Eher schlau als klug - des Fachgebiets Methodologie und ...
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Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 1<br />
<strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> –<br />
psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns *<br />
H.-Peter Musahl<br />
Fachgebiet <strong>Methodologie</strong> <strong>und</strong> Arbeitspsychologie im Fachbereich 2<br />
der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg<br />
Zusammenfassung.- Vorausschauende Maßnahmen, wie sie bei Wartung <strong>und</strong> Instandhaltung in<br />
Mensch-Maschine-Systemen zum Ausdruck kommen, sind mit den natürlichen Prinzipien<br />
menschlichen Denkens <strong>und</strong> Handelns nur schwer vereinbar: Betrachtet man wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />
denkpsychologische Bef<strong>und</strong>e, dann erweisen sich Menschen offenbar eher <strong>als</strong> „Schnellmerker“,<br />
die gelegentlichen Trugschlüssen zum Opfer fallen, denn <strong>als</strong> umsichtig <strong>und</strong> <strong>klug</strong> abwägende Problemanalytiker.<br />
Der vorliegende Beitrag verweist zudem auf die Bedeutung <strong>des</strong> lernpsychologischen<br />
Prinzips der negativen Verstärkung, nach dem die Orientierung am subjektiven „Erfolg“<br />
<strong>des</strong> Ausbleibens negativer Konsequenzen insbesondere für die Instandhaltung kontraproduktive<br />
Urteilsprozesse begünstigt: So lange keine Störung vorliegt, scheint intuitiv jeglicher Eingriff<br />
unnötig – „Instandsetzung“ ja, aber warum „Instandhaltung“? Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> kommt<br />
der Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit komplexer Mensch-Maschine- Systeme eine besondere Bedeutung für<br />
ihre Sicherheit zu.<br />
Psychologie untersucht menschliches Verhalten in Mensch-Maschine-Systemen<br />
Menschen handeln eher „<strong>schlau</strong>“ <strong>als</strong> „<strong>klug</strong>“ – der kurzfristige Erfolg <strong>und</strong> das <strong>schlau</strong>e Umgehen<br />
<strong>des</strong> möglichen Nachteils oder drohenden Schadens sind unmittelbar lernwirksam. Kluges, umsichtiges<br />
<strong>und</strong> vorausplanen<strong>des</strong> Handeln, wie Instandhaltung dies typischerweise fordert, hatte<br />
vermutlich keinen besonderen evolutionären Überlebensvorteil in der Geschichte unserer Art.<br />
Diese Gr<strong>und</strong>annahmen über das Denken <strong>und</strong> Handeln von Menschen sind genuiner Forschungsgegenstand<br />
der Psychologie, die mit naturwissenschaftlichen Methoden die Frage zu<br />
beantworten sucht, warum sich Menschen so verhalten, wie sie es tatsächlich tun. Prinzipien der<br />
„kognitiven Ergonomie“, die intuitiv Entscheidungsfähigkeit sichern, sind bestimmende Bedingungen<br />
für Handlungen der Systemkomponente „Mensch“ in komplexen Mensch-Maschine-<br />
Systemen. Und es gilt auf lernpsychologische Hemmnisse für vorausschauende Maßnahmen wie<br />
Wartung <strong>und</strong> Instandhaltung hinzuweisen: Die Warnung vor dem künftigen Umweltschaden<br />
oder den Spätfolgen ges<strong>und</strong>heitswidrigen Verhaltens beeindrucken den Handelnden zumeist<br />
ebenso wenig wie ihn das Motto: „non scholae sed vitae discimus“ zum fleißigen Schüler<br />
machte.<br />
Instandhaltung - auch eine sicherheitspsychologische Aufgabenstellung<br />
Instandhaltung umfasst gemäß DIN 31051 die Maßnahmen (a) der Wartung im Sinne der<br />
Bewachung <strong>des</strong> Soll-Zustands der technischen Mittel eines Systems durch Pflege, Reinigen,<br />
Schmieren <strong>und</strong> Nachstellen, (b) der Inspektion mit dem Ziel der Feststellung <strong>und</strong> Beurteilung<br />
dieses Zustands durch Messen <strong>und</strong> Prüfen sowie schließlich (c) im Falle der Überschreitung der<br />
zulässigen Toleranzgrenzen <strong>des</strong> Systems oder seiner Komponenten, der Instandsetzung, <strong>als</strong>o der<br />
Wiederherstellung <strong>des</strong> Soll-Zustands durch Austausch oder Reparatur.<br />
Zur planmäßigen Organisation der Instandhaltung <strong>als</strong> Bestandteil <strong>des</strong> Qualitätsmanagement-Systems<br />
im Sinne der Normenreihe ISO 9000 (DIN EN ISO 9001; DIN EN ISO 9002)<br />
werden die folgenden Strategien verwendet (Bruchhausen, 1996, S. 289): Die störungsabhängige<br />
Instandsetzung erfolgt meist nach Ausfall oder aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Erreichens der Schadensgrenze. Sie<br />
ist unfallträchtig, weil sie spontanes <strong>und</strong> schnelles Arbeiten verlangt <strong>und</strong> vom Instandhalter fachspezifische<br />
Fähigkeiten <strong>des</strong> Wahrnehmens <strong>und</strong> Beurteilens <strong>des</strong> aktuellen Systemzustands fordert.<br />
Diese fachliche Kompetenz ist weit weniger erforderlich bei der zeitabhängigen Instandhaltung,<br />
* erscheint in Radandt, S. & Vorath, B.-J. (2001). Instandhaltung. XIX. Sicherheitswissenschaftliches<br />
Kolloquium der GfS, 6.-7.November 2000 in Wuppertal (im Druck.)
