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Working Paper - Institut für Politikwissenschaft - Technische ...

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<strong>Working</strong> <strong>Paper</strong><br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong><br />

Nr. 12 / 2008<br />

„Die Linkspartei als Herausforderung <strong>für</strong> die deutsche Politik - Zwei Analysen“<br />

Michael Haus & Michael Stoiber


Michael Haus & Michael Stoiber<br />

„Die Linkspartei als Herausforderung <strong>für</strong> die deutsche Politik - Zwei Analysen“<br />

<strong>Working</strong> <strong>Paper</strong> Nr. 12 / 2008<br />

<strong>Technische</strong> Universität Darmstadt<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong><br />

Michael Haus ist wissenschaftlicher Assistent, Michael Stoiber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong> der <strong>Technische</strong>n Universität Darmstadt.<br />

Vorwort<br />

Mit dem Einzug der PDS/Linkspartei in den Bundestag 2005 und ihrer Fusion mit der Wahlalternative<br />

Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) ist die deutsche Parteienlandschaft, ja das Machtgefüge des<br />

politischen Systems insgesamt beträchtlich in Bewegung geraten. Die Frage, wie es zu dieser weiteren<br />

Fragmentierung des Parteiensystems kommen konnte, das sich über die Jahrzehnte bundesrepublikanischer<br />

Geschichte als relativ stabil gezeigt hatte, und welche Konsequenzen sich aus der von vielen<br />

nicht erwarteten Etablierung einer bundesweiten Alternative links von SPD und Bündnis 90/GRÜNE<br />

ergeben, bewegt nicht nur in Deutschland die politischen Gemüter. Auch in China interessieren sich<br />

zumindest akademische Kreise <strong>für</strong> dieses Phänomen. Dies konnten die Autoren der beiden hier vorgelegten<br />

<strong>Working</strong> <strong>Paper</strong>s erfahren, als sie im Abstand von einem Jahr zu einer Vortragsreihe nach<br />

Shanghai eingeladen wurden. Einer der Vorträge behandelte jeweils - auf Wunsch der chinesischen<br />

Gastgeber am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandstudien der Tongji-Universität - die Entwicklung und Bedeutung<br />

der "Linken" <strong>für</strong> die deutsche Politik. Wir bedanken uns an dieser Stelle noch einmal herzlich bei Dr.<br />

Chunrong Zheng vom <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandstudien und der Friedrich Ebert Stiftung <strong>für</strong> die Einladung<br />

nach Shanghai.<br />

1


1. „Die Linke“ in Deutschland – eine politische Partei mit Sprengkraft? 1<br />

1.1 Einleitende Bemerkungen<br />

Michael Haus<br />

Der Einzug der mit dem Zusatz „Linkspartei“ angetretenen PDS in den Bundestag bei den Wahlen<br />

2005 und ihre Überführung in eine neue Partei, „Die Linke“, knapp zwei Jahre danach können als<br />

wichtige Etappe einer bedeutenden Veränderung des Parteiensystems in Deutschland betrachtet werden.<br />

Mit fünf Fraktionen im Bundestag und einer nachlassenden politischen Integrationsfähigkeit der<br />

beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD hat sich das gemäßigte Mehrparteiensystemen zu einem<br />

stärker polarisierten und fragmentierten Parteiensystem entwickelt. Mit dem Einzug der GRÜNEN in<br />

den Bundestag 1983 war es zum ersten Mal gelungen, eine weitere Partei auf Bundesebene zu etablieren.<br />

Es war nicht zuletzt der Zusammenschluss mit dem aus der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung<br />

hervorgegangen Bündnis 90, welcher es den GRÜNEN ermöglichte, die Existenzkrise nach der deutschen<br />

Vereinigung zu überwinden. Mit der aus der Sozialistischen Einheitspartei (SED) hervorgegangen<br />

Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zog 1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl<br />

eine weitere Partei ins Parlament ein. Auch im Hinblick auf ihr Schicksal spielt das Zusammenspiel<br />

zwischen ostdeutscher und westdeutscher Parteienlandschaft eine zentrale Rolle. Die<br />

PDS hatte faktisch den Status einer auf Ostdeutschland beschränkten regionalen, ja regionalistischen<br />

Partei (vgl. Koß 2007: 118 mit weiteren Verweisen). Das heißt: Sie war nur auf dem Gebiet der ehemaligen<br />

DDR politisch erfolgreich, und sie zehrte thematisch stark von der Wahrnehmung und Thematisierung<br />

des Gegensatzes zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Hinblick auf letzteres wurden gar<br />

Vergleiche mit der Partei der Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen, der nach anfänglichen<br />

Erfolgen ein schnelles Ende bereitet war, als die soziale und ökonomische Integration der<br />

Heimatvertriebenen erreicht worden war. Doch nach erfolgreicher Wahlkooperation mit der neu gegründeten<br />

Partei „Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG), die ihrerseits in<br />

Westdeutschland ihren Schwerpunkt hatte, und anschließender Fusionierung muss diese Prognose als<br />

vorerst widerlegt betrachtet werden.<br />

„Die Linke“ ist heute eine Partei, deren Unterstützer bzw. Mitglieder in mancher Hinsicht sozial repräsentativer<br />

<strong>für</strong> die deutsche Bevölkerung sind als die aller anderen relevanten Parteien; und sie hat mit<br />

der Kritik an den Reformen der Regierung Schröder, v. a. der „Agenda 2010“, die im Kern von allen<br />

Fraktionen im Bundestag mitgetragen wurden, auch ein von regionalen Bezügen losgelöstes inhaltliches<br />

Profil gewonnen, welches auch im alten Bundesgebiet auf Resonanz stößt. Mit dem „Neoliberalismus“<br />

kann sie auf ein allgemeines Feindbild rekurrieren, welches von globalisierungskritischen Bewegungen<br />

mitgetragen wird und in der öffentlichen Meinung negativ besetzt ist. Die Linke hat damit<br />

in mehrfacher Hinsicht vermeintliche Gewissheiten und feste Lager des politischen Lebens in Deutschland<br />

aufgesprengt. Sie hat insbesondere in Hessen zu erheblichen Turbulenzen beim Versuch der Umsetzung<br />

von Wahlergebnissen in Regierungskonstellationen beigetragen und damit auch die gesamte<br />

SPD in eine Führungskrise gestürzt. Ob sie wirklich eine Partei mit „politischer Sprengkraft“ ist, wird<br />

sich allerdings darin erweisen müssen, dass sie die Machtverhältnisse der deutschen Politik im Hinblick<br />

1 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines gleichnamigen, auf chinesisch verfassten Beitrags <strong>für</strong> die Zeitschrift<br />

Deutschland-Studien, Nr. 1/2008, S. 20-28. Er geht zurück auf einen Vortrag am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandstudien<br />

an der Tongji-Universität Shanghai am 11.10.2007.<br />

2


auf Entscheidungsprozesse neu zu sortieren vermag. Da<strong>für</strong> ist aber auch entscheidend, inwiefern die<br />

inhaltliche Gestaltung der Politik durch sie eine neue Ausrichtung erfahren wird.<br />

Im Folgenden sollen zunächst Gründung und bisherige Erfolge bzw. Misserfolge der Linkspartei zusammenfassend<br />

dargestellt werden. Anschließend soll ein umfassender politikwissenschaftlicher Erklärungsansatz<br />

des Erfolges der Partei, das Argument der Existenz einer spezifischen „Gelegenheitsstruktur“,<br />

vorgestellt und kritisch diskutiert werden. In einem nächsten Schritt soll die Frage nach der inhaltlich-programmatischen<br />

Profilierung und der kollektiven Identität der neuen Partei aufgeworfen<br />

werden. Zum Schluss sollen verschiedene Aspekte in der Frage nach der „Sprengkraft“ der Linkspartei<br />

unterschieden und adressiert werden. Insgesamt hat es den Anschein, dass die Erfolge der Linken die<br />

etablierten Politikmuster ins Wanken gebracht haben, ohne dass dies mit einer Stärkung linker Reformziele<br />

einhergehen müsste. Möglicherweise ist gerade das Gegenteil der Fall.<br />

1.2 Zur Gründungsgeschichte der Linkspartei – Schritte zu einer unwahrscheinlichen<br />

Kooperation<br />

Am 16. Juni 2007 wurde mit dem bereits erwähnten Zusammenschluss der beiden Parteien Linkspartei.PDS<br />

und WASG „Die Linke“ gegründet. Vorsitzende dieser neuen Partei sind bis heute Lothar Bisky<br />

(ehemals PDS) und Oskar Lafontaine, der bis 2005 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

(SPD) angehört und zeitgleich mit der Unterstützung <strong>für</strong> das Wahlbündnis der beiden Parteien seinen<br />

Austritt aus der SPD und Eintritt in die WASG angekündigt hatte. Im Rahmen dieses Wahlbündnisses<br />

hatten die beiden Parteien bereits bei der Bundestagswahl 2005 kooperiert, indem die Linkspartei.PDS<br />

ihre Listen <strong>für</strong> Kandidaten aus der WASG öffnete. Sie erreichte dabei 8,7 %. Die daraus hervorgegangene<br />

Fraktion im Bundestag nennt sich ebenfalls „Die Linke“.<br />

Wie kam es zur Gründung der Partei? Zunächst empfiehlt sich an dieser Stelle ein kurzer Rückblick auf<br />

die Vorgeschichte der beiden ungleichen Partner. Beginnt man mit der PDS, so fängt dieser Rückblick<br />

am besten mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR an. Die in der Nachfolge der SED<br />

stehende, nun mit anderen um Wählerstimme konkurrierende, Partei entschied sich in der Folgezeit<br />

wiederholt <strong>für</strong> die Änderung ihres Namens, um den Willen zum Wandel auch deutlich zu machen. Im<br />

Februar 1990 nannte sie sich schließlich nur noch „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS). Bei<br />

der ersten Bundestagswahl nach der Vereinigung im Dezember 1990 konnte die PDS nur aufgrund der<br />

Besonderheit einer jeweils <strong>für</strong> das Gebiet der alten und der neuen Bundesländer getrennt geltenden<br />

Fünf-Prozent-Klausel ins Parlament einziehen, da sie in Ostdeutschland die Überwindung der Sperrklausel<br />

schaffte. 1994 hingegen war sie nur aufgrund dreier Direktmandate im Bundestag vertreten 2 ,<br />

1998 gelang ihr mit 5,1 % äußerst knapp der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde, während sie 2002<br />

mit nur 4,0 % deutlich an ihr scheiterte und nur zwei Direktmandate gewinnen konnte. Damit konnte<br />

sie im Bundestag keine Fraktion mehr stellen.<br />

Von einer triumphalen Wahlgeschichte der PDS kann also keine Rede sein, eher von einem unablässigen<br />

Überlebenskampf mit fraglicher Erfolgsaussicht. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in<br />

Ostdeutschland waren alle linken Kräfte und Ideen in eine fundamentale Krise geraten. Trotz des nur<br />

knappen Einzugs der PDS war der politischen Linken dann bereits 1998 allerdings insofern ein historischer<br />

Erfolg beschieden, als es erstmals im Nachkriegsdeutschland möglich wurde, auf Bundesebene<br />

eine politische Mehrheit ohne die Beteiligung „bürgerlicher“ Parteien zu bilden (Dürr 2002: 7). An<br />

2 Wenn eine Partei an der Sperrklausel scheitert, kann sie trotzdem gemäß ihrem Zweitstimmenanteil in den<br />

Bundestag einziehen, wenn sie (über die Erststimme) mindestens drei Direktmandate erreicht hat.<br />

3


dieser war die PDS nicht beteiligt, SPD und GRÜNEN konnten allein die Regierung bilden. Der PDS<br />

gelang der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde nur aufgrund ihrer Erfolge im Osten. Dies bestätigte<br />

den Eindruck, dass die Partei zusammen mit der Generation der ehemaligen DDR-Bediensteten als<br />

wichtigsten System-Nutznießern aussterben würde, während zugleich das politische System durch die<br />

erstmalige Abwahl einer amtierenden Regierung und deren Ersetzung durch eine deutlich anders gefärbte<br />

Mehrheit endgültig seine Reifeprüfung bestanden zu haben schien. Die SPD unter Gerhard<br />

Schröder konnte sich in der Öffnung <strong>für</strong> die „neue Mitte“ zunächst bestätigt sehen, auch wenn sich<br />

bald innerparteiliche Risse zeigten (Rücktritt Lafontaines als Finanzminister).<br />

Allerdings ist zu vermerken, dass die PDS bereits 1998 einen bedeutsamen, wenn auch der Öffentlichkeit<br />

verborgenen, Wandel ihrer Wählerbasis innerhalb Ostdeutschlands durchgemacht hatte. Wurde sie<br />

1990 klar als Partei eines Milieus gleichsam ohne Zukunft gewählt, so konnte das Jahr 1998 festgestellt<br />

werden, dass sie „in den neuen Bundesländern topographisch und sozial mehr Mitte als jede andere<br />

Partei“ sei (Walter 2007a: 328). „Mehr Mitte“ ist in dieser Einschätzung natürlich als beißende<br />

Ironie gegenüber der politischen Rhetorik der Volksparteien zu verstehen, welche sich beständig darum<br />

streiten, wer zu Recht den Platz in der ‘politische Mitte’ <strong>für</strong> sich beanspruchen könne. Gemeint ist<br />

mit Blick auf die ostdeutsche PDS die Widerspiegelung gesellschaftlicher Gruppen in der Wählerschaft,<br />

also kein auf die „Mitte“ zwischen „links“ und „rechts“ gerichtetes Programm. Die PDS war Mitte, die<br />

anderen Parteien redeten über sie. Mit dieser Repräsentativität überholte die PDS jedoch nicht nur die<br />

Volksparteien der Bundesrepublik, sondern – auch in dieser Einschätzung ist die süffisante Ironie deutlich<br />

zu spüren – auch frühere kommunistische Parteien: „In einer gewissen Weise war die PDS das, was<br />

die KPD in der Weimarer Republik gern sein wollte, ohne es jemals geschafft zu haben: Eine Partei mit<br />

gut ausgebildeten, z. T. intellektuellen Kadern, die Zulauf bei den Opfern des Kapitalismus fand und<br />

doch zugleich im Zentrum der Gesellschaft stand“ (ebd.: 329). Nichtsdestotrotz: Im Jahr 2002 kam,<br />

wie bereits erwähnt, der große Rückschlag. Die PDS war über den ostdeutschen Raum hinaus im politischen<br />

