO AEDE DIVI<br />
PETRI IN GOERLIZ FVSVM EST HOC VAS<br />
VRATISLAVIAE PER ANDREAM HILLIGER<br />
MDXXI“ war das Stadtwappen und auf der<br />
Gegenseite ein Petrusrelief aufgebracht.<br />
Bei der Zusammenstimmung der alten Glocken<br />
hielt Maria f°, Susanna a°, die Salve –<br />
Glocke c°, die Vesper Glocke f ` und das<br />
Schlussglöckchen c`.<br />
Bei einem Grabgeläute am 5. September<br />
1597 zersprang die 1472 gegossene „Susanna“,<br />
und man schrieb: „und war ihr Ton,<br />
als wenn man mit einem Beil auf ein Brett<br />
schläget“.<br />
Nachdem man sie am 30. Juni 1598 vom<br />
Turm genommen und vor dem Vogtshofe<br />
zerschlagen hatte, gossen Urban Schober<br />
und Martin Weigel am 24. Juli eine Glocke<br />
von 114 Zentnern und 3 ½ Pfund. Die neue<br />
„Susanna“ brachte man unter Anteilnahme<br />
von „viel Volk“ am 18. August zur Peterskirche<br />
und zog sie am 21. des Monats auf<br />
den Turm. Das erste Läuten erklang am 26.<br />
August zum Abendgebet.<br />
Neben umfangreichen Inschriften zierte<br />
die Glocke das Stadtwappen mit der Umschrift:<br />
Senatus Populusque Gorlicensis. Auf der<br />
gegenüberliegende Flanke waren die Wappen<br />
der Herren Consulum, der Herren Sebastian<br />
Hoffmann und Alexander Schnitterer<br />
aufgebracht und darüber die Inschrift:<br />
Tausend fünffhundert und achtundneuntzig<br />
Jahr. Goß mich Urban Schober und Martin<br />
Weigel. Das ist wahr. Neben dem Wappen<br />
des Bürgermeisters Bartholomäi Sculteti<br />
befanden sich am Wolm, dem unteren Umkreis<br />
der Glocke, noch Textzeilen, die den<br />
Sieg Rudolphs II. in der Schlacht bei Raab<br />
(Györ) gegen die Türken 1598 erwähnen.<br />
Im gleichen Jahr wurde auch die Salve –<br />
Glocke umgegossen.<br />
Der große Stadtbrand vom 19. März 1691<br />
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Geschichte |<br />
35
Görlitzer<br />
Glocken meiner Heimatstadt<br />
Glocken<br />
Görlitz –<br />
Hannibal Brors “Betglocke” 1697<br />
zerstörte alle Glocken. „Maria“ wurde am 2.<br />
August 1695 durch die eingestürzten Gewölbe<br />
abgenommen und zerschlagen.<br />
Hannibal Brors, ein Gießer, der sich 1695<br />
in Schweidnitz niedergelassen hatte und<br />
1702 in Zittau verstarb, wurde mit der Anfertigung<br />
der neuen „Großen Glocke“ beauftragt.<br />
Nachdem der Guss 1695 zweimal<br />
misslang, entstand in einem extra hergerichteten<br />
Gießhause am 3. August 1696 die<br />
217 Zentner, 2 Stein und 18 Pfund wiegende<br />
„Susanna“, die zur damaligen Zeit viertgrößte<br />
Glocke im „deutschen Lande“. Die<br />
reich verzierte Glocke mit Bildnissen der<br />
Apostel Petrus und Paulus sowie dem Görlitzer<br />
Stadtwappen konnte am 26. Mai 1697<br />
erstmals geläutet werden. Leider fiel dieses<br />
wunderbare Werk dem Rüstungswahnsinn<br />
des 1. Weltkrieges zum Opfer. Ein Zeitungsartikel<br />
vom 16. Juli 1917 berichtet über die<br />
Zerstörung der Glocke im Turm unter der<br />
Aufsicht eines Oberrichtmeisters Putze von<br />
der Glockengießerei Schilling & Söhne aus<br />
Apolda. Mit ihr wurden in Görlitz noch weitere<br />
11Glocken von den Türmen genommen.<br />