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 2<br />
bei der eine Instandsetzung oder ein Teileaustausch unabhängig vom tatsächlichen Komponentenzustand<br />
nach definierter Nutzungszeit erfolgt (Beispiele: Zündkerzen von Verbrennungsmotoren,<br />
Leuchtkörper in Hallen). Eine Variante dieser prophylaktisch orientierten Instandhaltungsstrategie<br />
ist die zustandsabhängige Instandhaltung: Dabei wird der Abnutzungsvorrat von Anlagenteilen<br />
durch Inspektion festgestellt, um notwendige Maßnahmen treffen zu können, falls ein<br />
Ende <strong>des</strong> Abnutzungsvorrats innerhalb <strong>des</strong> kommenden Arbeitsabschnitts zu erwarten ist.<br />
Aufgabenstellung <strong>und</strong> Strategien der Instandhaltung umfassen demnach das Wahrnehmen<br />
<strong>und</strong> Erkennen von Störungen in komplexen Mensch-Maschine-Systemen, deren Analyse, Vermeiden<br />
<strong>und</strong> Bewältigung – all dies sind Aspekte moderner sicherheitspsychologischer Forschung.<br />
Detektion – im Sinne <strong>des</strong> Wahrnehmens <strong>und</strong> Erkennens - <strong>und</strong> Analyse von Störungen<br />
sind unmittelbare Funktion kognitiver Prozesse, die ihrerseits mit Lernvorgängen verknüpft sind.<br />
Bevor wir uns aber mit der Frage nach typischen Formen <strong>und</strong> Regelwerken menschlichen<br />
Denkens, der „kognitiven Ergonomie“, auseinander setzen, soll zunächst in einem Exkurs der<br />
Begriff „System“ definiert werden. Denn die geläufige Forderung nach „systemischem“ oder<br />
auch „ganzheitlichem“ Denken übersieht vermutlich die Grenzen intuitiver menschlicher Denkprozesse.<br />
Genau das muss aber beachtet werden, wenn wir die Entstehung von Schäden aufgr<strong>und</strong><br />
unzureichender Instandhaltung besser verstehen <strong>und</strong> in Zukunft vermeiden wollen.<br />
Exkurs: Was ist ein System? Ludwig von Bertalanffy, der Begründer der Allgemeinen Systemtheorie,<br />
definiert Systeme <strong>als</strong> „sets of elements standing in interrelation“ (Bertalanffy, 1973, p.<br />
37). Bei einem System handelt es sich demnach um ein organisiertes Ganzes aus einer definierbaren<br />
Menge von Elementen oder Variablen, <strong>des</strong>sen „organisierte Komplexität“ aus den Wechselwirkungen<br />
seiner Komponenten entsteht.<br />
Ein „System“ liegt <strong>als</strong>o nicht dann vor, wenn viele Komponenten gegeben sind, sondern wenn aus ihrem<br />
spezifischen Zusammenwirken etwas Neues entsteht: Erst aus dem Zusammenspiel von Instrumenten, Musikern,<br />
den Noten <strong>als</strong> Arbeitsleistung eines Komponisten <strong>und</strong> einem koordinierenden Dirigenten entsteht – Musik. Diese<br />
Wechselwirkungen („Interaktionen“) sind nicht-triviale, mathematisch nonlineare (multiplikative) Effekte wechselseitiger<br />
Einflüsse der Einzelkomponenten <strong>des</strong> Systems, sie sind daher nur aus dem Zusammenwirken der Einzelkomponenten<br />
erklärbar; Wechselwirkungen sind die stets multikausale Quelle der „organisierten Komplexität“ <strong>des</strong><br />
Systems. Rückmeldungsschleifen sind demgegenüber keine typischen Kennzeichen eines dynamischen Systems<br />
(Bertalanffy, 1973, p. 170ff), da sie in ihrer Richtung stets eindeutig definiert sind <strong>und</strong> wechselseitige Einflussnahmen<br />
ja gerade ausschließen.<br />
Für die Modellierung <strong>des</strong> aktuellen Zustands eines dynamischen Mensch-Maschine-Systems heißt das: Zu<br />
einem bestimmten Zeitpunkt (Situation) wirken die technischen Gegebenheiten (Maschine), die nach dem Regelwerk<br />
gültige organisatorische Bestimmtheit (Organisation) sowie individuelle Merkmale <strong>und</strong> Informationsverarbeitungsprozesse<br />
<strong>des</strong> Bedieners (Person) im Sinne einer Wechselwirkung 3. Ordnung (SxMxOxP) zusammen. Der „Situations"-<br />
Faktor modelliert dabei die Einmaligkeit <strong>des</strong> aktuellen Zusammenwirkens <strong>und</strong> gestattet es, alle zeitkorrelierten<br />
Veränderungen der einzelnen Komponenten zu berücksichtigen: Das könnten Verschleiß oder Wartungszustand<br />
der technischen Anlage sein, für die Systemkomponenten „Organisation“ <strong>und</strong> „Person“ die durch<br />
Lernen entstandenen Veränderungen.<br />
Der aktuelle Systemzustand ist demnach aus der Wechselwirkung aller vier Komponenten<br />
zu erklären, nicht aus der zeitlichen Aneinanderreihung ihrer relativen Einflüsse; auch die in<br />
Fehlerbäumen zumeist intuitiv angenommene gerichtete Kausalkette ist zum Verständnis komplexer<br />
systemischer Effekte unzureichend, meistens sogar „f<strong>als</strong>ch“. – Prozesse innerhalb dynamischer<br />
Systeme mit geeigneten Methoden zu analysieren ist anspruchsvoller, <strong>als</strong> es die schlagwortartige<br />
Forderung nach systemischem Denken vermuten lässt.<br />
Kognitive Ergonomie – Wahrnehmung <strong>und</strong> Denken folgen Regeln<br />
Wechselwirkungen in komplexen Systemen zu verstehen, Störungen nicht einer einzelnen Systemkomponente<br />
zuzuschreiben – Beispiel: „menschliches Versagen“ <strong>als</strong> Pseudoerklärung – stellt<br />
hohe Ansprüche an das Denken <strong>und</strong> das Vorstellungsvermögen; dies ist einer der Gründe,<br />
warum die kognitionspsychologische Forschung eher Zweifel an der menschlichen Fähigkeit zu<br />
„systemischem“ oder ganzheitlichem Denken anmeldet.<br />
Diese Skepsis gilt auch für den Aspekt der Wahrnehmung, definiert <strong>als</strong> „perzeptiv-kognitive<br />
