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Basislehrbuch Kriminologie - Leseprobe

Dieses Buch gibt einen Überblick über den kriminologischen Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung des Blickwinkels der Polizei. Die Autorinnen vermitteln grundlegendes Wissen über die zentralen kriminologischen Fragestellungen nach den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vorbeugungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten sowie geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen von Kriminalität. Zudem zeigen sie für jedes besondere Kriminalitätsfeld einen konkreten Bezug zur praktischen Polizeiarbeit auf.

Dieses Buch gibt einen Überblick über den kriminologischen Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung des Blickwinkels der Polizei. Die Autorinnen vermitteln grundlegendes Wissen über die zentralen kriminologischen Fragestellungen nach den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vorbeugungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten sowie geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen von Kriminalität. Zudem zeigen sie für jedes besondere Kriminalitätsfeld einen konkreten Bezug zur praktischen Polizeiarbeit auf.

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Vorwort<br />

Vorwort<br />

Auch wenn die Entwicklung der Polizei hin zu einer Akademisierung bereits in<br />

den 1980er Jahren einsetzte, hat sie durch den Bologna-Prozess mit dem Ziel der<br />

Harmonisierung der akademischen Ausbildung und einer Umstellung des gesamten<br />

Hochschulwesens mit den einheitlichen Studienabschlüssen Bachelor und<br />

Master zu Beginn der 2000er neue Fahrt aufgenommen. Das Bachelorstudium für<br />

Polizei- und Kriminalkommissaranwärter:innen wurde implementiert, die ehemaligen<br />

Fachhochschulen in vielen Bundesländern zu neuen Hochschulen der Polizei<br />

umstrukturiert. Dieser Prozess hat nicht nur die <strong>Kriminologie</strong> als Fach und den<br />

wissenschaftlichen Stellenbedarf an den Hochschulen der Polizei gestärkt. Damit<br />

verbunden war auch eine Zunahme des Stellenwerts der <strong>Kriminologie</strong> für die<br />

Studierenden und die Notwendigkeit, das kriminologische Wissen bedarfsgerecht<br />

aufzubereiten. Studierende der Polizei begegnen dem Fach oftmals mit Vorbehalten<br />

und stellen sich das empirische kriminologische Wissen als viel zu weit entfernt<br />

von ihrem praktischen Alltag vor. Wozu muss ich so viel über Studien und empirische<br />

Erkenntnisse wissen? Was nutzt mir dieses Wissen auf der Straße? So sind<br />

Lehrende im Fach <strong>Kriminologie</strong> unentwegt damit beschäftigt, die Praxisrelevanz<br />

des Faches aufzuzeigen.<br />

Daraus ist die Idee für dieses Buch entstanden. Es bereitet die Themenbereiche<br />

der <strong>Kriminologie</strong> auf und behält dabei die polizeiliche Perspektive stets im Blick.<br />

Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil beinhaltet kriminologisches<br />

Grundlagenwissen zur Geschichte der <strong>Kriminologie</strong>, zu deren Theorien und Wissensquellen,<br />

wie auch zu den Themenfeldern Viktimologie und Kriminalitätswahrnehmungen.<br />

Jedes Themenfeld beinhaltet einen zusammenfassenden Abschnitt<br />

zu Merkposten und dem Wichtigsten in Kürze. Die polizeiliche Perspektive bleibt<br />

im ersten Teil zunächst im Hintergrund. Der zweite Teil handelt von besonderen Kriminalitätsfeldern,<br />

darunter die Themen abweichendes Verhalten in unterschiedlichen<br />

Altersgruppen, Gewaltkriminalität, Sexualdelikte, Stalking, Drogenkriminalität,<br />

Eigentums- und Vermögenskriminalität, Kriminalität im Kontext von Migration,<br />

Vorurteilskriminalität / Hasskriminalität, wie auch Organisierte Kriminalität und<br />

Wirtschaftskriminalität. Jedes dieser Kapitel im zweiten Teil beinhaltet neben den<br />

Merkposten einen Abschnitt zu den Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.<br />

Anschauliche Fallbeispiele leiten zudem jedes Themenfeld ein. Über das gesamte<br />

Buch beinhaltet zudem jedes Kapitel weiterführende Literatur und Links, um<br />

Studierenden die Recherche für ggf. eigene Forschungsarbeiten zu erleichtern.<br />

Das Buch zeichnet sich zudem durch seine interdisziplinäre Perspektive aus. Der<br />

<strong>Kriminologie</strong> als interdisziplinäres Forschungsfeld Rechnung tragend, setzt sich das<br />

Team der Autorinnen aus Juristinnen, Soziologinnen und Psychologinnen zusammen,<br />

die gemeinsam und mit ihrer je eigenen Fachexpertise die kriminologischen<br />

Themenfelder mit stetem Blick auf die polizeipraktische Perspektive aufarbeiten.<br />

5


Vorwort<br />

Der Entstehungsprozess dieses Lehrbuches war recht steinig, denn durch die Corona-Pandemie<br />

kam es zu zahlreichen Verzögerungen. Dass dieses Buch schlussendlich<br />

doch finalisiert werden konnte, haben wir nicht zuletzt auch unseren fleißigen<br />

studentischen Helfer:innen Kira Diermann, Ben Hundertmark, Senem Kilic, Ava<br />

Stähler, Talea Bruns und Nara Skipper zu verdanken. Das Team der Autor:innen<br />

hofft, durch das Lehrbuch nicht nur die Neugier auf das spannende Fach der <strong>Kriminologie</strong><br />

zu wecken, sondern darüber hinaus eine Unterstützung für die polizeiliche<br />

Praxis liefern zu können. Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre.<br />

Hamburg, Dezember 2022<br />

Stefanie Kemme und Eva Groß<br />

6


Inhaltsverzeichnis<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort .............................................................5<br />

Abbildungsverzeichnis ................................................13<br />

Tabellenverzeichnis ...................................................17<br />

Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong> .....................................19<br />

1 Was ist <strong>Kriminologie</strong>? (Stefanie Kemme) .........................19<br />

1.1 <strong>Kriminologie</strong> als Teil der Kriminalwissenschaften...................20<br />

1.2 <strong>Kriminologie</strong> als interdisziplinäre Wissenschaft ....................22<br />

1.3 <strong>Kriminologie</strong> als national und international verankerte Wissenschaft ...25<br />

1.4 Kriminalitätsbegriffe...........................................28<br />

1.5 Soziale Kontrolle ..............................................30<br />

1.6 Zur Legitimation staatlicher Sozialkontrolle durch Strafrecht .........33<br />

1.7 Praxisorientierung – Kriminaljustizsystem, Kriminalpolitik und<br />

angewandte kriminologische Forschung ..........................40<br />

1.8 Merkposten: das Wichtigste in Kürze.............................48<br />

1.9 Weiterführende Literatur und Links..............................49<br />

2 Geschichte der <strong>Kriminologie</strong> und Kriminalitätstheorien<br />

(Ulrike Zähringer und Eva Groß) .................................51<br />

2.1 Die Anfänge: Von der Antike über die Klassische Schule von<br />

Beccaria bis zur Positiven Schule von Lombroso ...................51<br />

2.1.1 Klassische Schule nach Beccaria .................................51<br />

2.1.2 Positive Schule nach Lombroso .................................52<br />

2.2 Der Beginn des modernen Kriminalstrafrechts im<br />

19. Jahrhundert mit Franz von Liszt ..............................54<br />

2.3 Kriminalitätstheorien: Unterschiedliche Ansätze zur<br />

Erklärung von Kriminalität......................................55<br />

2.4 Ursachenbezogene Perspektive: Das ätiologische Paradigma ........56<br />

2.4.1 Der Ansatz von Emile Durkheim .................................57<br />

2.4.2 Anomietheorie nach Merton ...................................58<br />

2.4.3 Lerntheorien: Sutherland und Cresseys Theorie<br />

der differentiellen Assoziation ..................................59<br />

2.4.4 Kontroll- und Bindungstheorie nach Hirschi .......................60<br />

2.4.5 Subkulturtheorie nach Cohen...................................62<br />

2.5 Institutionenbezogene Perspektive: Der Labeling Approach .........63<br />

2.6 Situative und sozialraumbezogene Perspektiven ...................66<br />

2.6.1 Rational-Choice-Ansatz nach Becker .............................66<br />

2.6.2 Routine Activity Approach/Theory nach Cohen und Felson ..........67<br />

7


Inhaltsverzeichnis<br />

2.6.3 Theorie der sozialen Desorganisation nach Shaw und McKay ........69<br />

2.6.4 Broken-Windows-Theorie nach Wilson und Kelling .................70<br />

2.7 Integrative Perspektiven .......................................72<br />

2.7.1 General Strain Theory nach Agnew ..............................72<br />

2.7.2 Situational Action Theory nach Wikström.........................73<br />

2.7.3 Institutionelle Anomietheorie nach Messner und Rosenfeld .........75<br />

2.8 Aktuelle Entwicklungen in Richtung Hirnforschung/<br />

Neurobiologismus ............................................79<br />

2.9 Merkposten: das Wichtigste in Kürze.............................81<br />

2.10 Weiterführende Literatur und Links..............................82<br />

3 Kriminologische Wissensquellen (Stefanie Kemme) ................83<br />

3.1 Kriminalität im Hellfeld ........................................85<br />

3.1.1 Kriminal- und Rechtspflegestatistiken ............................85<br />

3.1.1.1 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) ...............................87<br />

