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Broschüre: Kulturpreis 2023 Schwarzwald-Baar, Werke der Preisträger 2023 – Literatur und Drama

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<strong>Werke</strong> <strong>der</strong> <strong>Preisträger</strong> <strong>2023</strong><br />

<strong>Literatur</strong> <strong>und</strong> <strong>Drama</strong>


ZUM KULTURPREIS<br />

<strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong><br />

Erstmals wurde <strong>der</strong> Preis im Jahr 2000 auf Initiative<br />

des „Theaters am Turm“ vergeben. Seither wird <strong>der</strong><br />

<strong>Kulturpreis</strong> <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> jährlich durch die Sparkasse<br />

<strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>und</strong> den <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> -Kreis<br />

ausgelobt. Der Preis wird abwechselnd in den Bereichen<br />

„Bildende Kunst“, „Theater/Schauspiel/Klein kunst“,<br />

„<strong>Literatur</strong>/<strong>Drama</strong>“ sowie „Musik/Gesang“ aus geschrieben.<br />

Der <strong>Kulturpreis</strong> wendet sich ausdrücklich an den künstlerischen<br />

Nachwuchs aus dem Kreisgebiet.<br />

-3-


INHALT<br />

Sieben Tage Warten<br />

von Carla Maria Rombach<br />

„Was wiegt denn eine Seele,<br />

Herr Rychel?“<br />

von Werner Leuthner<br />

Die Farben des Sees<br />

von Rike Richstein<br />

Ich würde es wie<strong>der</strong> tun <strong>–</strong><br />

eine Idee für den Frieden<br />

von Gerhard Käfer<br />

Pusteblumen-Zauber<br />

von Hannah Below<br />

De storje Aujust, Standuhr<br />

<strong>und</strong> Rennrad<br />

von Hubert Mauz<br />

-5-<br />

-18-<br />

-28-<br />

-35-<br />

-64-<br />

-68-<br />

-4-


Sieben Tage Warten<br />

von Carla Maria Rombach<br />

I. Erster Tag<br />

Wenn es stimmt, dass man nur dann wahrhaft über<br />

eine Sache schreiben kann, wenn man bis zum Hals in<br />

<strong>der</strong> Scheiße steckt, wenn man sich tief hinein verstrickt<br />

hat in eine Sache, dann nehme ich meine Situation als<br />

Anlass dazu, mich in dieser Tätigkeit, dem Schreiben,<br />

zu üben anstatt mich einer hoffnungslosen Lähmung<br />

hinzugeben. Doch keineswegs handelt es sich hierbei<br />

um einen Selbstzweck. Das Schreiben <strong>und</strong> auch das<br />

gute Schreiben, das authentische Schreiben ist mir im<br />

Gr<strong>und</strong>e genommen völlig unwichtig. Ich hätte genauso<br />

gut eine an<strong>der</strong>e Tätigkeit wählen können. Wichtig ist<br />

nur meine Wahrnehmung von Zeit zu manipulieren.<br />

Das Schreiben soll sie unbemerkter an mir vorbei fließen<br />

lassen. Dies <strong>und</strong> nur dies ist wichtig. Das Schreiben<br />

habe ich als ein geeignetes Mittel gewählt. So handelt<br />

es sich bei diesen hingeworfenen Notizen um einen<br />

Echtzeitbericht. Ich konserviere die Schärfe <strong>der</strong> Eindrücke.<br />

Im besten Fall werden diese Notizen einmal<br />

als Warnung <strong>und</strong> nur als Warnung gelesen werden.<br />

Ich schreibe im Hier <strong>und</strong> Jetzt <strong>und</strong> mittendrin in dieser<br />

verdammten Stadt, Marseille.<br />

II.<br />

Zweiter Tag (Auszüge)<br />

Man hat mir gesagt, man hätte nichts. Man hat mir gesagt,<br />

man wäre ges<strong>und</strong>. Man hat mir gesagt, man hätte<br />

einen Test gemacht. Die Zwei haben das zu mir gesagt<br />

<strong>und</strong> ich habe geantwortet, dass ich Angst habe. Beide<br />

-5-


haben in <strong>der</strong> fremden Sprache gesprochen. Die Kommunikation<br />

in je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sprache, ausgenommen<br />

<strong>der</strong> Eigenen, birgt so viel Raum für Missverständnisse,<br />

für eigene Interpretationen <strong>und</strong> für Egoismus. Ich lag<br />

nackt vor ihnen, erst vor dem einen <strong>und</strong> später vor dem<br />

an<strong>der</strong>en. Nur <strong>der</strong> Raum hat gewechselt. Meine Worte<br />

wurden von beiden überhört. Vielleicht war es so, weil<br />

ich nicht in meiner Sprache gesprochen habe. Ich habe<br />

die Augen geschlossen <strong>und</strong> wusste bereits, dass es<br />

lange Wochen werden.<br />

Wenn das Virus im Körper ist, dann hat es sich bereits<br />

jetzt so vermehrt, dass die Diagnose sicher ist. Warten<br />

muss man, bis man es nachweisen kann. Meine Angst<br />

ist diffus. Es ist die Angst vor einer bloßen Möglichkeit.<br />

Es ist die Angst enttäuscht zu haben, f<strong>und</strong>amental <strong>und</strong><br />

unwi<strong>der</strong>ruflich enttäuscht zu haben, die An<strong>der</strong>en <strong>und</strong><br />

mich. Ich habe gehört, die Wahrscheinlichkeit bei ungeschütztem<br />

Verkehr sei verschwindend gering. Sie ist für<br />

mich wie ein winziger Punkt am Horizont. [...]<br />

Der Himmel ist strahlend blau am Nachmittag. Himmel<br />

<strong>und</strong> Meer berühren sich ganz hinten am Horizont. Mein<br />

Auge reicht kaum hin. Am Strand ist es warm, die Farben<br />

sind klar <strong>und</strong> um mich ist nur die fremde Sprache.<br />

Mir geht die Frage durch den Kopf, ob es auch in meiner<br />

Sprache passiert wäre. Sie steht mir quer im Kopf.<br />

Das Virus kann Flecken verursachen. Auch die Sonne<br />

kann das. Nach dem Strand gehe ich nach Hause. Alleine<br />

stehe ich im Licht <strong>und</strong> unbeweglich ist mein Bild im<br />

Spiegel. Die roten Flecken könnten entwe<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Sonne o<strong>der</strong> vom Virus o<strong>der</strong> von beiden sein. Hautausschlag<br />

taucht etwa zwei bis vier Wochen nach einer In-<br />

-6-


fektion auf. Somit muss ich nur noch auf Fieber, Müdigkeit<br />

o<strong>der</strong> Durchfall warten. Manchmal kommt auch alles<br />

zusammen, aber manchmal auch nicht. In meinem Kopf<br />

habe ich eine Liste mit allen Symptomen. Da stehen<br />

sie in großen, weißen Buchstaben vor einem dunklen<br />

Hintergr<strong>und</strong>. Geordnet sind sie nach ihren Wahrscheinlichkeiten.<br />

Gut ist alles zu lesen. Und da sehe ich mich<br />

in meinem eigenen Kopf vor ihnen stehen, mit großen<br />

Augen <strong>und</strong> staunend wie ein Kind vor einer selbst gemachten<br />

Sauerei. [...]<br />

Ich laufe verfahren durch die Stadt. Die hellen Häuser<br />

<strong>und</strong> die bunten Fassaden ragen über mir in die Höhe.<br />

Aus den Fenstern lachen die Leute. Aber mich geht<br />

es schon gar nichts mehr an, die Häuser <strong>und</strong> ihre Bewohner,<br />

ihre Gespräche <strong>und</strong> ihr Lachen. Wie ein ganz<br />

kleiner Punkt gehe ich nach Hause. Ein kleiner Punkt<br />

schwebt durch ein Straßenmeer. [...]<br />

Wenn ich den Kopf beim Schreiben in meinem Zimmer<br />

zum Fenster drehe, dann sehe ich ins Restaurant gegenüber.<br />

Er arbeitet. Wer hat wen angesteckt? Er mich?<br />

O<strong>der</strong> ich ihn? Es könnte beides sein. Vielleicht war die<br />

Menge des Virus nicht ausreichend in <strong>der</strong> Nacht o<strong>der</strong> er<br />

hat das Virus gar nicht o<strong>der</strong> ich habe es nicht. Er hat mir<br />

gesagt, er hätte einen Test gemacht. In meiner Sprache<br />

hätte ich vielleicht nachgefragt, aber nur vielleicht.<br />

Ich habe Angst. Nur das habe ich gesagt. Das ist alles.<br />

Dann ist es passiert. Wir haben erst danach wie<strong>der</strong><br />

miteinan<strong>der</strong> gesprochen. Er hat gesprochen <strong>und</strong> ich<br />

habe ihn angeschaut. Manchmal, im Leben, da vergeht<br />

einem das Sprechen.<br />

-7-


III.<br />

Dritter Tag (Auszüge)<br />

Ein Fre<strong>und</strong> hat mir gesagt, man werde unter vor sich<br />

hin starrenden Leuten sitzen. Er konnte über meine<br />

Geschichte lachen weil seine eigene Geschichte gut<br />

ausgegangen war. Und vielleicht auch weil er mehr als<br />

zehn Jahre älter ist als ich <strong>und</strong> seine Geschichte schon<br />

mehr als zehn Jahre zurück liegt.<br />

In Marseille gibt es genau zwei, explizit darauf spezialisierte<br />

Stellen um sich testen zu lassen. Man wartet<br />

über eine Woche auf einen Termin zum Blut abnehmen<br />

<strong>und</strong> dann eine weitere Woche bis sie einem das Ergebnis<br />

mitteilen. Ich bin zu einer <strong>der</strong> Stellen gelaufen.<br />

Sie sagten mir, sie seien völlig überlastet. Man könnte<br />

sagen, sich testen zu lassen ist zur Mode geworden in<br />

diesem Land. Man könnte auch sagen, es herrscht ein<br />

gewisser Mangel an Sexualmoral in dieser Stadt. O<strong>der</strong><br />

man könnte auch sagen, Marseille ist eine gottverhurte<br />

Stadt. Letztendlich saß ich wirklich unter Leuten, die<br />

unbestimmt vor sich hin starrten. Dann waren alle ganz<br />

nett zu mir. Die Frau war nett, die mir Fragen gestellt<br />

hat, <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> ältere Mann in seinem weißen Arztkittel<br />

<strong>und</strong> mit seiner Nadel. Ganz rot ist das Blut in<br />

den kleinen Behälter geflossen. Wenn man sich testen<br />

lassen geht, dann bekommt man eine Nummer. Hier<br />

gibt es keine Fragen nach Versicherungen. Hier endet<br />

die Bürokratie. So eine Nummer besteht aus Zahlen<br />

<strong>und</strong> aus Buchstaben. So eine Nummer besteht aus acht<br />

Ziffern. Diese Nummer dient meiner Anonymität. Das<br />

haben sie gesagt. [...]<br />

Die roten Flecken waren am Morgen verschw<strong>und</strong>en.<br />

Ich setze mich zur gleichen St<strong>und</strong>e an den gleichen<br />

-8-


Platz am Strand. Wenn die Flecken heute wie<strong>der</strong>kommen,<br />

klein <strong>und</strong> r<strong>und</strong> <strong>und</strong> auf <strong>der</strong> Brust, dann war <strong>der</strong> Hautausschlag<br />

von gestern vielleicht auch einfach nur eine<br />

Sonnenallergie. Und wenn sie nicht kommen, dann<br />

heißt das auch nichts. [...]<br />

Dieser Test, dessen Ergebnis ich in fünf Tagen erhalten<br />

werde, macht einen Strich unter mein Leben. Man muss<br />

einen Monat nach dem letzten Kontakt warten. Dann<br />

erst ist <strong>der</strong> Test sicher. Dieser Test löscht alle Treffen<br />

vor Neujahr. Dann muss ich noch einmal zwei Wochen<br />

warten <strong>und</strong> einen neuen Test machen, um alle Kontakte<br />

vom Januar auszuschließen. Und dann muss ich<br />

noch einmal sieben Tage warten. Man könnte sagen,<br />

ich habe mich in ein Schlamassel begeben. Man könnte<br />

auch sagen, ich sei selber Schuld. Man könnte auch<br />

sagen, es ist menschlich sich hinzugeben in Momenten<br />

<strong>der</strong> Intimität. Man könnte auch sagen, es war kein einvernehmlicher<br />

Geschlechtsverkehr. [...]<br />

Meine Fre<strong>und</strong>in hat mir gesagt, ich werde lernen damit<br />

zu leben. Immer wie<strong>der</strong> hat sie das bei ihrem Besuch<br />

gesagt. Sie hat in meinem Bett geschlafen <strong>und</strong> länger<br />

ist sie geblieben <strong>und</strong> am Ende ihres Besuchs ist sie in<br />

den Zug gestiegen. Ich bin am Bahnsteig stehen geblieben<br />

<strong>und</strong> zum Testzentrum gelaufen. Das war vor drei<br />

Tagen. Dann habe ich mit dem Warten <strong>und</strong> mit dem<br />

Schreiben angefangen. [...]<br />

Unter den fremden Leuten im Warteraum sitzend,<br />

musste ich an eines <strong>der</strong> letzten Treffen denken. Bei<br />

diesem Treffen hat mein Körper angefangen zu bluten.<br />

Ich solle einen Test machen, hat er sofort gesagt. Und<br />

er hat auch gesagt, dass er selber einen Test machen<br />

-9-


wird. Das hat er gleich danach gesagt. Aber ich habe<br />

nicht gefragt, warum er noch einmal einen Test machen<br />

möchte. Er hat doch schon Einen gemacht. Jedenfalls<br />

hatte er das bei einem <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Treffen einmal gesagt.<br />

Aber ich habe schon oft gedacht, dass das mit<br />

dem Sagen <strong>und</strong> das mit dem Machen zwei völlig verschiedene<br />

Dinge sind. Vielleicht hat ihm mein Blut an<br />

seinem<br />

Bauch Angst gemacht. Auch mir hat es Angst gemacht<br />

in dieser Nacht <strong>und</strong> auch danach.<br />

IV.<br />

Vierter Tag (Auszüge)<br />

Zum Strand bin ich gegangen. Es ist Januar aber die<br />

Leute baden bereits. Wenn man sagt, dass das Leben<br />

weitergehen wird, dann meint man vielleicht das: Das<br />

Meer bleibt, <strong>der</strong> Strand bleibt <strong>und</strong> die Sonne bleibt.<br />

Und we<strong>der</strong> das Meer, noch <strong>der</strong> Strand, noch die Sonne<br />

urteilt. Es gibt Orte an denen man sein kann, mit allen<br />

seinen Fehlern. Es gibt Orte an denen es einem leichter<br />

fällt zu verzeihen <strong>und</strong> zu vergessen. [...]<br />

Neben den Bil<strong>der</strong>n von meiner eigenen Zukunft, ängstigen<br />

mich die Gespräche mit den beiden <strong>und</strong> das Aufdecken<br />

<strong>der</strong> Lügen, ihrer Lügen <strong>und</strong> meiner Lügen. Ich<br />

habe den beiden den jeweils an<strong>der</strong>en verschwiegen.<br />

Es gibt Geschichten, die nur von Schuldigen gespielt<br />

werden. [...]<br />

Meine Fre<strong>und</strong>in hat mir gesagt, ich hätte mir da aber<br />

eine ganz wilde Theorie zusammen gebastelt. Angenommen<br />

zwei Leute sind ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> tragen kein Virus<br />

in sich <strong>und</strong> man nehme eine dritte, ges<strong>und</strong>e Person<br />

-10-


dazu, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

eine <strong>der</strong> Personen anschließend positiv ist? Beinahe<br />

lachen muss ich. Aber ich kann mein Blut an seinem<br />

Bauch nicht vergessen, das ihn sofort hat aufhören<br />

lassen <strong>und</strong> unter die Dusche eilen <strong>und</strong> mich liegen lassen,<br />

blutend, auf seinem Bett. Ich kann es nicht vergessen,<br />

wie er auf seinen Bauch gestarrt hat. Ich sehe mich<br />

nackt unter ihm liegen <strong>und</strong> sehe ihn aufspringen. Immer<br />

wie<strong>der</strong> sehe ich sein Aufspringen. [...]<br />

Im Testzentrum haben sie mir keinen Rat gegeben wie<br />

umzugehen mit den Tagen. Erklärt haben sie mir, dass<br />

ich jetzt sieben Tage zu warten habe. Keine Zauberlösung<br />

gäbe es <strong>und</strong> überlastet seien sie. Es ist sehr<br />

einfach, es gibt keine Heilung. [...]<br />

Riesige Augen <strong>und</strong> einen ganz schmalen M<strong>und</strong> hätte<br />

ich gehabt. Das hat mir meine Fre<strong>und</strong>in später gesagt.<br />

Damals, am Bahnhof, als ich sie abgeholt habe, hätte<br />

ich so ausgesehen. Irgendwann später hat sie es mir<br />

einmal vorgemacht. Ganz groß hat sie die Augen gemacht<br />

<strong>und</strong> ganz schmal die Lippen. So, hat sie gesagt.<br />

Noch am Bahnhof ist die Geschichte mit dem Blut, das<br />

ganze Schlamassel aus mir herausgeplatzt. Sie hatte<br />

noch ihren Koffer in <strong>der</strong> Hand gehabt <strong>und</strong> um uns waren<br />

all die Kommenden, Wartenden <strong>und</strong> Hastenden als ich<br />

angefangen habe zu erzählen. [...]<br />

In <strong>der</strong> letzten Nacht mit ihm ist alles verdammt schnell<br />

gegangen. Als das Restaurant zu war, bin ich zu ihm<br />

gelaufen, ich wurde ich in den Arm genommen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Wein war noch nicht ausgetrunken, da hatten wir bereits<br />

einmal miteinan<strong>der</strong> geschlafen. Dann ist er in sein<br />

Bad gegangen, nackt <strong>und</strong> sich waschend <strong>und</strong> die Türe<br />

-11-


offen stehen lassend hat er mich gefragt, ob ich eigentlich<br />

mit meinen an<strong>der</strong>en Fre<strong>und</strong>en genauso schnell bei<br />

<strong>der</strong> Sache sei. Ich wusste nichts zu antworten in <strong>der</strong><br />

fremden Sprache. Später am Abend haben wir noch<br />

einmal miteinan<strong>der</strong> geschlafen. Da habe ich dann angefangen<br />

zu bluten. Meine Fre<strong>und</strong>in ist am Nachmittag<br />

des nächsten Tages gekommen. Irgendwann später<br />

meinte sie, vielleicht wäre es besser gewesen einen Tag<br />

früher zu kommen.<br />

V. Vierter Tag <strong>–</strong> Nachts (Auszüge)<br />

Durch den M<strong>und</strong> habe ich geatmet <strong>und</strong> ganz laut. Es<br />

war ganz still in meinem dunklen Zimmer. Nur mein<br />

lauter Atem war da <strong>und</strong> ich war ganz klein in meinem<br />

Bett. Ich war wie <strong>der</strong> kleine Punkt am Horizont. [...]<br />

VI.<br />

Fünfter Tag (Auszüge)<br />

Zum Labor haben sie die Proben geschickt. Ganz selten<br />

nur werden sie verwechselt. Wahrscheinlich, denke ich<br />

mir, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verwechslung<br />

vorliegt genauso wahrscheinlich wie sich mit einem Virus<br />

bei Jemandem zu infizieren, <strong>der</strong> es sicher nicht hat. Im<br />

letzten Fall muss dieser Jemand schon irgendwie etwas<br />

verwechselt haben mit dem Testen, den Frauen, <strong>der</strong><br />

Reihenfolge <strong>und</strong> dem Zeitfenster, das man dem Virus<br />

geben muss, damit es überhaupt nachgewiesen werden<br />

kann. Ich bin es immer wie<strong>der</strong> durchgegangen, habe<br />

die Ereignisse in meinem Kopf immer wie<strong>der</strong> aufgereiht<br />

wie an einem Zahlenstrahl. Wenn ich es vom Ersten<br />

habe, dann könnte ich den Zweiten angesteckt haben.<br />

Wenn ich es dagegen vom Zweiten habe, dann könnte<br />

ich den Ersten angesteckt haben. Es ist genau diese<br />

-12-


Überlegung, die mir so große Angst macht. Es ist die<br />

Angst ihnen den Zahlenstrahl in meinem Kopf zu erklären.<br />

[...]<br />

Die Mama hat gesagt, sie würde es vielleicht sogar<br />

noch mehr angehen als mich. Sie war am Telefon, an<br />

einem <strong>der</strong> Nachmittage am Strand <strong>und</strong> ich war am<br />