Informationsintegration“: Wahrnehmung ist ein Prozess, in dem wir äußeren Reizen, die
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 3<br />
nach Maßgabe ihrer physikalischen Eigenschaften sowie interner physiologischer <strong>und</strong> psychologischer<br />
Vorgänge in organismisch relevante Information übersetzt werden, spontan Bedeutung<br />
zuweisen. Visuelle Wahrnehmung ist nicht das Lesen fertiger Bilder auf der Netzhaut, sondern<br />
die kognitive Bedeutungszuweisung zu internen Reizmustern, die ihrerseits Korrelate äußerer<br />
Reize sind. Oder: Wir sehen nicht mit den Augen, sondern weisen Reizgegebenheiten durch<br />
Namensgebung entsprechende Bedeutung zu, durchaus im Sinne <strong>des</strong> Kantschen Hinweises, nach<br />
dem ‚Anschauungen ohne Begriffe blind’ sind.<br />
Diese Bedeutungszuweisung folgt Regelwerken, die <strong>als</strong> Heurismen oder Heuristiken bezeichnet<br />
werden. Diese Prinzipien der kognitiven Ordnungsstiftung sollen in einem kurzen Überblick<br />
zusammengefasst werden (s. hierzu im Überblick: Kahneman, Slovic & Tversky, 1982;<br />
Musahl, 1997, S. 50-81).<br />
Heurismen <strong>als</strong> „Denkzeuge“.- Da im Zuge der Evolution der menschliche Selektionsvorteil<br />
vermutlich nicht darin bestand, dass Menschen gelegentlich nach langem Nachdenken zu „richtigen“<br />
Urteilen kommen, sondern darin, dass sie sehr schnell eine situativ angemessene Entscheidung<br />
für subjektiv erfolgreiches Verhalten treffen konnten, bewähren sich diese Regelwerke insbesondere<br />
beim Zwang zu schneller Entscheidung - oder andersherum: Bei genauerem Hinsehen<br />
sind sie häufig die Quelle von Trugschlüssen <strong>und</strong> Irrtümern. Heuristiken helfen uns, Ereignisse<br />
zu identifizieren (Repräsentativitäts- <strong>und</strong> Ähnlichkeitsheuristik), vorhandenes Wissen darüber<br />
zusammenzutragen <strong>und</strong> zu aktivieren (Verfügbarkeitsheuristik), eigene Handlungsmöglichkeiten<br />
in der aktuellen Situation zu prüfen <strong>und</strong> sich auf sie einzustellen (Anpassungs- <strong>und</strong> Verankerungsheuristik);<br />
dabei kommt es zu Fehlschlüssen. Das muss man wissen, wenn man komplexe<br />
Systeme kontrollieren <strong>und</strong> Störungen erkennen, vermeiden oder bewältigen will.<br />
Zwar treten Heurismen häufig in Kombination miteinander auf <strong>und</strong> sind dann schwer<br />
gegeneinander abzugrenzen; aber immer gilt es zunächst, ein Ereignis mit einem Namen zu<br />
versehen. Zu dieser Identifikation <strong>und</strong> Klassifikation bedienen wir uns <strong>des</strong> „Repräsentativitäts-<br />
<strong>und</strong> Ähnlichkeitsheurismus“ - genau dies ist die Schnittstelle zum Wahrnehmungsprozess.<br />
Bei der Identifikation eines Ereignisses orientieren wir uns an Prototypen, wie z.B. Stereotypen,<br />
die bestimmte Ereignisklassen repräsentieren, oder wir weisen Ereignissen aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Ähnlichkeit mit vorhandenen Elementen deren Bedeutung zu. Dieser Heurismus entspricht<br />
den gestaltpsychologischen Prinzipien der Geschlossenheit, der Prägnanz, der Gleichartigkeit<br />
<strong>und</strong> <strong>des</strong> „gemeinsamen Schicks<strong>als</strong>“. Der Einzelfall wird nicht jeweils erneut bewertet, sondern -<br />
das ist zumeist auch recht ökonomisch - <strong>als</strong> Variante bekannter Ereignisse interpretiert. Das kann<br />
allerdings auch die Aussage „Das machen wir immer so“ <strong>und</strong> „Alles schon mal da gewesen“ zur<br />
Folge haben; Verwechslungsfehler, die „Gültigkeits-Illusion“ (Verwechslung von Prädiktor <strong>und</strong><br />
Kriterium) sowie Denk- <strong>und</strong> Handlungsblockaden sind typische Konsequenzen unzureichender<br />
Identifikation aufgr<strong>und</strong> übergeneralisierender Ähnlichkeitsannahmen.<br />
Ein für den Alltag besonders bedeutsames Prinzip ist der Verfügbarkeits-Heurismus. Er<br />
dient zur Informationsspeicherung <strong>und</strong> Bereitstellung sowie räumlich-zeitlichen Integration <strong>und</strong><br />
Extrapolation von Informationen. Wie wir ein Ereignis bewerten hängt davon ab, wie viel Informationen<br />
darüber uns im Moment gegenwärtig sind oder einfach verfügbar gemacht werden<br />
können, weil sie anschaulich sind. Was im gestaltpsychologischen Sinne Figur <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong> ist,<br />
ergibt sich aus dem zuerst identifizierten Muster. Die Kehrseite <strong>des</strong> Prinzips: "Was zuerst<br />
kommt, wird bevorzugt" lautet allerdings: "Aus den Augen, aus dem Sinn". Und: Verfügbarkeit<br />
ist naturgemäß abhängig von den Regeln, nach denen Informationen uns überhaupt erreichen.<br />
Bei Untersuchungen der Einschätzung lebensbedrohlicher Risiken – das gilt vermutlich auch für intuitive<br />
Gefährdungsabschätzungen – werden seltene, dramatische Unfallrisiken in ihrer Häufigkeit deutlich überschätzt,<br />
tägliche To<strong>des</strong>ursachen hingegen unterschätzt: Wer dachte während der Tage <strong>des</strong> ICE-Unglücks bei Eschede mit<br />
seinen 101 To<strong>des</strong>opfern an die etwa 150 Verkehrstoten <strong>und</strong> an die Schwerverletzten im Straßenverkehr während der<br />
gleichen Woche (statistisch ca. 7.500). Naive Risikoschätzungen reflektieren mehr journalistische Publikationsregeln<br />
(„H<strong>und</strong> beisst Mann“ ist keine Meldung!) <strong>als</strong> die tatsächliche Ereignishäufigkeit (s. hierzu besonders Combs<br />
& Slovic, 1979).