3.1.1.2 Staatsanwaltschaftsstatistik (StAStat) ............................88<br />

3.1.1.3 Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />

3.1.1.4 Strafvollzugsstatistik (StVollzStat)................................89<br />

3.1.1.5 Bewährungshilfestatistik (BewHStat).............................90<br />

3.1.2 Kompatibilität der Statistiken ...................................91<br />

3.1.3 Messung der Kriminalität durch Kriminalstatistiken.................93<br />

3.2 Kriminalität im Dunkelfeld......................................97<br />

3.2.1 Dunkelfelderhebungen in Deutschland ...........................97<br />

3.2.2 Neuere Entwicklungen in Deutschland ...........................99<br />

3.2.3 Dunkelfelderhebungen im Ausland und international vergleichend .. 101<br />

3.2.4 Grenzen von Dunkelfeld-Befragungsdaten .......................103<br />

3.3 Einflussfaktoren auf Hell- und Dunkelfeld ........................105<br />

3.3.1 Gesellschaftliche und individuelle Faktoren ......................106<br />

3.3.2 Hellfeld-Dunkelfeld-Verschiebungen ............................109<br />

3.3.3 Die PKS als „Eingangspforte“ in das kriminalstatistische Hellfeld .....113<br />

3.4 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................114<br />

3.5 Weiterführende Literatur und Links.............................115<br />

4 Viktimologie (Lena Posch).....................................117<br />

4.1 Gegenstand und Bedeutung der Viktimologie ....................117<br />

4.2 Begrifflichkeiten der Viktimologie ..............................118<br />

4.3 Epidemiologie – Häufigkeit krimineller Opferwerdungen<br />

im Hell- und Dunkelfeld .......................................123<br />

4.4 Risiken der Opferwerdung.....................................125<br />

4.4.1 Opfertypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />

4.4.2 Demografische Faktoren/Opferrisiken...........................127<br />

4.4.3 Multiple/wiederholte Viktimisierung............................135<br />

4.4.4 Reviktimisierung.............................................137<br />

8


Inhaltsverzeichnis<br />

4.5 Folgen der Viktimisierung und Bewältigungsverhalten . . . . . . . . . . . . . 139<br />

4.5.1 Materielle und physische Folgen ...............................139<br />

4.5.2 Soziale Folgen von Viktimisierung ..............................141<br />

4.5.3 Psychische Folgen und deren Einflussfaktoren ....................141<br />

4.5.3.1 Psychische Folgen der primären Viktimisierung ...................141<br />

4.5.3.2 Psychische Folgen durch Ermittlungs- und Strafverfahren<br />

und sekundäre Viktimisierung .................................146<br />

4.5.4 Zusammenfassung: Einflussfaktoren auf die Folgen<br />

und Bewältigung einer Viktimisierung...........................150<br />

4.6 Polizeilicher Umgang mit Opfern ...............................151<br />

4.7 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................154<br />

4.8 Weiterführende Literatur und Links.............................155<br />

5 Medien, Kriminalitätswahrnehmung, Punitivität und<br />

Kriminalitätsfurcht (Eva Groß und Stefanie Kemme)...............157<br />

5.1 Kriminalitätsfurcht ...........................................158<br />

5.1.1 Trends, Zahlen und Fakten: Subjektive Eindrücke und<br />

objektive Zahlen .............................................161<br />

5.1.2 Erklärungsansätze und Forschungsstand.........................164<br />

5.2 Kriminalitätswahrnehmung....................................170<br />

5.2.1 Trends, Zahlen und Fakten: Subjektive Eindrücke und<br />

objektive Zahlen .............................................171<br />

5.2.2 Erklärungsansätze und Forschungsstand.........................173<br />

5.3 Punitivität ..................................................174<br />

5.3.1 Trends, Zahlen und Fakten ....................................176<br />

5.3.2 Erklärungsansätze und Forschungsstand.........................177<br />

5.3.3 Selektions- und Sozialisationseffekte in der Polizei ................181<br />

5.4 Bedeutung für die polizeiliche Arbeit............................183<br />

5.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................185<br />

5.6 Weiterführende Literatur und Links.............................186<br />

Teil 2: Besondere Kriminalitätsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187<br />

6 Abweichendes Verhalten unterschiedlicher Altersgruppen<br />

(Anabel Taefi) ...............................................187<br />

6.1 Entwicklungskriminologie: Forschung zu Delinquenzverläufen<br />

und theoretische Ansätze .....................................190<br />

6.1.1 Die Identifizierung von Delinquenzverläufen und theoretische<br />

Perspektiven zu ihrer Unterscheidung...........................190<br />

6.1.2 Die Charakterisierung von Delinquenzverläufen anhand<br />

von Risikofaktoren ...........................................193<br />

6.1.3 Aktuelle biokriminologische Perspektiven auf die Genese<br />

dissozialen Verhaltens: Anlage-Umwelt-Interaktionen .............196<br />

6.2 Jugendkriminalität ...........................................197<br />

9


Inhaltsverzeichnis<br />

6.3 Delinquenz im Alter ..........................................200<br />

6.4 Besonderheiten aus polizeilicher Sicht ..........................201<br />

6.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................202<br />

6.6 Weiterführende Literatur und Links.............................203<br />

7 Gewaltkriminalität (Ulrike Zähringer) ...........................205<br />

7.1 Gewaltkriminalität im Hellfeld .................................206<br />

7.2 Gewaltkriminalität im Dunkelfeld...............................209<br />

7.3 Ausgewählte Formen von Gewaltkriminalität.....................210<br />

7.3.1 Häusliche Gewalt ............................................210<br />

7.3.2 Gewalt im öffentlichen Raum ..................................213<br />

7.3.3 Schwere Gewalt .............................................216<br />

7.3.3.1 Tötungsdelikte ..............................................216<br />

7.3.3.2 Amoktaten und school shootings...............................218<br />

7.3.3.3 Terrortaten .................................................222<br />

7.4 Besonderheiten aus polizeilicher Sicht ..........................225<br />

7.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................225<br />

7.6 Weiterführende Literatur und Links.............................226<br />

8 Sexualdelikte (Lena Posch) ....................................229<br />

8.1 Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ..............229<br />

8.1.1 Rechtliche Einordnung........................................230<br />

8.1.2 Phänomenologie sexuellen Kindesmissbrauchs ...................231<br />

8.1.3 Auftretensrate im Hellfeld.....................................233<br />

8.1.4 Epidemiologie und Phänomenologie im Dunkelfeld ...............236<br />

8.1.5 Tatumstände und Täter-Opfer-Vorbeziehung .....................238<br />

8.1.6 Anzeigeverhalten und Motive zur Nichtanzeige ...................241<br />

8.1.7 Polizeiliche Besonderheiten ...................................244<br />

8.1.8 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................244<br />

8.1.9 Weiterführende Literatur und Links.............................245<br />

8.2 Vergewaltigung und sexuelle Nötigung ..........................246<br />

8.2.1 Rechtliche Einordnung........................................247<br />

8.2.2 Auftretensrate im Hellfeld.....................................249<br />

8.2.3 Epidemiologie und Phänomenologie im Dunkelfeld ...............251<br />

8.2.4 Tatumstände und Täter-Opfer-Vorbeziehung .....................252<br />

8.2.5 Anzeigeverhalten und Motive zur Nichtanzeige ...................254<br />

8.2.6 Besonderheiten aus polizeilicher Sicht ..........................257<br />

8.2.7 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................258<br />

8.2.8 Weiterführende Literatur und Links.............................259<br />

9 Stalking (Lena Posch) .........................................261<br />

9.1 Phänomenologie des Stalking..................................264<br />

9.2 Auftretensrate im Hellfeld.....................................267<br />

9.3 Empirische Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld ....................269<br />

10


Inhaltsverzeichnis<br />

9.4 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................279<br />

9.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................281<br />

9.6 Weiterführende Literatur und Links.............................282<br />

10 Drogenkriminalität (Stefanie Kemme)...........................283<br />

10.1 Drogenkriminalität in der PKS..................................286<br />

10.2 Das Dunkelfeld: Drogenkonsum in der Bevölkerung ...............289<br />

10.3 Der Zusammenhang zwischen Drogen und Kriminalität ............293<br />

10.4 Deutsche und europäische Drogenpolitik ........................296<br />

10.5 Einstellungen nach § 31a BtMG und<br />

Einsatz polizeilicher Ressourcen ................................303<br />

10.6 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................306<br />

10.7 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................307<br />

10.8 Weiterführende Literatur und Links.............................308<br />

11 Eigentums- und Vermögensdelinquenz (Anabel Taefi).............309<br />

11.1 Hell- und Dunkelfeld, Taten und Täter:innen......................311<br />

11.2 Theoretische Rahmung .......................................317<br />

11.3 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................319<br />

11.3.1 Wohnungseinbruchdiebstahl ..................................319<br />

11.3.2 Betrugsdelikte zum Nachteil älterer Menschen ...................324<br />

11.4 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................326<br />