Weinen. [...]<br />

Ich schiebe die Wut auf die An<strong>der</strong>en, auf mich <strong>und</strong> wie<strong>der</strong><br />

zurück. Ich gehe den Zahlenstrahl auf <strong>und</strong> wie<strong>der</strong><br />

ab. Die Sache dreht sich im Kreis. Die Tage biegen sich<br />

zu einem Bogen. Je<strong>der</strong> gleicht dem An<strong>der</strong>en, bedeckt<br />

von Sonnenschein. [...]<br />

Ich denke, er wird nicht mehr viel über die ganze Sache<br />

nachgedacht haben, denn später, als meine Periode zu<br />

Ende war, hat er mich gefragt, ob wir uns wie<strong>der</strong>sehen<br />

wollen. Und als ich meinte, dass meine Fre<strong>und</strong>in da sei,<br />

da hat er diese Sache zu dritt in den Raum gestellt, einfach<br />

so. Da war dann auch von keinem Test mehr die<br />

Rede. Meine Fre<strong>und</strong>in hat nur gelacht. Sie hat häufig<br />

gelacht während ihres Besuchs. Aber am Ende meinte<br />

sie, sie hätte sich den Besuch doch etwas an<strong>der</strong>s vorgestellt.<br />

Marseille sei ja verrückt, aber so. Und einmal<br />

hat sie gesagt, sie würde keine Späße machen wenn sie<br />

irgendeine Gefahr bei <strong>der</strong> ganzen Angelegenheit sehen<br />

würde. Und erst nachdem ich meine Geschichte zum<br />

dritten Mal erzählt habe, da meinte sie, hätte sie das<br />

Problem überhaupt erst verstanden. Meine ganz wilde<br />

Theorie hat sie die Sache dann genannt <strong>und</strong> gelacht.<br />

-13-


VII.<br />

Sechster Tag (Auszüge)<br />

Sie haben mir die Ergebnisse gleich am Morgen geschickt,<br />

einen Tag früher als erwartet <strong>und</strong> sechs Tage<br />

nach <strong>der</strong> Blutentnahme. Ich habe die Wörter nachgeschlagen.<br />

Ich bin sieben<strong>und</strong>zwanzig Jahre jung,<br />

getestet am ein<strong>und</strong>zwanzigsten Januar zweitausendzwei<strong>und</strong>zwanzig<br />

im Zentrum Saint Adrien in Marseille.<br />

Nummer SA220615 weist keine abnormalen Anomalien<br />

auf.<br />

Es ist wie bei einem Strategiespiel. Nun kann ich alle<br />

Ereignisse von vor vier Wochen vergessen. Ich hatte<br />

vor etwas mehr als zwei Wochen den Einen gesehen<br />

<strong>und</strong> wenig später dann den An<strong>der</strong>en. Mit dem Ersten<br />

konnte ich sprechen, denn mit dem ersten Ergebnis war<br />

klar, dass ich ihn nicht angesteckt habe. Ich habe ihm<br />

die Sache kurz umrissen, vage <strong>und</strong> unbestimmt. Ob er<br />

denn sicher wäre, dass er nichts hätte, habe ich mich<br />

getraut zu fragen <strong>und</strong> gemeint, wir haben darüber doch<br />

nur einmal kurz gesprochen, damals, er auf Drogen<br />

<strong>und</strong> ich noch völlig betrunken. Er denke, das an<strong>der</strong>e<br />

Mädchen sei ges<strong>und</strong>. Es muss irgendwann dazwischen<br />

passiert sein, zwischen uns, das mit dem an<strong>der</strong>en Mädchen.<br />

Einen Test hätte sie aber auch gemacht. Ganz<br />

sicher könne er natürlich nicht sein, aber er hoffe das<br />

Beste. Danke für das Gespräch, denke ich mir.<br />

VIII.<br />

Siebter Tag (Auszüge)<br />

Über die Angst hat sich ein Schleier gelegt. Die Gedanken<br />

<strong>der</strong> letzten Tage verblassen. Aber alles ist nur aufgeschoben.<br />

[...]<br />

Und ich frage mich, wie oft ich noch zum Strand gehen<br />

-14-


muss bis zum zweiten Test <strong>und</strong> wie oft ich noch kommen<br />

muss um von <strong>der</strong> Sonne <strong>und</strong> den Wellen, vom Wind<br />

<strong>und</strong> vom Sand die Gleichgültigkeit zu lernen.<br />

IX.<br />

Nach fast einer weiteren Woche (Auszüge)<br />

Gestern kam alles wie<strong>der</strong> hoch, die Gesprächsfetzen <strong>der</strong><br />

Nächte, das Gefühl des Versagens <strong>und</strong> natürlich auch<br />

das Bewusstsein, dass noch immer keine Klarheit besteht.<br />

Bis zum zweiten Test sind es noch fast zehn Tage.<br />

Es ist ein Geduldspiel. Es ist ein langatmiger Kampf<br />

gegen das eigene Verrücktwerden mit unabsehbaren<br />

Langzeitfolgen. [...]<br />

Der Wind weht mir Sand auf meine Jacke, gebückt sitze<br />

ich an dem alten Zaun. Fast leer ist <strong>der</strong> Strand heute.<br />

Nur einige Arbeitslose <strong>und</strong> Verwirrte sind hier. [...]<br />

Das neue Mädchen, das in mein Zimmer ziehen wird,<br />

ist bereits da. Das neue Mädchen hat von allen Restaurants<br />

in dieser Stadt ausgerechnet das Restaurant<br />

in meiner Straße ausgesucht. Heulen hätte ich können<br />

als sie mich heute morgen fragte, ob ich die Leute aus<br />

dem Restaurant kennen würde. Kennen wäre zu viel<br />

gesagt, dachte ich mir <strong>und</strong> im selben Moment war sein<br />

Blick, wie er auf seinen Bauch starrt, <strong>der</strong> voll <strong>und</strong> ganz<br />

beschmiert ist von meinem dunklen Blut, wie<strong>der</strong> vor<br />

meinen Augen. Und als das junge Mädchen mich fragte,<br />

ob ich sie, die Leute im Restaurant, kennen würde, da<br />

habe ich mein ganzes Blut für mich behalten <strong>und</strong> habe<br />

nur zu ihr gemeint, wenn du schön nett bist, dann bekommst<br />

du die Stelle. Sie sucht Arbeit, das neue, junge<br />

Mädchen mit den langen, blonden Haaren. [...]<br />

-15-


X. Noch später (Auszüge)<br />

Nachts überfallen mich die Erinnerungen in Bil<strong>der</strong>n.<br />

Und ich bin so dünn geworden weil man mich so wenig<br />

als Mensch behandelt hat. Objekte können keine Angst<br />

haben, zum Spaß haben sind sie da. Meine gesamte<br />

Existenz hat sich auf zwei Blutproben reduziert. Und<br />

die achtstellige Nummer dient meiner Anonymität. Das<br />

hat man mir gesagt. Und ich denke mir, in <strong>der</strong> fremden<br />

Sprache miteinan<strong>der</strong> schlafen hat auch viel mit Anonymität<br />

zu tun. […]<br />

XI.<br />

Noch etwas später (Auszüge)<br />

Ich zwinge mich zum Aufstehen. Am Strand habe ich<br />

mein Gesicht <strong>der</strong> Sonne entgegen gehalten. Ich habe<br />

die Augen geschlossen <strong>und</strong> war ganz ruhig. Ich habe<br />

die kalte Panik von heute morgen mit Wärme zugedeckt.<br />

Sie war da, heute, am Morgen, beim Aufwachen.<br />

Sie hat mich ganz flach gedrückt. Ich konnte kaum<br />

atmen. Ganz leise hat es da in meinem Kopf von Mut<br />

gesprochen. Und dann bin ich aufgestanden <strong>und</strong> habe<br />

die Sonne <strong>und</strong> das Meer gesucht. Und da saß ich dann,<br />

habe geweint <strong>und</strong> irgendwann hat nur noch das Meer<br />

gesprochen. Und dann, irgendwann hat es auch da in<br />

meinem Kopf von Mut gesprochen. Ganz leise saß ich<br />

da an dem verrosteten Zaun. Und hätte mich ein Frem<strong>der</strong><br />

in den Arm genommen, ich hätte es zugelassen.<br />

XII.<br />

Kurz vor dem zweiten Testergebnis (Auszüge)<br />

Der Durchfall <strong>und</strong> das Fieber kamen heute in <strong>der</strong> Nacht<br />

mit den Halsschmerzen. Es muss schon ein Zufall sein.<br />

Dann weint man einfach nur noch <strong>und</strong> zittert am ganzen<br />

-16-


Leib. Man hat das Gefühl man könnte sich selbst umbringen<br />

<strong>und</strong> alle an<strong>der</strong>en. Und die Zeit vergeht nicht.<br />

Man traut sich nicht zu atmen <strong>und</strong> nicht zu gehen. Die<br />

Symptome haben genau vier Wochen auf sich warten<br />

lassen, so wie es <strong>der</strong> Arzt gesagt hat. Ich habe die<br />

Mama in <strong>der</strong> Nacht angerufen <strong>und</strong> sie weinte mit mir<br />

<strong>und</strong> dann meinte sie, mir gehöre eine geschlagen. Sie<br />

klang so weit weg. [...]<br />

Am Mittag ist die Zunge pelzig geworden. Ganz weiß<br />

liegt sie nun friedlich bedeckt in meinem M<strong>und</strong>raum.<br />

Abbeißen will man sie, so fremd liegt sie da. Hefepilze<br />

werden friedlich ihren M<strong>und</strong>raum besiedeln. Genauso<br />

stand es irgendwo geschrieben. Mit friedlich hat das<br />

Alles nichts zu tun.<br />

Ich finde kaum die Kraft mir mein Ergebnis geben zu<br />

lassen. Dann schwimmt alles an einem vorbei, die Gesichter,<br />

die Straßen <strong>und</strong> die Sonne dazwischen. Es ist<br />

nur noch eine Minute bis ich mein Ergebnis bekomme.<br />

Dann steht ein Lachen im Raum. […]<br />

XIII.<br />

Und dann, danach (Auszüge)<br />

Danach dann, da ist es ganz still. Da ist die Zeit kein<br />

Feind mehr <strong>und</strong> auch das Fieber nicht. Da ist niemand<br />

mehr Feind. Da ist es dann ganz still in einem drinnen<br />

<strong>und</strong> auch um einen herum. Das ist eine Stille, die lässt<br />

sich mit gar nichts mehr vergleichen. Die Stille verschluckt<br />

jede Beschreibung. Da trägt einem die Stille<br />

<strong>und</strong> überall ist nur noch Stille. [...]<br />

-17-


„Was wiegt denn eine Seele,<br />

Herr Rychel?“<br />

von Werner Leuthner<br />

Bernd Rychel hatte als Lehrer hier im Gymnasium die<br />

Fächer „Deutsch“ <strong>und</strong> „Ethik“ unterrichtet <strong>und</strong> war nun<br />

schon fünf Jahre im Ruhestand. Seine Lieblingslektüre<br />

in allen Zeitungen, die er in die Finger bekam, waren<br />

die Todesanzeigen. Diese studierte er hingebungsvoll.<br />

Und mit einer ihm selbst nicht ganz geheueren Genugtuung.<br />

Irgendwann kam ihm die Idee, als Trauerredner zu<br />

wirken. Und so dem Sterben <strong>und</strong> dem Tod näher zu<br />

kommen, nicht nur vermittelt, auf Distanz, durch die<br />

Todesanzeigen. Er las entsprechende Berufsbil<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

bildete sich autodidaktisch fort. Er hatte schon eine<br />

breite Basis. Und er konnte zuhören <strong>und</strong> emphatisch<br />

sein. Seinen ersten Einsatz hatte er bei <strong>der</strong> Trauerfeier<br />

für einen ehemaligen Kollegen. Nachdem dieser Auftritt<br />

erfolgreich ablief, war er sich sicher, dass dies das<br />

richtige Betätigungsfeld für ihn im Ruhestand war.<br />

Allerdings musste er sich mit seinen persönlichen Ansichten<br />

sehr zurückhalten.<br />

Für Bernd Rychel waren die Menschen unbelehrbar;<br />

Kriegsfolgen hatten sie nie davon abgehalten, weitere<br />

Kriege zu führen. Inzwischen mit mo<strong>der</strong>nster, effizienter<br />

Technologie - doch dahinter die alten archaischen Muster.<br />

Und die Ausplün<strong>der</strong>ung des Planeten schritt ungehin<strong>der</strong>t<br />

voran. Für den Planet „Erde“ war die Menschheit<br />

sicher wie eine schlimme Krätze. Deshalb musste je<strong>der</strong><br />

-18-


Todesfall dem Planeten ein Quentchen Erleichterung<br />

bringen. Doch die Weltbevölkerung wuchs stetig weiter<br />

<strong>und</strong> damit die Belastung für diese Welt.<br />

Die Hinterbliebenen hatten sich auch das Paul-Gerhard-<br />

Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“ gewünscht. Beim Spazierengehen<br />

summte er die erste Strophe vor sich hin:<br />

„Wir sind nur Gast auf Erden,<br />

Und wan<strong>der</strong>n ohne Ruh,<br />

Mit mancherlei Beschwerden,<br />

Der ewgen Heimat zu!“<br />

Ihm gefiel dieses Lied auch, doch an zwei Begriffen<br />

störte er sich, <strong>und</strong> zwar immer wie<strong>der</strong>, an „Gast“ <strong>und</strong><br />

an „Heimat“!<br />

In seiner Vorstellung bedeutete „Gast“, dass man eingeladen<br />

wurde. Dass man folglich auch die Möglichkeit<br />

gehabt hätte, die Einladung auszuschlagen. Doch<br />

niemand ist je gefragt worden. Niemand konnte gefragt<br />

werden. Ungefragt ist jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> zu Welt gekommen.<br />

Wer hätte auch antworten sollen? Vor <strong>der</strong> Befruchtung<br />

gab es nichts. Und <strong>der</strong> Zellhaufen danach kann sich auch<br />

nicht äußern. Doch dann ist es bereits zu spät. Bis man<br />

auf die hypothetische Frage „Wolltest du denn auf die<br />

Welt kommen?“ antworten kann, muss man in seiner<br />

persönlichen Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten<br />

sein. Später würde die Frage dann vielleicht lauten:<br />

„Willst du auf <strong>der</strong> Welt sein o<strong>der</strong> bleiben?“.<br />

Sollte man nicht die erste Zeile in diesem Liedtext umformulieren;<br />

wie wäre es mit:<br />

„Vorübergehend sind wir auf Erden“<br />

Das sind zwei Silben mehr als beim Original. O<strong>der</strong>:<br />

-19-


„Begrenzte Zeit sind wir auf Erden“<br />

Auch nicht besser.<br />

Statt „Gast“ das Wort „kurz“ zu nehmen, schien ihm zu<br />

dürftig. Dann wollte er es doch bei <strong>der</strong> alten Form belassen.<br />

Der Begriff „Heimat“ war für Rychel zuerst einmal ein<br />

Ort o<strong>der</strong> eine Gegend, zu dem man eine emotionale<br />

Bindung hat. Entwe<strong>der</strong> aus eigener Erfahrung, weil<br />

man dort aufgewachsen ist o<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung<br />

seiner Eltern o<strong>der</strong> Großeltern, wie etwa bei den Heimatvertrieben.<br />

Aber von <strong>der</strong> „ewgen Heimat“ konnte ja niemand berichten,<br />

sie ist ein reiner Sehnsuchtsort. Ist man von<br />

dort aufgebrochen bei <strong>der</strong> Geburt? Niemand hat eine<br />

Erinnerung. Niemand kann eine Erinnerung haben!<br />

Sie ist <strong>der</strong> Ort, in dem es im Gegensatz zum oft beschriebenen<br />

„Jammertal“, <strong>der</strong> Erde, eben keine Beschwernisse,<br />

Krankheiten, Not <strong>und</strong> Bedrängnis mehr<br />

gibt. Also eigentlich das Paradies.<br />

Doch da gibt es noch eine Hürde für die Gläubigen<br />

zu überwinden, das Fegefeuer. Rychel grinste in sich<br />

hinein, als er darüber nachdachte. Er war froh, nicht<br />

kirchengläubig zu sein. Er würde einmal diesen Umweg<br />

nicht nehmen müssen.<br />

Bei den Gesprächen mit den Hinterbliebenen musste<br />

er darauf achten, keine religiösen Gefühle zu verletzen.<br />

Doch in <strong>der</strong> Regel kamen zu ihm, dem „Freien Trauerredner“,<br />

überwiegend Leute mit nur noch geringer o<strong>der</strong><br />

gar keiner Kirchenbindung mehr.<br />

Ein Begriff schien Rychel alle Verän<strong>der</strong>ungen überdauert<br />

zu haben, <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Seele.<br />

-20-


Aber auch sein Lieblingsphilosoph Arthur Schopenhauer<br />

brachte ihn hier nicht weiter. Dieser schrieb, „Die sogenannte<br />

Seele ist die Verbindung des Willens mit dem<br />

Intellekt“.<br />

Dies aufzugreifen, würde alles verkomplizieren <strong>und</strong><br />

seiner Absicht zuwi<strong>der</strong>laufen, auf ein allgemein verbreitetes<br />

Verständnis von Seele zu bauen.<br />

Auch die mo<strong>der</strong>ne Hirnforschung war für ihn nicht hilfreich,<br />

taucht doch dort <strong>der</strong> Begriff „Seele“ kaum mehr<br />

auf. Forschungsgegenstand ist jetzt „Geist“ o<strong>der</strong> „Gehirn“.<br />

Ihm, Rychel, war eine reduktionistische Sicht, dass alles<br />

„Geistige“ auf chemisch-elektrische Prozesse zurückzuführen<br />

sei, ja selbst zu nüchtern <strong>und</strong> musste erst recht<br />

für seine K<strong>und</strong>schaft enttäuschend sein.<br />

Auch aus Sicht <strong>der</strong> Hinterbliebenen kam es weniger auf<br />

die geistige Kompetenz an, die einen Verstorbenen auszeichnete,<br />

son<strong>der</strong>n auf seinen Charakter, sein Wesen.<br />

Also die immaterielle „Essenz“, die als Seele bezeichnet<br />

wird. War er o<strong>der</strong> sie eine „Gute Seele“?<br />

Bei seinen Spaziergängen trug Bernd Rychel <strong>–</strong> ganz altmodisch<br />

<strong>–</strong> ein Notizbuch mit sich <strong>und</strong> hielt darin seine<br />

Einfälle zum Begriff „Seele“ fest. Redewendungen <strong>und</strong><br />

zusammengesetzte Wörter.<br />

Irgendwann stellte er diese Liste zusammen:<br />

- sich etwas von <strong>der</strong> Seele reden,<br />

- Worte, die Balsam für die Seele waren,<br />

- ein Herz <strong>und</strong> eine Seele sein,<br />

- es liegt mir auf <strong>der</strong> Seele,<br />

- du sprichst mir aus <strong>der</strong> Seele,<br />

- mit Leib <strong>und</strong> Seele dabei sein,<br />

- seine Seele dem Teufel verkaufen,<br />

-21-


- nun hat die arme Seele Ruh‘,<br />

- Essen <strong>und</strong> Trinken hält Leib <strong>und</strong> Seele zusammen,<br />

- darauf erpicht sein, wie <strong>der</strong> Teufel auf die arme Seele,<br />

- eine schwarze Seele haben,<br />

- Die Absicht ist die Seele <strong>der</strong> Tat,<br />

aber auch einzelne Worte wie „seelengut“, „seelenruhig“,<br />

“unbeseelt“, „unselig“, „Seelenheil“ o<strong>der</strong> „Seelsorger“.<br />

Er wollte diese Aufzählung dahin gehend abklopfen,<br />

was für den Einsatz bei seinen Trauergesprächen geeignet<br />

wäre.<br />

Ganz aus <strong>der</strong> Reihe fiel dabei etwas durchaus Materielles,<br />

das im süddeutschen Raum vorkommende Gebäck<br />

„Seele“. Meist ist es mit Salz <strong>und</strong> Kümmel garniert <strong>und</strong><br />

sieht wie ein kleines Baguette aus (<strong>und</strong> schmeckt ähnlich).<br />