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 4<br />
Expertenurteile sind übrigens ähnlich fehleranfällig wie diejenigen von Laien, kritische<br />
Informationen werden möglicherweise weder abgefragt noch vermisst: Fehler werden nicht dort<br />
gesucht, wo sie sein können, sondern dort, wo sie im Moment gemäß einem subjektiven "Fehlerbaum"<br />
vermutet werden (Fischhoff, Slovic & Lichtenstein, 1978). Checklisten, mit denen Piloten<br />
vor dem Start die Vollständigkeit <strong>und</strong> Funktionsfähigkeit der Aggregate prüfen, sind <strong>als</strong>o nicht<br />
"Gedächtnisstützen", sondern Vorsichtsmaßnahmen gegen unsere Denk- "Ergonomie".<br />
Der Anpassungs- <strong>und</strong> Verankerungsheurismus dient der situationsangemessenen Reizaufnahme<br />
<strong>und</strong> Verarbeitung; seine überragende Leistung zeigt sich in der Urteilsrelativität unserer<br />
Wahrnehmung: Sie ist die Voraussetzung von Konstanzleistungen wie Größen-, Form-,<br />
Raum- <strong>und</strong> Farbkonstanz. Kehrseite dieser Heurismen ist die Bezugssystemabhängigkeit von<br />
Urteilen (Verankerung) <strong>und</strong>, <strong>als</strong> Anpassung an individuelle Erfahrungsbildung, die übersteigerte<br />
Urteilssicherheit ("overconfidence" oder „It won’t happen to me“) <strong>und</strong> Scheingenauigkeit ("hyperprecision“).<br />
Selbstsichere Experten zweifeln nicht an ihren Urteilen; wird das Gegenteil belegt, dann werden die Daten<br />
<strong>als</strong> "f<strong>als</strong>ch" abgewertet (Wenninger, 1988, 161-163) oder der Experte hat es "schon vorher gewußt" - eine <strong>als</strong> "posthoc-Prophezeiung"<br />
zu bezeichnende Variante dieser Heuristik. Nach der Wahl versuchen uns immer wieder Politiker<br />
<strong>und</strong> Journalisten davon zu überzeugen, dass sie das Ergebnis vorhergesehen hätten; dieser schein<strong>klug</strong>e Urteilsfehler<br />
wird auch häufig nach Unfällen, Katastrophen oder spektakulären Verbrechen laut. Aber schon der Volksm<strong>und</strong><br />
weiß darauf angemessen zu antworten: ‚Wenn man vom Rathaus kommt, ist man <strong>schlau</strong>er’.<br />
Diese heuristischen Prinzipien, Regeln der kognitiven Ordnungsstiftung, dienen der schnellen<br />
Auswertung von Informationen, der Orientierung in unserer Umwelt; sie haben sich entwicklungsgeschichtlich<br />
bewährt. Mit ihnen machen wir uns einen Reim auf unsere Welt. Die Funktion<br />
von Heurismen besteht dabei ausdrücklich nicht darin, uns nachdenklich zu machen, kritisch<br />
den nächsten Schritt abzuwägen, sondern darin, Unsicherheit zu beseitigen <strong>und</strong> schnelle,<br />
einfache Antworten zu befördern – heuristische Prinzipien bewirken Entscheidungsfähigkeit<br />
durch Problemverkürzung. Der Appell, systemisches Denken müsse man nur „wollen“, gleicht<br />
daher lautem Singen im dunklen Keller: Systemisches Denken, das Verstehen komplexer Wechselwirkungen,<br />
gehört nicht zu den besonders ausgeprägten menschlichen Fähigkeiten! Wir tendieren<br />
aufgr<strong>und</strong> unseres „Betriebssystems“ zur vereinfachenden Ursachenzuschreibung, zur Aussage<br />
„Alles in Ordnung“, solange der Systemausfall nicht eingetreten ist, zum Glauben an unsere<br />
Kompetenz <strong>als</strong> Autofahrer, solange die ohnehin wahrscheinliche Unfallfreiheit gegeben ist. Was<br />
wir <strong>als</strong> „menschliches Versagen“ denunzieren, ist <strong>als</strong>o keineswegs Versagen, sondern natürliches<br />
Funktionieren aufgr<strong>und</strong> unserer kognitiven Ergonomie.<br />
Die Bef<strong>und</strong>e experimenteller Lernforschung lassen zudem vermuten, dass ein subjektives<br />
Ausbleiben unerwünschter Konsequenzen, der vermeintlich störungsfreie Ablauf trotz regelwidrigen<br />
Systemzustands, die künftige Regelmissachtung fördert. Prinzipien <strong>des</strong> Denkens <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />
Lernens begünstigen demnach Bedingungen für Katastrophen <strong>und</strong> Unglücke, die dann scheinbar<br />
völlig unvermutet auftreten; diesem Aspekt gilt der folgende Abschnitt.<br />
Lernen <strong>als</strong> zentrale menschliche Fähigkeit – <strong>und</strong> <strong>als</strong> „Fallstrick“<br />
Wenn eine Person sich unangemessen oder erfolglos verhält, in einer späteren, ähnlichen Situation<br />
jedoch erfolgreich <strong>und</strong> angemessen, dann erklären wir dies mit ihrer Fähigkeit zum<br />
„Lernen“; sie orientiert sich an ihrer eigenen oder einer von anderen übernommenen Erfahrung.<br />
Diese individuelle Anpassungsleistung von Organismen war entwicklungsgeschichtlich umso<br />
bedeutsamer, je weniger das Verhalten - wie beim Menschen - (a) durch eine kurze Lebensdauer<br />
in einem engen Biotop eingeschränkt ist <strong>und</strong> (b) durch vorgegebenes Instinktverhalten festgelegt<br />
ist; Organismen mit geringer Lebensdauer in einem eng umgrenzten <strong>und</strong> relativ konstanten<br />
Biotop benötigen keine weit entwickelte Anpassungsfähigkeit.<br />
Man bezeichnet daher Veränderungen in der Wahrscheinlichkeit, mit der Verhaltensweisen<br />
in bestimmten Reizsituationen auftreten, <strong>als</strong> Lernen, sofern diese nicht durch Verletzung<br />
eines Organismus oder spontan im Zuge der Reifung zustande kommen, sondern auf frühere Begegnungen<br />
mit dieser oder einer ähnlichen Reizsituation zurückgehen" (Hofstätter, 1957, S.