Darunter auch die 1737 von dem<br />
Görlitzer Gießer Benjamin Körner umgegossene<br />
Vesper – Glocke. Von diesen beiden<br />
ehemaligen Klangkörpern der Peterskirche<br />
kann man heute nur noch die Gipsmodelle<br />
im hinteren Teil des Kirchenschiffes bewundern.<br />
Sie zeugen von der hohen handwerklichen<br />
Kunst der Glockengießer dieser Zeit.<br />
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36<br />
Geschichte |
Görlitzer<br />
Die Glocken von St.<br />
Glocken<br />
Peter und Paul Görlitz<br />
“Tuchmacherglocke”<br />
Umguss von Benjamin Körner 1737<br />
Eine zweite – die „Betglocke“ – wurde am<br />
24. Januar 1697 ebenfalls von Brors gegossen.<br />
Die Gewichtsangaben schwanken<br />
zwischen 112 und 120 Zentnern. Am 18.<br />
April 1697 zog man sie durch die drei Gewölbe<br />
in den Turm. In der Mitte der Flanke<br />
zeigt sie das Stadtwappen. An der Schulter<br />
umlaufend die Namen Elias Richter, Michael<br />
Steinbach, Johann Kiesling und darunter<br />
der Text:<br />
IgnIs ego saLVa rable vItIata res Vrgo Kis-<br />
LIngI CvrIs et, WIDeManne, tVIs.<br />
(«Ich durch wilde Flut des Feuers verdorben,<br />
erstehe wieder durch eure Sorg`,<br />
Kiesling und Widemann, neu“)<br />
Die Beschriftung auf dem unteren Reifen<br />
sagt aus, dass die Glocke aus dem Material<br />
der 2. Susanna von 1598, auf Anordnung<br />
des Bürgermeisters Kiesling und des Skabinus<br />
Christian Widemann gegossen wurde.<br />
Der vollständige Text lautet:<br />
Fusa haec Campana MDXCVIII sed. An.<br />
MDCXCI d. XIX. Mart. Eodem, quo coeterae<br />
funesto incendio labefactae, Aedis hujus<br />
Petro – Paulinae Curatorum, Johannis<br />
Kislingii, Cons. Et L. Christiani Widemanni,<br />
Scabini, auspiciis. Anno MDCXCVII. Mense<br />
Jan. Restaurata est operi Joach. Hannibalis<br />
Brorsii.<br />
Diese Glocke, die im Nominal fis° erklingt,<br />
kann noch heute in der Glockenstube des<br />
linken Turmes bestaunt werden.<br />
Ein Geschenk der Görlitzer Tuchmacher<br />
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Geschichte |<br />
37
Görlitzer<br />
Glocken meiner Heimatstadt<br />
Glocken<br />
Görlitz –<br />
Aufzug der neuen Glocken nach der Weihe am<br />
6. Oktober 1957 (Foto: Maschel)<br />
war die vom Dresdner Glockengießer Michael<br />
Weinhold gefertigte „Tuchmacherglocke“<br />
von 1716, mit einem Gewicht von 12<br />
Zentnern und 87 Pfund. Da beim Guss der<br />
richtige Ton nicht getroffen wurde, erhielt<br />
Benjamin Körner 1737 den Auftrag, diese<br />
mit der bereits genannten Vesper – Glocke<br />
umzugießen. Inschriften und Reliefdarstellungen<br />
wurden übernommen. Diese Glocke<br />
hängt heute an einem gekröpften<br />
Stahljoch im oberen Gefach des<br />
Stahlglockenstuhles. Der Umguss<br />
mit einem Durchmesser von 1 020<br />
mm ist gestimmt auf fis `. Der an<br />
der Schulter mit Wasserwogenband<br />
und hängendem Akanthusfries verzierte<br />
Klangkörper trägt zwischen<br />
zwei Rundstegen die Inschrift:<br />
Ao 1716 GEGOSSEN VON MICHAEL<br />
WEINHOLD AVS DRESSDEN.<br />
Ao 1737 DER HARMONIE WEGEN<br />
VMGEGOSSEN VON BENJAMIN<br />