11.5 Weiterführende Literatur und Links.............................326<br />

12 Kriminalität im Kontext von Migration<br />

(Eva Groß und Ulrike Zähringer) ................................327<br />

12.1 Das Spannungsfeld Migration und Kriminalität: Politische<br />

Instrumentalisierbarkeit eines angstbesetzten Themas ............330<br />

12.2 Zahlen, Daten, Fakten – Einblicke in das Hellfeld ..................332<br />

12.3 Theoretische Anknüpfungspunkte: Hintergründe erhöhter<br />

„Kriminogenität“ im Zusammenhang mit Migration –<br />

Einblicke in das Dunkelfeld ....................................340<br />

12.4 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................347<br />

12.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................348<br />

12.6 Weiterführende Literatur und Links.............................349<br />

13 Vorurteilskriminalität („Hasskriminalität“) und<br />

das polizeiliche Erfassungssystem politisch motivierter<br />

Kriminalität („PMK“) (Eva Groß) ...............................351<br />

13.1 Phänomenologie Vorurteilskriminalität („Hasskriminalität“)<br />

und PMK ...................................................359<br />

13.1.1 Vorurteilskriminalität .........................................359<br />

13.1.2 Das polizeiliche Erfassungs- und Definitionssystem PMK ...........360<br />

13.2 Zahlen, Daten, Fakten (Hellfeld: PMK, Dunkelfeld:<br />

empirische Studien) ..........................................364<br />

11


Inhaltsverzeichnis<br />

13.2.1 Prävalenz und Entwicklung ....................................364<br />

13.2.2 Dunkelfeld ..................................................366<br />

13.3 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................368<br />

13.4 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................371<br />

13.5 Weiterführende Literatur und Links.............................373<br />

14 Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität<br />

(Anabel Taefi) ...............................................375<br />

14.1 Organisierte Kriminalität ......................................377<br />

14.1.1 Entwicklung des Phänomenbereichs OK und seiner<br />

Erforschung in Deutschland ...................................379<br />

14.1.2 Neue Perspektiven der Erforschung von Phänomenen<br />

organisierter Kriminalität......................................381<br />

14.1.3 „Clankriminalität“?...........................................382<br />

14.2 Wirtschaftskriminalität .......................................386<br />

14.3 Zusammenfassende Betrachtung: OK und Wirtschaftskriminalität ...388<br />

14.4 Besonderheiten aus polizeilicher Perspektive.....................389<br />

14.5 Merkposten: das Wichtigste in Kürze............................390<br />

14.6 Weiterführende Literatur und Links.............................391<br />

Literaturverzeichnis..................................................393<br />

Zu den Herausgeberinnen ............................................475<br />

Stichwortverzeichnis.................................................477<br />

12


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1:<br />

Abbildung 2:<br />

Abbildung 3:<br />

Abbildung 4:<br />

Das System der Kriminalwissenschaften<br />

(Eigene Darstellung, vgl. auch Berthel & Schröder, 2008) ... 21<br />

Schnittmengen informeller und formeller Normen,<br />

eigene Darstellung ................................... 29<br />

Geschichte des Strafrechts als Geschichte der<br />

Neutralisierung von Opferinteressen nach Kreuzer (2003) .. 32<br />

Kriminalpolitischer Soll- und Ist-Zustand mit Möglichkeit<br />

einer Überkriminalisierung nach Kreuzer (2003) ........... 45<br />

Abbildung 5: Situational-Action-Theory-Modell nach Wikström (2015) ... 75<br />

Abbildung 6:<br />

Abbildung 7:<br />

Schema der Institutional Anomie Theory nach<br />

Messner & Rosenfeld (2012) ........................... 77<br />

Absolutes/relatives Dunkelfeld, Hellfeld und<br />

Schnittmenge nach BKA (2020b) ........................ 84<br />

Abbildung 8: Ausfilterungsprozess im Strafverfahren nach Jehle (2019) .. 86<br />

Abbildung 9:<br />

Abbildung 10:<br />

Abbildung 11:<br />

Abbildung 12:<br />

Abbildung 13:<br />

Abbildung 14:<br />

Anzeigequoten für personenbezogene Opfererlebnisse<br />

innerhalb der letzten zwölf Monate, DVS 2012 und 2017<br />

im Vergleich aus Birkel et al. (2019) .................... 101<br />

Einflussfaktoren auf der Ebene der PKS, der StVerfStat<br />

und StVollzStat aus Kemme et al. (2011, S. 22) ........... 105<br />

Anzeigequote für Körperverletzungen nach Geschlecht<br />

des Opfers und Geschlecht des Täters im Zeitvergleich<br />

nach Baier et al. (2010, S. 189; in %; gewichtete Daten;<br />

Befragung München, Stuttgart, Hannover und<br />

Schwäbisch Gmünd; n.a. = nicht abgebildet, da N < 20) ... 111<br />

Anforderungs-Ressourcen-Modell zu Beeinträchtigungen<br />

der seelischen Gesundheit in Folge einer Viktimisierung<br />

durch Gewalt und Aggression (Mohr, 2003, S. 54) ........ 151<br />

Einzelaspekte affektive Kriminalitätsfurcht „Wie oft<br />

haben Sie folgende Befürchtung? Dass ...“ (häufiger/immer<br />

in Prozent) ......................................... 162<br />

Einzelaspekte kognitive Kriminalitätsfurcht „Für wie<br />

wahrscheinlich halten Sie es, dass Ihnen persönlich in<br />

den nächsten 12 Monaten tatsächlich Folgendes passiert?<br />

Dass ...“ (eher/sehr wahrscheinlich in Prozent) ........... 162<br />

Abbildung 15: Häufigkeitszahlen (PKS NI, Hellfeld) .................... 163<br />

13


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 16: Tatverdächtige (PKS NI, Hellfeld) ....................... 163<br />

Abbildung 17:<br />

Abbildung 18:<br />

Abbildung 19:<br />

Abbildung 20:<br />

Abbildung 21:<br />

Abbildung 22:<br />

Abbildung 23:<br />

Abbildung 24:<br />

Abbildung 25:<br />

Abbildung 26:<br />

Abbildung 27:<br />

Abbildung 28:<br />

Abbildung 29:<br />

14<br />

Kriminalität im Altersverlauf: Age-Crime-Curve,<br />

PKS-Zahlen, Deutsche Tatverdächtige (TVBZ) bei Straftaten<br />

insgesamt für die Jahre 2000, 2010 und 2020, nach Alter<br />

und Geschlecht differenziert, eigene Darstellung ......... 189<br />

Das bio-psycho-soziale Entwicklungsmodell dissozialen<br />

Verhaltens nach Beelmann & Raabe (2007, S. 111) ....... 194<br />

Jahresprävalenz selbstberichteter Delinquenz von<br />

Mädchen und Jungen, Schüler:in nenbefragung 2012/2013<br />

aus Taefi & Görgen (2013, S. 77) ....................... 198<br />

Soziologische Typologie von Gewaltphänomenen<br />

nach Imbusch (2002) ................................ 205<br />

Polizeilich erfasste Fälle und Opfer vollendeter Taten<br />

von Gewaltkriminalität in Deutschland 2000–2021<br />

(absolute Angaben mit Trendlinie) ..................... 207<br />

Polizeilich erfasste Opfer von Gewaltkriminalität<br />

2000–2021 (absolute Angaben) ....................... 208<br />

Häufigkeitsziffern zu polizeilich registrierten Fällen<br />

von sonst. Raubüberfällen und gef./schwerer KV in<br />

Deutschland 1991–2021 (inkl. Versuche) ................ 214<br />

Häufigkeitsziffern zu polizeilich registrierten Fällen<br />

von Straftaten gegen das Leben in Deutschland<br />

1991–2021 (inkl. Versuche) ........................... 217<br />

Polizeilich bekannt gewordene Fälle von Tötungsdelikten<br />

2020: Tatverdächtige:n-Opfer-Beziehung ................ 218<br />

Anzahl terroristischer Anschläge weltweit nach<br />

der Global Terrorism Database (1970–2020) ............. 223<br />

Verteilung terroristischer Anschläge weltweit<br />

nach Regionen (1970–2020) .......................... 224<br />

Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach<br />

Geschlecht für sexuellen Missbrauch von Kindern<br />

(§§ 176, 176a, 176b StGB) im zeitlichen Verlauf<br />

zwischen 2000 und 2021 ............................. 235<br />

Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach<br />

Geschlecht für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung<br />

(§§ 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB) im Zeitverlauf<br />

zwischen 2000 und 2021 ............................. 250


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 30: Häufigkeitsziffer und Opfergefährdungsziffer nach<br />