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 5<br />
195). Lernen ist ein explikatives Konstrukt, mit <strong>des</strong>sen Hilfe wir Veränderungen <strong>des</strong> Verhaltens<br />
post hoc erklären.<br />
Drei Formen <strong>des</strong> Lernens sind zu unterscheiden:<br />
Beim „Assoziations-Lernen“ wird ein ursprünglich neutraler Reiz mit einem anderen Reiz verknüpft<br />
(„assoziiert“), der eine bedeutsame Reaktion auslöst. Es handelt sich <strong>als</strong>o um einen Prozess der „Reiz-Substitution“.<br />
Die „klassische Konditionierung“ (Pawlow, 1916, 1923), bei der neutrale Reize mit (biologisch) bedeutsamen Reiz-<br />
Reaktions-Beziehungen (Reflexen) verknüpft werden, ist ein typisches Beispiel für diese Lernform.<br />
Das „Erfolgs-Lernen“ beruht auf dem Effektgesetz (Thorndike, 1898): Verhaltensweisen werden in ihrer<br />
künftigen Auftretenshäufigkeit durch ihren bisherigen Erfolg bestimmt. Der Lernende interpretiert den einer<br />
Reaktion folgenden Reiz <strong>als</strong> <strong>des</strong>sen Konsequenz <strong>und</strong> bewertet ihn nach seinem subjektiven (!) Erfolg. Verhalten <strong>und</strong><br />
Folge bilden eine „Kontingenz“ <strong>und</strong> die Reaktionswahrscheinlichkeit verändert sich. Diese Lernform ist zentral mit<br />
der Theorie der operanten Konditionierung von Skinner (1953, 1978) verb<strong>und</strong>en.<br />
„Modell-Lernen” (oder „Imitations-Lernen“) führt zum Erwerb neuer Verhaltensmuster aufgr<strong>und</strong> der Beobachtung<br />
anderer: Verhaltensweisen eines „Modells“ oder Vorbilds werden übernommen (Bandura, 1976).<br />
Diese drei unterschiedlichen Lernformen sind keine konkurrierenden Theorien, sondern<br />
sie erklären jeweils unterschiedliche Prozesse: Assoziationslernen erklärt die durch Erfahrungsbildung<br />
erfolgende Verknüpfung bisher neutraler mit bedeutsamen Reizen, die operante Konditionierung<br />
erklärt die Veränderung der Häufigkeit von Reaktionen mit deren subjektivem Erfolg<br />
<strong>und</strong> das Modell-Lernen führt zur Übernahme neuer komplexer Verhaltensmuster durch die Imitation<br />
erfolgreicher Verhaltensmodelle <strong>und</strong> sog. Vorbilder. Für unseren Zusammenhang – das<br />
Verständnis psychologischer Hemmnisse vorausschauenden Handelns – ist das Erfolgslernen<br />
von besonderer Bedeutung; seine Paradigmen nützen dem Verständnis dafür, dass sich Menschen<br />
mit dem bei der Instandhaltung geforderten vorausschauenden Handeln so schwer tun.<br />
„Negative Verstärkung“ oder: Wenn Sanktionen ausbleiben. - Ausgangspunkt <strong>des</strong> Erfolgs-<br />
Lernens ist die subjektive Bewertung <strong>des</strong> auf ein willkürlich oder zufällig ausgeführtes Verhalten<br />
folgenden Ereignisses <strong>als</strong> <strong>des</strong>sen Konsequenz; diese Folge von Verhalten <strong>und</strong> Konsequenz bildet<br />
eine „Kontingenz“. Diese subjektive Ereignis-Folge-Erwartung bewirkt eine Verstärkung oder<br />
eine Abschwächung der jeweiligen Verhaltenswahrscheinlichkeit.<br />
Verhaltensweisen werden seltener, wenn ihre Folge subjektiv unerfreulich ist: Auf eine Handlung folgt ein <strong>als</strong><br />
aversiv bewertetes Ereignis (Abschwächung, „Bestrafung“) oder ein erwarteter appetitiver Reiz bleibt aus<br />
(Löschung, „Extinktion“). Also: Strafe <strong>und</strong> der Entzug von Vergünstigung wirken in die gleiche Richtung.<br />
Verhaltensweisen werden hingegen häufiger, wenn ihre Folge subjektiv erfreulich ist: Der Reaktion folgt ein<br />
appetitiver Reiz (positive Verstärkung, „Belohnung“) oder – <strong>und</strong> das ist in unserem Zusammenhang besonders<br />
wichtig (s. hierzu Musahl, 1999) – die ohnehin unerwünschte aversive Konsequenz tritt nicht ein (negative Verstärkung,<br />
Vermeidung oder Ausbleiben einer Sanktion); dabei scheint es für den Lernerfolg gleichgültig, ob der<br />
aversive Reiz einfach nur ausbleibt oder durch eigenes Tun vermieden wird.<br />
Die Wirkung der Kontingenzen ist von ihrer Stärke, Häufigkeit <strong>und</strong> zeitlichen Verteilung abhängig.<br />
Je variabler eine bestimmte Konsequenz eintritt, <strong>des</strong>to nachhaltiger ist der Lerneffekt;<br />
aperiodische Verstärkungsprogramme sind nur sehr schwer zu löschen. Und das heisst für die<br />
negative Verstärkung: Verharmloste Regelverstöße, unerkannte Beinahe-Unfälle, übersehene<br />
Mängel, latente Krankheitsursachen oder Umweltschädigungen behalten aufgr<strong>und</strong> aperiodischer,<br />
seltener oder verzögert auftretender Kontrollen, Unfälle oder Schäden ihren Verstärkungs-<br />
Charakter; denn der unmittelbare Misserfolg bleibt aus, der angekündigte oder erwartete<br />
Schaden tritt nicht ein. Negative Verstärkung - man tut das Verbotene oder unterlässt das<br />
Gebotene, aber die erwartete Sanktion bleibt aus - ist daher für unseren Zusammenhang von<br />
überragender Bedeutung.<br />
Der subjektive Gewinn bei der „negativen“ Verstärkung besteht <strong>als</strong>o nicht darin, dass der Handelnde einen<br />
Vorteil bekommt – dies wird häufig fälschlich mit Verweis auf die „Bequemlichkeit“ oder Schnelligkeit sicherheitswidrigen<br />
Verhaltens behauptet – sondern dass der erwartete Nachteil nicht eintritt; genau dies bezeichnet der<br />
Begriff „negativ“! Wenn der Handelnde darüber hinaus tatsächlich etwas erhält - das bezeichnet der Begriff<br />
„positiv“ – dann folgt der negativen zusätzlich eine positive Verstärkung. Beide Prozesse sind theoretisch <strong>und</strong><br />
experimentell deutlich voneinander zu unterscheiden. – Diese doppelte Verstärkung, bei der einer negativen noch<br />
eine positive Verstärkung folgt, ist in sozialen Systemen immer dann bedeutsam, wenn die Bewältigung von Gefahr<br />
oder die Nichteinhaltung von Regeln den sozialen Status mitbestimmen – das „l'état c'est moi!“ <strong>des</strong> Louis XIV. oder<br />
die römische Sentenz „Quod licet Iovi, non licet bovi“ („Was Jupiter darf, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt“)<br />
beschreiben genau diese Tatsache: Dem Regelverstoß folgt (a) keine Sanktion <strong>und</strong> (b) der Handelnde gewinnt an<br />
sozialem Ansehen – ein typischer Vorgang im Sozialisationsprozess vom Jugendlichen zum Erwachsenen.