Wie kam diese Art von „Weißbrot“ wohl zu seinem<br />

Namen, rätselte Rychel. Neben all den Semmeln, Brötchen,<br />

Schrippen, Laugen <strong>und</strong> Laugenstangen? Stellte<br />

man sich so die Form von Seelen vor: etwas über 20<br />

Zentimeter lang, sechs bis sieben Zentimeter breit <strong>und</strong><br />

drei hoch?<br />

Rychel stand dem Seelenglauben sehr skeptisch gegenüber,<br />

vor allem dem <strong>der</strong> kirchlichen Ausprägung. Die<br />

Seele ist unsterblich <strong>–</strong> so lautet das Dogma. Doch wenn<br />

die Seele die personale Essenz eines Menschen ist, so<br />

muss sie sich im Laufe des Lebens erst heranbilden <strong>und</strong><br />

ausprägen. „Reifen?“<br />

Bei <strong>der</strong> Geburt wird jedem neuen Menschlein eine Seele<br />

„von Gott zugeteilt“. O<strong>der</strong> eine Seele geht auf irgendeinem<br />

geheimnisvollen Wege die Verbindung zu diesem<br />

Neugeborenen ein, das ja noch keine Persönlichkeit ist<br />

o<strong>der</strong> hat. Rychel legte sich das mit einem Bild aus <strong>der</strong><br />

Chemie o<strong>der</strong> Physik zurecht: So wie sich zwei Atome<br />

gegenseitig anziehen (können), um dann gemeinsam<br />

-22-


ein Molekül zu bilden, so ziehen sich Mensch <strong>und</strong> Seele<br />

an.<br />

(Was den Zeitpunkt anging, hielt er es für völlig unwahrscheinlich,<br />

dass diese Koppelung schon mit <strong>der</strong><br />

Zeugung erfolgen könnte).<br />

Es war für Bernd Rychel logisch, dass diese so verb<strong>und</strong>ene<br />

Seele ein „Blanko“-Exemplar sein müsse, denn<br />

diese sollte ja im Laufe des Lebens „gefüllt“ werden mit<br />

all dem, was diesen einen Menschen später ausmacht!<br />

Rychel plagten Zweifel. (Doch von diesen Zweifeln bekamen<br />

seine K<strong>und</strong>en nichts mit.) Da Seelen unsterblich<br />

sind, müssen sie schon vorhanden sein! Es müsste also<br />

einen unerschöpflichen F<strong>und</strong>us an Seelen geben. Jetzt<br />

leben etwa acht Milliarden Menschen auf <strong>der</strong> Erde. Hinzu<br />

kommen die vielen, die schon früher lebten.<br />

Die Kirchengläubigen gehen von <strong>der</strong> Weiterexistenz<br />

ihrer Seelen aus <strong>–</strong> möglichst nahe bei (ihrem) Gott, also<br />

in <strong>der</strong> „ewgen Heimat“.<br />

Und was passiert mit den Seelen <strong>der</strong> Ungläubigen?<br />

Werden diese recycelt? Nach einem „Reset“ erneut in<br />

Umlauf gebracht? Ganz nachhaltig!<br />

An eine für Rychel sympathischere Sicht von Seelen im<br />

Jenseits konnte er sich bei Dante erinnern. In Dante<br />

Alighieris vor etwa 700 Jahren erschienenen „Commedia“<br />

werden Seelen als sichtbare Schatten beschrieben.<br />

Man konnte sie aber nicht anfassen o<strong>der</strong> umarmen,<br />

auch wenn sie eine (ihre) Stimme besaßen. In <strong>der</strong><br />

christlichen Lehre sind Seelen körperlos <strong>und</strong> (eigentlich)<br />

unsichtbar. Doch wie kann man etwas Unsichtbares<br />

Gläubigen vermitteln?<br />

-23-


Rychel kamen verschiedene mittelalterliche Darstellungen<br />

von Sterbenden in den Sinn. Darin sieht man<br />

eine (kleine) menschliche Gestalt aus dem M<strong>und</strong> des<br />

Morib<strong>und</strong>en entweichen: die Seele. Und oft streiten<br />

sich dann ein Engel <strong>und</strong> ein Teufel um diese sich vom<br />

Körper lösende Seele.<br />

Die Ägypter haben dagegen den „Geist“ des Toten als<br />

Vogel dargestellt. Bereits in den Höhlen von Lascaux,<br />

also vor cirka zwanzigtausend Jahren, hat man den<br />

nicht-materiellen Teil des Menschen in Form von<br />

„Totenvögeln“ veranschaulicht.<br />

Der Stauferkaiser Friedrich <strong>der</strong> Zweite wurde für seine<br />

Naturbeobachtungen berühmt, zum Beispiel seine Aufzeichnungen<br />

über Falknerei. Von diesem Friedrich wird<br />

berichtet, dass er einen zum Tode Verurteilten in ein<br />

dichtes Fass einschließen ließ. Wie zu erwarten, erstickte<br />

<strong>der</strong> Unglückliche dort. Friedrichs Überlegung war, dass<br />

die Seele des Toten aus diesem Behältnis ja nicht entweichen<br />

konnte <strong>und</strong> folglich zu sehen sein müsste. Er<br />

ließ das Fass vorsichtig öffnen. Außer dem Toten war<br />

nichts zu entdecken. Von dem Gesuchten also keine<br />

Spur.<br />

Bei seinen Recherchen zum Thema „Seele“ stieß Rychel<br />

auch auf den amerikanischen Arzt Duncan MacDougall<br />

(1866 -1920), <strong>der</strong> Sterbende auf die Waage legte <strong>und</strong><br />

ihr Gewicht vor <strong>und</strong> nach <strong>der</strong>en Tod ermittelte. Die<br />

Gewichtsunterschiede betrugen zwischen 8 <strong>und</strong> 35<br />

Gramm. Das müsste dann das Gewicht <strong>der</strong> flüchtigen<br />

Seelen sein, schlussfolgerte MacDougall. Doch nachdem<br />

die Versuchsreihe nur sechs<br />

„Probanden“ umfasste, gerieten seine Ergebnisse in<br />

Vergessenheit...<br />

-24-


Teil II<br />

Da wurde an Bernd Rychel ein ungewöhnlicher Antrag<br />

gestellt. Ob er nicht auch als Sterbebegleiter wirken<br />

könne? Ein späterer Einsatz als Trauerredner würde sich<br />

dann ja geradezu anbieten, da er den Sterbenden noch<br />

persönlich kennengelernt habe.<br />

Der Betroffene sei 66 Jahre alt, leide an einer inzwischen<br />

unheilbaren Form von Leukämie, seine Lebenserwartung<br />

sei <strong>–</strong> optimistisch geschätzt <strong>–</strong> noch 14 Tage. Er sei<br />

Forstarbeiter gewesen <strong>und</strong> heiße Franz Kornhaas.<br />

Rychel hatte Bedenken, ob er bei jemandem, <strong>der</strong> eine<br />

vergleichsweise einfache Arbeit ausgeübt hatte, den<br />

„richtigen Ton“ treffen würde. Doch er war auch neugierig<br />

<strong>und</strong> sagte zu.<br />

Das Zimmer im Hospiz, in dem Herr Kornhaas untergebracht<br />

war, war hell <strong>und</strong> geräumig <strong>und</strong> das Bett stand<br />

mit dem Fußende zum Fenster. Rychel räusperte sich,<br />

doch nichts geschah. Er trat zum Bett <strong>und</strong> erschrak: Ein<br />

großer <strong>und</strong> völlig abgemagerter Mann lag da im Bett,<br />

das Kopfteil erhöht. Zugedeckt mit einer leichten Decke,<br />

auf <strong>der</strong> Arme <strong>und</strong> Hände lagen. Kornhaas wandte den<br />

Kopf <strong>und</strong> sah ihn erwartungsvoll an.<br />

„Ich heiße Bernd Rychel“, so stellte er sich vor. „Ihr<br />

Sohn meinte, ich könnte mich mit Ihnen unterhalten?<br />

Darf ich mich zu Ihnen setzen?<br />

Rychel wartete, <strong>und</strong> es kam ihm sehr lange vor, bis Herr<br />

Kornhaas nickte. Rychel zog einen Stuhl heran, setzte<br />

sich <strong>und</strong> verharrte so.<br />

Dann sprach Herr Kornhaas mit leiser Stimme: „So,<br />

mein Sohn hat Sie also geschickt? Sind Sie denn Pfarrer?“<br />

-25-


„Geschickt? Das trifft es nicht. Da ich im Ruhestand bin,<br />

habe ich viel Zeit. Und Ihr Sohn hat dies mitbekommen<br />

<strong>und</strong> wohl gemeint, es wäre eine Abwechslung für Sie.<br />

Ich bin kein Pfarrer; ich war Lehrer.“<br />

„Mir ist nicht langweilig! Mir war nie langweilig!“ <strong>und</strong><br />

nach einer Pause: „Ich war oft allein in meinem Wald<br />

<strong>und</strong> habe nichts vermisst! Was haben Sie unterrichtet?<br />

Naturk<strong>und</strong>e? Biologie?“<br />

Rychel schüttelte den Kopf: „Nein, nicht Bio <strong>–</strong> Deutsch<br />

<strong>und</strong> Ethik!“<br />

„Schade!“<br />

„Aber vielleicht wollen Sie sich ja nicht über Gehölze<br />

mit mir unterhalten, son<strong>der</strong>n über die knappe Zeit, die<br />

Ihnen noch bleibt“, entgegnete Rychel.<br />

Kornhaas lachte heiser: „Also doch Pfarrer! Ich habe<br />

nichts zu beichten. Ich bin mit mir im Reinen! Es gibt<br />

für mich nichts mehr zu klären. Die Person, die ich vernachlässigt<br />

habe, die zu kurz gekommen ist, da kann<br />

ich nichts mehr gut machen. Die ist schon lange tot,<br />

Else, meine Frau!<br />

In meiner Freizeit war ich viel, sehr viel mit meinen<br />

Feuerwehrkameraden unterwegs - <strong>und</strong> wenig zu Hause.“<br />

Kornhaas holte ziehend Luft.<br />

„Und mit meinen beiden Kin<strong>der</strong>n gibt es auch nichts zu<br />

klären! Sie erben das Häuschen je zur Hälfte. - Aber ich<br />

bin ihnen dankbar, dass ich hier sein kann. Ich kann mir<br />

nämlich nicht vorstellen, dass das alles die Krankenkasse<br />

zahlt! Schönes Zimmer, sehr fre<strong>und</strong>liche Leute. Gutes<br />

Essen, von dem ich kaum etwas zu mir nehmen kann.<br />

Wirklich wie im Urlaub!“<br />

Kornhaas machte eine Pause. „Es geht mir gut. Ziemlich<br />

gut sogar!“<br />

-26-


Er hielt wie<strong>der</strong> inne, dann: „Keine Schmerzen. Nur müde<br />

<strong>–</strong> immer müde! Vom Nichtstun müde! Ich verstehe das<br />

nicht. Ich werde noch mein Sterben verschlafen. Dabei<br />

will ich doch wissen, wie es ist, das mit dem Sterben!<br />

Wissen Sie, wie das ist? Herr...Herr... Entschuldigung.<br />

ich hab‘ Ihren Namen vergessen!“<br />

„Das macht nichts“, entgegnete Rychel, „mein Name ist<br />

auch nicht so geläufig. Rychel heiße ich! Er hielt inne.<br />

„Ich glaube, jede o<strong>der</strong> je<strong>der</strong> stirbt an<strong>der</strong>s. Es ist immer<br />

ein ganz persönlicher Vorgang. Haben Sie denn eine<br />

bestimmte Erwartung, Herr Kornhaas?“<br />

Kornhaas lächelte: „Ja, ich glaube, ich werde immer<br />

leichter. So leicht, bis ich abheben kann. Ich meine<br />

nicht meinen Körper.“ Er bewegte seine rechte Hand<br />

<strong>und</strong> beschrieb damit einen Bogen vom Kopf bis zu den<br />

Füßen. „Ich bin schon sehr dünn geworden. Ich wog<br />

einmal über neunzig Kilo <strong>und</strong> jetzt nur noch knapp<br />

Sechzig. Aber das meine ich nicht. Ich meine das<br />

‚Innerlich-leicht-Werden‘“.<br />

Nun schwiegen beide.<br />

Rychel räusperte sich wie<strong>der</strong>: „Und Sie fühlen sich jetzt<br />

schon fast leicht genug, um abzuheben?“ Kornhaas<br />

nickte. „Ich freue mich auf das Wegschweben. Ich<br />

stelle mir das vor wie bei einem Distelsamen, den ein<br />

Windhauch trägt.“<br />

„Ja, das muss schön sein, so zu schweben“, sagte<br />

Rychel, lächelte Kornhaas an <strong>und</strong> ergriff seine Hand.<br />

Kornhaas nickte. „Und wenn ich hoch genug bin, werde<br />

ich Else treffen!“<br />

„Ganz sicher werden Sie das“, sagte Rychel <strong>und</strong> drückte<br />

Korhaas‘ Hand noch fester. „Und ihre Frau wird Ihnen<br />

nichts nachtragen; sie wird sich nur freuen. Auf Sie, auf<br />

ihren Franz!“<br />

Lange blieben die beiden so. Stumm. Rychel wandte<br />

-27-


den Kopf, sah zum Fenster hinaus, verfolgte die Wolken<br />

<strong>und</strong> verlor das Zeitgefühl. Irgendwann hatte er das<br />

Bedürfnis, seine Hand <strong>und</strong> den Arm zu bewegen, sonst<br />

drohte beides einzuschlafen. Da bemerkte er, dass<br />

Kornhaas‘ Hand nur locker in seiner lag. Er erschrak<br />

<strong>und</strong> fuhr mit einem Ruck herum. nicht mehr.<br />

Rychel legte Kornhaas‘ Arm <strong>und</strong> Hand sanft auf <strong>der</strong><br />

Decke ab <strong>und</strong> strich die Finger glatt. Langsam erhob er<br />

sich <strong>und</strong> murmelte: „Nun habe ich Ihr Abheben verpennt!<br />

Leicht wie ein Distelsamen sind Sie los. Und den<br />

Windhauch habe ich gar nicht gespürt“. Er blickte zum<br />

gekippten Fenster. Und lächelte, als er das Zimmer verließ.<br />

Die Farben des Sees<br />

von Rike Richstein<br />

Erscheint am 1. Dezember <strong>2023</strong> im Stadler Verlag, Konstanz.<br />

Geb<strong>und</strong>en mit Lesebändchen, 224 Seiten.<br />

ISBN: 978-3-7977-0785-7<br />

Nach einer schmerzhaften Trennung<br />

reist Matilda an den Bodensee in<br />

das Haus ihrer kürzlich verstorbenen<br />

Großmutter Enni. Seit ihrer Kindheit<br />

ist sie nicht mehr hier gewesen <strong>und</strong><br />

ihr wird bewusst, wie wenig sie über<br />

diese Frau weiß. In Ennis Nachttisch<br />

findet sie das Foto eines jungen<br />

Mannes, <strong>der</strong> nicht ihr Großvater war.<br />

Um sich abzulenken <strong>und</strong> auch aus<br />

Neugier, begibt sie sich auf die Suche nach dem Unbe-<br />

-28-


kannten <strong>und</strong> begegnet dabei einer Wahrheit, die alles<br />

verän<strong>der</strong>t.<br />

»Die Farben des Sees« ist ein ebenso ergreifen<strong>der</strong> wie<br />

zärtlicher Roman über die richtigen <strong>und</strong> die falschen<br />

Entscheidungen im Leben <strong>und</strong> darüber, dass es am<br />

Ende genau diese sind, die uns ausmachen.<br />

PROLOG<br />

Weißt du noch, dass <strong>der</strong> See an jedem Tag eine an<strong>der</strong>e<br />

Farbe hat? Man vergisst es, wenn man fortgeht <strong>und</strong><br />

ihn nicht mehr sieht. Keine Farbe taucht zweimal auf.<br />

Es gibt Tage im Herbst, wenn <strong>der</strong> Nebel sich verzogen<br />

hat, da sieht er aus wie flüssiges Silber. Manchmal hat<br />

er schaumfarbene Muster, manchmal liegt er da wie ein<br />

riesiger Spiegel, in den die ganze Welt schauen kann.<br />

An manchen Tagen atmet er samtgrau wie ein großes,<br />

schlafendes Tier. Manchmal sieht er aus, als ende die<br />

Welt an seinem Horizont <strong>und</strong> manchmal wirkt es, als<br />

könne man mit zwei Sätzen über sein gleißendes Blau<br />

die schneebedeckten Berggipfel berühren. Es gibt Tage,<br />

da ist seine Oberfläche rau vom Regen <strong>und</strong> Tage, an<br />

denen er türkisblau schimmert mit einem Schuss Flaschengrün.<br />

Weißt du es noch?<br />

Ich denke immer noch an dich, jedes Mal, wenn ich auf<br />

die Wasseroberfläche schaue.<br />

EINS<br />

Das Schiff gleitet ruhig durch die Nacht. Auch <strong>der</strong> Wind<br />

schläft. Die Lichter am Ufer glitzern verheißungsvoll <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> fast volle Mond spiegelt sich im tintenschwarzen<br />

Wasser. So, als ob es noch eine Ahnung davon weitergeben<br />

will, wie leuchtend blau es heute bei Tageslicht<br />

gewesen sein muss. Die Mischung aus dem orangenen<br />

-29-


Schimmern <strong>der</strong> Uferpromenaden <strong>und</strong> dem glänzenden<br />

Schwarz ist so perfekt, dass ich sie dir gerne zeigen<br />

würde. Aber seit ich heute die Zeitung aufgeschlagen<br />

habe, weiß ich, dass das nie wie<strong>der</strong> möglich sein wird.<br />

Matildas Leben ist vorbei. Alle Ausrufezeichen <strong>der</strong> letzten<br />

Jahre haben sich zu Fragezeichen gekrümmt <strong>und</strong> mit<br />

dieser Bewegung ihr Herz entzweigeschnitten. Natürlich<br />

bedeutet ein Herz, das sich anfühlt wie zerteilt, nicht<br />

wirklich das Ende des Lebens. Das weiß sie selbst <strong>und</strong><br />

alle Menschen um sie herum sind in den letzten Wochen<br />

nicht müde geworden, es ihr zu versichern. Aber<br />

Wissen <strong>und</strong> Fühlen waren schon immer zwei sehr verschiedene<br />

Dinge.<br />

Sie steht auf dem ausgestorbenen Deck <strong>der</strong> schmalen<br />

Fähre zwischen leeren Plastikbänken in Holzoptik <strong>und</strong><br />

starrt auf das Wasser. In den hell erleuchteten Innenbereich<br />

will sie nicht gehen, aus Angst, einer <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Fahrgäste würde die Müdigkeit in ihrem Gesicht als<br />

Traurigkeit entlarven <strong>und</strong> ihr eine erneute »Istdochallesnichtsoschlimm«-Litanei<br />

vor¬tragen. Auch wenn es<br />

unwahrscheinlich ist, fürchtet sie sich davor. Die Nachtluft<br />

ist warm <strong>und</strong> streicht tröstend über ihr dunkles<br />

Haar, das im Licht <strong>der</strong> Schiffsbeleuchtung schimmert.<br />

Seit Neuestem trägt sie wie<strong>der</strong> Pferdeschwanz, auch<br />

wenn sie findet, dass das ihrem Gesicht eine unnötige<br />

Strenge verleiht. Aber Matilda ist klein <strong>und</strong> zierlich;<br />

Menschen, die ihr die Hand schütteln, packen nie richtig<br />

zu, aus Angst, sie zu zerquetschen. Daher kann etwas<br />

Strenge vielleicht nicht schaden.<br />

Mit den Fingern greift sie immer wie<strong>der</strong> an den billigen<br />

Schmuck um ihren Hals <strong>und</strong> an ihren Ohrläppchen. Sie<br />

hat ihn im Studium gekauft <strong>und</strong> sich nicht davon getrennt,<br />

obwohl man sieht, dass die Steine nur aus Glas<br />

-30-


sind <strong>und</strong> <strong>der</strong> Silberlack an den Fassungen abblättert<br />