Wettbewerb chancenlos geblieben; und in Ostdeutschland haben ihr offensichtlich Regierungsbeteiligungen<br />

in den Ländern bei nachfolgenden Wahlen geschadet, weil sie die Glaubwürdigkeit der<br />

Protesthaltung untergruben (vgl. die Zahlen ebd.: 333).<br />

Der zweite Partner des Zusammenschlusses, die WASG, weist eine sehr viel kürzere, vom Überschlagen<br />

der Ereignisse gekennzeichnete Vorgeschichte auf. Im Jahr 2004 wurde sie zunächst als Verein aufgebaut,<br />

wobei regierungskritische SPD-Mitglieder und Gewerkschafter eine führende Rolle spielten. Sie<br />

richteten sich gegen die „Agenda“-Politik von Bundeskanzler Schröder, vor allem die Reform der Arbeitslosenversicherung,<br />

die eine verkürzte Bezugsdauer von Versicherungsleistungen und diverse Zumutungen<br />

<strong>für</strong> Arbeitslose beinhaltete. Im Januar 2005 erfolgte dann die Gründung als Partei, die im<br />

Mai 2005 erstmals bei einer Landtagswahl antrat und in Nordrhein-Westfalen 2,2 % der Stimmen holte.<br />

Während dieses Ergebnis absolut betrachtet als nicht sonderlich hoch erscheint, hatte es doch eminente<br />

politische Konsequenzen und eine hohe Signalwirkung: Rot-Grün verlor dadurch die Mehrheit<br />

im größten Bundesland und zugleich die letzte Landesregierung dieser Färbung. Unter dem Eindruck<br />

dieser Machtverschiebung kündigte Kanzler Schröder Neuwahlen an. Über die Motive wie auch den<br />

Sinn dieser Entscheidung streitet man bis heute. 2006 zeigte sich (zumindest beim Blick auf Arbeitslosenquoten<br />

und Beschäftigung) erstmals eine deutliche Besserung auf dem Arbeitsmarkt, so dass Schröder<br />

und die SPD bei der eigentlich <strong>für</strong> den Herbst dieses Jahres vorgesehenen Wahl möglicherweise<br />

Aussicht auf eine erste kleine Ernte der Früchte des Reformwerks hätte einfahren können.<br />

Im Rahmen der deutschen Verfassung waren Neuwahlen nur über eine (absichtlich) verlorene Vertrauensfrage<br />

möglich, was weitere Konflikte und Ansehensverluste <strong>für</strong> die Regierung zur Folge hatte.<br />

Es kam zu weiteren Kettenreaktionen: Noch während des Landtagswahlkampfes in Nordrhein-<br />

Westfalen lehnte die Führung der WASG eine Kooperation mit der PDS ab. Schröders Ankündigung<br />

4


von Neuwahlen veränderte jedoch die Situation. Mit Oscar Lafontaine, dem früheren SPD-<br />

Vorsitzenden, der bereits 1999 nach etwas über sechs Monaten als Finanzminister aus der Regierung<br />

Schröder ausgeschieden war, schaltete sich eine Person mit hoher Öffentlichkeitswirksamkeit in die<br />

Diskussion ein und warb <strong>für</strong> eine von ihm und Gregor Gysi (PDS) geführte Wahlallianz. Damit bewies<br />

der erfahrene Lafontaine offensichtlich Instinkt <strong>für</strong> den rechten politischen Augenblick und setzte sich<br />

an die Spitze des gerade abfahrenden Zuges. Im Juni 2005 kam es zur Einigung von PDS und WASG<br />

auf das Wahlbündnis. Im Juli 2005 benannte sich die PDS absprachegemäß in „Linkspartei.PDS“ um<br />

und öffnete ihre Wahllisten <strong>für</strong> WASG-Mitglieder. Die Vorsitzenden Lothar Bisky und Klaus Ernst kündigen<br />

an, eine Vereinigung forcieren zu wollen. Das Sensationsergebnis von 8,7 % bei den Bundestagswahlen<br />

im September 2005 gab dieser Initiative neuen Treibstoff. Schließlich wurden auf dem<br />

WASG-Parteitag in Dortmund am 24. und 25. März 2007 die Gründungsdokumente <strong>für</strong> die zukünftige<br />

gemeinsame Partei verabschiedet, d.h. die „Programmatischen Eckpunkte“, die Satzung und diverse<br />

Ordnungen sowie der Verschmelzungsvertrag. Letzterer erhielt die Zustimmung von 87,7 % der Delegierten.<br />

Angesichts zahlreicher Widerstände in den Parteien sowie erheblicher Unwägbarkeiten in der Abstimmung<br />

der Fusion, waren es die (gemeinsamen) Erfolge aber auch (getrennt erlittenen) Misserfolge bei<br />

Wahlen, welche eine klare Botschaft sprachen: Nur zusammen war man stark. Diese Einsicht konnten<br />

sich die „Techniker der ‘kalten Fusion’“ (Lorenz 2007) zunutze machen. Sie wurde durch die Landtagswahlen<br />

in Hessen und Niedersachsen im Januar 2008 eindrucksvoll bestätigt (Einzug in beide Parlamente).<br />

1.3 Zur Erklärung des Wahlerfolgs der Linkspartei: die These der Repräsentationslücke<br />

und der Ansatz der politischen Gelegenheitsstruktur<br />

Wie ist der bisherige Erfolg der Linken zu erklären? – Nachtwey und Spier (2007) verweisen da<strong>für</strong> auf<br />

eine besondere „politische Gelegenheitsstruktur“ (zum Konzept vgl. Tarrow 1991) und weisen in diesem<br />

Zusammenhang dem Phänomen der „Repräsentationslücke“ eine besondere Rolle zu. Dabei können<br />

vier Erklärungsebenen unterschieden werden, die zusammen ein erweitertes Modell des politischen<br />

Marktes von Nachfrage und Angebot bilden:<br />

a) Auf der Ebene der gesellschaftlichen Nachfrage zeige sich bei Umfragen, dass insbesondere die Arbeiterschaft<br />

und die Arbeitslosen, darüber hinaus aber auch weite Teile der deutschen Bevölkerung die<br />

staatliche Absicherung von Risiken und Beförderung von „sozialer Gerechtigkeit“ verlangen. Die befragte<br />

Meinung – weniger die „öffentliche Meinung“ der Medienwelt – unterstütze eher eine Ausweitung<br />

des Staatshandelns statt dessen Rückführung. Statistiken zeigten zudem, dass die Wahlunterstützung<br />

<strong>für</strong> die SPD bei Arbeitern und zu Arbeitslosen seit den 1980er Jahren zunehmend erodiert ist –<br />

was parteientheoretisch durch den Begriff des „dealignment“ gekennzeichnet werden könne (Nachtwey/Spier<br />

2007: 22, 30).<br />

b) Hinsichtlich des politischen Angebots sei festzustellen, dass die genannten politischen Erwartungen<br />

von der SPD wie auch den anderen Parteien im Bundestag nicht mehr bedient worden seien. Der Parteienwettbewerb<br />

habe sich insgesamt in Richtung wirtschaftsliberaler Positionen als Gravitationszentrum<br />

verschoben, und die SPD habe sich von einer „marktskeptische[n] keynesianischkorporatistische[n]<br />

Sozialdemokratie“ zu einer „marktaffine[n] Sozialdemokratie des Dritten Weges“<br />

entwickelt (Nachtwey/Spier 2007: 37).<br />

c) Eine weitere Erklärungsebene ist die des institutionellen Kontextes. So ging etwa aufgrundder Eigenheiten<br />

des bundesdeutschen Wahlsystems von der durch die absichtlich gescheiterte Vertrauensfrage<br />

5


edingten vorgezogenen Bundestagswahl ein starker Kooperationsdruck aus. Die Öffnung der Liste der<br />

PDS <strong>für</strong> Mitglieder der WASG war die einzige Möglichkeit einer solchen Kooperation, mit der Folge,<br />

dass der „Eindruck einer bereits vereinigten Partei“ (Nachtwey/Spier 2007: 58) entstand. Auch die<br />

Modi der Parteienfinanzierung (Wahlkampfkostenerstattung) setzten Anreize <strong>für</strong> eine baldige Fusion,<br />

da die WASG ansonsten nicht vom Erfolg „ihrer“ Mandate profitieren hätte können.<br />

d) Schließlich muss das diese Situation in spezifischer Weise nutzende Akteurshandeln berücksichtigt<br />

werden. Die Gewerkschaften können hier als Schlüsselakteure aufgefasst werden. Im Zuge einer langjährigen<br />

Entfremdung von der Sozialdemokratischen Partei sei aufflammender Protest gegen die Modernisierungspolitik<br />

der Regierung Schröder von den Gewerkschaften toleriert oder sogar gefördert<br />

worden. Bei der Gründung der WASG spielten gut organisierte, über Kontaktnetzwerke und politische<br />

Erfahrung verfügende Gewerkschafter eine entscheidende Rolle. Die immer neuen Wahlniederlagen<br />

der SPD bei den Landtagswahlen 2003 und 2004 waren außerdem auch <strong>für</strong> SPD-Politiker ein Anlass,<br />

mit der neuen Partei links von der SPD zu liebäugeln.<br />

Wie ist dieses Argument der politischen Gelegenheitsstruktur und insbesondere das der Repräsentationslücke<br />

einzuschätzen? Ganz allgemein kann zunächst festgehalten werden, dass es wohl immer eine<br />

spezifische „Gelegenheitsstruktur“ geben muss, wenn Handlungsstrategien ein Erfolg beschieden ist,<br />

der ihnen üblicherweise versagt bleibt. Der interessante Punkt liegt eher in der Bedeutung bestimmter<br />

Momente einer solchen Struktur, ihrer Eindeutigkeit oder Offenheit im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen<br />

und die darauf gerichteten Versuche, Politik zu deuten. Politik ist immer ein Testen von<br />

Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit über kausale Zusammenhänge (Luhmann<br />

2000). Dabei spielen „frames“, also strategisch eingesetzte Deutungsangebote politischer Entscheidungen,<br />

und der Versuch ihrer Änderung („reframing“) eine wichtige Rolle (vgl. Rein/Schön 1993). Die<br />

Tatsache, dass das Erlangen von Regierungsämtern von geringen Verschiebungen in der prozentualen<br />

Verteilung von Stimmenanteilen und dies wiederum von Faktoren wie Wahlbeteiligung oder der antizipierten<br />

Wirkung von Sperrklauseln abhängen kann, macht zusätzlich deutlich, dass der strategischen<br />

Kalkulation entlang durchschaubarer Ursache-Wirkungs-Beziehungen prinzipielle Schranken gesetzt<br />

sind. Hinter dem wissenschaftlichen Konzept der „Gelegenheitsstruktur“ verbirgt sich die interessantere<br />

Frage, wie Erfolg der Linkspartei und Krise der SPD „erzählt“ werden können (vgl. Bevir/Rhodes<br />

2002) und welches Bild dies auf die beteiligten Akteure wirft.<br />

Mit Blick auf die Ergebnisse von Wahlanalysen ist wohl unbestreitbar, dass „die Linkspartei bei der<br />

Bundestagswahl 2005 Wähler angesprochen [hat], die ihre politischen Positionen nicht gewechselt,<br />

aber ihre Bindung an die SPD aufgegeben haben“ (Nachtwey/Spier 2007: 14). Dieser Befund wird<br />

gerne dahingehend pointiert, dass die Linkspartei „metaphorisch gesprochen, ‘Fleisch vom Fleische der<br />

Sozialdemokratie‘“ darstellt (ebd.). Insgesamt hat die Linkspartei 4,1 Mio. Zweitstimmen bekommen. 3<br />

Dabei gewann sie knapp eine Millionen Stimmen netto von der SPD; allerdings erhielt sie auch<br />

430.000 von vorherigen Nichtwählern (Hilmer/Müller-Hilmer 2006: 202f.). Schoen und Falter sprechen<br />

davon, dass die Linkspartei in den alten Ländern, von der parteipolitischen Herkunft ihrer Wählerschaft<br />

her betrachtet, „wie eine Ausgründung der SPD [erscheint], was mit der Entstehungsgeschichte<br />

der WASG und deren Selbstverständnis als Bewahrerin ‘echter’ sozialdemokratischer Politik<br />

durchaus in Einklang steht“ (Schoen/Falter 2005: 37). Allerdings macht die Begrenzung dieser zugespitzten<br />

Aussage auf die alten Bundesländer bereits deutlich, dass die Erzählung von der Linkspartei<br />

als Reinkarnation bzw. Klon der SPD mit Vorsicht zu genießen ist.<br />

3 Siehe http://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahl2005/ergebnisse/bundesergebnisse/b_tabelle_99.html.<br />

In Deutschland entscheidend bekanntlich der Zweitstimmenanteil über die Stärke der Fraktionen im Parlament.<br />

6


Dass Vorsicht geboten ist und die These der Repräsentationslücke möglicherweise eine zentrale Erklärungslücke<br />

aufweist, wird auch deutlich, wenn man sich noch einmal genauer die Befunde zu dem als<br />

Untermauerung der These angeführten „Wohlfahrtsstaatskonsens“ ansieht. In der Tat ist der allgemeine<br />

Konsens hinsichtlich der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates überwältigend. In Westdeutschland<br />

waren 2004 73,9 % der Bevölkerung der Meinung, dass die sozialen Leistungen des Staates so bleiben<br />

sollten, wie sie sind oder gar noch ausgeweitet werden sollten; in Ostdeutschland stimmten sogar 89,6<br />

% diesen Aussagen zu (Nachtwey/Spier 2007: 34). Allerdings muss bedacht werden, dass keineswegs<br />

alle, die sich angesichts des angeblichen neoliberalen Elitenkonsenses nicht mehr repräsentiert fühlen<br />

müssten, <strong>für</strong> die Linkspartei gestimmt haben. Das Argument der Repräsentationslücke verweist angesichts<br />

dessen insbesondere auf Arbeiter und Arbeitslose als Stammwählerschaft der SPD, die an die<br />