KÖRNER.<br />
Die Flanke des Glockenkörpers ziert<br />
ein Relief des Tuchmacherwappens<br />
mit Werkzeugen. Reversseitig füllt<br />
folgender Text die gesamte Flanke:<br />
Dem Dreyeinigem Gott zu Ehren hat Anno<br />
1716 die löbl. Zunft der Tuchmacher allhier<br />
in Görlitz auf ihre Kosten diese Glocke lassen<br />
gießen, und in diese Kirche wohlmeinend<br />
verehret und sind zu der Zeit Eltesten<br />
gewesen: Martin Täschner, Georg Schneider,<br />
Daniel Wießner, Gottfried Ullrich, Gottfried<br />
Seibt, Andreas Altenberger, David Wiedemann,<br />
Joachim Firle, Christian Schmidt,<br />
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38<br />
Geschichte |
Görlitzer<br />
Die Glocken von St.<br />
Glocken<br />
Peter und Paul Görlitz<br />
Johann Schneider, Christian Hoffmann, Johann<br />
Friedrich Nöffe.<br />
Zu den beiden nach zwei Weltkriegen erhalten<br />
gebliebenen Glocken von Hannibal<br />
Brors 1697 und der Tuchmacherglocke<br />
von Benjamin Körner erwarb die Gemeinde<br />
1956 zwei Eisenhartguss – Glocken der<br />
Firma Schilling & Lattermann. Die beiden<br />
Klangkörper haben ein Gewicht von 2 700<br />
kg und 1 830 mm im Durchmesser sowie 1<br />
600 kg und einen Durchmesser von 1 530<br />
mm. Gestimmt sind sie auf die Nominale<br />
cis ` und e `. Für das schlichte Dekor und<br />
die Gestaltung der Reliefbildnisse von Petrus<br />
und Paulus zeichnete die damals bekannte<br />
Greizer Künstlerin Elly – Viola Nahmmacher<br />
verantwortlich.<br />
Die Inschrift an der größeren Glocke (cis `)<br />
an der Schulter umlaufend.:<br />
+ IN DER NOT RUFE ICH DICH AN DU<br />
WOLLTEST MICH ERHÖREN<br />
Darunter an der Flanke das Reliefbildnis<br />
von Petrus (mit Schlüssel) und dem beidseitigem<br />
Schriftzug:<br />
ALLE EURE SORGEN WERFET AUF IHN<br />
DENN ER SORGET FÜR EUCH<br />
Auf der Flanke des Glockenkörpers ist neben<br />
dem Gießerzeichen vermerkt:<br />
MEINE SCHWESTERN NAHM DER KRIEG<br />
ICH KÜND WIEDER GOTTES SIEG MCM-<br />
LVI<br />
Die kleinere der Glocken (e `) trägt an der<br />
Schulter das Gießersiegel und die Textzeile:<br />
DEIN REICH IST EIN EWIGES UND DEINE<br />
HERRSCHAFT WAEHRET FÜR UND FÜR<br />
Das Reliefbildnis von Paulus (mit Schwert)<br />
wird gerahmt von der Inschrift:<br />
SEID FLEISSIG ZU HALTEN DIE EWIG-<br />
KEIT DURCH DAS BAND DES FRIEDENS<br />
IM GEIST<br />
und auf der Rückseite: WAS DER KRIEG<br />
ZERSTÖRTE GOTT UNS NEU BESCHERTE<br />
MCMLVI<br />
In dem im Regio Kultur - Verlag Görlitz erschienenen<br />
Buch „Görlitzer Glockenlandschaft<br />
in Vergangenheit und Gegenwart“<br />
kann der interessierte Leser mehr über die<br />
Geschichte der Glocken auf den Görlitzer<br />
und Zgorzelecer Kirch – und Stadttürmen<br />
erfahren.<br />
Dipl. – Ing. (FH) Michael Gürlach<br />
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Geschichte |<br />
39
Die Kirche<br />
Kirche<br />
vor 1715<br />
vor 1715<br />
Nachdem über die Gründung von<br />
Deutsch-Ossig, über seine Herrschaften<br />
und Pfarrer im Lauf der Jahre und<br />
die elenden Zeiten des Dreißigjährigen<br />
Krieges aus der Sicht der Oberlausitz<br />