<strong>und</strong> hässliche Stücke von weißlichem Plastik freigibt.<br />

Aber erst kam die BAföG-Rückzahlung, dann ist sie von<br />

<strong>der</strong> WG in eine Zwei-Zimmer-Wohnung gezogen <strong>und</strong><br />

musste eine Küche kaufen; es gab nie den Moment, an<br />

dem sie über neuen Schmuck nachgedacht hat. Die einzig<br />

schöne Kette, die sie hat, die mit dem Vogel mit den<br />

ausgebreiteten Schwingen, hat Mads ihr geschenkt <strong>und</strong><br />

die hat sie zu Hause gelassen.<br />

Erst als die Fähre anlegt, reißt sie sich vom Anblick ihrer<br />

eigenen Gedanken <strong>und</strong> dem des Wassers los, um all<br />

ihre Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Wegsuche zu widmen. Sie<br />

weiß nicht, ob sie sich nach über zwanzig Jahren noch<br />

an einzige Straßenkreuzung erinnert.<br />

Es ist spät, als sie in Ennis Haus ankommt. Es riecht<br />

noch wie früher. Erst hat man den Geruch des Sees in<br />

<strong>der</strong> Nase. Das Kühle, Leichte. Dann <strong>der</strong> süße, schwere<br />

Holzgeruch im Flur. Sie tastet nach dem Lichtschalter<br />

<strong>und</strong> lässt ihre Taschen vor <strong>der</strong> ersten Treppenstufe auf<br />

den Boden fallen. Mit zögernden Schritten durchquert<br />

sie den Flur. Sie hat noch nie etwas besessen, das größer<br />

war als ein Sofa o<strong>der</strong> eine Küche, <strong>und</strong> jetzt soll all das<br />

hier ihr gehören?<br />

Mit den Fingerspitzen befühlt sie die holzvertäfelten<br />

Wände. Die Küchentür ist angelehnt <strong>und</strong> Matilda stößt<br />

sie vorsichtig auf. Auf <strong>der</strong> Anrichte steht eine Flasche<br />

Wein, das Licht aus dem Flur fällt in einem breiten<br />

Streifen auf den Küchentisch mit <strong>der</strong> schweren Holzplatte,<br />

<strong>der</strong> sich an die Eckbank drückt. Die Fenster,<br />

das weiß sie noch, gehen auf den schlichten Hinterhof<br />

hinaus, <strong>der</strong> im Dunkeln liegt. Eine Weile steht Matilda<br />

regungslos in <strong>der</strong> Tür <strong>und</strong> atmet die Stille ein. Vielleicht<br />

funktioniert das so. Wenn man nur lange genug Stille<br />

-31-


einatmet, umhüllt sie irgendwann die Fragen <strong>und</strong> Bil<strong>der</strong><br />

im eigenen Kopf <strong>und</strong> bringt sie zum Schweigen. Dann<br />

macht sie einen Schritt auf die Fliesen <strong>und</strong> sieht sich<br />

um.<br />

Plötzlich fällt ihr <strong>der</strong> Stromausfall wie<strong>der</strong> ein. Sechs<br />

Jahre muss sie gewesen sein o<strong>der</strong> ein bisschen älter.<br />

Sie sieht es vor sich. Alle saßen um den Küchentisch.<br />

Sie <strong>und</strong> Juli vermutlich hinten auf <strong>der</strong> Eckbank. Vor wenigen<br />

Minuten waren die Lichter in <strong>der</strong> ganzen Straße<br />

erloschen <strong>und</strong> Enni hatte sie alle vom Wohnzimmer in<br />

die Küche gescheucht, wo sie sich dann um den Tisch<br />

drängten. Gerade noch war <strong>der</strong> Backofen an gewesen,<br />

die Küche ist <strong>der</strong> kleinste Raum im Haus <strong>und</strong> bleibt am<br />

längsten warm. Matilda erinnert sich, wie ihr Vater pfeifend<br />

die Treppen hochstieg, langsamer als sonst, weil<br />

er im Dunkeln die Stufen nicht richtig erkennen konnte,<br />

<strong>und</strong> mit ein paar zusätzlichen Decken herunterkam.<br />

Enni suchte Kerzen zusammen <strong>und</strong> das warme Licht,<br />

das in ihren Gesichtern wi<strong>der</strong>schien, ließ den Sturm<br />

draußen unecht erscheinen.<br />

Als die Lampen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fernseher ausgingen, war Matilda<br />

<strong>der</strong> brüllende Wind, <strong>der</strong> durch die Gassen hastete<br />

<strong>und</strong> gegen die Fensterläden schlug, unheimlich, auch<br />

wenn sie das nie zugegeben hätte. Höchstens vor Juli.<br />

Aber Juli saß schon den ganzen Tag über mit großen<br />

Augen am Fenster <strong>und</strong> beobachtete, wie kleinere Äste<br />

durch die Gasse gewirbelt wurden, <strong>und</strong> zeigte, selbst<br />

als ein paar Dachziegel krachend auf <strong>der</strong> Straße zerbarsten,<br />

keine Spur von Furcht. Aber dann, in <strong>der</strong> von<br />

Kerzen erleuchteten Küche, umgeben von ihrer Familie,<br />

wich Matildas Angst einem an<strong>der</strong>en Gefühl, irgendetwas<br />

zwischen Abenteuer <strong>und</strong> Geborgenheit. Sie versucht,<br />

sich zu erinnern, was danach geschah, wann <strong>der</strong> Strom<br />

wie<strong>der</strong>kam <strong>und</strong> was sie bis dahin gemacht haben, aber<br />

-32-


außer dem Bild <strong>der</strong> vom Kerzenlicht erhellten Gesichter<br />

in <strong>der</strong> Küche ist ihr Kopf leer. Wahrscheinlich haben sie<br />

eines von Opas selbst ausgedachten Würfelspielen gespielt,<br />

bei denen sich ab <strong>und</strong> an noch die Regeln än<strong>der</strong>ten,<br />

o<strong>der</strong> ihr Vater hat für alle etwas vorgelesen.<br />

Waren die Lichter <strong>und</strong> Heizungen schon wie<strong>der</strong> an gewesen,<br />

als sie ins Bett gingen? Und war das eine <strong>der</strong><br />

Nächte, in denen sie <strong>und</strong> Juli sich zu zweit in eines <strong>der</strong><br />

schmalen Betten legten? Sie schliefen oft so, auch ohne<br />

beson<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>.<br />

Matilda tritt näher an die Fenster <strong>und</strong> bemüht sich, in<br />

dem Schwarz die Konturen des Hinterhofes auszumachen,<br />

doch sie sieht nur die Spiegelung ihres eigenen<br />

Gesichts.<br />

In einem Sommer gab es dort hinten in <strong>der</strong> Ecke ein<br />

Wespennest <strong>und</strong> Juli wurde gestochen. Es muss <strong>der</strong><br />

Sommer gewesen sein, in dem sie es lustig fanden,<br />

alles rückwärts auszusprechen <strong>und</strong> sich »Iluj« <strong>und</strong><br />

»Adlitam« rufend über den Hof jagten. Doch plötzlich<br />

schrie Juli auf <strong>und</strong> rief »Mama!«, nicht »Amam«. Der<br />

Stich schwoll so sehr an, dass ihre Mutter fahrig wurde<br />

<strong>und</strong> sie schließlich zum Arzt brachte. Matilda erinnert<br />

sich noch daran, wie die beiden das Haus verließen. Juli<br />

weinte <strong>und</strong> ließ sich von niemandem beruhigen, obwohl<br />

sie doch sonst nicht müde wurde zu betonen, dass sie<br />

schon groß sei <strong>und</strong> längst keines von diesen Heu-Babys<br />

mehr. Sie sagte Heu-Babys, weil sie immer das »l«<br />

von Heulen verschluckte. Seit Juli sprechen konnte,<br />

sprach sie zu schnell. Matilda musste bei Enni bleiben,<br />

obwohl sie doch bei Juli sein wollte. Aber als die Tür ins<br />

Schloss fiel, da war sie doch froh, dass niemand mehr<br />

schrie <strong>und</strong> weinte. Trotzdem wollte sie nicht weiter im<br />

Hof spielen <strong>und</strong> sie nahm auch sonst keines von Ennis<br />

Ablenkungsangeboten an, bis Juli mit einem dicken Ver-<br />

-33-


and um den Stich <strong>und</strong> vor Stolz strahlend zurückkam.<br />

»Eine große Spritze hab‘ ich bekommen, direkt als wir<br />

ankamen«, berichtete sie, als sei das ein großer Verdienst.<br />

»Und dann den Verband, damit die Salbe nicht abgeht.<br />

Mama <strong>und</strong> ich waren auch schon in <strong>der</strong> Apotheke, morgen<br />

müssen wir den Verband neu machen. Und Traubenzucker<br />

durfte ich mir aussuchen.«<br />

Nachdem sie mit den Händen nochmal verdeutlicht hatte,<br />

wie groß die Spritze war, gab sie Matilda die Hälfte<br />

<strong>der</strong> r<strong>und</strong>en, bröseligen Bonbons ab, ohne dass ihre<br />

Mutter sie dazu ermahnen musste.<br />

Noch am selben Tag kam ein Mann, <strong>der</strong> mit Opa das<br />

Wespennest entfernte. Matilda <strong>und</strong> Juli sahen vom<br />

Wohnzimmer aus zu, die Zähne klebrig <strong>und</strong> die Gesichter<br />

wie<strong>der</strong> leuchtend, aber Tür <strong>und</strong> Fenster zur Sicherheit<br />

geschlossen.<br />

Fast lächelt Matilda. Wie lange sie schon nicht mehr an<br />

diesen Nachmittag gedacht hat. Zur Abwechslung ist<br />

es ganz schön, mal Erinnerungsstücken nachzuhängen,<br />

die keine scharfen Kanten haben. Keine Fallen, Löcher<br />

o<strong>der</strong> Netze, die man immer erst bemerkt, wenn man<br />

sich schon darin verfangen hat. Sie hält die Luft an <strong>und</strong><br />

lauscht. Die Stille ist eher friedlich als gespenstisch. Die<br />

Wand zum Wohnzimmer ist zum Teil verglast, mit diesen<br />

altmodischen, fast blinden, leicht farbigen Gläsern,<br />

die auch tagsüber wenig Licht hindurchlassen. Matilda<br />

öffnet die nächste Tür ebenso behutsam <strong>und</strong> sieht,<br />

dass sie vergessen hat, wie viele Bücher Enni besaß.<br />

Jedes Stückchen Wand ist von einem Regal verdeckt, in<br />

dem ordentlich Buchrücken an Buchrücken nebeneinan<strong>der</strong><br />

aufgereiht ist. Das alles fühlt sich gar nicht an, als<br />

ob es ihr gehören würde.<br />

-34-


Matilda lässt ihren Blick über die Regale <strong>und</strong> das Sofa<br />

schweifen <strong>und</strong> für einen Moment fällt ihr etwas ein,<br />

etwas, das damals die Kühle zwischen ihrer Mutter <strong>und</strong><br />

Enni für einen Moment verschwinden ließ, aber sie weiß<br />

nicht mehr, was es war. Bevor sie sie greifen kann, ist<br />

die Erinnerung schon wie<strong>der</strong> fort.<br />

Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf <strong>und</strong> unterdrückt<br />

ein Gähnen. Morgen, morgen wird sie alles genauer in<br />

Augenschein nehmen. Sie muss ins Bett. Leise, als ob<br />

sie keine <strong>der</strong> Erinnerungen verscheuchen will, schließt<br />

sie erst die Tür zum Wohnzimmer, dann die zur Küche<br />

<strong>und</strong> trägt ihre Taschen nach oben. Und noch bevor ihr<br />

Herz sie wie<strong>der</strong> daran erinnern kann, dass sie gerade<br />

unglücklich ist, fällt sie in einen tiefen, traumlosen<br />

Schlaf.<br />

Ich würde es wie<strong>der</strong> tun<br />

<strong>–</strong> eine Idee für den Frieden<br />

von Gerhard Käfer<br />

So,<br />

jetzt habe ich mich endlich aufgerafft <strong>und</strong> sitze im Zug<br />

nach Berlin. Wie schon so oft frage ich mich, ob die<br />

Entscheidung zu dieser Fahrt wohl richtig war, <strong>und</strong> ob<br />

ich damit wirklich etwas erreichen könnte. Ein Rest an<br />

Zweifel steckt in mir <strong>und</strong> wird auch bleiben. Dagegen<br />

steht die Gewissheit, dass ich je<strong>der</strong>zeit aussteigen<br />

kann, wann immer es mir beliebt. Es sei denn, ein<br />

bestimmter Punkt, welcher weiß ich nicht, wäre überschritten.<br />

-35-


Mein Ziel ist die russische Botschaft.<br />

Spätnachmittag, ich bin in Berlin angekommen <strong>und</strong><br />

habe mein Hotel bezogen, es liegt ganz in <strong>der</strong> Nähe<br />

vom Gendarmenmarkt. Es ist ein warmer Tag, so entschließe<br />

ich mich, einen Spaziergang zur Botschaft zu<br />

machen, die liegt nicht allzu weit weg.<br />

Ich bin allerdings erstaunt über die Größe des Gebäudes,<br />

ja Komplexes. Mir kommt es wie ein ganzer Block<br />

vor. An <strong>der</strong> Straße „Unter-den-Linden“ versperrt ein<br />

langes <strong>und</strong> hohes eisernes Gitter den Zugang zum Botschaftsgebäude,<br />

nur ein kleiner Eingang ohne weiteres<br />

Hinweisschild - <strong>der</strong> muss irgendwo an<strong>der</strong>s liegen, denke<br />

ich, <strong>und</strong> umr<strong>und</strong>e das Gebäude. Auf <strong>der</strong> Rückseite finde<br />

ich dann, was ich suche: ein Schild „Botschaft <strong>der</strong> russischen<br />

Fö<strong>der</strong>ation“ <strong>und</strong> „Sprechzeiten von 9-13 Uhr“.<br />

In Verbindung mit <strong>der</strong> doch kleinen Tür wirkt das sehr<br />

bescheiden auf mich <strong>und</strong> eigentlich wenig einladend.<br />

Egal, ich weiß jetzt, wo ich mich morgen hinwenden<br />

werde.<br />

Natürlich stand ich schon vor neun Uhr an <strong>der</strong> Tür <strong>und</strong><br />

wartete. Ich war sehr angespannt. Da nichts geschah,<br />

drückte ich fünf nach neun die Klingel <strong>der</strong> Sprechanlage.<br />

Eine Stimme meldete sich, doch ich verstand nichts;<br />

war ja sehr wahrscheinlich Russisch, <strong>und</strong> das beherrschte<br />

ich nicht.<br />

Wie ich mir zuvor zurechtgelegt hatte, sagte ich einfach<br />

in bestem Schriftdeutsch: “Hallo <strong>und</strong> guten Tag, ich<br />

habe eine Nachricht für den russischen Botschafter.“<br />

Zunächst herrschte Stille, dann kam etwas zurück,<br />

das ich als „einen Moment bitte“ interpretierte. Nach<br />

gefühlten fünf Minuten, die ich als sehr unangenehm<br />

empfand, von vermeintlich tausend Videokameras beobachtet,<br />

knackte es kurz <strong>und</strong> eine weibliche Stimme<br />

-36-


war zu hören:<br />

„Guten Tag, mein Herr. Was kann ich für Sie tun, was<br />

ist Ihr Anliegen?“<br />

„Guten Tag, ich habe eine Nachricht für den russischen<br />

Botschafter.“<br />

„Um was geht es denn?“<br />

„Das kann ich Ihnen über die Sprechanlage nicht sagen.“<br />

„Sind Sie Deutscher?“<br />

„Ja.“<br />

Wie<strong>der</strong>um Schweigen am an<strong>der</strong>en Ende, ich spürte<br />

geradezu, wie auf <strong>der</strong> Gegenseite Gedanken kreisten.<br />

Doch dann hörte ich:<br />

„Bitte kommen Sie herein <strong>und</strong> warten Sie vor <strong>der</strong><br />

nächsten Türe. Sie werden dort abgeholt.“<br />

Das war ja einfacher <strong>und</strong> ging schneller als ich gedacht<br />

hatte.<br />

Es dauerte nicht lange <strong>und</strong> ein junger Mann trat auf<br />

mich zu, for<strong>der</strong>te mich auf, ihm zu folgen, <strong>und</strong> führte<br />

mich in ein kleines schmuckloses Zimmer, in dem ein<br />

Tisch mit mehreren Stühlen stand. Er bat mich, Platz<br />

zu nehmen <strong>und</strong> einen Augenblick zu warten, es käme<br />

gleich jemand.<br />

Dieses Mal dauerte es aber ganz schön viele Augenblicke.<br />

Vielleicht kam es mir auch deshalb so lange vor,<br />

weil es in dem Raum wirklich nichts zu entdecken gab.<br />

Der Tisch, die Stühle, beides einfacher Machart, die<br />

Wände weiß blank, ebenso die Decke, dort eine r<strong>und</strong>es<br />

Glaslicht. Einzig am Boden blieb mein Blick etwas länger<br />

hängen, ein Parkett im Fischgrätenmuster verlegt.<br />

Irgendwann öffnete sich die Tür <strong>und</strong> eine Frau, spontan<br />

geschätzt um die 40 Jahre alt, blonde Haare, zum Zopf<br />

streng nach hinten geb<strong>und</strong>en, in dunklem Hosenanzug<br />

mit rotem Halstuch trat auf mich zu <strong>und</strong> streckte mir<br />

ihre Hand entgegen.<br />

-37-


„Guten Tag, mein Name ist Irina Teskoslowsjanka<br />

(diesen Namen konnte ich erst viel später so schreiben,<br />

nachdem ich Frau Irina bei einer späteren Gelegenheit<br />

gebeten hatte, ihn mir zu buchstabieren). Was kann ich<br />

für Sie tun?“<br />

Ich stand gleichfalls auf, schüttelte ihre Hand <strong>und</strong> sagte:<br />

„Guten Tag, mein Name ist Stefan Mauner. Sagen Sie<br />

mir Ihren Namen noch einmal, ich habe ihn nicht ganz<br />

verstanden?“<br />

„Mein Name ist Irina Teskoslowsjanka. Was kann ich für<br />

Sie tun?“<br />

Ich verstand ihren Namen wie<strong>der</strong>um nicht so, dass ich<br />

ihn mir spontan merken konnte, Irina schon, aber den<br />

Familiennamen nicht, <strong>und</strong> so konnte ich sie auch nicht<br />

förmlich ansprechen. Da sagte ich einfach nur: „Ich<br />

habe eine Nachricht für Ihren Botschafter.“<br />

„Und welche?“<br />

„Die Nachricht ist nur für Ihren Botschafter bestimmt.<br />

Ist es denn möglich, ihn persönlich zu sprechen?“<br />

„Das kommt drauf an. Dazu muss ich Ihr Anliegen<br />

kennen. Je nachdem kann ich dann nach einem Termin<br />

schauen.“<br />

„Spontan <strong>und</strong> einfach geht das also nicht?“<br />

„Nein!“<br />

„Auch wenn ich sage, dass meine Nachricht außerordentlich<br />

wichtig für ihn ist <strong>und</strong> möglicherweise auch für<br />

Ihr Land große Bedeutung hat?“<br />

„Nein! Ich bitte um Verständnis. Der Terminkalen<strong>der</strong><br />

des Botschafters ist sehr voll, <strong>und</strong> wir müssen Gesprächswünsche<br />

im Vorfeld auf ihre Bedeutung gewichten.“<br />

„Ja, das verstehe ich. Ist <strong>der</strong> Botschafter denn im Hause?“<br />