PDS übergegangen sei. Hierzu kann jedoch festgehalten werden, dass in Westdeutschland 2005 immer<br />

noch 55 % der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter <strong>für</strong> die SPD stimmten und nur 10 % <strong>für</strong> die<br />

PDS. Im Osten lagen die Zahlen zwar nahezu gleichauf (32 % <strong>für</strong> die SPD, 31 % <strong>für</strong> die Linkspartei);<br />

dies galt allerdings tendenziell auch <strong>für</strong> den Anteil in allen anderen Bevölkerungsgruppen (30,4 <strong>für</strong> die<br />

SPD, 25,3 % <strong>für</strong> die Linkspartei) (vgl. ebd.: 22). Schaut man als Nächstes auf die zeitliche Veränderung<br />

der Wahlergebnisse, so ergibt sich, dass die Linkspartei von 2002 auf 2005 ihr Ergebnis bei den<br />

gewerkschaftlich organisierten Arbeitern in West und Ost in etwa verdreifachte. Jedoch hat die SPD<br />

zwischen 2002 und 2005 nur in Ostdeutschland bei den gewerkschaftlich organisierten wie auch bei<br />

den unorganisierten Arbeitern deutlich verloren (von 57 auf 32 % bzw. 41 auf 26 %).<br />

Fasst man diese Befunde zusammen, so zeigt sich, dass der Einbruch der SPD bei den Arbeitern in erster<br />

Linie ein ostdeutsches Phänomen war. Im Westen wich er nicht vom allgemeinen Muster ab. In Ostdeutschland<br />

zeigen gerade die Wähler aus der Arbeiterschaft ein extrem instabiles Wählerverhalten,<br />

was sich sowohl bei den Ergebnissen der SPD als auch der Linkspartei bemerkbar macht. Im Vergleich<br />

der Jahre 1998, 2002 und 2005 zeigen sich zudem <strong>für</strong> Ost- und Westdeutschland ganz unterschiedliche<br />

Muster der Unterstützung der SPD. Bei den Arbeitslosen hatte die SPD 2005 im Westen sogar eine<br />

höhere Unterstützung als 2002, obwohl erst nach 2002 die (vermeintlichen) Leistungskürzungen entschieden<br />

wurden. Lag die Unterstützung bei den Arbeitslosen zudem 2002 unter der allgemeinen Unterstützung<br />

<strong>für</strong> die SPD, so betrug sie im Jahr 2005 knapp 3 % mehr. Ein längerer Atem hätte zudem<br />

dazu geführt, dass zum Zeitpunkt der Wahlen die Besserung am Arbeitsmarkt bereits spürbar gewesen<br />

wäre. Diese Befunde wecken doch erhebliche Zweifel daran, dass der Wahlerfolg der Linkspartei im<br />

Kern als eine rationale Reaktion der Nachfrager auf das unzulängliche Angebot der politischen Klasse<br />

begriffen werden kann. Eher handelt es sich um eine machtstrategische Fehlspekulation und -<br />

wahrnehmung der SPD-Führung, allen voran Kanzler Schröders, im Kontext der Vertrauensfrage, und<br />

um das schwer berechenbare Handeln eines vergleichsweise „entwurzelten“ Wählerspektrums in Ostdeutschland.<br />

Man kann diese Zweifel allgemeiner fassen: Auch ein Großteil derjenigen Wähler, welche im Prinzip<br />

den wohlfahrtsstaatlichen Konsens mittragen, haben ja <strong>für</strong> Parteien gestimmt, die angeblich einem<br />

„neoliberalen“ Konsens anhängen. Das ist merkwürdig. Handelt es sich bloß um die Macht der Gewohnheit?<br />

Das würde allerdings bedeuten, dass ein Teil der Wähler „rational“, der größere Teil „irrational“<br />

gewählt hat. Vielleicht wäre es passender, von unterschiedlichen Mustern des Umgangs mit Unsicherheit<br />

zu sprechen, sowohl bei den Arbeiter- und Arbeitslosen-Wählern als auch in der Wählerschaft<br />

insgesamt. Diese Unsicherheit betraf vor allem die Frage der tatsächlichen Effekte einer zumutungsreichen<br />

Reformpolitik und deren Deutung. In den Landtagswahlen äußerte sie sich immer wieder in Protestwahlverhalten<br />

und Enthaltung. Dies verunsicherte dann auch zusehends die SPD, welche in den<br />

Ländern bittere Niederlagen hinnehmen musste.<br />

7


Diese Überlegungen stellen auch einen wichtigen Hintergrund dar, wenn man sich der Frage zuwendet,<br />

welche Handlungsmöglichkeiten sich <strong>für</strong> die zentrale Akteure ergeben haben, insbesondere inwiefern<br />

sich der SPD alternative Handlungsoptionen boten. So wird von den oben genannten Forschern<br />

einerseits suggeriert, dass die Schröder-SPD sich mit dem Schwenk zum „Neoliberalismus“ aus eigenem<br />

Verschulden in eine Sackgasse manövriert habe. Zugleich sprechen die Kritiker jedoch andererseits<br />

von einer „Modernisierungsfalle“, in die die SPD geraten sei, und müssen selbst einräumen: „Um<br />

mehrheitsfähig zu werden, musste [die SPD] sich den Mittelschichten öffnen. Aber genau durch diese<br />

Öffnung hat sie sich gegenüber ihren traditionellen Anhängern abgeschottet“ (Nachtwey/Spier 2007:<br />

50). Nun muss festgestellt werden, dass die SPD im Bund Wahlen schon immer nur dann gewinnen<br />

konnte, wenn sie sich gegenüber den Mittelschichten geöffnet hat, wobei bis 1998 immer die Koalitionspolitik<br />

der FDP den entscheidenden Ausschlag gab. Die Entgegensetzung von Interessen der Mittelschichten<br />

und Interessen der Arbeiter ist aber ohnehin zu rigide. Denn beide haben ein Interesse an<br />

ökonomischen Wachstum und Absicherung gegen Risiken. Soziale Absicherung ist unter Bedingungen<br />

einer kapitalistischen Ökonomie überhaupt nur durch Wachstum denkbar. Beide haben zudem ein Interesse<br />

am Wohlfahrtsstaat (als Leistungsempfänger und Bedienstete). Auch keynesianischwohlfahrtsstaatliche<br />

Strategien stellten einen Versuch dar, progressive Teile des Bürgertums mit einer<br />

pragmatischen Konzeption politischer Steuerung <strong>für</strong> sich zu gewinnen. Nur war der keynesianische<br />

Kompromiss angesichts der oben angesprochenen Krisenphänomene offensichtlich nicht mehr überzeugend.<br />

4<br />

Auch die sozialdemokratischen Parteien anderer Länder haben nach einer Reformulierung ihrer programmatischen<br />

Ausrichtung gesucht, ob nun explizit als „Dritter Weg“ zwischen alter Sozialdemokratie<br />

und Neokonservatismus oder ohne derartige Rhetorik. Die damit gewiss auch verbundene Ausrichtung<br />

auf die Überzeugungen und Anliegen der „neuen Mittelschichten“ darf dabei nicht mit „Neoliberalismus“<br />

gleichgesetzt werden, sondern ist eher als Suche nach einem neuen Kompromiss – in etwas überhöhter<br />

Rhetorik: als Versuch eines „neuen Gesellschaftsvertrages“ (Giddens 2001: 8) – zu verstehen.<br />

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht nur, wie Reformkonzepte formuliert werden, sondern<br />

inwiefern sie überhaupt Umsetzungschancen haben. Das gescheiterte „Bündnis <strong>für</strong> Arbeit“ in der ersten<br />

Hälfte der rot-grünen Regierungszeit stellte den Versuch einer Verständigung mit Gewerkschaften und<br />

Arbeitgebern über die notwendigen Reformen in Deutschland dar. In einem Land mit einer durch zahlreiche<br />

andere Instanzen in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkten Zentralregierung und einer nicht<br />

unbedingt über parteiübergreifende Verständigung ausgerichteten politischen Kultur war das Scheitern<br />

eines solchen Bündnisses jedoch zu erwarten (vgl. Czada 2000). Die Hartz-Kommission war mit 15<br />

Mitgliedern aus unterschiedlichsten Bereichen pluralistisch besetzt und kam zu einem gemeinsamen<br />

Ergebnis; sie behandelte aber eigentlich nur die Arbeitsmarktreform, nahm gesellschaftliche Kräfte<br />

nicht in Verantwortung <strong>für</strong> eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik und wurde dann in den<br />

Konsenszwängen des deutschen Regierungssystems kleingearbeitet. Demgegenüber war es etwa in<br />

Dänemark und anderen skandinavischen Ländern möglich, die Kombination von nach wie vor hoher<br />

sozialstaatlicher Absicherung bei weitgehender Deregulierung der Arbeitsmärkte als Kern eines neuen<br />

Wohlfahrtskonsenses zu etablieren. In Dänemark gelang dies sogar einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung<br />

(Henkes 2006). Es ist aber selbst <strong>für</strong> Deutschland fragwürdig, von einem „neoliberale[n]<br />

Elitekonsens“ (Nachtwey/Spier 2007: 66) zu sprechen. Der Begriff „Neoliberalismus“ ist ein polemischer.<br />

Er suggeriert, dass es eine ausgefeilte ideologische Grundlage des Handelns gebe.<br />

4 Interessanterweise hat in den 1980er Jahren gerade der damalige SPD-Politiker und jetzige Linkspartei-<br />

Vorsitzende Oscar Lafontaine die Gewerkschaften durch die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ohne vollen<br />

Lohnausgleich auf Betriebsebene im Einvernehmen mit Betriebsräten und Belegschaften brüskiert.<br />

8


Problematisch war aber in jedem Fall, dass es die politischen Eliten, allen voran Kanzler Schröder, versäumten,<br />

an einem neuen wohlfahrtsstaatlichen Konsens als Teil eines von den Wählern zu erhaltenden<br />

politischen Mandats zu arbeiten. Das Schröder-Blair-Papier von 1999 war ein Ad-hoc-Versuch, der<br />

sofort einem feindseligen Zynismus zum Opfer fiel. Während z.B. in der Grundsatzkommission der SPD<br />

über Jahre hinweg immer wieder über Gerechtigkeitsfragen debattiert wurde, strahlte dies nicht auf<br />

die politische Führung und eine tragfähige Programmatik ab Angesichts manipulativ anmutender Inszenierungen<br />

wie dem Schröder-Blair-Papier sprach die Wählerschaft schließlich der Linkspartei eine<br />

besondere „Kompetenz“ <strong>für</strong> Gerechtigkeitsfragen zu – als ob „Gerechtigkeit“ als ein von anderen Fragen<br />

abgetrenntes Politikfeld darstellen würde. Dadurch konnte die vormals völlig in Strömungen, Flügel,<br />

Plattformen usw. fragmentierte PDS trotz „schlichtweg anarchisch(er)“ Organisation (Koß 2007:<br />

119) so etwas wie ein Profil über das der postkommunistischen Bösewichte und der Ost-Partei hinaus<br />

gewinnen, erst recht mit den abtrünnigen Sozialdemokraten der WASG. Sie profitierte fraglos davon,<br />

dass „noch nie […] ein einschneidender politischer Richtungswechsel der Nachkriegszeit dermaßen<br />

wortkarg, begründungsschwach und inspirationslos vermittelt [wurde]“ (Wiesendahl 2004: 22). Für<br />

die Kommunikation innerhalb der SPD hingegen gilt, dass der „rücksichtslose Umgang mit der Partei“<br />

nicht nur „singulär <strong>für</strong> die SPD-Nachkriegsgeschichte“ (Wiesendahl 2004: 24) war, sondern auch nicht<br />

<strong>für</strong> einen tragfähigen Wandel der Partei sorgen, wie sich an den heutigen Zerwürfnissen über das Erbe<br />

der Schröderschen Politik zeigt.<br />

1.4 PDS und WASG in der „Linken“ – ungleichgewichtig aber gleich wichtig?<br />

Was <strong>für</strong> ein Gebilde wurde durch die Fusion von PDS und WASG geschaffen? Angesichts der Ungleichheit<br />

der beiden Partner kann man diese Frage zunächst auch so formulieren: Ist davon auszugehen,<br />

dass Die Linke von der PDS dominiert wird? Zur Beantwortung dieser Frage sollen im Folgenden<br />

die Mitgliederstruktur und die jeweiligen Beiträge zu den Wahlergebnissen angeschaut werden. Dabei<br />

kommen Zweifel an der vermeintlichen Dominanz der PDS-Seite auf.<br />

So zeigt sich bereits beim Blick auf die Mitgliederanteile, dass der erste Eindruck einer klaren PDS-<br />

Dominanz bei näherem Hinschauen trügerisch ist. Gewiss, bei der Vereinigung der beiden Parteien,<br />

brachte die PDS rund sechs Mal so viele Mitglieder in die neue Partei ein wie die WASG. Dies wirkt<br />

sich auch in einer deutlichen regionalen Asymmetrie aus: Nur etwa ein Fünftel der heute rund 74.500<br />

Mitglieder stammen aus den westlichen Bundesländern. 5 Die ostdeutschen Landesverbände der PDS<br />

haben also bei weitem die meisten Mitglieder in die neue Linkspartei eingebracht und bilden ein eindeutiges<br />

quantitatives Übergewicht. Zieht man nun allerdings die Altersstruktur in Betracht, so zeigt<br />

sich, dass 71 % der PDS-Mitglieder Rentner waren. Keine der anderen großen Parteien hat auch nur<br />

einen halb so hohen Wert. Die harte Wahrheit hinter den imposanten Zahlen lautet also, dass der PDS-<br />

Anteil der Vergreisung unterliegt. Nun mag man mit Franz Walter „Vergreisung als Chance“ diskutieren<br />

wollen. So stellt Walter die These in den Raum, dass „die Zukunftschancen einer Linkspartei […]<br />

gerade darin liegen, dass sie eben nicht primär als Partei eines ungestümen jungendlichen [sic!] Radikalismus<br />

agiert“ (Walter 2007b: 341). Im Kontext der Debatte um eine alternde Gesellschaft, kann<br />

man diese These <strong>für</strong> einen interessanten Anstoß halten. Dennoch mildert dieser Befund den ersten, auf<br />

der zahlenmäßigen Übermacht der ehemaligen PDS-Mitglieder beruhenden Eindruck, da auch die Al-<br />