und der Stadt Görlitz berichtet wurde,<br />
steht jetzt die wechselvolle Geschichte<br />
der Kirche im Mittelpunkt unserer Reihe<br />
über Deutsch-Ossig.<br />
Mit Beginn des 15. Jahrhunderts war die<br />
Ordnung in der Oberlausitz soweit gediehen,<br />
dass sich Papst Innozenz VII.<br />
selbst um Deutsch-Ossig bemühte und<br />
1104 die Genehmigung zum Bau einer<br />
Kirche erteilte, die 1410 eingeweiht<br />
wurde. Die 1715 gefundene Urkunde<br />
lautet ins Deutsche übersetzt: Im Jahre<br />
1410, den 9.10., am Tage des Heiligen<br />
Dionysius, ist die gegenwärtige<br />
Kirche und der Altar durch den ehrwürdigen<br />
Vater in Christo, Herrn Johannes,<br />
Titular-Bischof von Sardes zu Ehren der<br />
Heiligen Dreifaltigkeit, des Leibes Christi,<br />
der Heiligen Jungfrau Maria, des Heiligen<br />
Bischof Nikolaus, und aller Heiligen<br />
geweiht worden.<br />
Bereits 1424 wurde der Zustand der Kir-<br />
che verbessert. Zugleich dachte man<br />
auch an einen Glockenturm, der aber<br />
erst 1449 fertiggestellt wurde. Hinter<br />
diesen Bauangaben standen die Hussiteneinfälle.<br />
Es ist daher kaum anzunehmen,<br />
dass die Kapelle bei ihrer Einweihung<br />
„unansehnlich“ war. Auch ist<br />
auszuschließen, dass der freistehende<br />
und mit der Kirche nicht verbundene<br />
Turm erst zu diesem Zeitpunkt ausgeführt<br />
wurde. Bei dem Neubau handelte<br />
es sich auch um eine Erweiterung zum<br />
Glockenturm. Die Glocken selbst wurden<br />
erst nach 1460 aufgehängt, die mittlere<br />
von ihnen trägt diese Jahreszahl. Über<br />
die Inschriften gibt es verschiedene Angaben.<br />
Da die Glocken mehrmals sprangen<br />
und umgegossen wurden, kann am<br />
Ende sicher Pfarrer Johannes Schneider<br />
gefolgt werden, der bei der Herausgabe<br />
und Vernichtung der Glocken im 1.<br />
Weltkrieg in Deutsch-Ossig amtierte.<br />
Demnach lauteten die Inschriften:<br />
Große Glocke - Vivos voco, mortuos<br />
plango, fulgura frango (Die Lebenden<br />
rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze<br />
breche ich); Mittlere Glocke - O Rex<br />
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40<br />
Geschichte |
Deutsch-Ossig<br />
Gloriae, veni cum pace (O König<br />
der Ehren, komm mit Frieden)<br />
Maria beroth (Maria, berate uns)<br />
1460; Kleine Glocke - wie mittlere,<br />
dazu die abgekürzten Namen<br />
der Evangelisten Johannes und<br />
Lukas. Die Inschrift der kleinen<br />
Glocke ist die ursprüngliche.<br />
1518 ist der Bau einer Mauer um<br />
den Kirchhof vermerkt. Sie hatte<br />
einen Nord- und einen Südausgang.<br />
Auch hier dürfte es sich um<br />
einen Erweiterungsbau gehandelt<br />
haben. Es entspricht nicht<br />
dem Charakter der Deutsch-<br />
Ossiger Anlage, dass sie unbefestigt<br />
gewesen ist. Auch sind<br />
Reste einer Doppelmauer nach<br />
Osten einschließlich einer kleinen<br />
Ausfalltür im inneren Ring<br />
und versetzt einer etwas größeren<br />
im äußeren erkennbar. Daran<br />
schloß sich das sogenannte<br />
Vorwerk (Mittel-Deutsch-Ossig<br />
II) an. Der neue Mauerbau ist<br />
auch ausschließlich für die Kirche<br />