Geschlecht für Nachstellung (§ 238 StGB) im zeitlichen<br />

Verlauf seit Inkrafttreten des Straftatbestandes<br />

in 2007 bis 2021 .................................... 269<br />

Abbildung 31: Entwicklung der Rauschgiftdelikte 2000 bis 2021<br />

(Schlüssel 730000 – absolute Zahlen; PKS 2000 bis<br />

2021), eigene Darstellung ............................ 287<br />

Abbildung 32: Schätzungen des Drogenkonsums in der Europäischen<br />

Union (2015–2019) und in Deutschland 2018 nach<br />

EMCDDA (2021, S. 44 ff.),eigene Darstellung ............. 292<br />

Abbildung 33: Konsumnahe Delikte und erledigte Verfahren nach<br />

dem BtMG absolut und Anteil der Einstellungen ohne<br />

Auflage an allen BtM-Verfahren, Anteil der<br />

§-31a-BtMG-Einstellungen an allen Einstellungen<br />

ohne Auflage in Deutschland nach DESTATIS (2021a)<br />

und PKS (2021e), eigene Darstellung ................... 305<br />

Abbildung 34: Überblick über die auf Grund eines einfachen<br />

Ladendiebstahls in der PKS registrierten Tatverdächtigen,<br />

differenziert nach Geschlecht und Altersgruppen<br />

(absolute TV), 2000–2020 ............................ 313<br />

Abbildung 35: Überblick über die Entwicklung der in der PKS<br />

erfassten Vermögens- und Fälschungsdelikte in<br />

den Jahren 2000–2020, untergliedert nach Alter<br />

der Tatverdächtigen 2020 ............................ 313<br />

Abbildung 36: Überblick über die Entwicklung der in der PKS erfassten<br />

Tatverdächtigen des WED, untergliedert nach Alter und<br />

Geschlecht für die Jahre 2000–2020 .................... 320<br />

Abbildung 37: Absolute Zahlen Straftaten insgesamt (deutsche &<br />

nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage der<br />

bundesweiten PKS ................................... 334<br />

Abbildung 38: Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) Straftaten<br />

insgesamt (deutsche & nicht-deutsche Tatverdächtige) auf<br />

Grundlage der bundesweiten PKS, eigene Berechnung .... 335<br />

Abbildung 39: Absolute Zahlen der Gewaltkriminalität (deutsche &<br />

nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage<br />

der bundesweiten PKS ............................... 336<br />

Abbildung 40: Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ)<br />

der Gewaltkriminalität (deutsche & nicht-deutsche<br />

Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS,<br />

eigene Berechnung .................................. 336<br />

15


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 41:<br />

Abbildung 42:<br />

Abbildung 43:<br />

Abbildung 44:<br />

Absolute Zahlen Diebstahl insgesamt (deutsche &<br />

nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage<br />

der bundesweiten PKS ............................... 337<br />

Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ)<br />

Diebstahl insgesamt (deutsche & nicht-deutsche<br />

Tatverdächtige) auf Grundlage der bundesweiten PKS,<br />

eigene Berechnung .................................. 337<br />

Absolute Zahlen Straftaten gegen die sexuelle<br />

Selbstbestimmung (deutsche & nicht-deutsche<br />

Tatverdächige) auf Grundlage der bundesweiten PKS ..... 338<br />

Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) Straftaten<br />

gegen die sexuelle Selbstbestimmung (deutsche &<br />

nicht-deutsche Tatverdächtige) auf Grundlage<br />

der bundesweiten PKS, eigene Berechnung ............. 339<br />

Abbildung 45: Entwicklung Vorurteilskriminalität 2001–2021<br />

(„Hasskriminalität“ (PMK-Statistik), absolute Zahlen) ..... 365<br />

Abbildung 46:<br />

Abbildung 47:<br />

Abbildung 48:<br />

PMK-Gesamtaufkommen im zeitlichen Verlauf,<br />

also nicht nur „Hasskriminalität“, hier inklusive<br />

„echte Staatsschutzdelikte“ und „extremistische<br />

Straftaten“ (absolute Zahlen) .......................... 365<br />

Überblick über die Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren<br />

und die drei häufigsten Bereiche, die Zahl<br />

der Tatverdächtigen und den Prozentsatz der Verfahren<br />

mit internationaler Tatbegehung im Jahr 2020<br />

in Deutschland, aus BKA, 2021a, o.S. ................... 378<br />

Überblick über die in der PKS erfassten<br />

Tatverdächtigen im Bereich der Wirtschaftskriminalität<br />

(Schlüsselzahl 893000) in den Jahren 2000–2020,<br />

nach Alter differenziert ............................... 387<br />

16


Tabellenverzeichnis<br />

Tabellenverzeichnis<br />

Tabelle 1:<br />

Tabelle 2:<br />

Tabelle 3:<br />

Tabelle 4:<br />

Tabelle 5:<br />

Differenzierung von Selbst- und Fremdkontrolle<br />

aus Lamnek & Ottermann (2004), zitiert nach<br />

Menzel & Wehrheim (2010, S. 510) ..................... 31<br />

Reaktionen auf anomischen Druck nach Merton,<br />

zitiert nach Bock (2019) ............................... 58<br />

Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken im<br />

Vergleich nach Kemme et al. (2011) ..................... 91<br />

Dimensionen der Kriminalitätsfurcht und Beispiele<br />

für deren Operationalisierung ......................... 160<br />

Entwicklung verschiedener Straftaten laut Polizeilicher<br />

Kriminalstatistik (PKS) und Befragtenangaben nach<br />

Erhebungsjahr nach Baier et al. (2011, S. 41) ............ 171<br />

Tabelle 6: Anteil Befragter, die angegeben haben, dass Delikte 6<br />

(viel häufiger geworden) oder 7 (sehr viel häufiger<br />

geworden) sind nach Baier et al. (2017, S. 22) ............ 172<br />

Tabelle 7:<br />

Tabelle 8:<br />

Tabelle 9:<br />

Erledigung staatsanwaltlicher Ermittlungsverfahren nach<br />

dem BtMG in Deutschland 2020 nach DESTATIS (2021a),<br />

eigene Darstellung .................................. 305<br />

Überblick über die prozentualen Anteile der Befragten<br />

im Viktimisierungssurvey des BKA (12-Monats-Prävalenz<br />

und 5-Jahres-Prävalenz), die Opfer der erfassten Delikte<br />

geworden sind, sowie über die Anzeigequoten für<br />

die 12-Monats-Prävalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315<br />

Aufklärungsquoten für ausgewählte Deliktschlüssel<br />

aus PKS (2019), eigene Darstellung ..................... 317<br />

17


Was ist <strong>Kriminologie</strong>?<br />

Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

1 Was ist <strong>Kriminologie</strong>? (Stefanie Kemme)<br />

Zum folgenden Kapitel<br />

Wie grenzt sich die <strong>Kriminologie</strong> zur Kriminalistik ab und wie ist sie eingebettet<br />

in die Kriminalwissenschaften?<br />

Was sind die Bezugswissenschaften der <strong>Kriminologie</strong>?<br />

Was ist der Unterschied zwischen Kriminalität und Delinquenz?<br />

Wie stehen <strong>Kriminologie</strong> und Kriminalpolitik zueinander?<br />

Welche Strafzwecke gibt es?<br />

Warum <strong>Kriminologie</strong> für Polizeibeamt:innen?<br />

<strong>Kriminologie</strong> bedeutet als Kombination von „crimen“ (lat. Verbrechen) und „lógos“<br />

(griech. Lehre) wörtlich übersetzt die Lehre vom Verbrechen bzw. die Lehre von<br />

der Kriminalität. Damit ist ihr Gegenstandsbereich aber keineswegs abschließend<br />

beschrieben. Verschiedene Autoren haben versucht zu beschreiben, was <strong>Kriminologie</strong><br />

ist und womit sie sich beschäftigt.<br />

So schreiben Sutherland, Cressey und Luckenbill 1 : „Criminology is the body of<br />

knowledge regarding crime and delinquency as social phenomena. It includes<br />

within its scope the processes of making law, breaking law, and reacting to the<br />

breaking of laws.“ Diese Definition legt den Fokus auf den Rechtsbrecher und die<br />

Verbrechenskontrolle.<br />

Nach Kaiser 2 ist die „<strong>Kriminologie</strong> die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens<br />

über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negative soziale Auffälligkeit<br />

und über die Kontrolle dieses Verhaltens. Ihr Wissensgebiet lässt sich mit den<br />

drei Grundbegriffen Verbrecher, Verbrechen und Verbrechenskontrolle treffend<br />

kennzeichnen. Ihnen sind auch die Opferbelange und die Verbrechensverhütung<br />

zugeordnet“.<br />

Kerner 3 verwendet eine noch detailliertere Definition, indem er <strong>Kriminologie</strong> als<br />

„Wissenschaft von den Entstehungszusammenhängen, Erscheinungsformen, Vorbeugungs-<br />

und Bekämpfungsmöglichkeiten, geeigneten Sanktions- und Behandlungsformen<br />

des Verbrechens im Leben von Individuen und Gruppen sowie der<br />

1 Sutherland et al., 1992, S. 3.<br />

2 Kaiser, 1996, § 1, Rn. 1.<br />

3 Kerner, 1991, S. 206.<br />

19


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

Kriminalität im Gefüge von Staat und Gesellschaft unter Beachtung der Reaktionen<br />

auf Seiten der Verbrechenskontrolle“ beschreibt.<br />

Die <strong>Kriminologie</strong> beschäftigt sich also<br />

1. mit dem:r Rechtsbrecher:in bzw. dem:r Täter:in, und auch mit dem lediglich<br />

sozial Auffälligen,<br />

2. mit Kriminalität sowie insgesamt mit sozial abweichendem Verhalten, mit Entstehungszusammenhängen<br />

und Erscheinungsformen der Kriminalität<br />

3. mit sozialer Kontrolle dieses Verhaltens und damit auch mit der Prävention und<br />

geeigneten Sanktions- und Behandlungsmaßnahmen und<br />

4. mit dem Opfer. Dieses stand lange Zeit nicht im Fokus des kriminologischen<br />