5 Quellen <strong>für</strong> diese Angaben sind die Bundeszentrale <strong>für</strong> politische Bildung (http://www.bpb.de/ themen/<br />

T5T65A,0,0,Fakten%3A_DIE_LINKE.html), die freie Enzyklopädie Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/<br />

Die_Linke) und die Homepage der Linkspartei (http://die-linke.de /partei/fakten/mitgliederzahlen/).<br />

9


ten der Linkspartei zumindest in der Hinsicht nur begrenzt zukunftsfähig sind, als sie irgendwann einmal<br />

den Gang alles Irdischen nehmen werden.<br />

Schaut man sich als nächstes die Wahlergebnisse in ihrer Verteilung auf die beiden fusionierten Parteien,<br />

auf Gruppen der Wählerschaft sowie auf regionale Schwerpunkte an und reflektiert ihre Bedeutung<br />

<strong>für</strong> die Machtverhältnisse innerhalb der neuen Partei, so zeigt sich ebenfalls ein ambivalentes Bild:<br />

Zwar stimmt es, dass sich die PDS von 1990 bis 1998 von einer Milieupartei, die vor allem ehemalige<br />

DDR- und SED-Funktionäre und DDR-Staatsbedienstete ansprach, zu einer allgemeinen Protestpartei<br />

(Micus 2007: 223) und in Ostdeutschland möglicherweise zu einer Volkspartei entwickelt hat. Bei der<br />

Bundestagswahl erreichte das Wahlbündnis in den neuen Ländern 25,3 %, in den alten hingegen „nur“<br />

4,9 %. Die PDS ist zudem seit der Wende in allen ostdeutschen Landtagen vertreten und zum Teil<br />

zweitstärkste Kraft. Sie erhielt in Mecklenburg-Vorpommern 1998 erstmals Regierungsverantwortung,<br />

seit 2001 hat sie Regierungsämter in Berlin. Dies alles verweist auf eine überlegene Position der PDS,<br />

nicht zuletzt schon deshalb, weil sich Wahlerfolge in Wahlkampfkostenerstattungen auszahlen und mit<br />

Regierungsämtern weitere Ressourcenzuwächse verbunden sind. Allerdings kann zugleich festgehalten<br />

werden, dass die Macht der PDS-Seite in der Linkspartei unter zwei Phänomen leidet: Zum einen ist es<br />

der PDS bis zum Schluss nicht gelungen, in den westlichen Bundländern zu Wahlerfolgen zu gelangen;<br />

zum anderen leidet sie gerade dort, wo sie Regierungsverantwortung innehat, unter massiven Stimmeneinbußen,<br />

so dass von einem Abnutzungseffekt gesprochen werden kann, der gerade eine Protestpartei<br />

besonders hart treffen muss. 6 Die WASG hingegen schnitt als selbständig antretende Partei in<br />

Baden-Württemberg (3,1 %) und Rheinland-Pfalz (2,5 %) bei den 2006er-Wahlen deutlich schlechter<br />

ab als die Linkspartei in diesen Ländern bei den Bundestagswahlen im Jahr zuvor. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern<br />

trat sie sogar gegen die PDS an und erreichte 2,9 bzw. 0,5 %. In Bremen hingegen<br />

gelangt es einer vereinten „Linken“ im Mai 2007 8,4 % der Stimmen auf sich zu vereinen. Aus alledem<br />

wird deutlich, dass beide Seiten mit Blick auf Wahlerfolge voneinander abhängig gewesen sind.<br />

1.5 Programm und Persönlichkeiten der Linkspartei – Gerechtigkeit oder Sozialismus?<br />

„Die Linke“ verfügt bislang noch nicht über ein Parteiprogramm. Ihr programmatisches Profil kann<br />

insofern nur am Eckpunktepapier, an der Satzungspräambel sowie programmatischen Äußerungen von<br />

Parteiführern abgelesen werden. Bevor man sich diesen Aspekten zuwendet, ist es wiederum sinnvoll,<br />

auf die Programme der beiden Parteien einzugehen, welche die neue Linkspartei gebildet haben. Wie<br />

schon bei den strukturellen und personellen Merkmalen zeigt sich auch hier, dass die PDS zwar einerseits<br />

als der WASG überlegen erscheint, dass andererseits aber auch deutliche Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit<br />

sichtbar werden. Dass die neue Partei ein konzeptionell durchdachtes Programm auf<br />

den Weg bringen kann, erscheint im Lichte der Erfahrungen von PDS und WASG zweifelhaft.<br />

6 Wie bereits erwähnt, ist die PDS bei der Bundestagswahl 2002 mit 4 % deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde<br />

gescheitert. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erreichte sie nicht einmal 1 %, während die WASG aus<br />

dem Stand 2,2 % schaffte. Die WASG war zu diesem Zeitpunkt also eine ernsthafte Konkurrenz <strong>für</strong> die PDS<br />

(Schön/Falter 2005: 33). In Berlin erlitt die PDS als Regierungspartei einen deutlichen Einbruch bei den folgenden<br />

Wahlen. So kam sie im September 2006 nur noch auf 13,4 %, was einen Verlust von 9,2 % bedeutete. Bereits<br />

bei den Wahlen nach Beteiligung an der Regierung in Mecklenburg-Vorpommern war die PDS um 8 % abgerutscht<br />

und liegt seitdem deutlich unter den Ergebnissen in den anderen östlichen Ländern.<br />

10


In der PDS galt zuletzt das Chemnitzer Programm von 2003. Ihm konnte ein thematisch umfassender<br />

Charakter zugesprochen werden. Zwar konnte das Chemnitzer Programm zumindest teilweise als theoretisch-analytisch<br />

fundiert betrachtet werden, wobei hier besonders eine Analyse des gegenwärtigen<br />

kapitalistischen Staates hervorzuheben ist. Zweifellos finden sich auch symbolische Bekenntnisformeln<br />

wie jene zum „Sozialismus“. Doch insgesamt kann davon gesprochen werden, dass das Chemnitzer<br />

Programm sich durch die Integration unterschiedlichster weltanschaulicher Ausrichtungen auszeichnete.<br />

Man kann durchaus von einer Selbstdarstellung als linker Volkspartei sprechen. So weist Micus<br />

(2007: 199) darauf hin, dass das letzte PDS-Programm in den Grundzügen dem Godesberger und dem<br />

Berliner Programm der SPD entspreche. Wie das Godesberger Programm (1957) bekannte sich auch<br />

das Berliner Programm der SPD von 1989 zu den Grundwerten des „Demokratischen Sozialismus“.<br />

Auch das Ende Oktober 2007 beschlossene neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokraten, das<br />

Hamburger Programm, beruft sich auf die „stolze Tradition des demokratischen Sozialismus“ (SPD<br />

2007: 5). Wie die SPD im Hamburger Programm (das an dieser Stelle frühere Formulierungen übernimmt),<br />

bekannte sich auch die PDS im Chemnitzer Programm zu „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“<br />

als ihren Grundwerten. Wie die SPD bereits im Godesberger Programm so vollzieht auch die PDS<br />

eine weltanschauliche Öffnung: „Unser Eintreten <strong>für</strong> einen demokratischen Sozialismus ist an keine<br />

bestimmte Weltanschauung, Ideologie oder Religion gebunden. Die PDS ist eine pluralistische Partei<br />

demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten“ (PDS 2003: 54). Dies ist eine beschönigende Umschreibung<br />

des Umstands, dass die PDS zeitweise noch nicht einmal wie die anderen Parteien als „lose<br />

gekoppelte Anarchie“ bezeichnet werden konnte, „sondern mangels loser Kopplung schlichtweg anarchisch<br />

organisiert war“ (Koß 2007: 119).<br />

Wenn es einen charakteristischen Unterschied zwischen den Grundsatzprogrammen der SPD und dem<br />

der PDS von 2003 gibt, dann liegt dieser wohl eher auf der Ebene der Einschätzung politischer Handlungsmöglichkeiten.<br />

Dabei ist das Chemnitzer Programm der PDS allerdings eher durch Ratlosigkeit<br />

und hilflose Beschwörungsformeln denn durch sozialistischen Fortschrittsoptimismus geprägt. Während<br />

mit dem „Neoliberalismus“ als irregeleiteter Ideologie und auf falschen Annahmen beruhender<br />

Problemdiagnose ein klares Feindbild existiert, konzediert man zugleich, dass „die Bedingungen <strong>für</strong><br />

Alternativen schlecht sind und auf absehbare Zeit schlecht bleiben werden“ (PDS 2003: 28). Die „Beteiligung<br />

der demokratischen Öffentlichkeit“ und „die internationale gewerkschaftliche Zusammenarbeit<br />

und die Kooperation der Linksparteien“ (ebd.) dienen als Hoffnungsanker, der Weg als das Ziel.<br />

Wenn die PDS die „anhaltende Wachstumsschwäche“, den „enorme[n] Schuldendienst“ und den Konkurrenzdruck<br />

globalisierter Märkte <strong>für</strong> die Kraftlosigkeit politischer Alternativen verantwortlich macht<br />

(ebd.), dann zieht sie freilich nicht in Betracht, dass es durchaus Länder gibt, in denen zumindest<br />

Haushaltsdefizite abgebaut und Wachstum erzielt werden konnte und dabei vermeintlich „neoliberale“<br />

sozialdemokratische Parteien eine wichtige Rolle gespielt haben (vgl. Merkel et al. 2006). Statt sich<br />

mit unterschiedlichen Reformerfahrungen oder „Dritten Wegen“ sozialdemokratischer Regierungen<br />

auseinanderzusetzen, werden im Chemnitzer Programm einige Elemente der Umverteilung, der Arbeitsplatzschaffung<br />

und der Nachfrageförderung genannt und als „Konzept“ ausgegeben, ohne zu erwähnen,<br />

dass dies zur weiteren Verschuldung führen würde (PDS 2003: 18).<br />

Im Gegensatz zur PDS konnte die WASG als neu gegründete Partei, die vorrangig auf Protesthaltung<br />

gegenüber ihrer „Mutter“, der SPD, gerichtet war, nur mit einem eng an wirtschafts- und sozialpolitischen<br />

Fragen orientierten Programm aufwarten, bei dem „soziale Gerechtigkeit“ als Schlüsselbegriff<br />

fungierte, während „Sozialismus“ an keiner Stelle im Programm auftaucht (Micus 2007: 180). Der<br />

Begriff der sozialen Gerechtigkeit wird dabei nicht von philosophischen, weltanschaulichen oder konzeptionellen<br />

Grundlagen her bestimmt, sondern mit dem „Sozialstaat“ und dieser mit dem Sozialstaat<br />

der 1960er und 1970er Jahre gleichgesetzt (Micus 2007: 195). Ob man angesichts dessen von „linkem<br />

Keynesianismus“ oder eher von „Vulgärkeynesianismus“ sprechen sollte, sei dahingestellt. Festzuhalten<br />

11


leibt in jedem Fall, dass keynesianische Vorstellungen der Wirtschaftssteuerung und des Sozialstaats<br />

weitgehend irritationsfrei präsentiert werden, das heißt ohne Aufarbeitung der mit dem Keynesianismus<br />

verbundenen historischen Krisenerfahrungen sowie gegenwärtiger Analysen der Probleme keynesianischer<br />

Steuerung in einer postfordistischen Ökonomie, wie sie auch und gerade von Wissenschaftlern<br />

mit marxistischem Hintergrund formuliert werden (vgl. etwa Jessop 2002, Hirsch 2005). 7<br />

Folgte die PDS eher dem Prinzip „Sozialismus statt Programmatik“, so kann <strong>für</strong> die WASG vom Prinzip<br />

„Gerechtigkeit statt Sozialismus“ gesprochen werden. Da beide Programme letztlich keine kohärenten<br />

Konzepte beinhalten, kann man vermuten, dass die anlaufende Programmdebatte in der „Linken“ keine<br />

gravierenden Konflikte jenseits symbolischer Reizfragen hervorrufen wird. Bereits das Eckpunktepapier<br />

von 2007 präsentiert die salomonische Formel der „Zusammenführung von Grundideen alternativer<br />

Politik“ (vgl. Die Linke 2007: 2), die sie mit der Addition von WASG- und PDS-Ausgangspunkten<br />

zu verwirklichen können meint. 8 Obwohl gerade die Linkspartei auf „Politikalternativen“ drängt und<br />

damit Wahlen gewinnt, ist sie organisatorisch womöglich am wenigstens zur Formulierung solcher<br />

Alternativen in der Lage.<br />

Freilich war und ist auch die versöhnende Zusammenführung von Grundideen alternativer Politik nach<br />

dem Prinzip friedlicher Koexistenz immer wieder von Abgrenzungsbestrebungen gefährdet worden. Es<br />

kommt in dieser Situation auch auf symbolische Gesten und Rhetoriken des Führungspersonals an.<br />

Besonders hervorgetan hat sich im Hinblick hierauf immer wieder Oscar Lafontaine. Bereits beim<br />

Wahlparteitag im August 2005 gelang es ihm, den emotionalen Brückenschlag zwischen den Parteien<br />

durch eine Referenzerweisung gegenüber Hans Modrow, dem letzten von der SED gestellten Vorsitzenden<br />

des Ministerrates der DDR (Micus 2007: 217). Er forderte, die „Systemfrage“ zu stellen, ohne<br />

jedoch Ausstiegsoptionen aus dem gegenwärtigen System zu benennen. In einem ganzseitigen Artikel<br />

in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9. Juli 2007, S. 7) bekannte sich Lafontaine schließlich zur<br />

Formel „Freiheit durch Sozialismus“ – womit er nicht nur versuchte, eine rhetorische Umdeutung des<br />

Freiheitsbegriffs vorzunehmen (die freilich im Einklang mit der Idee des „demokratischen Sozialismus“<br />

stand), sondern vor allem auch die gemeinsame Identität von WASG und PDS zu stärken und den Sozialismus-Begriff<br />

zu entstigmatisieren. Auch in der Außenpolitik spielt Lafontaine insofern eine zentrale<br />