vermerkt.<br />
Altar der Hoffnungskirche Königshufen (früher Deutsch-Ossig)<br />
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Geschichte |<br />
41
Die Kirche<br />
Kirche<br />
vor 1715<br />
vor 1715<br />
schnitzereien versehen.<br />
Die erste Orgel erhielt<br />
die Kirche<br />
1699, im gleichen<br />
Jahr wurde sie von<br />
Grund auf renoviert<br />
und die bis dahin<br />
fehlenden Emporen,<br />
die mit Bildern<br />
aus der biblischen<br />
Geschichte<br />
geschmückt waren,<br />
ergänzt.<br />
Ein neues Kapitel<br />
in der Geschichte<br />
der Deutsch-Ossiger<br />
Tauf-Engel Hoffnungskirche<br />
Kirche wurde<br />
Der freie Raum zwischen Kirche und<br />
Turm wurde 1508 geschlossen, der Turm<br />
nunmehr in die Kirche eingebunden. Die<br />
Kirche hatte sieben kleine schmale Fenster<br />
und zwei Türen gegen Süden. Unter<br />
Caspar Exner wurde die Kirche 1678<br />
nach Norden hin in der Breite erweitert.<br />
Im gleichen Jahr wurde auch der Altar<br />
erneuert und mit Blindflügeln und Holz-<br />
mit ihrer gänzlichen Erneuerung aufgeschlagen.<br />
Anno 1715 wurde im Namen<br />
der minderjährigen Erben des Herrn<br />
Tobias Martin Trautner, weiland Erbsassen<br />
auf Nieder-Deutsch-Ossig, der<br />
Kirchenneubau beschlossen. Herr Christian<br />
Schäffer, wohlangesehener Bürger<br />
in Görlitz, ließ den Grund graben, den<br />
ersten Grundstein am 16. Juni legen<br />
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42<br />
Geschichte |
Deutsch-Ossig<br />
Erb- und Lehnsherr<br />
wie auch wohlverdienter<br />
Scabinus<br />
und Curator der<br />
Hauptkirche St. Peter<br />
und Paul in Görlitz,<br />
über. Dieser ließ<br />
sowohl in diesem<br />
als auch dem folgenden<br />
Jahre 1717<br />
innen die Kirchstände<br />
und Chöre, den<br />
Altar und die Kanzel,<br />
Beichtstuhl und<br />
Taufengel verfertigen.<br />
Endlich übernahm<br />
die letzte Bausorge<br />
Hoffnungskirche, Ostseite<br />
Herr Johann Friedrich<br />
Junge auf Ober-Deutsch-Ossig<br />
und Köslitz wie auch hochverdienter<br />
Stadtrichter und Handelsherr in Zittau.<br />
und so fortfahren, dass noch in diesem<br />
Jahr das Mauerwerk nebst den sieben<br />
Flügelmauern fertig wurde. Anno 1716<br />
übernahm die Fortsetzung des Baues<br />
Herr Tobias Engelmann, Erbsasse auf<br />
Deutsch-Ossig wie auch Bürgermeister<br />
und Handelsmann in Bernstadt. Von<br />
diesem ging die fernere Bausorge in die<br />
Hände von Herrn D. Balthasar Dietrich,<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
Dieter Liebig, Volker Richter, Zusammengestellt<br />
durch Dr. Ingrid Oertel<br />
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Geschichte |<br />
43
Görlitzer<br />
Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr<br />
<strong>Dezember</strong> 1978: Das Ende der WUMAG-<br />
Triebwagen im regulären Linieneinsatz<br />
Im <strong>Dezember</strong> 1978 - also vor exakt<br />
dreißig Jahren - endete der reguläre<br />
Einsatz der WUMAG- Triebwagen im<br />
Görlitzer Linienverkehr<br />
nach<br />
fast 53 Jahren.<br />
Wie kein anderer<br />
Straßenbahntyp<br />
haben sie<br />