Interesses. Heute ist die Viktimologie (Opferforschung) ein wichtiger Teilbereich<br />

der <strong>Kriminologie</strong>. 4<br />

1.1 <strong>Kriminologie</strong> als Teil der Kriminalwissenschaften<br />

Dass die <strong>Kriminologie</strong> in Deutschland „eine weithin unbekannte und oft missverstandene<br />

Wissenschaft“ ist, stellte bereits Schneider 1974 5 fest, beansprucht aber<br />

bis heute Gültigkeit, was sich leicht mit der in der Bevölkerung stattfindenden Verwechslung<br />

von <strong>Kriminologie</strong> und Kriminalistik belegen lässt. Schwind und Schwind 6<br />

schreiben dazu amüsiert, dass dieser Fehler auch den Medien unterläuft, wenn<br />

bspw. in Zeitungen Überschriften wie „Kriminologen auf Verbrecherjagd“ auftauchen.<br />

Die Kriminalistik ist die Lehre von den Mitteln und Methoden der Bekämpfung<br />

einzelner Straftaten und der Kriminalität durch vorbeugende (präventive) und<br />

strafverfolgende (repressive) Maßnahmen.<br />

Während der Kriminalist mit kriminaltaktischen, kriminaltechnischen und kriminalstrategischen<br />

Methoden versucht, Straftaten aufzuklären und den Täter zu<br />

überführen sowie Straftaten zu verhüten, versucht der Kriminologe mit sozialwissenschaftlichen<br />

Methoden nach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Menschen,<br />

die mit einer Straftat zu tun haben (bspw. als Opfer, Täter, Polizeibeamte oder<br />

Justizangehörige), zu suchen. 7<br />

4 Vgl. Abschnitt 4.<br />

5 Schneider, 1974, S. 7.<br />

6 Schwind & Schwind, 2021, § 1, Rn. 23.<br />

7 Vgl. bspw. Schwind & Schwind, 2021, § 1 Rn. 23 ff.; Keller, 2019, S. 63f.; Neubacher, 2020, S. 22.<br />

20


<strong>Kriminologie</strong> als Teil der Kriminalwissenschaften<br />

Kriminalwissenschaften<br />

Geisteswissenschaften<br />

Naturwissenschaften<br />

Normative (juristische)<br />

Kriminalwissenschaften<br />

Empirische (nichtjuristische)<br />

Kriminalwissenschaften<br />

Materielles<br />

Strafrecht<br />

Recht der<br />

Zurechnung<br />

Normbruch<br />

Verfahrensrecht<br />

Feststellung<br />

des<br />

Normbruchs<br />

Sanktionenrecht<br />

Strafen<br />

und Maßregeln<br />

Reaktion<br />

auf den<br />

Normbruch<br />

Andere<br />

rechtswiss.<br />

Disziplinen<br />

mit<br />

kriminalwissenschaftlichem<br />

Bezug:<br />

bspw. Polizeirecht<br />

<strong>Kriminologie</strong><br />

Phänomenologie<br />

Ätiologie<br />

Viktimologie<br />

Poenologie<br />

+ ihre Bezugswissenschaften<br />

bspw.<br />

Psychologie<br />

Soziologie<br />

Psychiatrie<br />

Pädagogik<br />

Geografie<br />

Kriminalistik<br />

Kriminaltaktik<br />

Kriminaltechnik<br />

Kriminalstrategie<br />

Kriminalprävention<br />

Kriminalpolitik<br />

Abbildung 1:<br />

Das System der Kriminalwissenschaften (Eigene Darstellung, vgl. auch Berthel &<br />

Schröder, 2008)<br />

Die Kriminalistik ist Teil des Strafverfolgungssystems unter Zugrundelegung des<br />

strafrechtlichen Verbrechensbegriffs, wohingegen die <strong>Kriminologie</strong> „von außen“<br />

auf den Verbrecher, die Taten und die Instanzen sozialer Kontrolle blickt und dabei<br />

auch abweichendes Verhalten, das nicht strafrechtlich relevant sein muss, unter<br />

Zugrundelegung eines weitreichenderen kriminologischen Verbrechensbegriffs<br />

berücksichtigt.<br />

Bis heute gibt es kein einheitlich anerkanntes System der Kriminalwissenschaften.<br />

Bereits Groß und Geerds haben klassisch zwischen den normativen (juristischen)<br />

21


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

und den empirischen Kriminalwissenschaften unterschieden. 8 Abbildung 1 zeigt ein<br />

erweitertes Modell auf Basis dieser Unterscheidung. Zu dem normativen Bereich<br />

zählen das materielle Strafrecht, das Verfahrensrecht, das Sanktionenrecht sowie<br />

weitere juristische Bereiche mit Kriminalitätsbezug. Unter dem Dach der empirischen<br />

Kriminalwissenschaften sind die <strong>Kriminologie</strong> und die Kriminalistik zu verorten.<br />

Die <strong>Kriminologie</strong> ist im Gesamtsystem der Kriminalwissenschaften zu betrachten<br />

und existiert bereits seit etwa 250 Jahren, 9 auch wenn der Begriff der <strong>Kriminologie</strong><br />

erst durch das Buch „Criminologia“ des Italieners Garofalo 10 bekannt wurde.<br />

Nach Brauneck 11 ist die <strong>Kriminologie</strong> aus dem praktischen Bedürfnis entstanden,<br />

Straftaten nicht nur juristisch, bspw. durch Auslegung der Strafgesetze, sondern<br />

auch in ihren soziologischen und psychologischen Zusammenhängen zu verstehen.<br />

Ist die <strong>Kriminologie</strong> also nur eine Hilfswissenschaft des Strafrechts?<br />

Nein, Sie ist als ein Bestandteil der Kriminalwissenschaften eigenständig. Sie ist<br />

interdisziplinär, national und international verankert sowie meist praxisorientiert.<br />

Sie hat einen eigenen Gegenstandsbereich, eigene Theorien und eigene Methoden.<br />

Sie ist eine empirische Sozialwissenschaft, die systematisch Daten über soziale<br />

Tatsachen vorwiegend durch Beobachtung, Befragungen/Interviews oder Experimente<br />

erhebt und auswertet.<br />

Schauen wir uns zunächst an, was Interdisziplinarität, nationale und internationale<br />

Verankerung und Praxisorientierung meint.<br />

1.2 <strong>Kriminologie</strong> als interdisziplinäre Wissenschaft<br />

Interdisziplinarität beschreibt das integrationsorientierte Zusammenwirken von<br />

Personen aus mindestens zwei Disziplinen. 12 Es lässt sich sagen, dass der Gegenstandsbereich<br />

der <strong>Kriminologie</strong> seit der Aufklärung von Philosophen, Anthropologen,<br />

Psychologen, Soziologen, Psychiatern, Medizinern, Juristen, Pädagogen,<br />

Politik- oder Erziehungswissenschaftlern, um nur einige zu nennen, also unter<br />

Einbeziehung verschiedener Disziplinen, betrachtet und erforscht wurde. Der jeweilige<br />

Einfluss einer Disziplin war in der Geschichte der <strong>Kriminologie</strong> und ist nach<br />

wie vor in verschiedenen Kulturen unterschiedlich stark.<br />

Besondere Bedeutung haben die Soziologie, die Psychologie, die Pädagogik, die<br />

Medizin/Psychiatrie und die Biologie/Ethologie/Neurobiologie.<br />

8 Groß & Geerds, 1977. Da nach Schmelz (Das System der Kriminalwissenschaften aus Sicht einer<br />

Verwaltungsfachhochschule, Fachbereich Polizei unter http://www.gerhard-schmelz.de/42238.html<br />

[16.02.2021]) die tragenden Säulen der Kriminalwissenschaften nach den Curricula der Polizeihochschulen<br />

die <strong>Kriminologie</strong>, die Kriminalistik und die kriminalistisch-kriminologische Forschung seien, sei die<br />

Einteilung in juristische vs. nichtjuristische Kriminalwissenschaften nicht überzeugend.<br />

9 Vgl. Abschnitt 2.<br />

10 Garofalo, 1885.<br />

11 Brauneck, 1974, S. 26.<br />

12 Defila & Di Giulio, 2019, S. 3.<br />

22


<strong>Kriminologie</strong> als interdisziplinäre Wissenschaft<br />

Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die soziales Handeln deutend verstehen und<br />

dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. 13 Im Zentrum<br />

steht das Zusammenleben von Menschen und Gemeinschaften. Im Rahmen<br />

der Kriminalsoziologie geht es primär um die gesellschaftlich bedingten Ursachen<br />

von Kriminalität und abweichendem Verhalten, um soziale Probleme und soziale<br />

Kontrolle. So werden bspw. sozioökonomischer Status, Arbeitslosigkeit, Armut,<br />