Rolle, als er den anti-interventionistischen Grundkonsens der PDS vertritt, der in der WASG nicht<br />

unumstritten gewesen ist.<br />

Wie ist die bisher erkennbare programmatische Ausrichtung der neuen Linkspartei abschließend einzuschätzen?<br />

Hat „Die Linke“ die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen aus<br />

beiden deutschen Staaten angemessen analysiert und Konsequenzen aus dieser Analyse gezogen?<br />

Zweifel daran nährt zunächst die bereits erwähnte Unterlassung einer ernsthaften Auseinandersetzung<br />

mit den Krisensymptomen des Wohlfahrtsstaatsmodells der Nachkriegszeit und deren Ursachen. Ökonomische,<br />

fiskalische und politische Krisenphänomene dieses Modells resultierten teilweise aus einer<br />

Veränderung der Wirtschaftsform, teilweise aus hausgemachten Ursachen (vgl. Jessop 2002: 81-90).<br />

Die seit der Mitte der 1970er Jahre aufgetretenen Krisenphänomene, mit denen sich die Linkspartei<br />

7 Es lässt sich überhaupt bezweifeln, dass „soziale Gerechtigkeit“ als Begriff eines keynesianischen Steuerungsparadigmas<br />

verstanden werden kann, stellt dieses doch im Kern ein Konzept der Bewältigung kapitalistischer Krisen<br />

dar.<br />

8 „Der Kampf gegen den Abbau sozialer Rechte, <strong>für</strong> eine gerechte Verteilung der Arbeit in einer humanisierten<br />

Arbeitswelt und <strong>für</strong> einen erneuerten solidarischen Sozialstaat ist der im Gründungsprogramm formulierte Ausgangspunkt<br />

der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Die Linkspartei.PDS bring in Übereinstimmung<br />

damit ihr historisches Verständnis des demokratischen Sozialismus als Ziel, Weg und Wertesystem und als Einheit<br />

von Freiheits- und sozialen Grundrechten ein – niedergelegt in ihrem Chemnitzer Parteiprogramm“ (Die<br />

Linke 2007: 2).<br />

12


efassen müsste, lauten etwa notorische Haushaltsdefizite, Inflationsgefahr, ständiger Anstieg der<br />

Steuersätze und der Staatsquote, wachsende Arbeitslosigkeit, bürokratische Auswüchse des Wohlfahrtsstaates<br />

bei gleichzeitigem Staatsversagen in der Absicherung gegen Risiken sowie die lange Zeit<br />

vernachlässigte Demographieproblematik. Hinsichtlich der Einschätzung politischer Handlungs- und<br />

Gestaltungsräume, ist die Programmatik der Linkspartei von der Spannung zwischen einem Festhalten<br />

am Nationalstaat als Ebene, auf der (immer noch) ausreichend Ressourcen vorhanden sind, um eine<br />

demokratisch-sozialistische Politik zu betreiben, und der Diagnose, dass die Globalisierung der nationalstaatlichen<br />

Politik die Handlungsspielräume genommen hat, womit dann letztlich nur die Übertragung<br />

sozialdemokratischer Regulierungskonzepte auf die internationale Ebene einen scheinbaren<br />

Ausweg offeriert. Beide Defizite können die bereits erwähnten Abnutzungseffekte verstärken, da eine<br />

Regierungsbeteiligung nicht halten kann, was dem Wähler versprochen wurde.<br />

1.6 Mögliche Konsequenzen – Parteiensystem und Unregierbarkeit<br />

Ist die Linkspartei eine Partei mit politischer Sprengkraft? In der abschließenden Beurteilung dieser<br />

Frage, gilt es, verschiedene Aspekte auseinander zu halten.<br />

Zunächst erscheint es evident, dass der Erfolg der Linkspartei die SPD in eine schwere Identitätskrise<br />

gestürzt hat. Das Schicksal der Schröderschen Agenda 2010 zeigt ebenso wie die Ereignisse in Hessen,<br />

wie schwer es <strong>für</strong> die deutschen Sozialdemokraten ist, mit d er Herausforderung durch eine Parteigründung<br />

umzugehen, die in mancher Hinsicht aus „Fleisch vom Fleische“ der SPD besteht. Während<br />

die Sozialdemokraten in der gegenwärtigen Entwicklung (sinkende Arbeitslosigkeit) auf die Erfolge<br />

ihrer Politik verweisen könnten, beschäftigen sie sich mit dem von der Linkspartei besetzten Thema<br />

der „sozialen Gerechtigkeit“.<br />

Die Linke ist aber keine revolutionäre Partei, sondern eine Protestpartei ohne kohärentes programmatisches<br />

Konzept, wie der Kapitalismus zu überwinden oder zu transformieren wäre. Von der PDS wurde<br />

dies in ihrem Chemnitzer Programm ehrlicherweise auch eingestanden. Die Linke lebt programmatisch<br />

von der Verklärung der wohlfahrtsstaatlich-keynesianischen Vergangenheit und einer vagen Berufung<br />

auf den demokratischen Sozialismus, emotional von gewerkschaftlichem Milieu, relativ diffuser Protestaktivierung<br />

und DDR-Nostalgie. Ein „Systembruch“ wird noch am ehestens in der Forderung nach<br />

der Zulässigkeit politischer bzw. Generalstreiks deutlich (Die Linke 2007: 13). Deren Unzulässigkeit ist<br />

jedoch konstitutives Moment der Tarifautonomie, die wiederum auch den Gewerkschaften Sicherheit<br />

bietet. Als politischer Arm der (Anti-)Globalisierungs-Bewegung könnte die Linkspartei programmatisches<br />

Profil gewinnen, doch stellt sich dann frei nach Luhmann (1996) die Frage, inwiefern neben dem<br />

„Dagegensein“ auch das „Dabeisein“ (also das Streben nach Regierensämtern) praktikabel bleibt.<br />

Als neomarxistische Partei ist die Linkspartei ebenfalls nicht ernsthaft zu bezeichnen. Denn sie kritisiert<br />

zwar den gegenwärtigen Kapitalismus, begründet ihre eigenen Politikvorstellungen jedoch nicht im<br />

Rahmen einer materialistischen Analyse von kapitalistischer Staatlichkeit. Da derartige Analysen eher<br />

zu einer Kritik keynesianischer Steuerungsvorstellungen führen, würde der Glaube an die eigenen<br />

Konzepte bei tiefer gehender politökonomischer Reflexion wohl noch weiter leiden. Wenn sich aus<br />

derartigen Prozessen des „Ver-Lernens“ Mobilisierungspotential und Handlungskraft ergibt, dann wohl<br />

auf Kosten der analytischen Tiefe.<br />

Sprengkraft könnte Die Linke freilich in Bezug auf das politische System und dessen Steuerungsfähigkeit<br />

entfalten, insbesondere was die Möglichkeit zu kohärent-kontinuierlicher Politikformulierung be-<br />

13


trifft. Die Linke hat bereits zu einer Transformation des Parteiensystems und dabei paradoxerweise<br />

gerade zu einer Verschlechterung der Durchsetzungsmöglichkeiten auch von dezidiert linken Konzepten<br />

beigetragen. Wie einleitend erwähnt, gehen inzwischen auch skeptische Beobachter davon aus,<br />

dass sich mit dem Erfolg der Linken ein Fünf-Parteien-System etabliert hat. Damit geht eine Veränderung<br />

der Koalitionsoptionen einher. Einerseits bedeutet dies eine Ausweitung grundsätzlich möglicher<br />

Koalitionsoptionen. Andererseits werden die tatsächliche Koalitionsbildung und das Regieren dadurch<br />

schwieriger, dass sich nicht alle Parteien sich als grundsätzlich „koalitionsfähig“ betrachten bzw. eine<br />

Zusammenarbeit <strong>für</strong> pragmatisch sinnvoll erachten. Dadurch wird paradoxerweise gerade die SPD koalitionsstrategisch<br />

gestärkt, denn sie verfügt über die weitreichendsten Optionen, während es <strong>für</strong> die<br />

CDU z.B. schwierig ist, mit den GRÜNEN zu koalieren und dies mit der Linkspartei praktisch ausgeschlossen<br />

ist. Bis zum Fall Hessen(s) hat die SPD zumindest im Westen und im Bund Koalitionen mit<br />

der Linkspartei abgelehnt. Durch die Konkurrenz der Linkspartei bei Wahlen ist es jedoch schwieriger<br />

geworden, rot-grüne Mehrheiten oder gar eine absolute Mehrheit zu gewinnen. Wie bereits bei der<br />

Bundestagswahl, so war auch bei diversen Landtagswahlen eine Große Koalition zwischen Union und<br />

Sozialdemokraten das Ergebnis. Auf der anderen Seite versucht die CDU, Gemeinsamkeiten mit Bündnis<br />

90/GRÜNE auszuloten und umgekehrt.<br />

Vieles gerät also in Bewegung, aber ob dadurch etwas bewegt wird, erscheint fraglich. In Verbindung<br />

mit dem hohen Grad der Politikverflechtung und den damit einhergehenden hohen Konsenserfordernissen<br />

ist <strong>für</strong> die nächsten Jahre zu erwarten, dass in Deutschland durch den Erfolg der Linkspartei<br />

Reformpolitik (allgemein, vor allem aber „linke“ Reformpolitik) eher schwieriger geworden ist. Man<br />

fühlt sich an Claus Offes Szenario einer sich selbst verstärkenden „Unregierbarkeit“ spätkapitalistischer<br />

Gesellschaften erinnert, der in diesem Zusammenhang auch die schlechte Alternative von Repolarisierung<br />

des Parteiensystems einerseits und nicht-parlamentarisch operierenden sozialen Bewegungen<br />

andererseits aufmacht (Offe 1979: 287f.). Positiv gesehen, kann der Linkspartei die Funktion zugesprochen<br />

werden, eine systemkompatible Ausdrucksmöglichkeit <strong>für</strong> Unzufriedenheit mit dem politischen<br />

System zu schaffen. Auch die Stimmenverhältnisse im Bundesrat weisen aufgrund der Vielfältigkeit<br />

von Länderkoalitionen neben gestiegenem Verhandlungsbedarf vielleicht auch Chancen der Überwindung<br />

eingefahrener Reflexe auf. 9 Was die Zukunft der Linkspartei betrifft, so wird ihr zukünftiger<br />

Erfolg nicht nur von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland und deren<br />

kollektiver Deutung abhängen, sondern auch von der Frage, inwiefern sie auch jenseits ihres Protestprofils<br />

– nämlich im Ernstfall der Regierungsbeteiligung – den Wählern als eine glaubwürdige Alternative<br />

links von der SPD erscheinen wird.<br />

Literatur<br />

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in: Holtmann, Everhard/Voelzkow, Helmut (Hrsg.):<br />

Zwischen Wettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie: Analysen zum Regierungssystem der<br />

Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden, S. 23-49.<br />

9 In diesem Zusammenhang gewinnt eine Änderung des Umgangs mit Stimmenthaltungen bei zustimmungsbedürftigen<br />

Gesetzen im Bundesrat neue Aktualität. Aufgrund der Erfordernis, die Zustimmung der Mehrheit der<br />

Stimmen zu erhalten (Art. 52 III GG), kommt in der gegenwärtigen Rechtslage eine Enthaltung der Ablehnung<br />

gleich.<br />

14


Dürr, Tobias Dürr (2002): Die Linke nach dem Sog der Mitte. Zu den Programmdebatten von SPD,<br />

Grünen und PDS in der Ära Schröder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (B 21/2002), S. 5-<br />

12.<br />

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Merkel, Wolfgang/Egle, Christoph/Henkes, Christian/Ostheim, Tobias/Petring, Alexander (2006): Die<br />

Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik<br />

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Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2008, Berlin.<br />

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15


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Wiesendahl, Elmar (2004): Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,<br />

B 40, S. 19-24.<br />

16


Michael Stoiber<br />

2. „Die Linke“ - welche Auswirkungen hat die Partei auf das zukünftige deutsche<br />

Parteiensystem und die Regierungsbildung? 10<br />

2.1 Einleitung<br />

Das deutsche Parteiensystem steht spätestens seit den Erfolgen der Partei „Die Linke“ bei den Landtagswahlen<br />

in Hessen, Niedersachsen und Hamburg zu Beginn des Jahres 2008 vor einer dauerhaften<br />

Veränderung: sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene scheint sich ein Fünfparteiensystem mit<br />

den beiden Volksparteien CDU und SPD sowie den drei Kleinparteien FDP, Die Grünen und Die Linke<br />

zu etablieren. Wie kann dieser gesamtdeutsche Erfolg der neuen Linkspartei, der Fusion aus PDS und<br />

WASG, erklärt werden? Welche Auswirkungen hat das auf die etablierten Parteien, den zukünftigen<br />

Parteienwettbewerb und die Prozesse der Regierungsbildung in Bund und Ländern?<br />

In diesem Beitrag werde ich zunächst kurz die Gründe <strong>für</strong> das Erstarken und die Etablierung der Partei<br />

Die Linken analysieren. Dazu greife ich sowohl auf die Cleavage-Theorie von Lipset/Rokkan 11 als auch<br />

Downs’ Theorie des Parteienwettbewerbs 12 zurück. Denn erst durch die Kombination beider Konzepte<br />

kann der Erfolg sowohl in den neuen als auch den alten Bundesländern erklärt werden. Anschließend<br />

wird mit Hilfe von Sartoris Kriterien überprüft, inwieweit die Linke tatsächlich als eine „relevante“<br />

Partei zu bezeichnen ist. 13 Hier geht es um ihr blackmail-Potential, also die Effekte auf den Parteienwettbewerb<br />

und die Positionierung der anderen Parteien, sowie ihr Koalitionspotential. Denn dass sich<br />

das Erstarken der Linken auf die etablierten Parteien und das Parteiensystem insgesamt erheblich auswirkt,<br />

ist spätestens mit dem Versuch und dem Scheitern der Einrichtung einer SPD-Grünen Minderheitsregierung<br />

in Hessen unter Andrea Ypsilanti deutlich geworden. Daher werde ich im dritten Teil<br />

meiner Analyse mit Hilfe koalitionstheoretischer Überlegungen die Auswirkungen einer etablierten<br />