über viele Jahre<br />
das Görlitzer<br />
Straßenbild entscheidend<br />
mitgeprägt.<br />
1963<br />
beginnend reduzierte<br />
sich deren<br />
Zahl von<br />
einst sechzehn<br />
ab 1977 nur noch einer. Besonders der<br />
Einsatz mit den deutlich über vierzig<br />
Jahre jüngeren Rekofahrzeugen ab Februar<br />
1974 wirkte recht seltsam, aber<br />
der Betrieb konnte noch nicht völlig auf<br />
die hochbetagten Oldtimer verzichten.<br />
allmählich, bis<br />
1975 nur noch<br />
vier von ihnen<br />
23II, 25II, 35II, <strong>Dezember</strong> 1978<br />
im Linieneinsatz verblieben waren. Noch Die Einheitszweiachser der LOWA- und<br />
1976 mußten nicht selten zwei oder drei Gothabauart hatten inzwischen auch<br />
Umläufe von ihnen bestritten werden, ein recht hohes Alter erreicht und wa-<br />
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44<br />
Geschichte |
Görlitzer<br />
Das Ende der WUMAG-<br />
Stadtverkehr<br />
Triebwagen<br />
planmäßigen Linieneinsatz zurückkehrte,<br />
kam es nach einer Absprache zwischen<br />
dem langjährigen Betriebsleiter,<br />
Herrn Bindig, sowie Herrn Blasius und<br />
dem Autor am 27.12.1978 zu einer Besichtigung<br />
der verbliebenen Triebwagen<br />
Nr.23(II), 25(II)<br />
und 35(II) im<br />
Beisein eines<br />
Mitarbeiters der<br />
Werkstatt. An<br />
diesem Tag erfolgte<br />
die endgültige<br />
Auswahl<br />
des zu erhaltenden<br />
Oldtimers.<br />
Der Termin wurde<br />
auch für ein<br />
Shooting genutzt,<br />
wenngleich unter<br />
ren dadurch sehr störanfällig. Aus heutiger<br />
Sicht ist es ganz sicher ein Segen,<br />
dass die anstehende Außerdienststellung<br />
immer wieder verschoben werden<br />
musste. Wahrscheinlich wäre der<br />
historische Triebwagen 23(II) nicht er-<br />
denkbar schwierigen<br />
Lichtverhältnissen.<br />
Hier<br />
28II, Sommer 1976 an der Landeskrone<br />
gelang es, alle<br />
halten geblieben. Nachdem am Beginn Fahrzeuge verschieden zu beschildern<br />
der zweiten <strong>Dezember</strong>woche 1978 letztmalig<br />
ein WUMAG – Triebwagen vom aufzustellen. Noch fast zehn Jahre<br />
und in der Reihenfolge ihrer Nummern<br />
ver-<br />
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Geschichte |<br />
45
Görlitzer<br />
Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr<br />
gingen seitdem,<br />
bis das Unternehmen<br />
völlig<br />
auf die formschönen<br />
Straßenbahnen<br />
auch im innerbetrieblichen<br />
Einsatz verzichten<br />
konnte. Immerhin<br />
dienten<br />
ab 1967 sechs<br />
von ihnen als<br />
Arbeitswagen<br />
in unterschiedlichen<br />
Verwendungen,<br />
von denen<br />
1978 noch<br />
vier zum Einsatz<br />
kamen. Wir werden den WUMAG – heute jeweils ein Vertreter in Görlitz und<br />
Atw. 103II und 104II im Juli 1978<br />
Triebwagen sicher auch in anderen Folgen<br />
zu verschiedenen Themen wieder<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
in Cottbus.<br />
begegnen. An ihre große Zeit erinnern Andreas Riedel, Wiesbaden<br />
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46<br />
Geschichte |
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