Merkmale der Wohnumgebung und deren Zusammenhänge zur Kriminalität untersucht.<br />

Auch die sozialen Normen des Zusammenlebens in Gruppen und Gesellschaften<br />

und damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse sind<br />

Themen der Kriminalsoziologie. Der soziologische Ansatz fokussiert somit nach<br />

Sutherland, Cressey und Luckenbill 14 auch verstärkt auf das „lawmaking“, indem<br />

Bedingungen, unter denen sich Strafgesetze z.B. aus Normen entwickeln, systematisch<br />

analysiert und ihre Folgen betrachtet werden.<br />

Im Zentrum der Psychologie hingegen steht nicht die Gesellschaft, sondern das<br />

Individuum. Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten des<br />

Menschen, seine Entwicklung im Laufe des Lebens und alle dafür maßgeblichen<br />

inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen. Von Bedeutung für die <strong>Kriminologie</strong><br />

sind vor allem die Entwicklungs-, die Sozial- und die Rechtspsychologie.<br />

Als Teilbereich befasst sich die Rechtspsychologie mit der Anwendung psychologischen<br />

Wissens oder psychologischer Methoden zur Lösung von Aufgaben des<br />

Rechtssystems. 15 Sie ist wiederum in die Teilbereiche ‚Kriminalpsychologie‘ und<br />

‚Forensischen Psychologie‘ unterteilt. Letztere befasst sich mit psychologischen<br />

Fragestellungen, die im Rahmen von Gerichtsverfahren auftreten. Die Kriminalpsychologie<br />

als enger verwandt mit der <strong>Kriminologie</strong> versucht mit psychologischen<br />

Theorien, Methoden und Erkenntnissen die Aufdeckung von Kriminalität zu fördern,<br />

wobei auch die Kriminalprävention sowie die Behandlung von Straftäter:innen zu<br />

ihrem Aufgabenbereich gehört. 16 Kriminalpsycholog:innen arbeiten eher selten<br />

als Profiler:innen bzw. als Fallanalytiker:innen. Bereits seit 1999 hat die deutsche<br />

Polizei gezielt damit begonnen, besonders geeignete Kriminalbeamt:innen und<br />

wissenschaftliche Mitarbeiter:innen von OFA-Dienststellen 17 als „Polizeiliche Fallanalytiker“<br />

auszubilden. 18 Polizeipsychologie umfasst alle Bereiche der Rechtspsychologie,<br />

die sich mit polizeipraktischen Fragen befassen.<br />

13 Weber, 1921/1972, S. 1.<br />

14 Sutherland et al., 1992: „The sociology of criminal law – an attempt to analyse systematically the conditions<br />

under which penal laws develop and to explain variations in the policies and procedures used in<br />

police departments and courts“, S. 3.<br />

15 Wrightsman, 2001.<br />

16 Stangl, 2021.<br />

17 OFA = Operative Fallanalyse.<br />

18 Bundeskriminalamt. Polizeilicher Fallanalytiker. Unter https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/OperativeFallanalyse/PolizeilicherFallanalytiker/polizeilicherfallanalytiker_node.<br />

html;jsessionid=5FE5CA26047BF2983E3883916E4ADB4D.live0602 [16.02.2021].<br />

23


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

Psychiatrie ist die medizinische Fachdisziplin, die sich mit der Prävention, Diagnostik<br />

und Therapie psychischer Störungen beschäftigt. Die Kriminalpsychiatrie<br />

sucht als Ursache der Tat eine psychische Erkrankung. Forensisch-psychiatrische<br />

Sachverständige werden vor Gericht insbesondere dann zu Rate gezogen, wenn es<br />

um Fragen der Schuldfähigkeit der Täter nach §§ 20, 21 StGB geht.<br />

Frankfurter Allgemeine am 17.3.2013<br />

Ausschnitt aus: Mordfall „Peggy Knobloch“: Viele Zweifel an einem zweifelsfreien<br />

Urteil von David Klaubert<br />

„Das Landgericht Hof hat Ulvi Kulac am 30. April 2004 wegen Mordes zu lebenslanger<br />

Haft verurteilt. Die Richter stellten fest, dass Kulac, um sexuellen<br />

Missbrauch zu vertuschen, die neun Jahre alte Peggy Knobloch erstickt habe.<br />

Beweise dafür hatten sie keine, es gab keine Tatzeugen, keine Spuren, auch der<br />

Leichnam von Peggy wurde nie gefunden. Die Richter bauten ihr Urteil auf ein<br />

Geständnis, das Kulac in mehreren Vernehmungen bei der Polizei abgelegt –<br />

und später widerrufen hatte. (...)<br />

Auch vor Gericht blieb Kulac bei seinem Widerruf. Dennoch schrieb die Jugendkammer<br />

in ihrem Urteil, dass sie „zweifelsfrei davon überzeugt sei“, dass<br />

Kulacs Geständnisse glaubhaft seien. Die Richter beriefen sich dabei vor allem<br />

auf ein Gutachten des Berliner Kriminalpsychiaters Hans-Ludwig Kröber, der zu<br />

dem Ergebnis kam, dass Kulacs Schilderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf<br />

realen Erlebnissen beruhten. Gerade wegen seiner verminderten Intelligenz<br />

sei Kulac nicht in der Lage, sich einen so schlüssigen, detailreichen Tathergang<br />

auszudenken und sich länger zu merken. Ein Motiv für eine falsche Selbstbelastung<br />

sei nicht erkennbar, außerdem gebe es keine Hinweise darauf, dass Kulac<br />

der Inhalt des Geständnisses suggeriert worden sei; ein Tatszenario seitens der<br />

Polizei habe es schließlich nicht gegeben.<br />

Was Kröber offensichtlich nicht wusste: Die „Soko Peggy II“ hatte für die Vernehmungen<br />

Kulacs eine Tathergangshypothese erstellt, die sich wie ein Grundgerüst<br />

des späteren Geständnisses liest. Einfluss auf Kulacs Aussagen hatte Anwalt<br />

Euler zufolge auch Peter H., ein Kleinkrimineller und Mitinsasse im Bezirkskrankenhaus.<br />

H. spionierte Kulac im Auftrag der Polizei aus, bedrängte ihn immer<br />

wieder. Der Polizei berichtete H. schließlich, dass Kulac ihm den Mord an Peggy<br />

gestanden habe. Dies wiederholte H. auch vor Gericht und stützte damit die<br />

Glaubwürdigkeit von Kulacs Geständnis.“<br />

Nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens wurde Kulac im April 2014 freigesprochen.<br />

Wie sich eine Tathergangshypothese auf die polizeiliche Ermittlungsarbeit auswirkt,<br />

ist eine ebenso rechtspsychologische Fragestellung, wie die nach der Glaubhaftigkeit<br />

von Beschuldigten- und Zeug:innenaussagen. Übergeordnet geht es jedoch<br />

um die Erklärung des Täter:innenverhaltens und die Aufklärung der Straftat,<br />

24


<strong>Kriminologie</strong> als national und international verankerte Wissenschaft<br />

so dass das Ineinandergreifen von <strong>Kriminologie</strong> und Kriminalistik, polizeilichen und<br />

gerichtlichen Prozessen sichtbar wird.<br />

In der Biologie sind vor allem die Ethologie, die tierisches und menschliches Verhalten<br />

vergleichend erforscht, 19 die Neurobiologie und die Genetik für die Erklärung<br />

von Kriminalität von Interesse. Aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse<br />

(bspw. zur Epigenetik oder zur Funktionsweise der Neurotransmitter) 20 sind der<br />

Grund dafür, dass biokriminologische Ansätze derzeit vor allem in der nordamerikanischen<br />

und britischen <strong>Kriminologie</strong> einen Aufschwung erfahren. In Deutschland<br />

werden biokriminologische Ansätze nach wie vor nur zögerlich dem kriminologischen<br />

Kanon in Lehrbüchern zugeordnet, und wenn, dann wird ihnen mit Skepsis<br />

begegnet. 21 Überwiegend wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Kriminalität<br />

ein soziales Phänomen sei, und biokriminologischen Ansätzen keine zu große Bedeutung<br />

zugeschrieben werden sollte. Laue 22 führt drei Gründe für das geringe<br />

Interesse in Deutschland an. Durch Stigmatisierung und Täter:innenzentrierung<br />

ließ sich in der Geschichte und vornehmlich in der NS-Zeit die eugenisch motivierte<br />

Vernichtung „unverbesserlicher“ Täter:innen begründen. Daraus resultierten in<br />

der Folge wissenschaftstheoretische Vorbehalte gegenüber der Biokriminologie<br />

und eine Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen. Dass eine<br />

Integration neuer biokriminologischer Ansätze in die bestehenden Kriminalitätstheorien<br />

bisher nicht glückte, sieht er in der Trennung der Kriminalpsychiatrie<br />

(Schwerpunkt bei Taten Schuldunfähiger) von der sozialwissenschaftlich orientierten<br />

<strong>Kriminologie</strong>, der es nicht leicht falle, biologische Ansätze zu rezipieren, und die<br />

diese zur Erklärung der Massenkriminalität auch nicht als erforderlich erachte. 23<br />