„Nein, jetzt nicht.“<br />

„Wann ist er denn wie<strong>der</strong> da?“<br />

„Das darf ich Ihnen nicht sagen, ich bitte um Verständ-<br />

-38-


nis.“<br />

„Das ist schade!“ <strong>und</strong> nach einer Pause sagte ich, mehr<br />

so vor mich hin: „Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.“<br />

Auch sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort:<br />

„Sagen Sie mir einfach, um was es geht, dann sehen<br />

wir weiter.“ Kopfschüttelnd entgegnete ich: „Das kann<br />

ich so einfach nicht. Die Sache ist sehr vertraulich.“<br />

Nach einer weiteren Pause fragte ich sie: „Kann ich<br />

jemanden sprechen, <strong>der</strong> direkt dem Botschafter unterstellt<br />

ist <strong>und</strong> <strong>der</strong> unmittelbaren, persönlichen Zugang zu<br />

ihm hat?“<br />

„Ja, das können Sie. Ich stehe Ihnen dafür zur Verfügung.“<br />

Jetzt war ich aber verblüfft <strong>und</strong> fragte: „Sie sind<br />

dem Botschafter direkt unterstellt?“<br />

„Ja!“<br />

„Und Sie haben ohne Mittelsperson Zugang zu ihm?“<br />

„Ja!“<br />

Meine Überraschung wurde größer: „Oh! - Sie haben<br />

keinen Vorgesetzten vor dem Botschafter?“<br />

„Nein!“<br />

„Und Sie brauchen niemanden zu fragen, wenn Sie zu<br />

ihm wollen?“<br />

„Nein!“<br />

„Und das je<strong>der</strong>zeit?“<br />

„Ja! Natürlich muss ich seine Termine berücksichtigen,<br />

ich kann nicht einfach so zu ihm reinplatzen.“<br />

„Ja, das verstehe ich. <strong>–</strong> Was ist denn Ihre Aufgabe hier<br />

in <strong>der</strong> Botschaft, ich meine, wie stehen Sie zu Ihrem<br />

Botschafter, beruflich meine ich?“<br />

„Ich bin eine seiner direkten Assistenten. Mehr kann ich<br />

Ihnen dazu nicht sagen.“<br />

„Und Sie können direkt <strong>und</strong> ohne jemanden zu informieren<br />

mit ihm reden?“<br />

„Ja, das kann ich!“<br />

-39-


Erneut entfuhr mir ein erstauntes Oh!<br />

Ich drehte mich in Richtung Fenster <strong>und</strong> ging ein paar<br />

Schritte. Sie schien zu merken, dass ich in Gedanken<br />

mit mir selbst kämpfte, <strong>und</strong> schwieg. Mit den Fingerspitzen<br />

fuhr ich mir über die Stirn, so als ob ich sie einreiben<br />

wollte, kniff die Augen zusammen <strong>und</strong> wischte<br />

wie<strong>der</strong> darüber.<br />

Schließlich wandte ich mich ihr wie<strong>der</strong> zu <strong>und</strong> sagte<br />

halblaut, mehr als Feststellung, denn als Frage: „Sie<br />

können direkt zum Botschafter, wann immer Sie wollen!“<br />

<strong>und</strong> nach einer kurzen Pause: „Gut, dann rede ich mit<br />

Ihnen.“<br />

Mit einer Handbewegung bot Sie mir einen Stuhl an,<br />

<strong>und</strong> wir setzten uns über Eck an den Tisch.<br />

„Darf ich Sie mit Ihrem Vornamen ansprechen, Ihr Familienname<br />

ist so schwer für meine Zunge?“<br />

„Natürlich, das ist in Ordnung.“<br />

„Also Frau Irina“, begann ich langsam <strong>und</strong> mit Bedacht,<br />

„ich habe Zugang zu einer Internet-Anwendung, die etwas<br />

Unglaubliches möglich macht. Sie kennen sicherlich<br />

die Plattform Google-Maps. Dort kann man r<strong>und</strong> um die<br />

Welt jeden Ort finden <strong>und</strong> über die Funktion Sattelitenbild<br />

von oben ansehen. Man kann sich dort sehr nahe<br />

an ein Objekt heranzoomen <strong>und</strong> bekommt einen guten<br />

Überblick <strong>der</strong> Gegebenheiten an diesem Ort. Allerdings<br />

wird ab einem bestimmten Punkt das Bild unscharf, die<br />

Auflösung ist zu gering, Details sind nicht erkennbar.“<br />

Die Frau gegenüber blickte mich mit unbewegter Miene<br />

an, so fuhr ich fort:<br />

„Mein System hat Ähnlichkeit mit dieser Anwendung,<br />

geht aber sehr, sehr viel weiter. Ich kann wie bei Google<br />

ein Objekt heranzoomen <strong>und</strong> Gegenstände in <strong>der</strong><br />

Größe eines Blatt Papiers noch klar erkennen. Außerdem<br />

sind die Ansichten in meinem System live! An<strong>der</strong>s<br />

-40-


als bei Google, wo Sie nur Fotos, also statische Bil<strong>der</strong>,<br />

anschauen, sehen Sie in meinem System aktuelle <strong>und</strong><br />

lebende Bil<strong>der</strong>, so wie die Situation vor Ort im Moment<br />

des Betrachtens ist. Sie sehen also Menschen, wie sie<br />

die Straße entlang gehen o<strong>der</strong> auf einer Bank sitzen<br />

<strong>und</strong> Zeitung lesen - alles, was an dem Ort gerade geschieht.<br />

Weiter kann ich Objekte in ihren Bewegungen nachverfolgen.<br />

Wenn ich ein Auto markiere, kann ich sehen,<br />

welchen Weg es nimmt.“<br />

Es entstand eine lange Pause. Während meinen Ausführungen<br />

hatte ich meinen Blick auf meine Hände konzentriert,<br />

wie sie sich schlossen <strong>und</strong> öffneten, unterbrochen<br />

nur von einem kurzen Aufschauen o<strong>der</strong> auch nur eines<br />

Seitenblickes auf Irina. Jetzt blickte ich sie direkt an<br />

<strong>und</strong> fühlte ein tiefes Ausatmen in mir. Irina zeigte keine<br />

Regung, ihre Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, ihr<br />

Blick ging irgendwie durch mich hindurch. Ich wartete<br />

darauf, dass sie etwas sagte.<br />

„Ich kann Ihnen das Ganze auch demonstrieren <strong>–</strong> jetzt,<br />

hier <strong>und</strong> heute“, unterbrach ich die Stille.<br />

„Einfach so?“ kam es zurück.<br />

„Ja! Ich brauche dazu nur einen Computer, am besten<br />

einen Laptop.“<br />

Ihr Gesicht blieb <strong>und</strong>urchdringlich für mich, ich konnte<br />

keinen Hinweis erkennen, ob sie mich ernst nahm o<strong>der</strong><br />

für einen Spinner hielt. Dann stand sie auf.<br />

„Bitte warten Sie hier, ich bin in fünf Minuten zurück“,<br />

sagte sie <strong>und</strong> verschwand durch die Tür.<br />

Ich bekam ein ungutes Gefühl. Was macht sie? Kommt<br />

sie mit jemandem vom Sicherheitspersonal zurück? Gar<br />

mit Leuten vom Geheimdienst? Ich stand auf <strong>und</strong> ging<br />

ans Fenster. Kommen da etwa Fluchtgedanken hoch?<br />

Mich irritierte sehr, dass Irina keinerlei Reaktion gezeigt<br />

-41-


hatte, ich hatte we<strong>der</strong> Erstaunen noch Zweifel noch<br />

Interesse in ihrer Miene ausmachen können.<br />

Ich hatte mein Geheimnis preisgegeben, ohne zu wissen,<br />

ob es in die richtigen Ohren gelangt war. Die Anspannung<br />

zerriss am Geräusch <strong>der</strong> sich öffnenden Tür.<br />

Irina kam herein, ein Laptop in <strong>der</strong> Hand. Hinter ihr<br />

blieb eine junge Frau im Türrahmen stehen. „Darf ich<br />

Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ fragte mich Irina.<br />

„Ja gerne, einen Kaffee.“ gab ich zurück. Die junge Frau<br />

entfernte sich.<br />

Irina legte den Laptop auf den Tisch, wo ich zuvor gesessen<br />

hatte. Wir nahmen beide Platz. Ihr Gesicht verriet<br />

mir immer noch nicht, wie sie die Sache einschätzte.<br />

Immerhin, sie hatte einen Computer mitgebracht, also<br />

wollte sie mehr wissen, sie hielt mich also nicht für<br />

einen Spinner <strong>–</strong> o<strong>der</strong> vielleicht noch nicht.<br />

„Bitte“, sagte sie, in ihrem Ton lag etwas Auffor<strong>der</strong>ndes.<br />

„Können wir in einen Raum gehen, <strong>der</strong> eine Türe nach<br />

draußen hat, auf eine Terrasse o<strong>der</strong> einen Rasen?“<br />

fragte ich.<br />

„Ja“, entgegnete sie verdutzt, stand auf <strong>und</strong> ging zur<br />

Tür. Ich folgte ihr auf den Flur <strong>und</strong> nur wenig weiter<br />

bogen wir in einen Raum ab, <strong>der</strong> geradezu wohnlich<br />

aussah, ein langer Tisch wie eine Tafel, Gemälde an<br />

den Wänden, bodentiefe Vorhänge, auf <strong>der</strong> linken Seite<br />

eine Tür, die auf eine gepflasterte Terrasse führt.<br />

Irina setzte sich <strong>und</strong> legte den Laptop wie<strong>der</strong>um vor<br />

mich. Ich schob ihn an sie zurück <strong>und</strong> for<strong>der</strong>te sie auf:<br />

„Bitte machen Sie! Gehen Sie auf Google-Maps <strong>und</strong><br />

lokalisieren Sie diese Botschaft.“<br />

Sie sah mich ungläubig an. „Ja“, ermunterte ich sie,<br />

„Sie können das auch in Ihrer Sprache, auf Russisch,<br />

machen.“<br />

Ich bemerkte ein leichtes Zögern, doch sie zog das Ge-<br />

-42-


ät vor sich hin, klappte den Bildschirm auf <strong>und</strong> wartete,<br />

bis <strong>der</strong> Computer hochgefahren war, ohne mir auch nur<br />

einen Blick zuzuwerfen. Gefühlt dauerte dieser Moment<br />

unendlich lange. Sie begann zu tippen, strich über das<br />

Cursorfeld, tippte wie<strong>der</strong> <strong>und</strong> drehte schließlich den<br />

Bildschirm so, dass wir beide drauf schauen konnten.<br />

Ja, da war das Botschaftsgebäude, wie ich es aus<br />

meinen Recherchen vor Antritt <strong>der</strong> Reise in Erinnerung<br />

hatte. Dass soeben das junge Mädchen wie<strong>der</strong> hereingekommen<br />

war <strong>und</strong> mir eine Tasse Kaffee hin gestellt<br />

hatte, nahm ich kaum wahr.<br />

Ich bat Irina, so nah wie möglich bis ins Unscharfe<br />

hinein auf einen beliebigen Gebäudeteil zu zoomen<br />

<strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> langsam zurück. Das Bild solle sie<br />

möglichst nah an <strong>der</strong> Grenze, an <strong>der</strong> das Bild unscharf<br />

wurde, stehen lassen. Jetzt hakte ich ein: „An dieser<br />

Stelle muss ich tätig werden. Dazu muss ich allerdings<br />

einen USB-Stick verwenden, den ich bei mir habe. Darf<br />

ich das?“<br />

„Ja.“<br />

„Gut. Ich erkläre Ihnen jetzt, was dann passieren wird.<br />

Das jetzige Bild des Botschaftsgebäudes wird umswitchen<br />

auf ein neues Bild. Im Ausschnitt wird das Neue<br />

genau gleich sein wie das Alte, doch wird es deutlich<br />

schärfer sein, das können Sie sofort sehen. Wir sind<br />

damit dann in meiner Internet-Anwendung.“<br />

Sie nickte leicht, ich kramte meinen USB-Stick hervor<br />

<strong>und</strong> schob ihn in den Port am Laptop. Am unteren Rand<br />

des Bildschirms erschien eine kleine Maske, die von<br />

mir einige wenige Angaben verlangte, ich drückte OK<br />

<strong>und</strong> das Bild switchte um. Das, was es zeigte, war das<br />

Gleiche wie zuvor, nur ungleich schärfer, hoch aufgelöst.<br />

Ich bemerkte eine leichte, erstaunte Bewegung in<br />

Irinas Gesicht.<br />

-43-


„Sie können jetzt genau gleich damit verfahren wie in<br />

Google-Maps, <strong>der</strong> Unterschied ist, dass Sie alles live<br />

beobachten <strong>und</strong> sehr nahe an die Dinge heranzoomen<br />

können.<br />

Probieren Sie!“ Ich schob ihr den Laptop wie<strong>der</strong> zu.<br />

Irina zoomte zögernd auf den Eingang <strong>der</strong> Botschaft,<br />

durch den ich auch gekommen war, dort war Bewegung<br />

zu erkennen,<br />

dort warteten Menschen. Eben fuhr auch ein Auto vorbei.<br />

Sie ging immer näher dran bis das Gesicht eines<br />

Mannes, schräg von oben, deutlich zu erkennen war.<br />

Das Bild war unruhig, weil <strong>der</strong> Mann sich bewegte <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Ausschnitt so groß war. Ich wandte mich <strong>der</strong>weilen<br />

meinem Kaffee zu, lauwarm wie er mittlerweile war,<br />

schob ich ihn von mir.<br />

Irina zoomte sich wie<strong>der</strong> etwas zurück <strong>und</strong> ging die<br />

Reihe <strong>der</strong> Wartenden entlang. Ihre Miene zeigte kaum<br />

Regung. Dann nahm sie das Gebäude <strong>der</strong> Botschaft in<br />

Augenschein. Erst die Gesamtansicht, dann die verschiedenen<br />

Teile des Gebäudes.<br />

Auf <strong>der</strong> Seite zur „Unter-den-Linden-Straße“ sah sie sich<br />

die Menschen auf dem Gehweg <strong>und</strong> die Autos näher<br />

an. Jetzt ging sie wie<strong>der</strong> ins Große, schwenkte über die<br />

Stadt ans Brandenburger Tor, zum B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> Potsdamer<br />

Platz, ging immer wie<strong>der</strong> ins Detail. Nach geraumer<br />

Zeit kehrte sie zum Botschaftsgebäude zurück,<br />

ging, mal in groß, mal in klein, r<strong>und</strong> um das Anwesen<br />

<strong>und</strong> blieb schließlich bei einer Gesamtansicht stehen.<br />

Mit einem hörbaren Ausatmen lehnte sie sich zurück<br />

<strong>und</strong> sah mich direkt an. Sie wirkte irgendwie entspannt,<br />

ihre Miene erschien mir zum ersten Mal fre<strong>und</strong>lich.<br />

Ich war erleichtert <strong>–</strong> <strong>und</strong> sie schwieg. Ich hatte jetzt<br />

das Gefühl, dass ihr Misstrauen gewichen war, wenigstens<br />

ein Stück weit.<br />

-44-


„Ich möchte Sie um noch etwas bitten. Bitte schreiben<br />

Sie etwas auf Ihren Block, ein Wort, einen kurzen Satz<br />

o<strong>der</strong> einen Vers o<strong>der</strong> irgendetwas, das nur Sie kennen<br />

<strong>und</strong> wissen können.“ Sie sah mich erstaunt an. „Ja, den<br />

Namen ihrer Großmutter o<strong>der</strong> eines Verwandten, ein<br />

Geburtsdatum o<strong>der</strong> den Namen, den Sie Ihrer ersten<br />

Puppe gegeben haben, egal was. Doch nur Sie sollten<br />

die Worte kennen. Und schreiben Sie das in Ihrer Muttersprache.“<br />

Sie schlug ihren Notizblock auf, ihr Blick ruhte auf dem<br />

Papier, einen Moment lang blieb sie in sich gekehrt. Ich<br />

stand auf, ging Richtung Terrassentür, öffnete sie <strong>und</strong><br />

schaute hinaus. Nur ein paar Bistrotische mit Stühlen<br />

standen da herum. Ich wollte warten, bis sie mich rief.<br />

Doch das tat sie nicht. Nach einer Weile wandte ich<br />

mich ihr zu. Sie hatte den Block zugeklappt, die Hände<br />

ineinan<strong>der</strong> geschlagen <strong>und</strong> darauf gelegt, fre<strong>und</strong>lich,<br />

leise lächelnd blickte sie mich an.<br />

„Bitte falten Sie jetzt das Blatt so, dass ich nichts erkennen<br />

kann <strong>und</strong> geben Sie es mir dann.“<br />

Das tat sie.<br />

„Jetzt zoomen Sie bitte im Computer auf die Terrasse<br />

vor diesem Raum. Und zwar so, dass Sie den Platz<br />

direkt vor dieser Tür sehen.“<br />

Sie nickte mir zu.<br />

„Ich werde jetzt hinausgehen, Ihr beschriebenes Blatt<br />

entfalten <strong>und</strong> auf den Boden legen. Sie zoomen dann<br />

darauf <strong>und</strong> sehen, was Sie geschrieben haben. Ist das<br />

in Ordnung für Sie?“<br />

Wie<strong>der</strong>um nickte sie. Ich hielt das Papier zwischen<br />

meinen Fingern hoch <strong>und</strong> ging auf die Terrasse, faltete<br />

es auseinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> legte es auf den Boden. Da es<br />

nicht ruhig liegen blieb, beschwerte ich es mit meiner<br />

Geldbörse. Ich sah, was sie geschrieben hatte. Offen-<br />

-45-


sichtlich drei Worte, ich konnte sie aber nicht lesen, es<br />

waren kyrillische Schriftzeichen.<br />

Nun ging ich in den Raum zurück. Irina schaute auf den<br />

Bildschirm <strong>und</strong> hatte eine Hand vor den M<strong>und</strong> gelegt.<br />

„Können Sie es lesen?“ fragte ich. Sie nickte.<br />

„Darf ich auch mal drauf schauen?“ Wie<strong>der</strong>um ein<br />

Nicken.<br />

Ich konnte die geschriebenen Worte erkennen, allerdings<br />

nicht gut, die Schrift war zu fein <strong>und</strong> die Auflösung<br />

auf dem Bildschirm an <strong>der</strong> Grenze, ein Stift mit<br />

einer breiten Fe<strong>der</strong> wäre besser gewesen.<br />

„Sind das Ihre Worte?“ fragte ich sie. Ein Nicken.<br />

„Darf ich erfahren, was sie bedeuten, ich kann kein<br />

Russisch?“<br />

Sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. Ihr Blick<br />

wechselte immer wie<strong>der</strong> zwischen Bildschirm <strong>und</strong><br />

Terrasse. Langsam ging ich zur Tür, wartete dort bis sie<br />

wie<strong>der</strong> aufschaute <strong>und</strong> bedeutete mit <strong>der</strong> Hand, dass<br />

ich raus gehen werde, was ich dann auch tat. Ich nahm<br />

die Geldbörse an mich, faltete das Blatt wie<strong>der</strong> zusammen,<br />

ging zurück <strong>und</strong> setzte mich wortlos an den Platz<br />

neben Irina.<br />

Sie schwieg immer noch, ich auch. Meine Ellenbogen<br />

hatte ich auf den Tisch gestützt, meine Hände gefaltet<br />

vor den M<strong>und</strong> gelegt, ich schaute nicht zu ihr hin. Ich<br />

wollte warten, bis sie etwas sagte. Offensichtlich war<br />

sie sehr in sich gekehrt, so als mache sie etwas mit sich<br />

aus. Dass ich sie mit meiner Vorführung beeindruckt<br />

hatte, war mir schon klar, doch schien es mir, ich hätte<br />

sie auch persönlich sehr berührt. So empfand ich unser<br />

gemeinsames Schweigen als etwas sehr Andächtiges,<br />

das wollte ich nicht brechen.<br />

Das Geräusch vom Zuklappen des Laptop brachte mich<br />

wie<strong>der</strong> an den Tisch zurück. Ich blickte Irina direkt <strong>und</strong><br />