Linkspartei auf zukünftige Regierungsbildungen und die Strategien der Parteien diskutieren. Dazu<br />

skizziere ich zwei unterschiedlichen Szenarien <strong>für</strong> den Ausgang der Bundestagswahlen 2009 und wende<br />

auf diese unterschiedliche koalitionstheoretische Ansätze an.<br />

2.2 Die Etablierung der Linken als gesamtdeutsche Partei 14<br />

In der politikwissenschaftlichen Literatur wurde die PDS jahrelang als ein spezifisch ostdeutsches Phänomen<br />

behandelt. 15 Als empirisches Indiz da<strong>für</strong>, die PDS als eine reine Regionalpartei zu betrachten,<br />

10<br />

Dieser Text ist die leicht veränderte Fassung eines gleichnamigen Beitrags, der auf chinesisch in der Zeitschrift<br />

Deutschland-Studien, Nr. 4/2008, S. 14-20 erschienen ist. Er basiert auf einem Vortrag am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Deutschlandstudien<br />

an der Tongji-Universität Shanghai am 16.10.2008.<br />

11<br />

S.M. Lipset / S. Rokkan, „Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction”, in: dies.:<br />

Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives, New York, 1967, S. 1-64.<br />

12<br />

A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen, 1968.<br />

13<br />

G. Sartori, Parties and Party Systems, Cambridge, 1976.<br />

14<br />

Vgl. M. Haus: „Die Linke in Deutschland – eine politische Partei mit Sprengkraft?“, in: Deutschland-Studien,<br />

Nr. 1/2008, S. 20-28.<br />

17


war das Fehlen jeglichen Erfolgs bei Wahlen in den alten Bundesländern, seien es Bundes- oder Landtagswahlen.<br />

Wie konnte es dann zu einem solchen Erfolg der Linken als gesamtdeutsche Partei kommen?<br />

Für die Etablierung der Linkspartei auch im Westen wird in der Regel die These der so genannten Repräsentationslücke<br />

herangeführt. Sie besagt, dass es auf Grund der Bewegung der SPD in der Regierungszeit<br />

Schröders zur Mitte mittels der Hartz-Gesetze, der Agenda 2010 und der Politik der Haushaltskonsolidierung<br />

auch in den alten Bundesländern zu einer großen Anzahl an links-orientierten<br />

Wählern kam, die sich durch diese Politik nicht mehr vertreten fühlten. In den neuen Bundesländern<br />

hatten solche Interessen in der PDS parteipolitisch eine schon etablierte Heimat gefunden. In den alten<br />

Bundesländern musste dagegen eine neue Partei in Form der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“<br />

(WASG) in diese Lücke der Unzufriedenheit stoßen. 16 Die vorgezogene Bundestagswahl<br />

2005 bildete dann jene Gelegenheitsstruktur, die zunächst zu einer Kooperation der in Linkspartei.PDS<br />

umbenannten PDS und der WASG und 2007 mit der offiziellen Fusion zur Partei „Die Linke“ führte.<br />

Doch ist das die ganze Wahrheit? Warum schlug sich die Zusammenarbeit von WASG und PDS bei der<br />

Bundestagswahl 2005 so schnell in einem Erfolg nieder und warum kam es denn überhaupt zur Fusion<br />

2007 und der Etablierung als gesamtdeutsche Partei?<br />

Zur Entstehung politischer Parteien ist nach Lipset/Rokkan ein gesellschaftlicher Konflikt notwendig,<br />

so dass sich entweder gegen einen bestehenden Status Quo oder zur Bewahrung dessen die betroffenen<br />

gesellschaftlichen Interessen in Form von Parteien organisieren, um diese Interessen in den politischen<br />

Prozess einzuspeisen. 17 In ihrer historischen Anwendung auf die Entstehung der europäischen<br />

Parteiensysteme zum Ende des 19. Jahrhunderts identifizierten Lipset Rokkan vier solcher cleavages:<br />

erstens den Konflikt zwischen Staat und Kirche im Kontext der Säkularisierung und der Frage nach der<br />

Kontrolle des Bildungswesens und zweitens den Konflikt zwischen den neuen Eliten im Zuge der Nationenbildung<br />

und den zu diesem Prozess oppositionellen alten Eliten der Peripherie. Durch die zunehmende<br />

Industrialisierung entstanden zudem drittens der Konflikt zwischen primären (Land) und sekundären<br />

Sektor (Stadt) und viertens der Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital. Greift man auf<br />

eine enthistorisierende Logik der Cleavage-Theorie zurück kann man die Entstehung neuer Parteien<br />

auch noch heute mit der Existenz von gesellschaftlichen Konfliktlinien in Verbindung bringen. 18 Betrachtet<br />

man die PDS in ihren Anfangsjahren nach der deutschen Wiedervereinigung, kann ihre Existenz<br />

mit einem Zentrum-Peripherie Konflikt erklärt werden. Als SED-Nachfolgepartei vertrat sie anfangs<br />

insbesondere die Interessen der alten DDR-Elite, die sich nun als politische Verlierer der Vereinigung<br />

wieder fanden. Die PDS vertrat also eine neue Peripherie, die sich auch regional auf die neuen<br />

Bundesländer beschränkte und so zur Etablierung der PDS als Regionalpartei führte. So fand der auch<br />

in der Gesellschaft und in den Medien thematisierte Ost-West Gegensatz seinen parteipolitischen Ausdruck.<br />

In der Anfangszeit hatte die PDS noch einen recht geringen Anteil an Wählern in der Arbeiterschicht,<br />

so dass eine Positionierung der Partei auf dem linken Pol der Arbeit-Kapital Konfliktlinie erst<br />

15<br />

Als ein repräsentatives Beispiel <strong>für</strong> viele Publikationen dieser Zeit, vgl. P. Moreau, Die PDS im Wahljahr 1999:<br />

"Politik von links, von unten und von Osten", München, 1999.<br />

16<br />

O. Nachtwey / T. Spier, „Günstige Gelegenheit? Die sozialen und politischen Entstehungshintergründe der<br />

Linkspartei“, in: T. Spier / F. Butzlaff / M. Micus / F. Walter (Hrsg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder<br />

Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden, 2007, S. 13-70.<br />

17<br />

S.M. Lipset / S. Rokkan, „Cleavage Structures”, S. 5.<br />

18<br />

Vgl. G. Mielke, „Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem“, in: U. Eith /<br />

G. Mielke (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Opladen, 2001,<br />

S. 77-95.<br />

18


ab Mitte der 1990er Jahre festzustellen ist. 19 Doch sind die zunehmenden Erfolge bei Landtagswahlen<br />

in den neuen Bundesländern mit über 20% der Stimmen ab 1998 genau dieser neuen Positionierung<br />

zuzuschreiben. Die PDS nutzte eine Überlagerung des Zentrum-Peripherie Konflikts durch die sozioökonomische<br />

Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital aus und konnte viele der so genannten Wiedervereinigungsverlierer<br />

in den neuen Bundesländern an sich binden. Auf Grund der eindeutigen Positionierung<br />

auf der Ost-West Konfliktlinie gelang es der PDS dagegen nicht, in den alten Bundesländern richtig<br />

Fuß zu fassen, zudem existierte mit der SPD bis 1998 eine eindeutige Alternative links der Mitte.<br />

Eine Erklärung der Entstehung der WASG in den alten Bundesländern ist jedoch nur unzureichend mit<br />

der Cleavage-Theorie zu erklären, da es sich bei der sozioökonomischen Konfliktlinie schließlich um<br />

keinen neuen Konflikt handelte. Man kann zwar im Zuge der Regierungspolitik Schröders den klassischen<br />

cleavage Arbeit-Kapital uminterpretieren als einen Konflikt um das Ausmaß wohlfahrtsstaatlicher<br />

Leistungen. Hier stünde dann die WASG als Bewahrerin des alten wohlfahrtsstaatlichen Status Quo,<br />

während alle anderen Parteien inklusive der SPD auf der Seite eines marktliberalen Abbaus dieser Leistungen<br />

stehen. 20<br />

Als besser geeignet, den dynamischen Prozess im westdeutschen Parteiensystem nach 1999 abzubilden,<br />

erweist sich Downs’ Theorie des Parteienwettbewerbs. Downs geht in seinem eindimensionalen<br />

räumlichen Modell davon aus, dass sich die Parteien an der Wählerverteilung orientieren und sich so<br />

positionieren, dass sie ihren Stimmenanteil maximieren können. 21 Die Bewegung der SPD zur Mitte<br />

hin war bei den Bundestagswahlen 1998 aus dieser Theorie heraus ein konsequenter Schritt der SPD,<br />

da dort in der Konkurrenz zur CDU die meisten Stimmen zusätzlich zu gewinnen waren. Der weitere<br />

Rechtsruck der SPD während der Regierungszeit wird jedoch häufiger auf Zwänge der Regierungsbeteiligung<br />

zurückgeführt. 22 Die Reaktion im Parteiensystem ist wieder in Übereinstimmung mit Downs’<br />

Modell. Für die Wähler auf der linken Seite des ideologischen Spektrums in den alten Bundesländern<br />

sind SPD und CDU kaum mehr zu unterscheiden. Ihr Parteiendifferenzial tendiert zu Null, d.h. der<br />

erwartete Nutzen aus einer SPD und einer CDU-Regierung unterscheidet sich kaum und ist darüber<br />

hinaus sehr gering. Auf Grund mangelnder Alternativen würden viele dieser Wähler nicht mehr zur<br />

Wahl gehen. Die Gründung einer neuen Partei auf der linken Seite – hier in Form der WASG – führt<br />

dagegen zu einem neuen Gleichgewichtszustand, bei dem die linken Wähler wieder ein Angebot haben.<br />

Dieses Angebot wurde in den alten Bundesländern bei den Bundestagswahlen 2005 von immerhin<br />

4,9% der Wähler in Form der Linkspartei.PDS, die auf ihren Landeslisten auch WASG-Mitglieder als<br />

Kandidaten aufnahmen, auch angenommen.<br />

Konnte sich die PDS vor 2005 im Westen kaum etablieren, bot eine Zusammenarbeit mit der WASG die<br />

Chance, das linke Wählerpotential zu erschließen. Nach der erfolgreichen Fusion von 2007 zur Partei<br />

„Die Linke“ scheint die Positionierung sowohl als linke, wohlfahrtsstaatlich orientierte Alternative insbesondere<br />

zur SPD der Großen Koalition als auch als Partei, die spezifische Regionalinteressen in den<br />

neuen Bundesländern vertritt, erfolgreich zu verlaufen: Umfragen im Oktober/November 2008 zeigen<br />

sie bei 10 bis 14%. 23 Es ist der Linken folglich gelungen, sich auf zwei Konfliktlinien (Ost-West und<br />

Ausmaß des Wohlfahrtsstaates) zu positionieren, was im Westen jedoch nur aufgrund der Mitte-<br />

19<br />

Vgl. M. Micus, „Stärkung des Zentrums: Perspektiven, Risiken und Chancen des Fusionsprozesses von PDS und<br />

WASG, in: T. Spier u.a. (Hrsg.): Die Linkspartei, 2007, S. 185-238.<br />

20<br />

Vgl. M. Micus, „Stärkung des Zentrums“, S. 189.<br />

21<br />

A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, S. 115ff.<br />

22<br />

F.U. Pappi / S. Shikano, Ideologische Signale in den Wahlprogrammen der deutschen Bundestagsparteien<br />

1980 bis 2002, MZES-Arbeitspapier Nr. 76, Mannheim, 2004.<br />

23<br />

Vgl. http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm, Stand 12.11.2008.<br />

19


Orientierung der SPD erfolgen konnte. Zudem ist es sicherlich hilfreich, dass sich die unterschiedliche<br />

Basis der fusionierten Partei auch im Führungspersonal widerspiegelt. So bildet der alte PDS-<br />

Vorsitzende Lothar Bisky zusammen mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine den Vorsitz<br />

der neuen Partei, unterstützt im Bundestag vom Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi.<br />

2.3 Die Linke – wirklich eine relevante Partei?<br />

2005 zog das Wahlbündnis mit 8,7% in den Bundestag ein und seit 2008 ist die Linke in 10 der 16<br />

Länderparlamente vertreten. Doch muss nicht jede Partei, die in einem Parlament mehr als 5% auf sich<br />

vereinigt, als eine relevante Partei angesehen werden. Sartori identifiziert zwei Kriterien, von denen<br />

zumindest eins erfüllt sein muss, damit eine Partei als relevanter Bestandteil eines Parteiensystems<br />

gilt. 24 Entweder muss sie über so genanntes blackmail-Potential oder Koalitionspotential verfügen.<br />

Koalitionspotential kann eine Partei unabhängig von ihrer elektoralen Stärke erringen. Ganz gleich wie<br />

klein eine Partei ist: führt erst ihre Beteiligung zu einer Regierungskoalition, ist sie als relevant zu zählen.<br />

Als besten Beispiel kann die FDP in Deutschland gelten, die als „Zünglein an der Wage“ bis in die<br />

1990er Jahre hinein entschied, ob die CDU oder die SPD als große Volkspartei den Bundeskanzler in<br />

einer Koalition mit der FDP stellte. Blackmail- oder „Erpressungs“-Potential kann eine Partei aber auch<br />

in einer Oppositionsrolle zur Relevanz verhelfen, wenn ihre Existenz die Mechanismen des Parteienwettbewerbs<br />

und der Regierungsbildung oder die Positionierung einzelner Parteien beeinflusst. Im<br />

Folgenden werde ich die Frage nach der Relevanz der Partei Die Linke sowohl auf Bundes- als auch<br />

Landesebene diskutieren, da erst bei einem positiven Befund von einer tatsächlichen – auch langfristig<br />

wirksamen – Veränderung des deutschen Parteiensystems gesprochen werden kann.<br />

Die Situation in den neuen Bundesländern und Berlin unterscheidet sich von jener in den alten Bundesländern<br />

und auf Bundesebene. Im ersten Fall kann die Linke 25 durch die Wahlerfolge und parlamentarische<br />