1.3 <strong>Kriminologie</strong> als national und international verankerte<br />

Wissenschaft<br />

Voraussetzung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin ist die universitäre Verankerung,<br />

entweder über einen gesonderten Studiengang oder Lehrstühle an einem<br />

Fachbereich oder Institut. Masterstudiengänge für <strong>Kriminologie</strong> gibt es in<br />

Deutschland nur wenige, lediglich in Hamburg, Bochum und Regensburg mit je<br />

eigenen Schwerpunktsetzungen. In Hamburg können Polizeibeamt:innen berufsbegleitend<br />

den Weiterbildungsmaster <strong>Kriminologie</strong> erlangen. In Bochum wird das<br />

Masterstudium <strong>Kriminologie</strong> und Polizeiwissenschaft als „Blended-Learning-Studium“<br />

angeboten.<br />

Traditionell ist <strong>Kriminologie</strong> in Deutschland allerdings den rechtswissenschaftlichen<br />

Fakultäten zugeordnet. Dies sollte jedoch nicht verleiten, sie nur als Ergän-<br />

19 Bspw. Lorenz, 1978, der bekannt wurde mit seinen Beobachtungen an Graugänsen.<br />

20 Vgl. Abschnitt 2.<br />

21 So bspw. Meier, 2021, § 3 Rn. 33; Neubacher, 2020, S. 92; Singelnstein & Kunz, 2021, § 7 Rn. 25 ff.<br />

22 Laue, 2010, S. 19.<br />

23 Laue, 2010, S. 28.<br />

25


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

zung des Strafrechts zu bezeichnen. So werden Kriminolog:innen auch nicht müde,<br />

die Eigenständigkeit der <strong>Kriminologie</strong> zu betonen. Dies zu betonen, genügt jedoch<br />

nicht, denn faktisch ist die Lage kritisch zu betrachten. 24 Sowohl von manchen<br />

Jurist:innen als auch durch ihre institutionelle Verankerung wird ihr teilweise nur<br />

der Stellenwert einer Hilfswissenschaft zugeschrieben. 25 Seit den 1970er Jahren<br />

gab es an vielen juristischen Fakultäten Kriminologische Lehrstühle, oftmals in<br />

Kombination mit Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht. In den letzten Jahren<br />

werden diese jedoch zurückgedrängt und in Lehrstühle der klassischen Fächer des<br />

Strafrechts in Kombination mit <strong>Kriminologie</strong>, als Annex, umgewidmet. Dadurch<br />

hat die <strong>Kriminologie</strong> an den Universitäten erheblich an Bedeutung verloren. Ein<br />

kriminologischer Grundlagenschein ist nicht verpflichtend; das Fach kann i.d.R.<br />

lediglich im Rahmen eines Schwerpunktbereichs belegt und vertieft werden. Nach<br />

Albrecht 26 „wird eine <strong>Kriminologie</strong>, die empirisch ausgerichtet ist und strafrechtswissenschaftliche,<br />

soziologische, psychologische, ökonomische und psychiatrische<br />

Perspektiven einbezieht, an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten eher randständig“.<br />

Auch an den soziologischen und psychologischen Instituten wurden die Kriminalsoziologie<br />

bzw. die Rechts- und Kriminalpsychologie in den letzten Jahren zurückgedrängt,<br />

so dass die <strong>Kriminologie</strong> auf universitärer Ebene in Deutschland einen<br />

starken Bedeutungsverlust hinzunehmen hatte.<br />

Vor allem in angelsächsischen, aber auch in vielen anderen Ländern, allen voran<br />

die skandinavischen und die Beneluxstaaten, werden differenzierte Bachelor- und<br />

Masterprogramme angeboten, um „Criminal Law and Criminology“ oder „Crime<br />

and Criminal Justice“ zu studieren.<br />

Durch die derzeitigen Bedingungen an den deutschen Universitäten findet ein<br />

Großteil der Forschung an außeruniversitären kriminologischen Forschungseinrichtungen<br />

statt. Zu nennen sind hier das 1979 gegründete Kriminologische Forschungsinstitut<br />

Niedersachsen (KFN) (früherer Direktor: Christian Pfeiffer; jetzt<br />

Thomas Bliesener), die 1985 gegründete Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden<br />

(KrimZ) (früherer Direktor: Rudolf Egg; jetzt Martin Rettenberger) und das 1969<br />

gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und<br />

Recht (ehemals Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht),<br />

Abteilung <strong>Kriminologie</strong> (früherer Direktor: Hans-Jörg Albrecht; jetzt Jean-<br />

Louis van Gelder). 2021 wurde zudem das Zentrum für kriminologische Forschung<br />

Sachsen e.V. (ZKFS) in Chemnitz gegründet. Direktor ist Frank Asbrock. Damit sind<br />

erstmals alle Direktoren dieser Einrichtungen Psychologen.<br />

24 Bspw. werden zum Wintersemester 2022/23 letztmalig Studierende in dem Masterstudiengang Internationale<br />

<strong>Kriminologie</strong> an der Universität Hamburg zugelassen.<br />

25 Albrecht, 2013, S. 41.<br />

26 Albrecht, 2013, S. 26.<br />

26


<strong>Kriminologie</strong> als national und international verankerte Wissenschaft<br />

Die Akademisierung des Polizeiberufs hat dazu geführt, dass die Bedeutung der<br />

<strong>Kriminologie</strong> sowohl an den Hochschulen der Polizei als auch an den Landeskriminalämtern<br />

stark zugenommen hat. Durch das BKA werden seit den 1970er Jahren<br />

anwenderorientierte Forschungsstudien in den Kriminalwissenschaften durchgeführt<br />

und veröffentlicht.<br />

In vielen Bundesländern wurden überwiegend an den Landeskriminalämtern eigene<br />

Forschungsstellen eingerichtet:<br />

Bayern: „Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei“ seit 1979<br />

Hamburg: „Kriminologische Forschungsstelle“ seit 1989<br />

Hessen: „Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle“ (KKFoSt) seit 2004<br />

Niedersachsen: „Kriminologische Forschungsstelle“ (KFST) seit 2006<br />

Nordrhein-Westfalen: „Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle“ (KKF)<br />

seit 2002<br />

Schleswig-Holstein: „Kriminologische Forschungsstelle“ seit 2017<br />

Thüringen: „Forschungsstelle der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung –<br />

Fachbereich Polizei“ seit 2017<br />

In Rheinland-Pfalz soll an der Hochschule der Polizei eine Zentralstelle Forschung<br />

entstehen, um die Forschung weiter voranzutreiben.<br />

Die nationale und internationale Verankerung der <strong>Kriminologie</strong> wird auch durch die<br />

zahlreichen kriminologischen Fachzeitschriften deutlich. Die wichtigsten deutschsprachigen<br />

Zeitschriften sind: „Die Monatsschrift für <strong>Kriminologie</strong> und Strafrechtsreform“,<br />

„Forensische Psychiatrie, Psychologie und <strong>Kriminologie</strong>“, „Zeitschrift für<br />

Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe“, „Kriminologisches Journal“, „Neue Kriminalpolitik“,<br />

„Bewährungshilfe“, „Rechtspsychologie“, „Soziale Probleme“, „Zeitschrift<br />

für Rechtssoziologie“, „Kriminalistik“, „Kriminalpolitische Zeitschrift (Online)“ und<br />

„<strong>Kriminologie</strong> – Das Online-Journal“.<br />

Wichtige englischsprachige Journals sind: „Criminology“, „European Journal of<br />

Criminology“, „British Journal of Criminology“, „Crime and Delinquency“, „International<br />

Journal of Offender Therapy“, „Journal of Research in Crime and Delinqency“,<br />

„Journal of Quantitative Criminology“, „Journal of Interpersonal Violence“.<br />

Nationale und internationale wissenschaftliche Vereinigungen und ihre regelmäßig<br />

stattfindenden Konferenzen weisen ebenfalls auf die Eigenständigkeit des Fachs<br />

hin. Sie dienen dazu, aktuelle kriminologische Forschungserkenntnisse auszutauschen<br />

und Kontakte zu knüpfen. Eine wissenschaftliche Vereinigung deutscher,<br />

österreichischer und schweizerischer Kriminolog:innen ist die Kriminologische Gesellschaft<br />

(KrimG) e.V., die alle zwei Jahre eine große Fachtagung organsiert. 27<br />

27 Kriminologische Gesellschaft (KrimG) unter http://www.krimg.de/drupal/ [21.02.2022].<br />

27


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

Die bereits 1941 gegründete American Society of Criminology (ASC) ist die größte<br />

internationale kriminologische Vereinigung. 28 Im Jahr 2000 wurde die European<br />

Society of Criminology (ESC) gegründet, um ein Forum für die überwiegend in Europa<br />

tätigen Forscher:innen zu schaffen. 29<br />

„Internationalität“ meint nicht nur die Institutionalisierung der Disziplin, sondern<br />

auch die inhaltliche Ausrichtung. Kriminalität ist ein grenzüberschreitendes Phänomen,<br />

so dass viele Themenfelder unweigerlich internationalen Bezug haben, bspw.<br />

Analysen zu Menschenhandel, Organisierter Kriminalität oder Cyberkriminalität,<br />

interkulturelle Untersuchungen (bspw. länderübergreifende Dunkelfeldstudien zu<br />