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 6<br />
Der Effekt der negativen Verstärkung subjektiv konsequenzenloser Regelverstöße konnte<br />
wiederholt nachgewiesen werden: In einem Simulationsexperiment sollte zur Vermeidung von<br />
Störungen eine Sicherheitsregel beachtet werden; Sanktionsstärke <strong>und</strong> -häufigkeit für den Fall<br />
<strong>des</strong> Regelverstoßes wurden in je drei Stufen systematisch variiert. Negative Verstärkung erwies<br />
sich <strong>als</strong> sehr wirksam: Die Regelbefolgung nimmt mit der Häufigkeit negativer Verstärkungen<br />
ab. Die Wahrscheinlichkeit, gegen die Regel zu verstoßen, wird umso größer, je häufiger dies<br />
bisher straflos möglich war. Ab einer relativen Häufigkeit von etwa 80% „erfolgreicher“ Regelverstöße<br />
wird die Regel überhaupt nicht mehr eingehalten; sie ist subjektiv „ungültig“, der Regelverstoß<br />
ist die neue Norm (Musahl & Müller-Gethmann, 1994, S. 162-165). Ein kritisches<br />
Extensionsexperiment replizierte den Bef<strong>und</strong> nachdrücklich (Müller-Gethmann & Musahl,<br />
1996).<br />
Die Ergebnisse beider Experimente führten zu einer weiteren Hypothese: Die subjektiv erfolgreiche<br />
Vermeidung oder Bewältigung von Gefahr, Bedrohung, Verletzung, Schmerz hat vermutlich<br />
aus biologischen Gründen einen besonderen Rang. Sie war für das Überleben der Art<br />
Mensch wichtiger <strong>als</strong> der Zugang zu Nahrung hic et nunc. Daher ist zu erwarten, dass der Lerneffekt<br />
bei negativer Verstärkung (Vermeidung von Gefahr) größer ist <strong>als</strong> bei positiver Verstärkung<br />
(Gewinn einer Belohnung) – der resultierende Lerngradient müsste steiler sein. Dies wurde<br />
in dem folgenden Experiment geprüft, bei dem es sich um eine lernpsychologisch erweiterte<br />
Variante einer klassischen gedächtnispsychologischen Arbeit von Miller, Bruner & Postman<br />
(1954) handelt (Horstmann, 1998):<br />
P<br />
r<br />
o<br />
z<br />
e<br />
n<br />
t<br />
95<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
0<br />
Mittlerer Prozentsatz richtig reproduzierter Buchstaben<br />
in den fünf Lerndurchgängen in Abhängikeit vom<br />
Approximationsgrad der Buchstabenfolgen <strong>und</strong> den zwei Verstärkungsbedingungen<br />
1 2 3 4 5<br />
Lerndurchgänge<br />
Approximationsgrad 4<br />
negative Verstärkung<br />
positive Verstärkung<br />
Approximationsgrad 2<br />
negative Verstärkung<br />
positive Verstärkung<br />
Abbildung 1: Mittlerer Prozentsatz richtig reproduzierter Buchstabensequenzen in den 5 Lerndurchgängen in<br />
Abhängigkeit von ihrem Approximationsgrad <strong>und</strong> den beiden Verstärkungsbedingungen: Neben den Haupteffekten<br />
der Lerndurchgänge <strong>und</strong> <strong>des</strong> Approximationsgrads resultiert eine signifikante Wechselwirkung zwischen den<br />
Lerndurchgängen <strong>und</strong> der Verstärkungsart; der Lernerfolg bei negativer Verstärkung (fett) übertrifft zunehmend<br />
denjenigen bei positiver Verstärkung.<br />
Methode: Auf einem Rechnermonitor wurden kurzzeitig (100 msek) insgesamt 75 Buchstabenfolgen variabler<br />
Länge (Sequenzlängen von 6, 8 <strong>und</strong> 10 Buchstaben) <strong>und</strong> unterschiedlicher Ähnlichkeit mit der Muttersprache (sog.<br />
Approximationsgrad) dargeboten. Die jeweilige Sequenz sollte unmittelbar anschließend mit Hilfe der
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 7<br />
Rechnertastatur reproduziert werden. 15 Buchstabenfolgen waren in 5 Lerndurchgänge zu bearbeiten. Ausgewertet<br />
wurde (a) die Anzahl reproduzierter Buchstaben <strong>und</strong> (b) deren Position innerhalb der Sequenz.<br />
Versuchsteilnehmer waren 80 Psychologie-Studenten, die in ihrem Gr<strong>und</strong>studium sog. Versuchspersonenst<strong>und</strong>en<br />
ableisten mussten, um an einem experimentellen Pflichtpraktikum teilnehmen zu können. Sie wurden zur<br />
Untersuchung der Wirkung unterschiedlicher Verstärkungen auf den Lernverlauf nach dem Zufall zwei Bedingungen<br />
zugewiesen: Wurde jeweils mehr <strong>als</strong> 50% der dargebotenen Buchstabenfolge reproduziert, dann (a)<br />
erhielten sie einen definierten Zeitgewinn („positive Verstärkung“) oder (b) vermieden sie einen definierten<br />
Zeitabzug von einem Guthaben von 3 Versuchspersonenst<strong>und</strong>en („negative Verstärkung“). – Damit lag dem<br />
Experiment ein 4-faktorieller Mischversuchsplan (RRWW 2x2x3x5) mit 2 Zufallsfaktoren („positive“ versus „negative<br />
Verstärkung“; „niedriger [2]“ versus „hoher [8] Approximationsgrad“) <strong>und</strong> 2 Faktoren mit wiederholten<br />
Messungen (Sequenzlängen mit 6, 8 <strong>und</strong> 10 Buchstaben; Lerndurchgänge 1 bis 5) zu Gr<strong>und</strong>e.<br />
Den Hauptbef<strong>und</strong> zeigt Abbildung 1; er unterstützt die Hypothese der stärkeren Lernwirksamkeit<br />