Repräsentation der letzten 18 Jahre als etablierte Partei im Osten gelten. Auf Grund ihrer<br />

elektoralen Bedeutung mit Ergebnissen zwischen 17 und 28% bei den jeweils letzten Landtagswahlen<br />

hat sie sich endgültig als dritte große politische Kraft etabliert. Damit bildet in allen neuen Bundesländern<br />

ein Dreiparteiensystem von Linke, SPD und CDU den Kern des parlamentarischen Parteienspektrums,<br />

ergänzt in einigen Ländern um entweder FDP, Grüne oder die rechtsextreme DVU. Damit verfügt<br />

die Linke sicherlich über blackmail-Potential, denn insbesondere die SPD hat in einigen Bundesländern<br />

ihre Position als zweitstärkste Partei verloren und muss um ihre Wähler auf der linken Seite gegen die<br />

Linke als auch in der Mitte gegen die CDU versuchen zu behaupten. In dieser Positionierung droht sie<br />

zerrieben zu werden, was ihre letzten Ergebnisse in Thüringen (14,5%) und Sachsen (9,8%) zeigen.<br />

Nur dort, wo die SPD sich in der Mitte gegen die CDU behaupten kann wie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern,<br />

kann sie ihre Position zwischen Linke und CDU nutzen und den Partner zur<br />

Regierungsbildung wählen. Für die anderen Parteien (CDU, FDP, Grüne) stellt die Linke zwar eine<br />

elektorale Bedrohung dar, in ihrer strategischen Positionierung gibt es aber auf Basis einer klaren Abgrenzung<br />

keine Auswirkungen. Daneben hat die Linke auch ihr Koalitionspotential zeigen können: Seit<br />

2002 gibt es eine SPD-Linke Regierung unter Klaus Wowereit in Berlin, zuvor regierte eine solche Koalition<br />

schon von 1998-2002 in Mecklenburg-Vorpommern. Zudem gibt es das Modell der Tolerierung<br />

einer Minderheitsregierung durch die Linke, wie sie in Sachsen-Anhalt betrieben wurde, von 1994-<br />

24<br />

G. Sartori, Parties and Party Systems, S. 121ff.<br />

25<br />

Im Folgenden wird zu Gunsten einer sprachlichen Vereinfachung immer von der Partei Die Linke gesprochen,<br />

auch wenn es sich in der Zeit vor 2005 um die PDS handelte.<br />

20


1998 in Form einer Tolerierung einer SPD/Grünen-Minderheitsregierung, bzw. von 1998-2002 einer<br />

SPD-Minderheitsregierung. Sowohl die elektoralen Erfolge und das damit verbundene blackmail-<br />

Potential wie auch das vorhandene Koalitionspotential zeigen eindeutig, dass es sich bei der Partei Die<br />

Linke in den neuen Bundesländern auch nach Sartoris Kriterien um eine relevante Partei handelt.<br />

Auf den ersten Blick weniger deutlich stellt sich die Situation in den alten Bundesländern und auf<br />

Bundesebene dar, da sie hier von ihrer elektoralen Stärke als kleine Partei einzustufen ist. Auswirkungen<br />

auf den Parteienwettbewerb und die strategische Positionierung der anderen Parteien sind jedoch<br />

zu beobachten. So ist die Reaktion seitens CDU und FDP in Form einer Abgrenzungsstrategie relativ<br />

eindeutig und verändert die Dynamik des Wettbewerbs kaum. Anders stellt es sich aber <strong>für</strong> die Grünen<br />

und insbesondere <strong>für</strong> die SPD dar. Für die Grünen stellt die Linke eine direkte Bedrohung um linkes<br />

Wählerpotential dar, so verloren sie in den Landtagswahlen in Hessen 19.000 Stimmen an die Linke,<br />

was immerhin 0,7 Prozentpunkten entspricht. 26 Dabei handelt es sich wohl um stark ideologisch Linksgeprägte<br />

Wähler, die weniger der ökologischen als der basisdemokratischen und pazifistischen Richtung<br />

angehören. Noch stärker ist die Auswirkung jedoch auf die SPD, die sich durch die Linke einem<br />

massiven Druck auf Teile ihrer klassischen Wählerklientel ausgesetzt sieht. Die SPD hat daher zwei<br />

strategische Entscheidungen zu treffen. Die erste betrifft ihre Positionierung im Parteiensystem. Durch<br />

ihre Bewegung zur Mitte während der Schröder-Ära hat die SPD große Teile ihrer klassisch wohlfahrtsstaatlich<br />

orientierten Mitglieder und Wähler, insbesondere aus der Unter- und unteren Mittelschicht,<br />

vor große Identifikationsprobleme gestellt. Nicht zuletzt daraus resultierte die Gründung der<br />

WASG. Deren Ziel war es, die SPD wieder nach links zu bewegen, ein klassisches Merkmal <strong>für</strong> eine<br />

Partei mit blackmail-Potential. Die SPD steht im Grunde vor einem Dilemma: rückt sie wieder nach<br />

links, kann sie möglicherweise Wähler wieder zurückgewinnen. So hatte sie z.B. bei den Landtagswahlen<br />

in Hessen zwar 32.000 Wähler (1,1 Prozentpunkte) an die Linke verloren, doch legte die SPD insgesamt<br />

um über sieben Prozentpunkte zu und das obwohl (oder weil?) sie ein durchaus linkes Programm<br />

vertrat. Auch auf Bundesebene konnten solche Bemühungen beobachtet werden, als unter dem<br />

Vorsitzenden Kurt Beck Forderungen nach Abänderungen der Schröderschen Hartz-Gesetzgebung gefordert<br />

wurden. Doch besteht die Gefahr dieser Strategie darin, die von Schröder eroberten Wähler der<br />

„neuen Mitte“ wieder an die CDU zu verlieren. Der Kampf um diese Wechselwähler galt zuvor als entscheidend,<br />

um Regierungsmehrheiten gewinnen zu können. Die Diskussion um die inhaltliche Ausrichtung<br />

der SPD ist nach wie vor in vollem Gange. Mit der Kür von Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten,<br />

dem Rücktritt von Kurt Beck als Parteivorsitzendem und der damit verbundenen Rückkehr<br />

von Franz Müntefering an die Parteispitze scheint sich jedoch zumindest bis zur Bundestagswahl<br />

2009 der zur Mitte hin orientierte Flügel der Partei durchgesetzt zu haben. Die zweite strategische<br />

Entscheidung betrifft die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit der Linken, um eine parlamentarische<br />

Mehrheit links von CDU und FDP auch in eine Regierungsmehrheit umwandeln zu können.<br />

Hier scheint es keine einheitliche Position auf Bundes- und Landesebene zu geben. So existiert auf<br />

Bundesebene eine allgemeine Ablehnung jeglicher Kooperation mit der Linken durch die SPD, die<br />

nicht nur mit der SED-Vergangenheit sondern auch mit Inkompatibilitäten bei der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

begründet wird. Während hier auch schon unter Kurt Beck jegliche zukünftige Zusammenarbeit<br />

ausgeschlossen wurde, ist die Lage in den Landesverbänden weniger einheitlich.<br />

So ist die Frage nach dem Koalitionspotential der Linken etwas schwieriger zu beantworten als die<br />

nach ihrem blackmail-Potential. Das aktuelle Beispiel um die gescheiterte Regierungsbildung in Hessen<br />

verdeutlicht die Misere, die vor allem innerhalb der SPD zu verorten ist. Auf Grund der nach wie vor<br />

skeptischen Haltung der westlichen Partei-Landesverbände und großer Teile der Öffentlichkeit gegen-<br />

26<br />

Einen Überblick über die Wählerwanderungen in der hessischen Landtagswahl bietet infratest-dimap unter<br />

http://stat.tagesschau.de/wahlarchiv/wid253/analysewanderung6.shtml<br />

21


über der Linken, scheint eine „linke“ Mehrheitskoalition aus SPD, Grüne und Linke nicht durchführbar.<br />

Daher wurde in Hessen als einzige Möglichkeit, Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu wählen,<br />

das in Sachsen-Anhalt erfolgreiche angewandte Tolerierungsmodell angestrebt. Denn weder <strong>für</strong> CDU<br />

und FDP noch <strong>für</strong> SPD und Grüne ergab sich eine parlamentarische Mehrheit. Als Problem erwies sich<br />

vor allem die Aussage der SPD-Spitzenkandidatin Ypsilanti vor den Wahlen im Januar 2008, in der sie<br />

betonte, nicht mit Hilfe der Linken die Macht ergreifen zu wollen. Damit ergaben sich in der Folge<br />

große innerparteiliche Differenzen über den einzuschlagenden Kurs. Nachdem die Diskussionen in<br />

Regionalkonferenzen schließlich in eine Zustimmung von 95% zu Gunsten des Tolerierungsmodells<br />

auf dem Landesparteitag am 02. November 2008 mündeten, überraschte das Scheitern der Wahl durch<br />

die Ankündigung von vier Abweichlern am 04. November, Frau Ypsilanti nicht wählen zu wollen. Dass<br />

sich unter diesen Abgeordneten der stellvertretende Landesvorsitze Walter befand, zeigt die Zerrissenheit<br />

der SPD in der Frage einer Zusammenarbeit mit der Linken. Das Scheitern mündete schließlich in<br />

vorgezogene Landtagswahlen, die <strong>für</strong> den 18. Januar 2009 geplant sind. Auch wenn der Kurs der SPD<br />

unklar ist, scheint die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Linken nach diesen Wahlen momentan<br />

eher als unwahrscheinlich, selbst wenn es erneut keine Mehrheit <strong>für</strong> CDU und FDP geben sollte.<br />

Insbesondere die Bundes-SPD wird sich <strong>für</strong> den Bundestagswahlkampf wünschen, dass es nicht wieder<br />

zu einer solchen Situation in Hessen wie schon 2008 kommt. Doch wie sieht es prinzipiell <strong>für</strong> eine<br />

mögliche Regierungsbeteiligung der Linken nach der Bundestagswahl 2009 aus? Von Seiten der SPD<br />

scheint der Kurs eindeutig: Die politische Führung der SPD um Müntefering und Steinmeier wird nicht<br />

zuletzt wegen des Debakels der hessischen SPD versuchen, einen Abgrenzungswahlkampf gegenüber<br />

der Linken zu führen, der eine Koalition oder Duldung nahezu ausschließt. Aber auch von Seiten der<br />

Linken selbst erscheint eine Kooperation als unwahrscheinliche Option. Als Beispiel mag die Äußerung<br />

von Harald Wolf, Bürgermeister in der SPD-PDS Regierung in Berlin, dienen:<br />

„Wenn wir 2009 in Regierungsverantwortung gehen müssten, hätten wir ein Problem. Wir haben als<br />

Partei eine sehr ungleichzeitige Entwicklung genommen, im Osten arbeiten wir seit 18 Jahren in den<br />

Parlamenten und genießen Akzeptanz. Die westlichen Landesverbände sind stark vom Widerstand gegen<br />

Rot-Grün und der Enttäuschung über die SPD geprägt. Das sind unterschiedliche Kulturen, eine<br />

gemeinsame Identität braucht Zeit. Und vor allem: Es gibt gegenwärtig keine gemeinsame politische<br />

Basis mit der SPD im Bund.“ 27<br />

2.4 Zur Zukunft des Parteiensystems – koalitionstheoretische Überlegungen<br />

Im letzten Teil meiner Analyse möchte ich aus koalitionstheoretischer Perspektive die spezielle Bedeutung<br />

der Partei Die Linke <strong>für</strong> kommende Regierungsbildungen, auch über die nächste Wahl 2009 hinaus,<br />

herausstellen. Dazu werde ich zunächst die beiden zentralen koalitionstheoretischen Richtungen<br />

skizzieren, die sich hinsichtlich der Handlungsmotivation der Parteien grundlegend unterscheiden.<br />

Prinzipiell lassen sich die office- von den policy-seeking Theorien unterscheiden. 28 In ersteren streben<br />

die Parteien allein wegen der zu erwarteten Vorteile einer Regierungsbeteiligung an die Macht. Dazu<br />

versuchen sie zunächst ihren Stimmenanteil zu maximieren, um daraus einen möglichst großen Anteil<br />

an Regierungsämtern zu gewinnen. Aus dieser Motivation heraus gibt es zwei klassische Ansätze, die<br />

zu leicht unterschiedlichen Vorhersagen in den Regierungskoalitionen kommen. 29 Laut minimum win-<br />

27 Interview mit Harald Wolf in der FAZ vom 22. Juli 2008.<br />

28 Als gelungene Einführung in die zentralen Konzepte kann dienen: W.C. Müller, „Koalitionstheorien“, in: L.<br />

Helms / U. Jun, Politische Theorie und Regierungslehre, Frankfurt a.M., 2004, 267-301.<br />

29 Vgl. W. Riker, The Theory of Political Coalitions, New Haven, 1962.<br />

22


ning Ansatz wird jene Mehrheits-Koalition prognostiziert, bei der die beteiligten Parteien zusammen<br />

die geringste Anzahl an Mandaten umfasst, die über 50% hinausreichen. Das Argument ist, dass so die<br />

beteiligten Parteien die eigene prozentuale Stärke innerhalb einer Regierungskoalition maximieren<br />

und somit den maximalen Anteil an Regierungsämter erhalten können. In der Regel wird daher nur<br />

eine Koalition vorhergesagt, da nur bei Mandatsgleichheit von Parteien mehrere Koalitionen gleicher<br />

Stärke möglich sind. Dagegen wird beim minimal winning Ansatz allein auf die minimale Anzahl an<br />