Kriminalität 30 und ihren Korrelaten wie bspw. ISRD 31 oder ICVS 32 ) oder rechtsvergleichende<br />

Analysen (bspw. zu Sanktionen).<br />

Bevor wir uns mit konkreten Inhalten der <strong>Kriminologie</strong> auseinandersetzen, soll<br />

zunächst der Gegenstandsbereich näher beschrieben werden.<br />

1.4 Kriminalitätsbegriffe<br />

Bereits in den ganz zu Beginn angeführten Definitionen kam zum Ausdruck, dass<br />

sich die <strong>Kriminologie</strong> nicht nur mit Kriminalität, sondern auch mit abweichendem<br />

Verhalten auseinandersetzt. Insofern ist es notwendig, sich den Gegenstandsbereich<br />

und die Abgrenzungen nochmals genauer anzuschauen. Was also ist Kriminalität?<br />

Bereits Raffaele Garofalo hat in seinem Buch „Criminologia“ von 1885 den Vorschlag<br />

gemacht, sich an einem natürlichen Kriminalitätsbegriff (delitto naturale)<br />

zu orientieren. Es soll also einen Kernbestand der Kriminalität geben, der zu allen<br />

Zeiten und in allen Kulturen als verwerflich eingestuft und entsprechend bestraft<br />

wird.<br />

Die „Delicta mala per se“ sind mit den sog. Indexdelikten vergleichbar, die in den<br />

USA als Maßstab für die Kriminalitätsentwicklung benutzt werden. 33 Dazu gezählt<br />

werden die intentionale Tötung (Mord und Totschlag), Vergewaltigung, Raub,<br />

schwere Körperverletzung, Einbruch in Privaträume und Diebstahlsdelikte ab einem<br />

Beutewert ab 50 Dollar. Grundannahme dieses Kriminalitätsbegriffs ist, dass<br />

28 American Society of Criminology (ASC) unter https://asc41.com/ [21.02.2022].<br />

29 European Society of Criminology (ESC) unter https://www.esc-eurocrim.org/ [21.02.2022].<br />

30 Vgl. Abschnitt 3.<br />

31 ISRD (The International Self-Report Delinquency Study unter https://web.northeastern.edu/isrd/) ist eine<br />

große, internationale, kollaborative Studie über Viktimisierung und Delinquenz unter Jugendlichen. Es ist<br />

ein fortlaufendes Projekt, das derzeit seine vierte Erhebung (ISRD4) begonnen hat. So wird ermöglicht,<br />

Muster von Straftaten und Viktimisierung über einen längeren Zeitraum zu verfolgen [21.02.2022].<br />

32 ICVS (International Crime Victim Survey unter https://wp.unil.ch/icvs/) ist eine internationale Viktimisierungsstudie,<br />

die in den Jahren 1989, 1992, 1996, 2000 sowie 2004/2005 in 37 Ländern weltweit<br />

durchgeführt wurde [21.02.2022].<br />

33 Schwind & Schwind, 2021, § 1 Rn. 8.<br />

28


Kriminalitätsbegriffe<br />

es universelles Recht bzw. Unrecht gibt, also Handlungen, die auch ohne Verbot als<br />

verwerflich anzusehen sind.<br />

Kriminolog:innen fassen den Kriminalitätsbegriff weiter und subsumieren das<br />

gesamte sozial abweichende Verhalten (Devianz) darunter (soziologischer Kriminalitätsbegriff).<br />

„Sozial abweichend“ ist ein Verhalten, das gesellschaftlichen<br />

Regeln, (informellen) Normen und Erwartungen, die in der Gesellschaft oder in<br />

einem Teilbereich der Gesellschaft gelten, widerspricht. Der Begriff der Delinquenz<br />

berücksichtigt jugendkriminologische Erfordernisse und ist ebenfalls nicht<br />

an strafbare Verhaltensweisen gebunden; er umfasst darüber hinausgehendes<br />

jugendliches, dissoziales Verhalten (bspw. Schulschwänzen, Bandenzugehörigkeit,<br />

Alkoholmissbrauch). 34<br />

Zwischen dem engen Kern verwerflicher menschlicher Handlungen („Delicta mala<br />

per se“) und dem weiten Bereich des abweichenden Verhaltens liegt der strafrechtliche<br />

Kriminalitätsbegriff, also alle Handlungen, die durch ihr Verbot als verwerflich<br />

definiert werden („Delicta mere prohibita“). Der strafrechtliche Kriminalitätsbegriff<br />

scheint einfach zu fassen zu sein, denn alles, was der Gesetzgeber unter<br />

Strafe stellt, ist diesem formellen Kriminalitätsbegriff zuzuordnen.<br />

Doch so einfach, wie es scheint, ist es nicht. Denn wann wird ein Verhalten als<br />

strafrechtlich relevant und wann als nur abweichend eingestuft?<br />

Informelle Normen<br />

(„Kann“ und „Soll“)<br />

Formelle Normen/Verbote<br />

(„Muss“ bspw. OWis etc.)<br />

Strafrecht<br />

(„Muss“ = Vergehen und<br />

Verbrechen<br />

i.S.d. § 12 StGB)<br />

Abbildung 2:<br />

Schnittmengen informeller und formeller Normen, eigene Darstellung<br />

34 Kreuzer, 1983a, S. 50; so zumindest international. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff überwiegend<br />

für strafrechtlich einschlägige Delikte von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden verwendet,<br />

vgl. KrimLEX unter http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=&KL_ID=2 [12.12.2022].<br />

29


Teil 1: Grundlagen der <strong>Kriminologie</strong><br />

Über die Existenz von Normen in der Gesellschaft wird abweichendes Verhalten<br />

definiert. Eine Norm ist danach jede soziale, ethische oder rechtliche Regel, deren<br />

Befolgung erwartet wird. „Kann-Normen“ sind Bräuche und Gewohnheiten, während<br />

es sich bei „Soll-Normen“ um sittlichen Gebote handelt. Diesen informellen<br />

Normen werden formelle Normen bspw. in Form von Gesetzen als „Muss-Normen“<br />

oder „institutionalisierte Werte und Normen“ entgegengesetzt. 35<br />

Die Schwierigkeit aller Normen liegt darin, dass sie keine starren Grenzen haben.<br />

In jeder Gesellschaft und in jeder Kultur herrschen andere Verhaltenserwartungen<br />

und Regeln. Staaten unterscheiden sich danach, ob ein Verhalten als strafwürdig<br />

oder nicht betrachtet wird. Man spricht von der interkulturellen Variabilität von<br />

Normen („Andere Länder, andere Sitten“). Aber auch intrakulturell sind Normen<br />

nicht starr. So können bspw. zu Kriegszeiten andere Regeln gelten als in Friedenszeiten<br />

(intrakulturelle Flexibilität von Normen). Oder aber Normen können sich<br />

innerhalb eines Staates über die Zeit verändern (intrakulturelle Variabilität von<br />

Normen). Im Laufe der Geschichte gab es vielfältige Wandlungen der Kriminalisierung<br />

und Entkriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen.<br />

1.5 Soziale Kontrolle<br />

Bestimmte Regeln müssen in jeder Gesellschaft eingehalten werden. Die Einhaltung<br />

der Normen und Regeln kann aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise<br />

gesteuert werden.<br />

Strafrecht ist dabei nur eine Form der sozialen Kontrolle, ein von dem amerikanischen<br />

Soziologen Edward Alsworth Ross mit seinem Buch „Social Control“ 1901<br />

eingeführter Begriff. Soziale Kontrolle reicht weit über das formalisierte Strafrecht<br />

hinaus. Nach Reinke und Schierz 36 „umfasst der Begriff im weitesten Sinne die Gesamtheit<br />

aller sozialen Prozesse und Strukturen, mit denen in einer Gesellschaft ein<br />

als abweichend definiertes Verhalten überprüft und sanktioniert wird“.<br />

Nach Lamnek und Ottermann 37 wird Selbstkontrolle als internale soziale Kontrolle<br />

beschrieben (vgl. Tabelle 1). Dabei geht es um innere Kontrollmechanismen und<br />

um das Ausmaß, nach dem Verhalten entweder von einem guten oder einem<br />

schlechten Gewissen begleitet wird.<br />

Fremdkontrolle ist eine externale Form der Verhaltensregulierung. Über äußere<br />

Schranken und Verbote wird versucht, abweichendes Verhalten präventiv zu vermeiden.<br />

Es können aber auch positive Sanktionen für positives Verhalten (Lob,<br />

Belohnungen etc.) oder negative Sanktionen für abweichendes Verhalten verhängt<br />

werden. Eine förmliche Sanktion/Reaktion wäre bspw. das Tätigwerden des<br />

Jugendamtes, der Polizei oder der Justiz. Vornehmlich wird soziale Kontrolle über<br />

35 Menzel & Wehrheim, 2010, S. 511.<br />

36 Reinke & Schierz, 2006, S. 300.<br />

37 Lamnek & Ottermann, 2004, S. 62; zitiert nach Menzel & Wehrheim, 2010, S. 510.<br />

30

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