negativer Verstärkungen: Der mittlere Prozentsatz richtig reproduzierter Buchstabensequenzen<br />
in den 5 Lerndurchgängen nimmt in Abhängigkeit von den beiden Verstärkungsbedingungen<br />
<strong>und</strong> dem Approximationsgrad zu. Neben den varianzanalytisch signifikanten Haupteffekten der<br />
Lerndurchgänge (F4; 5940 = 89,9; p=.00) – es wird <strong>als</strong>o tatsächlich gelernt – <strong>und</strong> <strong>des</strong> Approximationsgrads<br />
(F1; 76 = 4,5; p=.037) – der Lernerfolg ist bei dem höheren Approximationsgrad erwartungsgemäß<br />
größer <strong>als</strong> bei niedrigem – resultiert eine signifikante Wechselwirkung zwischen den<br />
Lerndurchgängen <strong>und</strong> der Verstärkungsart (F4; 5940 = 6,0; p=.00): Der Lernerfolg bei negativer<br />
Verstärkung übertrifft denjenigen bei positiver Verstärkung mit den Lerndurchgängen zunehmend.<br />
Dies differenziert den generellen Haupteffekt der Verstärkungsbedingung über die beiden<br />
Approximationsgrade hinweg (F1; 5940 = 20,1; p=.00).<br />
Standardabweichung<br />
24<br />
22<br />
20<br />
18<br />
16<br />
14<br />
Standardabweichungen <strong>des</strong> mittleren Prozentsatzes richtig reproduzierter<br />
Buchstaben der Buchstabenfolgen mit dem Approximationsgrad 2 <strong>und</strong> 4 in den<br />
fünf Lerndurchgängen in Abhängigkeit von den zwei Verstärkungsbedingungen<br />
0<br />
1 2 3 4 5<br />
Lerndurchgänge<br />
negative<br />
Verstärkung<br />
positive<br />
Verstärkung<br />
Abbildung 2: Erfolgreiche Lernprozesse erhöhen nicht nur das mittlere Leistungsniveau, sie verringern – homogene<br />
Lerngruppen vorausgesetzt – auch die Streuung der Einzelleistungen. Auch dabei verschwindet offenbar die<br />
anfängliche Überlegenheit der positiven Verstärkung (dünner Datentrend); die mittlere Höhe der Standardabweichung<br />
nimmt bei negativer Verstärkung (fett) über die Lerndurchgänge kontinuierlich ab <strong>und</strong> ist schließlich<br />
geringer <strong>als</strong> die Datenstreuung bei positiver Verstärkung.<br />
Kennzeichnend für erfolgreiche Lernprozesse ist nicht nur die kontinuierliche Zunahme <strong>des</strong><br />
mittleren Leistungsniveaus, sie verringern – homogene Lerngruppen vorausgesetzt – auch die
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Streuung der Einzelleistungen, weil insgesamt weniger Fehler gemacht werden <strong>und</strong> sich der Abstand<br />
zwischen den besten <strong>und</strong> den schlechten Lernern verkleinert.<br />
Eine Analyse der Streuungsmaße unter den beiden Verstärkungsbedingungen bestätigte deren<br />
unterschiedliche Wirkung (s. Abb. 2): Die anfänglich geringeren Streuungsunterschiede bei positiver<br />
Verstärkung (geringere Standardabweichung) verschwinden nach dem dritten Lerndurchgang,<br />
die mittlere Streuung nimmt bei negativer Verstärkung über die Lerndurchgänge kontinuierlich<br />
ab <strong>und</strong> ist schließlich geringer <strong>als</strong> diejenige bei positiver Verstärkung.<br />
Unbeschadet der Notwendigkeit einer kritischen Replikation dieses Experiments stützen seine<br />
bei den vier unabhängigen Stichproben konsistenten Bef<strong>und</strong>e klar die Hypothese der größeren<br />
Lernwirksamkeit der negativen gegenüber der zumeist empfohlenen positiven Verstärkung. Was<br />
pädagogisch <strong>und</strong> möglicherweise ideologisch zurückgewiesen wird – der Hinweis auf Sanktionen,<br />
vielleicht auch die Drohung damit – scheint lernpsychologisch, vermutlich aus evolutionsbiologischen<br />
Gründen vorteilhaft. Für den vorliegenden Sachverhalt der Instandhaltung ist<br />
der Bef<strong>und</strong> zugleich fatal – das „Glück-gehabt!“ nach ausbleibendem Schaden begünstigt<br />
künftige Vernachlässigung der Sorgfalt – <strong>und</strong> sicherheitspsychologisch wichtig: Wir verstehen<br />
das Entstehen von Sorglosigkeit bei der Instandhaltung besser <strong>und</strong> können, da es sich um einen<br />
Lernprozess handelt, in diesen gezielt eingreifen. Hierzu bedarf es der Aufdeckung der lernpsychologisch<br />
relevanten Agenten – das sind die konsequenzenlos auftretenden Fehler.<br />
Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>als</strong> Chance<br />
Moderne, anspruchsvolle Mensch-Maschine-Systeme gestatten üblicherweise in einem<br />
bestimmten Umfang fehlerhafte Handlungen (sog. Fehlhandlungen, <strong>als</strong>o f<strong>als</strong>che Handlungen)<br />
<strong>und</strong> Handlungsfehler (f<strong>als</strong>che Einzeltätigkeit innerhalb einer im übrigen zutreffend gewählten<br />
Handlung) sowie den Ausfall oder die Fehlfunktion technischer Komponenten aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Fehlertoleranz: Technische oder organisationale Systemkomponenten puffern Sollwertabweichungen<br />
jenseits der Toleranzgrenzen ab oder korrigieren sie mit Hilfe red<strong>und</strong>anter<br />