-46-


unmittelbar in die Augen, sie schienen mir feucht.<br />

„Das ist sehr, sehr beeindruckend“, sagte sie, „ich kann<br />

das kaum glauben.“<br />

„Ich möchte nicht, dass Sie das glauben, son<strong>der</strong>n ich<br />

möchte Sie davon überzeugen“, entgegnete ich. Sie<br />

nickte verhalten, sagte aber nichts, <strong>und</strong> so fuhr ich<br />

fort: „Dieses System kann noch mehr. Nur bin ich jetzt<br />

verunsichert, ob wir fortfahren sollen. Sie scheinen sehr<br />

betroffen zu sein, <strong>und</strong> ich weiß nicht, ob es richtig ist<br />

weiterzumachen. Was meinen Sie?“<br />

„Was können Sie mir noch zeigen?“ fragte sie unvermittelt<br />

<strong>und</strong> überraschend sachlich, gleichzeitig lehnte<br />

sie sich in ihren Stuhl zurück, als hätte sie etwas abgeschüttelt.<br />

Jetzt musste ich innerlich erst wie<strong>der</strong> umschalten.<br />

Offensichtlich war ich dem Irrtum erlegen,<br />

unser Gespräch würde auch eine persönliche Note<br />

bekommen.<br />

„Mit diesem System kann ich auch Dinge verfolgen, die<br />

sich bewegen. Ich kann sie markieren <strong>und</strong> dann beobachten,<br />

welchen Weg sie nehmen. Ich kann das auch<br />

aufzeichnen <strong>und</strong> im Nachhinein sehen, wo <strong>und</strong> wie sie<br />

sich bewegt haben.“<br />

„Zeigen Sie es mir!“<br />

„Gut!“ entgegnete ich, nahm den Laptop so vor mich,<br />

dass Irina sehen konnte, was auf dem Bildschirm geschah.<br />

Ich rief eine kleine Maske auf <strong>und</strong> wählte eine<br />

bestimmte Option. Auf dem Bildschirm erschien ein<br />

roter Pfeil, den man mit dem Cursor führen konnte. Ich<br />

vergrößerte das Bild, bis <strong>der</strong> fließende Verkehr auf den<br />

Straßen um die Botschaft zu erkennen war. An einer<br />

Kreuzung zoomte ich auf ein blaues Auto, das an einer<br />

Ampel wartete. Ich fuhr mit dem roten Pfeil darauf <strong>und</strong><br />

markierte es mit einem Klick. Auf dem Fahrzeug war<br />

jetzt ein roter Punk zu sehen. Als es anfuhr, bewegte<br />

-47-


sich <strong>der</strong> rote Punkt mit ihm. Ich verkleinerte den Bildausschnitt<br />

wie<strong>der</strong> etwas, sodass das Straßennetz im<br />

Umfeld gut zu sehen war. Das Auto bog mal links, mal<br />

rechts ab, wartete immer an Ampeln. Der rote Punkt<br />

wan<strong>der</strong>te stets mit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bildausschnitt verschob<br />

sich so, dass er im Blickfeld blieb. Dann verschwanden<br />

Punkt <strong>und</strong> Auto vom Bildschirm, das Auto war in eine<br />

Tiefgarage gefahren.<br />

„Ich schlage vor, ich speichere so eine Fahrt einmal ab,<br />

<strong>und</strong> wir sehen uns danach die Fahrt an. Einverstanden?“<br />

„Ja.“<br />

Leichte Kürzung<br />

Ich ließ dieses Bild auf Irina wirken. Sie schüttelte den<br />

Kopf, immer wie<strong>der</strong>, <strong>und</strong> sagte schließlich halblaut vor<br />

sich hin: „Das ist unglaublich! Unglaublich!“<br />

„Aber es ist real!“ entgegnete ich. Sie sah mich direkt<br />

an <strong>und</strong> nickte leicht, irgendetwas arbeitete in ihr. Der<br />

fre<strong>und</strong>liche Ausdruck ihres Gesichtes war verschw<strong>und</strong>en,<br />

was ich mehr als schade fand.<br />

„Für heute will ich es bei diesem Stand belassen“,<br />

sagte ich, „das System kann noch etwas, was ich Ihnen<br />

zeigen muss, aber nicht hier <strong>und</strong> heute. Ist es für Sie in<br />

Ordnung, wenn wir uns auf morgen verabreden? Allerdings<br />

nicht hier in <strong>der</strong> Botschaft. Das geht nicht, ich<br />

muss dazu etwas vorbereiten.“<br />

„Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, ich rufe Sie an <strong>und</strong><br />

wir verabreden uns.“<br />

Sie erwartete wohl, dass ich ihr eine Visitenkarte gäbe,<br />

doch ich hatte so etwas ja nicht. Also schrieb sie meine<br />

Telefonnummer in ihren Block. Ich rief meine Maske auf<br />

dem Laptop auf, beendete meine Anwendung <strong>und</strong> zog<br />

den USB-Stick wie<strong>der</strong> ab.<br />

-48-


„Noch etwas ganz Wichtiges möchte ich Ihnen sagen“,<br />

ich sah sie eindringlich an, „nein, ich möchte Sie darum<br />

bitten.<br />

Reden Sie mit niemandem darüber, was ich Ihnen heute<br />

gezeigt habe. Auch nicht mit dem Botschafter! Tun Sie<br />

das erst, wenn Sie alles kennen <strong>und</strong> gesehen haben.<br />

Und bitte informieren Sie auch nicht Ihren Geheimdienst<br />

o<strong>der</strong> wie das heißt. Es ist mir wirklich wichtig, Sie werden<br />

später verstehen, warum.“ Irina nickte nur.<br />

„Und noch etwas: Ich vertrauen Ihnen, aufrichtig, <strong>–</strong><br />

<strong>und</strong> es wäre schön für mich, wenn Sie auch mir Ihr<br />

Vertrauen entgegen brächten. Mir ist sehr wohl klar, in<br />

welcher Situation Sie sich befinden. Sie sind Ihrer Aufgabe,<br />

Ihrem Amt <strong>und</strong> wahrscheinlich auch Ihrem Eid<br />

verpflichtet. Doch bitte, warten Sie noch bis wir uns das<br />

nächste Mal getroffen haben.“<br />

Ich sah sie fragend an, doch sie sagte nur: „Ich melde<br />

mich.“<br />

Dieses Mal nickte ich <strong>und</strong> Irina führte mich wortlos<br />

aus dem Raum. Bis zur Außentür ging sie vor mir her,<br />

öffnete sie <strong>und</strong> mit einem Händedruck verabschiedeten<br />

wir uns. „Danke, Frau Irina. Ich danke Ihnen sehr.“<br />

Sie nickte wie<strong>der</strong> mal nur, <strong>und</strong> ich überschritt die Türschwelle<br />

des Botschaftsgebäudes nach draußen.<br />

Leichte Kürzung<br />

Ich stand schon geraume Zeit in dem riesigen Glasdach<br />

über dem B<strong>und</strong>estag, ich genoss den Blick über das<br />

Gebäude, die Stadt, den Tiergarten, als plötzlich mein<br />

Handy klingelte. Es war keine Nummer zu sehen, also<br />

unterdrückt.<br />

„Ja, hallo, Stefan Mauner?“<br />

„Guten Tag, Herr Mauner. Hier spricht Irina Teskoslowsjanka.“<br />

-49-


Wow, das war eine Überraschung, so schnell kommt<br />

<strong>der</strong> Anruf!<br />

„Oh, Frau Irina! Was gibt es, was kann ich für Sie tun?“<br />

„Ich komme auf Ihr Angebot zurück. Können wir uns<br />

treffen?“<br />

„Ja, natürlich! Wann denn?“<br />

„Ginge heute noch?“<br />

„Oh! Ähh... ja klar! Wo denn?“<br />

„Sie sagten, das müsste außerhalb <strong>der</strong> Botschaft sein.<br />

Machen Sie einen Vorschlag.“<br />

Jetzt war ich aber sehr verlegen, hatte ich mir doch<br />

noch keinerlei Gedanke über einen geeigneten Ort gemacht.<br />

„Auf die Schnelle ist das schwierig für mich. Ich habe<br />

mich noch nicht umgeschaut. Können Sie mir ein Café<br />

o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>es Lokal empfehlen?“<br />

„Egal wo?“<br />

„Ja <strong>–</strong> aber halt! Voraussetzung ist, dass es dort wenigstens<br />

ein bodentiefes Fenster geben muss, <strong>und</strong> zwar so,<br />

dass man innen sitzen <strong>und</strong> nach draußen sehen kann.“<br />

„Wo sind Sie denn gerade?“<br />

„In <strong>der</strong> Glaskuppel des B<strong>und</strong>etages.“<br />

Es dauerte einen kurzen Moment, dann sagte Sie: „Das<br />

Café Dogart könnte passen. Dort gibt es einen Wintergarten<br />

zum Spielplatz hin. Wäre das geeignet?“<br />

„Das hört sich gut an. Wo ist dieses Café?“<br />

„In <strong>der</strong> Schumannstraße, Moment bitte, <strong>–</strong> Nr. 17. Das<br />

ist nicht weit vom B<strong>und</strong>estag weg, das können Sie zu<br />

Fuß erreichen. Sie gehen am besten über die Spree bis<br />

zur Luisenstraße, dann links ab Richtung Norden, solange,<br />

bis rechts die Schumannstraße abzweigt.“<br />

„Gut, ich gehe gleich hin. Wenn ich dort bin, rufe ich<br />

Sie an. Geht das?“<br />

„Ja. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Haben Sie<br />

-50-


etwas zum Schreiben?“<br />

„Ja, ich höre.“<br />

Es folgte eine Nummer, die nach allem an<strong>der</strong>en als<br />

nach einer Handy-Nummer aussah, die ich eigentlich<br />

erwartet hatte.<br />

Flugs eilte ich die schiefe Ebene <strong>der</strong> Glaskuppel hinab,<br />

mit dem Aufzug hinunter <strong>und</strong> an die Spree. Linke o<strong>der</strong><br />

rechte Brücke? Letztere liegt näher, also ging ich nach<br />

rechts am Ufer entlang, über die Brücke <strong>und</strong> war auch<br />

schon in <strong>der</strong> Luisenstraße. Bald war ich auch in <strong>der</strong>selbigen<br />

des Herrn Schumann <strong>und</strong> nicht viel später im<br />

Wintergarten des Café Do- gart.<br />

Der Tisch da drüben, an <strong>der</strong> rechten Glasfront stand<br />

wie in einer Nische zum Durchgang in den Innenraum<br />

des Cafés. Das wäre <strong>der</strong> optimale Platz! Den muss ich<br />

bekommen, was mir eine halbe St<strong>und</strong>e später auch gelang.<br />

Das Pärchen hatte sein Eis ausgelöffelt.<br />

Ich rief Irina an.<br />

„Ja?“<br />

„Also, ich bin vor Ort. Da passt alles super hier.“<br />

„Schön. Dann kann ich kommen?“<br />

„Jetzt sofort?“<br />

„Ja!“<br />

„Oh, ich bin allerdings darauf nicht vorbereitet. Dann,<br />

ähh…, müssen Sie allerdings verschiedene Dinge<br />

mitbringen. O<strong>der</strong> ich besorge sie <strong>und</strong> wir treffen uns<br />

später hier?“<br />

„Was brauchen Sie denn?“<br />

„Einen Laptop, meiner liegt im Hotel.“<br />

- Es entstand eine längere Pause. Ich hatte nicht mit<br />

dieser Dringlichkeit gerechnet, daher war ich jetzt<br />

gezwungen zu improvisieren. „Ein Buch.“ Erneut eine<br />

Pause. „Eine kleine Pflanze im Topf.“ Eine noch längere<br />

Pause. „Und einen Hammer!“<br />

-51-


Zunächst war Stille am an<strong>der</strong>en Ende. „Ein bestimmtes<br />

Buch, bestimmte Pflanze, ein bestimmter Hammer?“<br />

„Nein, das ist völlig egal. Es können auch drei an<strong>der</strong>e<br />

Gegenstände sein, nur aus unterschiedlichem Material.<br />

Mir ist gerade nichts Besseres eingefallen.“<br />

Wie<strong>der</strong>um Stille an meinem Ohr. „Gut, ich beschaffe die<br />

Dinge. Wieviel Zeit habe ich, wie lange bleiben Sie im<br />

Café?“<br />

„Bis Sie kommen. Ich habe Zeit. Nur übernachten<br />

möchte ich hier nicht.“<br />

„Dann mache ich mich auf den Weg. Ich melde mich,<br />

wenn ich alles habe.“<br />

Aufgelegt. Ich war mehr verdutzt als erstaunt. Jetzt hat<br />

sie es aber eilig! Was hat sie dazu bewogen? Hat sie<br />

etwa mit dem Botschafter gesprochen? Ich hatte mir<br />

unser zweites Treffen an<strong>der</strong>s vorgestellt, ohne genau zu<br />

wissen, wie eigentlich. Ich dachte, dazu hätte ich noch<br />

Zeit, das wollte ich mir genau zurechtlegen. Die Lokalität<br />

aber war entscheidend, <strong>und</strong> diese hier passt hun<strong>der</strong>tprozentig!<br />

Ich bestellte wie<strong>der</strong> mal einen Kaffee.<br />

Es mag eine gute St<strong>und</strong>e später geworden sein als<br />

mein Handy wie<strong>der</strong> klingelte. War <strong>der</strong> Akku eigentlich<br />

noch ausreichend geladen?<br />

„Ja, hallo, Stefan Mauner?“<br />

„Guten Tag, Herr Mauner. Hier spricht Irina Teskoslowsjanka.<br />

Ich habe die Sachen jetzt <strong>und</strong> komme vorbei. In<br />

Ordnung?“<br />

„Ja.“<br />

„Gut! In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.“<br />

Sprach‘s <strong>und</strong> legte auf. Zehn Minuten, wow! Mich erfasste<br />

eine <strong>und</strong>efinierbare Beunruhigung, ich wurde<br />

nervös. Das steigerte sich noch, als auf <strong>der</strong> gegenüber<br />

liegenden Straßenseite ein schwarzes Auto anhielt <strong>und</strong><br />

Irina hinten ausstieg. Mit Chauffeur <strong>und</strong> mit einer gro-<br />

-52-


ßen Tasche in <strong>der</strong> Hand! Und das wollte nicht zu dieser<br />

Person passen bzw. zu meinem Bild von <strong>der</strong> Person. Sie<br />

war gekleidet wie heute Morgen. Ich stand auf, damit<br />

sie mich gleich sehen konnte. Ihr blon<strong>der</strong> Zopf pendelte<br />

hin <strong>und</strong> her, als sie auf mich zukam.<br />

„Hallo Herr Mauner, guten Tag. Hier bin ich.“<br />

Hallo? Sie sagte hallo! Klang das etwa fre<strong>und</strong>schaftlich?<br />

„Hallo Frau Irina, bitte setzten Sie sich“, was sie auch<br />

tat. Sie wirkte ganz an<strong>der</strong>s als am Vormittag, entspannter,<br />

nicht so kühl <strong>und</strong> distanziert.<br />

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für<br />

dieses Treffen“, begann sie, „<strong>und</strong> vor allem so kurzfristig.<br />

Das hat allerdings seinen Gr<strong>und</strong>.“<br />

Konzentriert <strong>und</strong> bedächtig, so als ob sie jedes Wort<br />

abwägen wollte, sprach sie weiter.<br />

„Unser Botschafter ist heute Nachmittag von einer Reise<br />

zurückgekommen, zwei Tage früher als erwartet. Ich<br />

will heute noch mit ihm über Ihr Anliegen reden. Ich<br />

trage ein Wissen in mir, dass ich keinen Tag länger für<br />

mich behalten darf. Das bin ich meiner Aufgabe schuldig.“<br />

Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort. „Und ich möchte<br />

mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie gedrängt<br />

habe.“<br />

„Das ist völlig in Ordnung. Ich habe ja alle Zeit <strong>der</strong><br />

Welt. Nur konnte ich mich in <strong>der</strong> Eile nicht so vorbereiten,<br />

wie ich das gerne getan hätte.“<br />

„Das macht nichts. Was wollen Sie mir denn zeigen?“<br />

„Wollen wir nicht zuvor etwas essen? Ich lade Sie ein.“<br />

„Nein, vielen Dank.“<br />

Sie machte eine kleine Pause <strong>und</strong> fuhr dann leise fort;<br />

„Ich habe nicht die Zeit dazu. Bitte verstehen Sie.“<br />

Na, das war mir wohl klar, sie wollte ja heute noch mit<br />

dem Botschafter reden. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie<br />

-53-


in keiner Weise geschminkt war, we<strong>der</strong> die Augen noch<br />

die Lippen. War das heute Morgen auch schon so?<br />

„Aber für einen Kaffee wird die Zeit allemal reichen.“<br />

„Ja, dann ein Mineralwasser bitte.“<br />

„Ja, dann legen wir los! Haben Sie die Sachen dabei?“<br />

Ich gab die Bestellung auf, während Irina zu ihrer Tasche<br />

griff <strong>und</strong> auf den Tisch legte, was sie besorgt hatte:<br />

Laptop, ein Buch mit kyrillischem Titel, ein Hammer, wie<br />

es ihn tausendfach in allen Haushalten gibt, <strong>und</strong> eine<br />

Geranie in einem viel zu kleinen Plastiktopf.<br />

„Das sieht gut aus. Bitte fahren Sie den Computer hoch<br />

<strong>und</strong> lokalisieren Sie unseren Standort hier in Google-<br />

Maps, sowie Sie es kennen. Ich werde <strong>der</strong>weil diese<br />

Gegenstände platzieren.“<br />

Ich nahm die Sachen <strong>und</strong> ging zur geöffneten Türfront<br />

des Wintergartens hinaus, bog rechts ab <strong>und</strong> an<br />

<strong>der</strong> Seitenwand zurück. Ich stand jetzt direkt neben<br />

unserem Tisch, nur draußen, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong><br />

Glasscheibe. Dort legte ich Buch, Topf <strong>und</strong> Hammer<br />

in einer Reihe auf den Boden, im Abstand von jeweils<br />

etwa einem Meter zueinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> zur Glasfront. Diese<br />

Ecke war unauffällig <strong>und</strong> kaum einsehbar. Dann ging<br />

ich zurück an unseren Tisch. Irina konzentrierte sich<br />

noch auf den Bildschirm. Ich wartete, bis sie ihn mir zu<br />

drehte, schob meinen USB-Stick in den Port, machte die<br />

Angaben, die die kleine Maske von mir anfor<strong>der</strong>te, <strong>und</strong><br />

das Bild switchte um.<br />

Ich zoomte nun auf die Gegenstände, die ich draußen<br />

neben <strong>der</strong> Glasfront auf den Boden gestellt hatte.<br />

„Das alles kennen Sie bisher“, begann ich, „dieses<br />

System hat noch eine weitere Funktion, <strong>und</strong> die will ich<br />

Ihnen jetzt zeigen.“<br />

Ihr Kinn auf die Hand gestützt hatte sie mein Tun<br />

verfolgt. Jetzt wandte sie sich mir zu <strong>und</strong> blickte mich<br />

-54-


erwartungsvoll an. Na mach schon, dachte sie wohl,<br />

du spannst mich auf die Folter! Anmerken ließ sie sich<br />

allerdings nichts.<br />

„Mit dieser Anwendung kann ich jeden Gegenstand,<br />

egal wo er sich befindet, auflösen.“<br />

Jetzt än<strong>der</strong>te sich ihre Miene. Sie trug plötzlich ein großes<br />

Fragezeichen im Gesicht.<br />

„Ich meine, <strong>–</strong> verschwinden lassen, <strong>–</strong> eigentlich zerstören,<br />

<strong>–</strong> bis auf einen kleinen Rest!“<br />

Sie ließ sich in ihren Stuhl zurück fallen. Ihr Gesicht<br />

zeigte jetzt wie<strong>der</strong> einen kühlen, distanzierten Ausdruck,<br />

hoch konzentriert. Wie kann man so schnell in<br />

eine an<strong>der</strong>e Verfassung fallen? Ich dachte, wir hätten<br />

zu einem entspannten Gespräch gef<strong>und</strong>en.<br />

Da sie weiter schwieg, zoomte ich auf das Buch, so<br />

dass es fast den ganzen Bildschirm füllte, rief eine Maske<br />

auf <strong>und</strong> machte dort meine Angaben. In die entstandene<br />

Pause hinein sagte ich: „Ich muss jetzt warten, bis<br />

ich das OK bekomme.“ Der rote Pfeil ploppte auf. „Ich<br />

markiere jetzt dieses Buch, indem ich es mit dem Pfeil<br />

umfahre.“ Frau Irina richtete sich auf, legte ihren Arm<br />

auf den Tisch <strong>und</strong> rückte näher an den Bildschirm. Das<br />

Buch war nun mit einer roten Linie umrahmt.<br />

Auf meinen Doppelklick hin erschien in einer Maske die<br />

Frage:<br />

„soll das gekennzeichnete objekt tatsächlich zerstört<br />

werden“<br />

Ich drückte „ja“<br />

Die nächste Frage: „hast du dazu die berechtigung“<br />

Wie<strong>der</strong> drückte ich “ja“<br />

Die dritte Frage: „ist <strong>der</strong> eigentümer damit einverstanden“<br />