Parteien geachtet, die <strong>für</strong> eine Mehrheitskoalition benötigt werden. Hier werden dann z.B. alle Zweiparteienkonstellationen<br />

als Koalition prognostiziert, die eine absolute Mehrheit an Mandaten auf sich<br />

vereinen können. Als Argument wird angeführt, dass eine Partei die Regierungsmacht mit möglichst<br />

wenigen anderen Parteien teilen möchte. Als Problem dieses Ansatzes wird gesehen, dass er unter Umständen<br />

sehr viele alternative Koalitionen prognostiziert und damit in seiner Prognosegenauigkeit unscharf<br />

wird. 30<br />

Demgegenüber stehen policy-seeking Ansätze, laut derer die Parteien versuchen, ihren inhaltlichen Einfluss<br />

auf die Regierungspolitik zu maximieren. Eine Regierungsbeteiligung wird dann angestrebt, wenn<br />

dadurch die eigenen Politikvorstellungen besser umgesetzt werden können. In der Regel wird dies erreicht,<br />

indem Koalitionen mit ideologisch benachbarten Parteien eingegangen werden. Das erleichtert<br />

die Konsenssuche und maximiert die Chancen aller beteiligten Regierungsparteien, eine Lösung möglichst<br />

nahe an den eigenen Idealvorstellungen zu erreichen. Zur Analyse möglicher Koalitionen werden<br />

die Parteien daher auf der <strong>für</strong> ein Parteiensystem zentralen ideologischen Dimension, also in der Regel<br />

auf der Links-Rechts Skala, angeordnet. Das bedeutendste Modell dieser Richtung, der Ansatz der minimal<br />

connected winning coalitions, verbindet die prinzipielle policy-Orientierung nun mit einem officeseeking<br />

Kriterium. 31 Denn es werden jene Koalitionen vorhergesagt, in denen die minimale Anzahl an<br />

nebeneinander liegenden Parteien die absolute Mehrheit erreicht. Das Kernargument ist, dass das<br />

Streben nach Regierungsmacht immer verbunden ist mit einer glaubwürdigen Umsetzung der eigenen<br />

Politikvorstellungen. Zu große Kompromisse in einer Regierungsamtszeit sind verbunden mit der Gefahr<br />

von großen Stimmenverlusten bei der nächsten Wahl, da durch die eingegangenen Kompromisse<br />

die eigenen Wähler mit der Regierungspolitik unzufrieden werden können. Geht man nun von einer<br />

eindimensionalen Anordnung der Parteien auf der Links-Rechts Skala aus, die grundlegend <strong>für</strong> das<br />

Verhandeln über Regierungskoalitionen ist, so wird immer die so genannte Median-Partei an der Regierung<br />

beteiligt sein. Bei der Median-Partei handelt es sich um jene Partei, bei der es links und rechts<br />

von ihr keine Mehrheit ohne ihre Beteiligung gibt. 32 Daher kann es keine Koalition direkt benachbarter<br />

Parteien ohne den Median geben, eine alternative Koalition müsste die Median-Partei überspringen<br />

und Parteien links und rechts des Medians vereinen. Diese strategische Position gibt der Median-Partei<br />

eine besonders hohe Verhandlungsmacht sowohl über Regierungsämter als auch Politikinhalte.<br />

Für die Anwendung auf Deutschland zur Analyse der zukünftigen Rolle der Linken werde ich zwei<br />

Szenarien <strong>für</strong> das nächste Bundestagswahlergebnis 2009 wählen, die im Moment auf Basis aktueller<br />

Umfrageergebnisse durchaus als realistisch erscheinen. In beiden wird davon ausgegangen, dass fünf<br />

Parteien in den Bundestag einziehen, die Mandatsverteilung der Parteien im Bundestag wird von links<br />

nach rechts in Prozenten der Mandate angegeben.<br />

Szenario 1: Linke 13% - Grüne 11% - SPD 24% - CDU 38% - FDP 14%<br />

Szenario 2: Linke 15% - Grüne 10% - SPD 27% - CDU 36% - FDP 12%<br />

30 vgl. W.C. Müller, „Koalitionstheorien“, S. 269.<br />

31 Vgl. A. de Swaan, Coalition Theories and Cabinet Formations, Amsterdam, 1973.<br />

32 Zur Herleitung des Median-Wähler-Theorems vgl. M.J. Hinich / M.C. Munger, Analytical Politics, Cambridge,<br />

1997, S.35ff.<br />

23


Für alle folgenden Überlegungen gilt, dass nur Mehrheitskoalitionen in Erwägung gezogen werden.<br />

Das reflektiert zunächst die Tatsache, dass es in Deutschland bislang ausschließlich Mehrheitsregierungen<br />

gab. Das liegt aber vor allem an der institutionellen Festlegung im Grundgesetz, dass der Bundeskanzler<br />

mit absoluter Mehrheit zu wählen ist.<br />

Wendet man auf das Szenario 1 nun den gängigen minimal winning Ansatz an, findet man drei Mehrheitskoalitionen,<br />

die aus zwei Parteien gebildet werden können. Es ist jeweils die CDU als stärkste Partei<br />

mit entweder der FDP, der SPD oder der Linken. Nimmt man das Argument des minimum winning<br />

Ansatzes zu Hilfe, dass die CDU ihre Macht nicht nur mit möglichst wenig Parteien teilen will, sondern<br />

auch das Machtgleichgewicht innerhalb der Koalition eine Rolle spielt, wäre die Koalition mit der SPD<br />

als weniger wahrscheinlich zu betrachten. Geht man also von einer reinen Ämterorientierung aus,<br />

bleiben CDU-FDP, CDU-Linke und weniger wahrscheinlich CDU-SPD als prognostizierte Regierungskoalition<br />

bestehen.<br />

Doch zeigt sich an Hand dieser Überlegungen sehr schnell, dass <strong>für</strong> die Bundesrepublik Deutschland<br />

reine office-seeking Modelle nur unzureichend die realen Motivationen der Parteien berücksichtigen.<br />

Eine Koalition der CDU mit der Linken ist undenkbar. Also spielen policy-Überlegungen eine zentrale<br />

Rolle, so dass auf Basis des minimal connected winning Ansatzes die Koalitionen CDU-FDP und CDU-<br />

SPD prognostiziert werden können. Deutlich wird in dieser Prognose die hervorgehobene Position der<br />

CDU als Medianpartei. Eine alternative Regierungsbildung unter der SPD ohne die CDU müsste dagegen<br />

eine in der Realität undenkbare Koalition umschließen, die sowohl die Linke als auch die FDP umfasst.<br />

Auch wenn in diesem Ansatz die ideologische Distanz zwischen zwei benachbarten Parteien keine<br />

Rolle spielt, kann auf Grund der inhaltlichen Nähe von CDU und FDP davon ausgegangen werden,<br />

dass aus policy-Überlegungen die Koalition aus diesen beiden Parteien verwirklicht werden würde. 33<br />

Verstärkt wird diese Prognose durch ein office-seeking Argument. Denn die CDU verfügt über mehr<br />

koalitionsinterne Macht, wenn sie mit der FDP als kleinem Partner und nicht mit der SPD in einer Großen<br />

Koalition regiert.<br />

Im Szenario 2 ändern sich die Mehrheitsverhältnisse nur minimal, was aber große Wirkung auf die<br />

Regierungsbildung hat. So gibt es nur noch zwei minimal winning Koalitionen: CDU-SPD und CDU-<br />

Linke, es reicht nicht mehr <strong>für</strong> CDU-FDP. Auch wenn es sich bei CDU-Linke um die optimale minimum<br />

winning Koalition (zusammen 51%) handelt, ist diese doch aus ideologischen Gründen völlig unrealistisch.<br />

Daher wenden wir den Blick auf die möglichen Mehrheitskoalitionen von ideologisch benachbarten<br />

Parteien. Hier finden wir die Koalition von CDU und SPD und die linke Dreierkoalition von SPD-<br />

Grüne-Linke. Deutlich wird, dass die SPD in diesem Szenario die CDU als Medianpartei abgelöst hat.<br />

An ihr liegt es nun, zwischen den beiden policy-orientierten Koalitionen auszuwählen. Nimmt man das<br />

office-Kriterium der Anzahl der Parteien hinzu, sollte die SPD <strong>für</strong> eine große Koalition votieren, nimmt<br />

man das Argument der Koalitions-internen Macht zu Hilfe, sollte sie sich <strong>für</strong> die Linkskoalition entscheiden,<br />

da sie hier den Kanzler und eine Mehrzahl der Minister stellen kann. Versucht man die ideologische<br />

Distanz als zusätzliches policy-Kriterium heranzuziehen, ist nur schwer ein Urteil zu treffen,<br />

da nicht klar ist, ob zwischen der SPD und der Linken oder zwischen SPD und CDU die größere Distanz<br />

liegt. In diesem Szenario reicht es dagegen nicht <strong>für</strong> eine so genannte Ampel-Koalition aus SPD-<br />

Grüne-FDP. Doch spricht die große ideologische Distanz unter policy-Aspekten gegen diese Koalition,<br />

selbst wenn sie rechnerisch möglich sein sollte.<br />

So wird an dieser Stelle das Dilemma der SPD und die besondere Bedeutung der Linken sichtbar: Zwar<br />

stellt die SPD den Median, sie kann aber mit einem schwächeren Ergebnis als die CDU nur als Junior-<br />

33<br />

Das entspricht dem closed minimal range Ansatz, bei dem jene Mehrheitskoalition prognostiziert wird, die die<br />

geringste ideologische Distanz aufweist, vgl. W.C. Müller, „Koalitionstheorien“, S. 274.<br />

24


partner in eine große Koalition gehen oder auf Bundesebene eine Zusammenarbeit mit der Linken eingehen,<br />

eine Option, die unter der momentanen Führung von Müntefering und Steinmeier nicht denkbar<br />

ist. 34 So bleibt in der momentanen Situation der SPD kaum Hoffnung auf die Kanzlerschaft nach<br />

der Bundestagswahl 2009 – es sei denn ihr gelänge eine Überraschung und sie überflügelt die CDU an<br />

Mandaten. Damit ergibt sich der Ausblick, dass die Frage nach einer potentiellen Zusammenarbeit mit<br />

der Linken nicht nur unter elektoralen, sondern auch unter koalitionstheoretischen Perspektiven nach<br />

2009 vielleicht neu bewertet werden muss. Die Linke selbst muss sich fragen, ob sie bei dem momentanen<br />

eher prinzipiellen Oppositionskurs bleiben möchte, oder sich zukünftig aktiv <strong>für</strong> die Möglichkeit<br />

einer linken Mehrheitskoalition stark macht. Die Gefahr besteht sicherlich darin, an elektoraler Stärke<br />

zu verlieren. Falls es nicht <strong>für</strong> eine CDU-FDP Regierung reicht, ergibt sich <strong>für</strong> die CDU als Alternative<br />

zur Großen Koalition allein die so genannte Jamaika-Koalition aus CDU-FDP-Grüne, auf die jedoch die<br />

gleichen Probleme einer großen ideologischen Heterogenität zukämen wie auf eine Ampel-Koalition.<br />

Solche alternativen Gedankenspiele können dann an Bedeutung gewinnen, wenn man die Annahme<br />

des eindimensionalen Politikraums verlässt. Denn im mehrdimensionalen Raum sind zwar Gleichgewichtslösungen<br />

prinzipiell schwer zu erreichen, können aber über institutionelle Arrangements hergestellt<br />

werden. So kann eine Politikgestaltung auf Basis der Ressortzuständigkeit dann stabile Mehrparteienregierungen<br />

erbringen, wenn die Parteien, die den jeweiligen Minister stellen, autonom über die<br />

Ressortpolitik bestimmen können. 35 Dies scheint jedoch auf Grund der großen Interdependenzen heutiger<br />

Politikentscheidungen über die Ressorts hinweg eine problematische Annahme. Aus dieser skeptischen<br />

Sicht gegenüber einer erfolgreichen Realisierung von „Jamaika“ oder der „Ampel“, bleibt die<br />

zukünftige Rolle der Linken auf Bundesebene ein zentraler Aspekt <strong>für</strong> die unterschiedlichen Koalitionsoptionen<br />

und hier insbesondere <strong>für</strong> die Chancen SPD, den Kanzler zu stellen.<br />

2.5 Schlussbetrachtung<br />

In diesem Beitrag konnte gezeigt werden, dass die Etablierung der Linke als gesamtdeutsche Partei auf<br />

ihre Positionierung auf aktuellen gesellschaftlichen Konfliktlinien zurückgeführt werden kann. Das<br />

reicht jedoch nicht aus, sondern muss ergänzt werden mit der Dynamik des Parteienwettbewerbs und<br />

dem Entstehen einer Repräsentationslücke in den alten Bundesländern durch die Bewegung der SPD<br />

zur Mitte, die erst die Neugründung der WASG ermöglichte. Es besteht kein Zweifel mehr, dass die<br />

Linke als relevante Partei zu zählen ist, was sie momentan vor allem auf Grund ihres blackmail-<br />

Potentials ist. Insbesondere <strong>für</strong> die SPD ergeben sich durch die Linke große Herausforderungen in ihrer<br />

zukünftigen Positionierung. Inwiefern die Linke auch in den alten Bundesländern und auf Bundesebene<br />

zu Koalitionspotential gelangt, hängt einerseits von ihrer eigenen Bereitschaft ab, Regierungsverantwortung<br />

zu übernehmen. Entscheidender wird jedoch sein, wie sich die SPD zukünftig strategisch<br />

gegenüber der Linken verhält. Koalitionstheoretische Überlegungen zeigen, dass sich die SPD eigentlich<br />

gegenüber der Linken öffnen müsste, wenn sie mittelfristig nicht nur als Juniorpartner der CDU<br />

mitregieren möchte, sondern auch den Kanzler stellen will. Das gilt zumindest solange sie hinter der<br />

CDU in der Wählergunst zurückbleibt. Die Alternative einer Ampelkoalition mit den Grünen und der<br />

FDP erscheint momentan auf Grund der Heterogenität der policy-Positionen als eher unwahrscheinlich.<br />

34 Ein Tolerierungsmodell läuft auf Grund des absoluten Mehrheitskriteriums bei der Wahl des Bundeskanzlers<br />

auf die gleichen Koordinationsmechanismen wie bei einer Regierungskoalition hinaus und wird daher im Folgenden<br />

nicht gesondert betrachtet.<br />

35 Vgl. M. Laver / K.A. Shepsle, Making and Breaking Governments: Cabinets and Legislatures in Parliamentary<br />

Democracies, Cambridge, 1996.<br />

25


Die Linke selbst befindet sich auf der elektoralen Ebene in einer strategisch sicheren Situation, solange<br />

die beiden <strong>für</strong> ihre Positionierung wichtigen Konflikte, nämlich der Ost-West Gegensatz und das Ausmaß<br />

an Wohlfahrtsstaatlichkeit, gesellschaftlich relevant bleiben.<br />

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