Komponenten. Das ABS-System gestattet einen Bremsvorgang bei nasser Straße, ohne dass es<br />
zum Ausbrechen <strong>des</strong> Fahrzeugs kommt, auch dann noch, wenn der Fahrer besser hätte sehr viel<br />
langsamer fahren sollen. Und das Bremssystem selbst bleibt innerhalb bestimmter Grenzen<br />
funktionsfähig, auch wenn eine Bremsleitung defekt ist, da es sich um ein Zweikreisbremssystem<br />
handelt.<br />
Allerdings: Wenn diese Systeme Fehler tolerieren, indem sie deren Wirkung kompensieren,<br />
ohne dass diese Tatsache dem Operator zurückgemeldet wird, dann wird er sich künftig<br />
nicht anders verhalten. Es gibt auch keinen Gr<strong>und</strong>, an der perfekten Funktion <strong>des</strong> Systems zu<br />
zweifeln. Fehlertolerante Systeme bergen daher die Gefahr der Begünstigung der „Kontroll-<br />
Illusion“ aufgr<strong>und</strong> der subjektiven Fehlerfreiheit <strong>des</strong> Systems in sich. Dieser unzutreffende<br />
Glaube, man habe das System unter Kontrolle, war <strong>und</strong> ist eine wichtige psychologische Ursache<br />
zahlreicher Störungen, Unfälle <strong>und</strong> Katastrophen. Dies ist <strong>als</strong>o nicht „menschliches Versagen“,<br />
sondern die technische <strong>und</strong> organisationale Begünstigung eines irreführenden Lernprozesses, in<br />
dem der Mensch <strong>als</strong> Lernender – leider – sehr gut funktioniert.<br />
Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit ist ein wichtiger Schritt zur Aufdeckung von Fehlern <strong>und</strong> damit zur<br />
Vermeidung dieses fatalen Lernvorgangs. Arbeitssysteme <strong>und</strong> technische Systeme bezeichnet<br />
man dann <strong>als</strong> „fehlerfre<strong>und</strong>lich“, wenn sie das Aufdecken von Fehlern fördern, sie „fre<strong>und</strong>lich<br />
begrüßen“, weil aus der Entstehungsgeschichte <strong>des</strong> Fehlers auf den zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />
technischen Vorgang oder Denkprozess geschlossen werden kann. Bereits Ernst Mach (1905)<br />
wies darauf hin: „Wissen <strong>und</strong> Irrtum fließen aus derselben Quelle, nur der Erfolg unterscheidet<br />
das eine vom anderen.“ Es gilt <strong>als</strong>o, den subjektiven Begründungszusammenhang von<br />
fehlerhaften Handlungen <strong>und</strong> Zuständen aufzudecken, um auf diese Weise „aus Fehlern zu<br />
lernen“. Ausgehend von der modernen Sicht <strong>des</strong> Fehlers, nach der es sich dabei zum Zeitpunkt<br />
<strong>des</strong> Handelns um einen subjektiv zutreffenden Akt handelt (Wehner, 1994), wird <strong>des</strong>sen<br />
subjektive Logik erkannt <strong>und</strong> kann durch den Handelnden oder das System korrigiert werden, so<br />
dass er künftig nicht mehr auftritt. Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit, das sei eingeräumt, ist allerdings eine
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ziemliche Herausforderung in einer Gesellschaft, in der frühzeitig gelernt wird, dass<br />
Fehlervertuschung <strong>und</strong> Mogeln sich gelegentlich lohnen.<br />
Die Überwindung dieser gelernten Haltungen <strong>und</strong> das Konzept der Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit<br />
fordert Arbeitsroutinen, die sich im Bereich <strong>des</strong> Arbeitsschutzes mit der Aufdeckung von<br />
insbesondere bisher unerkannten Beinahe-Unfällen außerordentlich bewährt haben. Auch die<br />
Verfolgung hoher Qualitätsstandards fordert im Gr<strong>und</strong>e nichts anderes, <strong>als</strong> den Prozess<br />
kontinuierlicher Verbesserung mittels beständiger kritischer Würdigung der eigenen Arbeit, dem<br />
Erkennen <strong>und</strong> Vermeiden von Fehlern <strong>und</strong> dem Bemühen um innovative Lösungen<br />
voranzutreiben.<br />
Wartung <strong>und</strong> Instandhaltung verlangen Formen <strong>des</strong> Denkens <strong>und</strong> Handelns, die natürlichen<br />
Verhaltenstendenzen widersprechen. Notwendig ist daher (1) zunächst die respektvolle<br />
Kenntnisnahme unserer psychologischen Konstruktionsprinzipien, (2) das explizite Bemühen um<br />
„Fehlerfre<strong>und</strong>lichkeit“ <strong>als</strong> Voraussetzung zur vorausplanenden Störungsvermeidung <strong>und</strong> (3) die<br />
systematische Entwicklung von Handlungsroutinen, welche die psychologischen Prinzipien nicht<br />
beklagen <strong>und</strong> denunzieren – im Sinne <strong>des</strong> Etiketts „menschliches Versagen“ oder der „human<br />
error probability“ – sondern sie konstruktiv nutzen, die Handelnden im Kantschen Sinne über<br />
Denkfehler <strong>und</strong> Lernprozesse „aufklären“ <strong>und</strong> sie befähigen, Trugschlüsse <strong>und</strong> Fehlbeurteilungen<br />
zu vermeiden sowie dadurch Störungsmöglichkeiten <strong>und</strong> Fehlerquellen frühzeitig zu<br />
erkennen <strong>und</strong> vorausschauend zu bewältigen.<br />
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