Jetzt sah ich Irina fragend an, sie nickte. Ich klickte<br />

„ja.“<br />

-55-


Auf dem Bildschirm erschien rechts oben ein roter<br />

Punkt, etwa so groß wie ein Hemdknopf, er begann zu<br />

blinken.<br />

Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme ineinan<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> sagte zu Irina gewandt: „Wenn ich diesen<br />

Knopf betätige, wird das Buch verschwinden.“<br />

Ihr Blick wechselte ein paar Mal von mir zum Bildschirm.<br />

Ich zoomte das Bild etwas kleiner, sodass im<br />

ersten Schritt alle drei Gegenstände zu sehen waren,<br />

das Buch rot umrandet. Dann noch kleiner, Wintergarten<br />

<strong>und</strong> ein Teil des Gebäudes bestimmten nun das<br />

Bild. Schließlich ging ich wie<strong>der</strong> in die Vergrößerung bis<br />

nur noch das Buch <strong>und</strong> die Topfpflanze auf dem Bildschirm<br />

zu sehen waren.<br />

Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust <strong>und</strong> sagte<br />

zu ihr rüber: „Sie entscheiden, wann ich auslösen soll.<br />

Konzentrieren Sie sich bitte auf eine Sache, den Bildschirm<br />

o<strong>der</strong> das echte Buch draußen.“<br />

Ihr Blick flog ein paar Mal hin <strong>und</strong> her, eine kleine<br />

Weile später, sie sah nach draußen, hörte ich ein leises<br />

„Jetzt!“ Ich drückte den roten Punk <strong>und</strong> innerhalb eines<br />

Sek<strong>und</strong>en- bruchteils fiel das Buch in sich zusammen<br />

<strong>und</strong> war verschw<strong>und</strong>en.<br />

Ich wandte mich ihr zu, sie starrte auf den Punkt neben<br />

<strong>der</strong> Pflanze <strong>–</strong> da war nichts mehr, vielleicht die Spur von<br />

einem Aschefleck, <strong>der</strong> Bildschirm zeigte nichts an<strong>der</strong>es.<br />

Ich lehnte mich zurück, während sie mich mit großen<br />

Augen ansah, ungläubig, nahezu fassungslos.<br />

„Ich weiß“, ich konnte ihren Blick nicht halten, „das ist<br />

unglaublich <strong>und</strong> man kann es rational nicht verstehen,“<br />

sagte ich in sanftem Ton zu ihr. „Sie brauchen nichts<br />

zu sagen.“ Sie schwieg weiter, <strong>und</strong> nach einer kleinen<br />

Pause fuhr ich fort. „Ich werde jetzt das Gleiche mit <strong>der</strong><br />

Pflanze machen.“ Keine Reaktion. So wie<strong>der</strong>holte ich<br />

-56-


das Proze<strong>der</strong>e von vorhin, bis <strong>der</strong> Blumentopf rot umrandet<br />

neben dem Hammer zu sehen war, rechts oben<br />

blinkte <strong>der</strong> rote Knopf.<br />

„Sie geben wie<strong>der</strong> das Zeichen.“<br />

Irinas Blicke wan<strong>der</strong>ten zwischen virtueller <strong>und</strong> realer<br />

Pflanze hin <strong>und</strong> her, ich blieb auf den Bildschirm fixiert.<br />

„Jetzt!“ flüsterte es leise neben mir, ich löste aus <strong>und</strong><br />

wie<strong>der</strong>um verschwand <strong>der</strong> Blumentopf schlagartig. Irina<br />

ließ sich zurück fallen, verschränkte die Hände hinter<br />

dem Kopf, atmete hörbar aus <strong>und</strong> schloss die Augen.<br />

Für mich war das ein schönes Bild, wie sie so in ihrem<br />

Stuhl hing, irgendwie hilfsbedürftig <strong>–</strong> ob sie sich besiegt<br />

fühlt? Einen Moment lang hielt ich inne.<br />

Doch nur einen Moment, dann tat ich mit dem Hammer<br />

das Gleiche wie zuvor mit Buch <strong>und</strong> Pflanze. Als <strong>der</strong><br />

rote Punkt 0blinkte, lehnte ich mich zurück. Frau Irina<br />

hatte zwischenzeitlich mein Tun wie<strong>der</strong> verfolgt.<br />

„Schauen Sie sich den Hammer genau an, ich habe<br />

nämlich nur das Eisenteil umrahmt, nicht den Stiel, <strong>der</strong><br />

wird übrig bleiben. <strong>–</strong> Und wenn Sie so weit sind…“<br />

Das „Jetzt!“ kam dieses Mal zügig. Draußen wie drinnen<br />

am Bildschirm war Gleiches zu sehen, ein Stück Holz,<br />

<strong>der</strong> Rest vom Hammerstiel.<br />

Irina blieb sprachlos, ich hatte keine Ahnung, wie ich<br />

ihren Gesichtsausdruck deuten sollte, irgendwie kam<br />

sie mir teilnahmslos vor. Doch das konnte nicht sein!<br />

Sie hatte soeben etwas Unvorstellbares gesehen <strong>und</strong><br />

erlebt! Das konnte sie doch nicht kalt lassen! Für mich<br />

überraschend griff sie nach ihrem Handy, ich konnte<br />

nicht verstehen, was sie sagte, doch es war sehr kurz<br />

<strong>und</strong> klang bestimmend.<br />

„Ich muss zurück in die Botschaft, bitte verzeihen Sie<br />

mir.“<br />

„So schnell?“<br />

-57-


„Es kommt mir nicht richtig vor, wenn ich Sie so einfach<br />

sitzen lasse, doch ich kann nicht an<strong>der</strong>s.“<br />

„Für mich ist das in Ordnung. Ich kann nur ahnen, wie<br />

Ihnen zumute ist. Gehen Sie ruhig.“ Ich machte eine<br />

kleine Pause <strong>und</strong> schob nach: „Verstehen Sie jetzt, dass<br />

ich Ihnen diesen Teil nicht in <strong>der</strong> Botschaft demonstrieren<br />

konnte?“<br />

Sie nickte. Ich meldete mich ab <strong>und</strong> zog den USB-Stick.<br />

Irina hatte sich erhoben.<br />

„Ich muss gehen. Vielen Dank <strong>–</strong> mir fällt im Moment<br />

nicht mehr ein. Danke.“ Ich war ebenfalls aufgestanden,<br />

sie reichte mir die Hand <strong>und</strong> ergänzte: „Doch, ich danke<br />

Ihnen für Ihr Vertrauen.“<br />

„Machen Sie’s gut <strong>und</strong> viel Erfolg!“, gab ich ihr mit,<br />

„<strong>und</strong> lassen Sie ihren Geheimdienst bitte noch außen<br />

vor. Noch!“ Sie versuchte ein Lächeln <strong>und</strong> wandte sich<br />

zum Gehen.<br />

Kann ich Ihre Handynummer noch haben“, rutschte<br />

es mir raus. Sie stockte leicht, drehte sich mir zu <strong>und</strong><br />

schüttelte wie<strong>der</strong>um sanft den Kopf. „Noch nicht“, entgegnete<br />

sie <strong>und</strong> strebte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite zu,<br />

wo <strong>der</strong> schwarze Wagen auf sie wartete.<br />

Der schwarze Wagen! Stand <strong>der</strong> die ganze Zeit hier?<br />

Hat <strong>der</strong> Fahrer uns etwa beobachtet, vielleicht beobachten<br />

müssen? Hat <strong>der</strong> was mitbekommen?<br />

Ich setzte mich wie<strong>der</strong> <strong>und</strong> bemerkte erst jetzt, dass<br />

Irina ihren Laptop vergessen hatte. Sie muss ganz<br />

schön durcheinan<strong>der</strong> sein, ging mir durch den Kopf,<br />

<strong>und</strong> bestellte noch einen Kaffee.<br />

Ich war schon eine ganze Weile wie<strong>der</strong> in meinem Hotel<br />

<strong>und</strong> hatte ein Buch zur Hand genommen. Ich lese ja<br />

gerne <strong>und</strong> auch viel, für mich ist das mehr als nur ein<br />

Zeitvertreib. Da klingelte mein Handy, eine anonyme<br />

-58-


Nummer! Frau Irina etwa?<br />

„Hallo <strong>und</strong> guten Abend Herr Mauner. Hier spricht Irina<br />

Teskoslowsjanka.“<br />

„Hallo Frau Irina! Das ist aber eine Überraschung! Was<br />

gibt es?“<br />

„Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“<br />

Bevor ich antwortete, musste ich schlucken. Was für<br />

Andeutungen machte sie da?<br />

„Äähh..., eigentlich wollte ich in die Berliner Philharmonie.<br />

Wieso fragen Sie?“<br />

„Könnten wir uns nochmals treffen?“<br />

„Klar! Wann?“<br />

„Heute Abend noch?“<br />

Mir blieb die Spucke weg! „Heute Abend noch? Wieso<br />

das denn?“<br />

„Ich habe mit dem Botschafter gesprochen. Er will Sie<br />

so schnell wie möglich kennenlernen. Und wenn es<br />

Ihnen möglich ist, auch noch heute Abend.“<br />

„Oh! Um wieviel Uhr denn?“<br />

„Sobald Sie können.“<br />

„Wow!“ <strong>–</strong> In das Konzert könnte ich ja morgen noch. <strong>–</strong><br />

„Gut, dann machen wir das. Ich brauche ungefähr eine<br />

halbe St<strong>und</strong>e bis zur Botschaft <strong>und</strong> will vorher noch<br />

eine Kleinigkeit essen. Sagen wir in einer guten St<strong>und</strong>e?<br />

Wo soll ich mich dann hinwenden?“<br />

„Nirgends, Sie werden abgeholt. Unser Fahrdienst wird<br />

Sie in einer St<strong>und</strong>e vor Ihrem Hotel erwarten <strong>und</strong> hier<br />

in die Botschaft bringen. Ich sorge auch für eine Kleinigkeit<br />

zum Essen. Ist das in Ordnung?“<br />

„Ja, sicher!“<br />

„Gut! Dann sehen wir uns nachher. Vielen Dank.“<br />

„Bis nachher.“<br />

„Denken Sie an den Laptop?“<br />

Und weg war Sie, mein „Ja!“ konnte sie nicht mehr hö-<br />

-59-


en. Ich schüttelte den Kopf <strong>und</strong> ging erst mal auf den<br />

Balkon eine Zigarette rauchen.<br />

Das ist ja <strong>der</strong> Hammer! Da gehe ich morgens in völliger<br />

Ungewissheit in die russische Botschaft <strong>und</strong> abends will<br />

mich schon <strong>der</strong> Botschafter persönlich sehen! Mein Anliegen<br />

hat wohl eingeschlagen wie eine Bombe! Ja, das<br />

erklärt mir ein Stück weit auch das wechselhafte Verhalten<br />

von Irina.<br />

Sie hat wohl schneller als von mir erwartet die Brisanz<br />

erkannt <strong>und</strong> weiter gegeben!<br />

Nervös, aufgeregt <strong>und</strong> auch aufgewühlt wartete ich in<br />

<strong>der</strong> kleinen Hotelhalle auf den Wagen, <strong>der</strong> mich abholen<br />

sollte. Immer wie<strong>der</strong> spazierte ich wie „zufällig“ an <strong>der</strong><br />

Fensterfront vorbei <strong>und</strong> schielte „unauffällig“ durch den<br />

Lammellenvorhang nach draußen.<br />

Jetzt fuhr ein schwarzer Wagen vorbei <strong>und</strong> parkte<br />

rechts vom Hoteleingang. Es war <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> heute<br />

Nachmittag Irina gebracht <strong>und</strong> abgeholt hatte. Ich ging<br />

tief ausatmend nach draußen <strong>und</strong> auf den Wagen zu.<br />

Ein älterer Herr stieg aus: dunkler Anzug, fre<strong>und</strong>liche<br />

Erscheinung.<br />

Als er mich wahrnahm, fragte er: „Herr Mauner?“<br />

„Ja! Kommen Sie von Frau Irina - <strong>der</strong> Botschaft?“<br />

„Ja, bitte steigen Sie ein.“ Er ging auf die Beifahrerseite<br />

<strong>und</strong> öffnete die hintere Wagentür.<br />

Nein, es war keine Limousine wie im Film, son<strong>der</strong>n ein<br />

ganz normaler Wagen eben, lediglich ein Handy steckte<br />

am Armaturenbrett. Wir blieben beide wortlos. Ich<br />

hätte den Herrn gerne nach seinem Namen gefragt, tat<br />

es aber nicht, weil ich befürchtete, ich könnte ihn dann<br />

nicht aussprechen, geschweige denn mir merken.<br />

Als am Botschaftsgebäude das große Tor aufging, <strong>und</strong><br />

wir hinein fuhren, wurde mir wie<strong>der</strong> mal mulmig, es<br />

gab kein Zurück mehr. Wir stiegen beide gleichzeitig<br />

-60-


aus, ich wollte nicht, dass er, ein älterer Herr, mir die<br />

Tür aufhält. Mein Blick musterte die Fassade.<br />

„Bitte folgen Sie mir.“<br />

Der Herr führte mich durch eine Nebentür in das Gebäude.<br />

Irina kam auf mich zu <strong>–</strong> sie trug diesmal einen<br />

hellen Hosenanzug mit blauem Schal, ihr blon<strong>der</strong> Haarschopf<br />

schaukelte hin <strong>und</strong> her <strong>–</strong> sie streckte mir die<br />

Hand entgegen.<br />

„Hallo Herr Mauner, schön, dass Sie da sind. Ich freue<br />

mich, Sie zu sehen.“<br />

„Vielen Dank. Ich freue mich auch, Frau Irina. Und <strong>–</strong> ich<br />

habe Ihnen etwas mitgebracht, Ihren Laptop.“<br />

„Danke, bitte folgen Sie mir.“<br />

Ich wandte mich noch an den Fahrer, er war bereits im<br />

Weggehen, <strong>und</strong> dankte ihm für die Fahrt. Dann ging<br />

ich Irina hinter her, einen Flur entlang <strong>und</strong> schließlich in<br />

den gleichen Raum, in dem Irina <strong>und</strong> ich heute Morgen<br />

schon gewesen waren. Nur hatte dieser jetzt einen<br />

an<strong>der</strong>en Charakter, geradezu einen festlichen! Über den<br />

langen Tisch war ein weißes Tuch geschlagen, Kerzen<br />

standen auf dem Tisch <strong>und</strong> drei Gedecke am Kopfende,<br />

einen Laptop entdeckte ich auch, an <strong>der</strong> Decke war ein<br />

Beamer herab gelassen. Der Raum war in ein warmes<br />

Licht getaucht.<br />

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte Irina <strong>und</strong> bot mir den<br />

Stuhl auf <strong>der</strong> linken Seite an, „<strong>der</strong> Botschafter kommt<br />

gleich.“ Der Botschafter, schoss es mir in den Kopf!<br />

Wie gehe ich mit ihm um? Ich kenne die Etikette hierfür<br />

nicht, die Gepflogenheiten!<br />

„Ich bin etwas in Verlegenheit“, sagte ich zu Irina, „wie<br />

muss ich den Botschafter ansprechen? Darf ich ihm<br />

überhaupt die Hand reichen? Auf was muss ich denn<br />

ihm gegenüber achten?“<br />

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt in diesem Fall<br />

-61-


keine Regel. Tun Sie, was in Ihrem Land üblich ist. Er<br />

ist kein komplizierter Mensch.“<br />

„Da bin ich froh!“ Wir saßen uns jetzt gegenüber, Irina<br />

wirkte entspannt <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, ich hingegen nicht,<br />

überhaupt nicht! Sie lächelte sanft, legte ihren Kopf<br />

etwas schräg.<br />

„Es freut mich sehr, dass Sie dieses Treffen so schnell<br />

möglich gemacht haben, <strong>und</strong> ich danke Ihnen sehr<br />

dafür.“ Ich nickte nur.<br />

„Und es macht Ihnen wirklich nichts aus, auf das Konzert<br />

zu verzichten?“<br />

„Nein!“<br />

„Was wird denn gespielt?“<br />

„<strong>Werke</strong> von Mozart, Haydn <strong>und</strong> Brahms.“<br />

„Hören Sie gerne klassische Musik?“<br />

„Ja!“<br />

„Sie wirken angespannt“, fuhr sie nach einer Weile fort,<br />

„darf ich fragen, warum?“<br />

„Ja, das bin ich!“<br />

„Warum denn?“<br />

„Naja, ich begegne zum ersten Mal in meinem Leben<br />

einem Botschafter, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>…“<br />

„Und was?“<br />

„Irgendwie ist mir jetzt nicht mehr so wohl bei <strong>der</strong><br />

Sache.“<br />

„Aber warum?“<br />

„Naja, ich sitze hier in einem Gebäude, einer Botschaft,<br />

<strong>der</strong> russischen Botschaft! Keiner weiß, dass ich hier bin.<br />

Ich fühle mich irgendwie ausgeliefert.“<br />

„Das brauchen Sie nicht. Ich vertraue Ihnen, ehrlich.<br />

Habe ich Ihnen das schon gesagt? Bitte, vertrauen sie<br />

auch mir. Es wird so laufen, wie Sie es möchten.“<br />

Ich nickte, es entstand erneut eine Pause.<br />

„Ich möchte Sie nochmals auf Ihren Namen anspre-<br />

-62-


chen. Bei uns ist es üblich, dass man sein Gegenüber<br />

mit dem Familiennamen anspricht. Doch Ihrer ist ein<br />

Zungenbrecher für mich. Ist es für Sie wirklich in Ordnung,<br />

wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen Irina, Frau<br />

Irina, anspreche?“<br />

„Ja, das ist es.“<br />

„Ich möchte Ihren Familiennamen dennoch kennen,<br />

darf ich ihn aufschreiben?“<br />

„Ja natürlich.“<br />

„Buchstabieren Sie ihn mir?“<br />

Ich zog meinen kleinen Notizblock aus <strong>der</strong> Tasche.<br />

„T-e-s-k-o-s-l-o-w-s-j-a-n-k-a“<br />

„Danke, vielen Dank.“<br />

„Ich habe noch etwas, bitte notieren Sie das auch.“<br />

In mein fragendes Gesicht fuhr sie fort:<br />

„0-1-7-0-3-4-6-2-1-0-1-3“<br />

„Ihre Handynummer?“<br />

„Ja!“<br />

„Oh, vielen Dank, das freut mich sehr.“ Sie sah jetzt<br />

wohl in ein überraschtes Gesicht als sie sagte: „Wann<br />

immer Sie wollen.“<br />

Das beeindruckte mich natürlich. Na klar, sie sah in dieser<br />

ganzen Angelegenheit natürlich nur eine dienstliche<br />

Sache, ich ja auch, wo kämen wir sonst hin?<br />

Ich wollte Irina eben nach ihren Aufgaben hier in <strong>der</strong><br />

Botschaft fragen, als die Tür aufging <strong>und</strong> ein älterer<br />

Herr ein- trat: grau meliert, dunkler Anzug, zierliche<br />

Brille, athletischer Körperbau, schneller Schritt <strong>–</strong> <strong>der</strong><br />

Botschafter! Irina <strong>und</strong> ich standen auf.<br />

„Guten Abend, Herr Mauner.“ Wir schüttelten uns die<br />

Hände, er hielt meine fest. „Vielen Dank, dass Sie gekommen<br />

sind. Ich bin Juri Pawlow, Botschafter <strong>der</strong><br />

Russischen Fö<strong>der</strong>ation hier in Deutschland. Das war<br />

wohl sehr kurzfristig für Sie. Umso mehr schätze ich,<br />

-63-


dass Sie unser Treffen heute möglich machen. Fühlen<br />

Sie sich wie zuhause. Bitte nehmen Sie Platz.“<br />

Sein Deutsch war gut, wenn auch etwas gebrochen, <strong>der</strong><br />

Akzent deutlich. Er nickte Irina zu <strong>und</strong> nahm den Stuhl<br />

am Tischende.<br />

„Wir haben eine Kleinigkeit vorbereitet <strong>und</strong> hoffen,<br />

dass es Ihnen schmeckt. Wir wollen erst ein bisschen<br />

plau<strong>der</strong>n, bevor wir auf Ihre Sache kommen. Sind Sie<br />

einverstanden?“<br />

„Ja, natürlich.“<br />

Pusteblumen-Zauber<br />

von Hannah Below<br />

Ein kleiner Löwenzahn saß einst in einem Tulpenfeld.<br />

Es kamen viele Menschen vorbei <strong>und</strong> die kleine Pusteblume<br />

beobachtete, wie mit jedem Tag mehr Tulpen<br />

gepflückt wurden. Sie hörte die Besucher Dinge sagen<br />

wie „Oma wird sich sehr darüber freuen.“ „Diese Gelben<br />

sind beson<strong>der</strong>s schön.“ „Ich habe den Geburtstag komplett<br />

vergessen <strong>–</strong> zum Glück mag sie Tulpen.“<br />

Der kleine Löwenzahn hörte jedem Wort ganz aufmerksam<br />

zu, doch niemand schien ihn so recht zu beachten.<br />

Es wurde immer leerer auf dem Feld <strong>und</strong> <strong>der</strong> kleine<br />

Löwenzahn wackelte sehr angestrengt mit seinen Blättern,<br />

um sich bemerkbar zu machen. Doch noch immer<br />

nahm keiner von ihm Notiz.<br />

Als sich eines Abends schließlich das Sonnenrot über<br />

das Feld legte, sagte eine pinke Tulpe zum Löwenzahn:<br />

„Du siehst so traurig aus, kleiner Löwenzahn. Was bereitet<br />

dir Kummer?“ Der kleine Löwenzahn seufzte <strong>und</strong><br />

sagte schließlich: „Weißt du, ich habe das Gefühl, dass<br />

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ich hier gar nichts erreiche. Keiner erkennt mich. Keiner<br />

findet mich schön. Keiner nimmt mich mit. Ich bin doch<br />

eine Blume, aber irgendwie habe ich das Gefühl komplett<br />

zu scheitern. Was, wenn ich für immer hierbleiben<br />

muss?“<br />

Die pinke Tulpe, die eine beson<strong>der</strong>s schöne <strong>und</strong> kräftige<br />

war, senkte ein wenig den Kopf <strong>und</strong> sagte behutsam:<br />

„Ach, lieber Löwenzahn. Was wäre denn so schlimm<br />

daran, wenn du für immer hierbliebest?“<br />

„Naja, ich wäre einfach nur hier, bis ich eines Tages<br />

verblühen würde.“, sagte <strong>der</strong> kleine Löwenzahn etwas<br />

ernüchtert.<br />

„Und ist nicht gerade das, das Wertvollste, das dir<br />

passieren kann? Einfach nur zu sein, bis deine Zeit gekommen<br />

ist?“<br />

Der Löwenzahn war etwas irritiert. Denn die Vorstellung,<br />

bis an sein Lebensende unerkannt auf dieser<br />

Stelle zu sitzen, empfand er als so gar nicht wertvoll.<br />

Doch die Art wie die pinke Tulpe es gesagt hatte, ließ<br />

den Löwenzahn innehalten.<br />

Die pinke Tulpe nickte dem Löwenzahn aufmunternd<br />

zu: „Du musst nichts tun. Es reicht hier zu sein <strong>und</strong> zu<br />

warten, bis die Zeit gekommen ist, um das zu tun wofür<br />

du hier bist.“<br />

„Und was ist das?“, fragte <strong>der</strong> kleine Löwenzahn gespannt.<br />

„Du wirst es bald herausfinden.“, antwortete die Tulpe.<br />

Die Sonne war untergegangen <strong>und</strong> <strong>der</strong> kleine Löwenzahn<br />

verstand, dass das Gespräch beendet war.<br />

Die Tage vergingen, das Feld wurde leerer <strong>und</strong> schließlich<br />

wurde auch die letzte Tulpe vom Feld genommen.<br />

Das Gelb des kleinen Löwenzahns verblasste <strong>und</strong> wurde<br />

zu einem Weiß. Die kleine Pusteblume saß nun ganz alleine<br />

auf <strong>der</strong> Erde <strong>und</strong> fragte sich, wie sie diesen Raum<br />

-65-


jemals alleine füllen könnte. Während die Pusteblume<br />

ganz traurig vor Einsamkeit den Wind dabei beobachtete,<br />

wie er das Gras zum Tanzen brachte, kam ein Vater mit<br />

seinem Kind auf das Feld spaziert.<br />

„Es sind keine Tulpen mehr da! Wir kommen zu spät!“,<br />

schrie das Kind vollkommen aufgebracht. Der Vater<br />

blieb entspannt stehen. Sanftmütig <strong>und</strong> lächelnd sprach<br />

er mit seinem Kind: „Ja, das sind wir. Aber weißt du<br />

was <strong>–</strong> ich glaube da wartet noch etwas viel Besseres auf<br />

uns.“ Und er nahm das Kind an die Hand <strong>und</strong> steuerte<br />

direkt auf die kleine Pusteblume zu.<br />

„Aber, das ist ja nur eine Pusteblume!“, sagte das Kind<br />

enttäuscht. „Ich wollte doch so gerne eine rosa Tulpe<br />

haben.“<br />

„Weißt du mein Schatz, manchmal ist das, was wir<br />

bekommen, viel brauchbarer als das, was wir wollen.<br />

Schau her.“<br />

Die kleine Pusteblume war ganz aufgeregt, als <strong>der</strong> Mann<br />

sie schließlich pflückte. Sie <strong>–</strong> die kleine Pusteblume<br />

wurde endlich erkannt. Wo sie doch auf diesem riesigen<br />

Feld so lange übersehen wurde <strong>und</strong> ihre Farbe beinahe<br />

verloren hätte. Wurde sie gerade etwa wahrgenommen?<br />

Der Mann kniete sich vor sein Kind, hob die Pusteblume<br />

in den Himmel <strong>und</strong> sagte: „Weißt du was die Pusteblume<br />

kann?“<br />

„Ich kann die Schirmchen wegpusten. Hab‘ ich schon<br />

oft gemacht.“, erwi<strong>der</strong>te das Kind trotzig,<br />

„Aber hast du auch schon mal den Pusteblumen-Zauber<br />

angewendet?“, fragte <strong>der</strong> Vater.<br />

Das Kind <strong>und</strong> auch die kleine Pusteblume wurden stutzig.<br />

„Pusteblumen-Zauber? Was soll das sein?“, fragte<br />

das Kind <strong>und</strong> vergaß bei <strong>der</strong> aufkommenden Neugier<br />

weiterhin enttäuscht zu gucken. Die Pusteblume spitzte<br />

-66-


die Ohren.<br />

„Weißt du, die geheime Superkraft <strong>der</strong> Pusteblume liegt<br />

darin, dass sie loslassen kann, um etwas Größeres zu<br />

erschaffen. Wie glaubst du, ist diese Pusteblume hierhergekommen,<br />

als einzige zwischen all den Tulpen?“<br />

Das Kind überlegte kurz <strong>und</strong> sagte entschlossen: „Sie<br />

wurde von einem Gärtner eingepflanzt. So, wie die<br />

an<strong>der</strong>en Blumen auch!“<br />

„Nicht ganz. Was hast du gerade noch einmal gesagt <strong>–</strong><br />

was kannst du mit <strong>der</strong> Pusteblume machen?“<br />

„Die Schirmchen wegpusten?“<br />

„Genau. Und es sind nicht nur Schirmchen, die umherfliegen.<br />

Du kannst ganz nah an die Pusteblume herangehen,<br />

ihr einen Wunsch verraten <strong>und</strong> diesen dann<br />

ganz kräftig in die Welt hinauspusten. Es fliegen dann<br />

nicht nur die Schirmchen los, son<strong>der</strong>n auch die Samen<br />

deines Traums. Und je<strong>der</strong> Samen kann dort, wo er<br />

landet <strong>und</strong> nährende Erde findet, deinen Traum zum<br />

Wachsen bringen. Bis dieser zu einer neuen Pusteblume<br />

erblüht, jemand diese findet, auch ihr seinen Traum<br />

anvertraut, welchen sie dann wie<strong>der</strong> in die Welt tragen<br />

kann.“<br />

„Heißt das, wir haben gerade den Traum von jemand<br />

an<strong>der</strong>em gef<strong>und</strong>en?“, fragte das Kind mit großen Augen.<br />

„Ja, wahrscheinlich sogar sehr viele davon. In dieser<br />

einen Pusteblume stecken bestimmt schon hun<strong>der</strong>te<br />

von Träumen. Und du kannst sie bestärken, indem du<br />

dir auch etwas wünschst <strong>und</strong> die Samen wegpustest.<br />

Du gibst so nicht nur deinem Wunsch, son<strong>der</strong>n auch<br />

den Wünschen von ganz vielen an<strong>der</strong>en Rückenwind.<br />

Wahrscheinlich ist das Schirmchen, das aus dieser Pusteblume<br />

gewachsen ist, ganz beson<strong>der</strong>s weit geflogen,<br />

weil sie hier ganz alleine ist. Es scheint eine beson<strong>der</strong>s<br />

-67-


Starke zu sein. Na, wie wäre es? Möchtest du dir etwas<br />

wünschen?“<br />

Die Augen des Kindes leuchteten, als es schließlich nah<br />

an die Pusteblume herantrat <strong>und</strong> seinen Wunsch in die<br />

Schirmchen hineinflüsterte. Dann holte es tief Luft <strong>und</strong><br />

pustete sie mit einem Atemzug davon. Der Vater <strong>und</strong><br />

das Kind beobachteten, wie sich die Samen langsam<br />

über dem Feld verteilten.<br />

„Weißt du mein Schatz, das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Pusteblume<br />

ist, dass sie eigentlich erst dann in ihrer wahren<br />

Schönheit blüht, wenn ihre Blüten bereits an Farbe<br />

verloren haben. Erst dann können wir ihr unsere Wünsche<br />

anvertrauen <strong>und</strong> sie wird sie in die Welt tragen.<br />

Erst dann kann sie loslassen.“ Die beiden beobachteten<br />

noch, wie <strong>der</strong> letzte Samen auf die Erde fiel <strong>und</strong> gingen<br />

dann nach Hause.<br />

Einige Zeit später blühten viele Löwenzähne auf dem<br />

Feld <strong>und</strong> zwischen den Blättern spürte man noch immer<br />

die Worte <strong>der</strong> pinken Tulpe hallen: „Du musst nichts<br />

tun, kleiner Löwenzahn. Es reicht hier zu sein <strong>und</strong> zu<br />

warten, bis die Zeit gekommen ist, um das zu tun wofür<br />

du hier bist.“<br />

De storje Aujust, Standuhr<br />

<strong>und</strong> Rennrad<br />

von Hubert Mauz<br />

Loset mol, bevor ichs vergiss.<br />

Zum Iirolle, zum warm up, fahrt de Auguscht aafang<br />

-68-


sechzger Johr vum Lachehiesli mit sim 10 Gang Rennrädli,<br />

Marke Peugeot, vu de Kalte Herberg d Uure nab,<br />

s Bregtal ussi <strong>und</strong> ueber de Weiherhof, Dieremer Saline,<br />

gi Schwenninge, „ins Schobbe nuus“. Im Rucksäckli<br />

paar greichti Brotwürscht, en Riebel Buurebrot, e Bügelflasch<br />

Feierling Bier <strong>und</strong> e Cola. S Rennrädli isch putzt,<br />

d Kette g‘oelt <strong>und</strong> d Kläebreife mit 6 bar uffbumpet.<br />

On Ersatzreife isch im khaki-graene Holzmacherrucksäckli<br />

mit dene verschwitzte, miechtelige Le<strong>der</strong>rähme.<br />

Z Schwenninge sind die Badewürtebergische Strosseradmeischterschafte<br />

über giftige 120 km. Deuteberg,<br />

Wiehlersbach, Kappel, Nie<strong>der</strong>esche, Dauchinge <strong>und</strong><br />

zruck an Deuteberg. 5 mol mond die Helde <strong>der</strong> Landstrasse<br />

im Ring rum, bis de umtriebig Rennrad verruckt<br />

Helmut Hils, de Testes vum Schwenninger Rennradclub,<br />

begeischtered d Zielglocke scheppere loot.<br />

Des Iirolle vum Lachehiesli gi Schwenninge hät de Auguscht<br />

grad so reacht warm were lau. Noch de Übersetzungskontroll,<br />

des nimmt en an<strong>der</strong>e Rennradverruckt,<br />

de Technisch Delegiert Sauser Heinz ganz gnau,<br />

no die zwei Brotwürscht <strong>und</strong> des Cola wegputzt <strong>und</strong><br />

en Schluck Bier gsoffe. De Rescht in Trinkbuddel am<br />

Rahmehalter. De Präsi Helmut Hils schickt des gross Feld<br />

mit em Schuss us em Platzpatronebischtol uff d Strecke.<br />

Die erscht R<strong>und</strong>i sind sie alli no ziemli beienand. Aber<br />

im Aastieg vu Nie<strong>der</strong>esche gi Dauchinge riisst es des<br />

gross Feld scho ghörig usenand. I de dritte R<strong>und</strong>e kurblet<br />

nu no fuenf gaedrigi Rennraedler ganz vorne mit.<br />

Natierli isch de starch Auguscht us de Uure debei. Hinter<br />

sim Windschatte kinnet die vier an<strong>der</strong>e verschlupfe<br />

<strong>und</strong> so vill Kraft <strong>und</strong> Körner spare. I de letschte R<strong>und</strong>e,<br />

z Kappel am Zwischeposchte, sinds nuu no drei. No<br />

zwei Banane im vorbeisurre vum Rennleiter Heinz Sauser<br />

uffgnomme <strong>und</strong> verdruckt <strong>und</strong> de Rescht vum Bier<br />

-69-


us de Trinkflasche gsucklet. Und denno kunnt aber de<br />

gwaltig Aatritt vum Guscht gi Dauchinge uffi. Kurz vor<br />

Dauchinge sehnet die an<strong>der</strong>e zwei, natierli Schwobe vu<br />

de Alb raa, nu no de mächtig Buckel mit em SC Urach<br />

Trikot vum Auguscht im bärige Wiegetritt devukurble.<br />

Den homer gsehne, denket die beide Verfolger <strong>und</strong><br />

gänd resigniert uff. S goht nu no um d Silbermedaille<br />

fuer die zwei abghängte. De bärestark Wäl<strong>der</strong>, de<br />

Kimmig August, <strong>der</strong> nimmt desjohr bestimmt wie<strong>der</strong> de<br />

erscht Preis <strong>und</strong> d Goldmedaille mit de Urk<strong>und</strong>e „Bawü-<br />

Moeschter“ mit hoem in Hochschwarzwald, a d` B500,<br />

is einsam, idyllisch Lachehiesli. Nu en Plattfuess o<strong>der</strong> en<br />

bissige, vergelschterete H<strong>und</strong>, gottverdelli des dät no<br />

fehle, kinnt des no verhin<strong>der</strong>e.<br />

Z Dauchinge dobe guckt er mol hin<strong>der</strong>schi. Die han i<br />

baigott ghörig abghänkt. Und wie wenns nint gsii wär,<br />

rollt er mit mit uusgstreckte Ärm <strong>und</strong> sine Bärepranke<br />

freihändig is Ziel. Dä bämberlet de Helmut Hils mit de<br />

Titanic Schiffsglocke <strong>und</strong> verkind im Lautsprecher als<br />

Sieger de neu Bawü- Moeschter:<br />

„Sieger Auguscht Kimmig, SC Urach, Badischer Radsportverband“.<br />

Dass es z Schwennige im Uhr-Eldorado e Uhr als Preis<br />

gähe word, des hond die Radrennfahrer us em ganze<br />

Ländle g‘ ahnt, o<strong>der</strong> au scho gwisst. Und je<strong>der</strong> Starter<br />

het so e Praezisionsuhr mit so eme „Big Ben“ Schlag<br />

gern mit hoem gnomme. Dass es aber e Standuhr, e<br />

Vitrieneuhr isch mit eme lange Berebemdickel, des war<br />

natierli scho nomol on druff, en Brecher. Zu zweit hond<br />

Uhremachermäschter vu de spendable Sponsorefirma<br />

des uukommod Möbel as Siegerträppli schloepfe messe,<br />

dass de Vorstand Hilse Helmut des schwer Gschier<br />

im gifitzig griensende Kimmig Guscht uff em oberschte<br />

-70-


Trepple uebergähe hät kinne.<br />

De Radkenner Helmut Hils hät gwisst, dass de Auguscht<br />

mit em Rennrädle kumme isch <strong>und</strong> hät ihm glii bei de<br />

Siegerehrung aabote <strong>und</strong> versproche, dass de Schwenninger<br />

Radverein ihm die schwer Standuhr i de näschte<br />

Woch mit eme Lieferwägeli us sim Volvo-Autohaus is<br />

Lachehiesli bringt.<br />

„He nai, waa glaubener au, selt goot baigott gar idde.<br />

Die Uhr schleet hit obbe de Big Ben Gong um zehni in<br />

de Stubbe bin mir , im Lachehiesli doobe“. D Schwenninger<br />

hond scho bleed us de Wesch guckt, wo <strong>der</strong><br />

Wäl<strong>der</strong>, desell rasend Rennradsatan Kimmig, scho<br />

wie<strong>der</strong> gwunne hät. Wa denno kunnt, haut sie no ganz<br />

us de Latsche.<br />

„Ihr bringe mir guedi, braiti Lä<strong>der</strong>rieme <strong>und</strong> binde mir<br />

des Gschirr uff de Buckel, no grait ich mit em Rennrädli<br />

ibber Eschinge, de Hammer, d Uure nuff bis an Ferndobel.<br />

Derter, im Lachehiesli Stibbli, gongt um zehni noch<br />

de Sabaradio Ziitaasag s erschtmol die gattig Schwobbe<br />

Uhr im Hoch- Badische, selt khaan ich eich saage“.<br />

Und noch <strong>der</strong>e Rähme Verzurraktion unterm Technische<br />

Delegierte Heinz Sauser, <strong>der</strong> hät gwisst wo so e Kischte<br />

drucke kinnt, isch de Buckel no e weng uuspolsteret<br />

wore mit Kabogg us de Uhrepackerei, isch de Kimmig<br />

Auguscht, de nei Bawü Stroosserad-Moeschter, de knorrig,<br />

gifitzig Rennradkaib vu de Fernhöhi, vor de verdutzte<br />

Schwenninger eweg, quitsch fidel mit de Standuhr<br />

uff em Buckel uffs Lachehiesli nuff graitet. Wa glaubeter<br />

wie do die Sunntigsfahrer im Bregtal <strong>und</strong> im Wald glotz<br />

hond ?<br />

Johre später hät e Uuremer Rennradler Gruppe emol<br />

an ere Hollandr<strong>und</strong>fahrt mitgmacht. Am Obet isch mer<br />

bei dunklem belgischem Bier, Krabbe mit Remoulade,<br />

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Gouda Käs <strong>und</strong> Jenever Schnäpsle mit de „Kan nit Verstan“<br />

Sportsfre<strong>und</strong> us dem tupfebene Tulpeland zemet<br />

ghuckt. Weil je<strong>der</strong> hollän<strong>der</strong> au guet Dietsch khaa, hond<br />

sie gfrogt, wo sie her saiet. „Wissener, mir sin Wael<strong>der</strong><br />

vum <strong>Schwarzwald</strong>“.<br />

„Oh jeh, sagt bloos, da kennen wir auch einen Rennradfre<strong>und</strong>,<br />

von dem wir oft, beson<strong>der</strong>s bei Bergr<strong>und</strong>rennen,<br />

nur das Hinterrad gesehen haben, „Minheer<br />

Aujust, de Storje Aujust“, haben wir ihn geheissen“.<br />

„He naii, jo so ebbis, des gits gar idd, selt isch ainer vun<br />

uns, de Kimmig Auguscht us de Uure, vum Lachehiesli<br />

überm Ferndobbel. Derte, wo mer mit eme wun<strong>der</strong>scheene<br />

Uusblick ins Glashitteloch, in d Wildguede, über<br />

de ganz Herrgottswinkel zum Kandel <strong>und</strong> zu de Vogese<br />

nibber sehne khaan. Do kaahnsch wid<strong>der</strong> mol sehne,<br />

wo die Wäl<strong>der</strong> überal rumkumme <strong>und</strong> angsehne sind“.<br />

Und natierli hond die Uuremer Wäl<strong>der</strong> mit de Kanitverstaan<br />

vu Holland no en mords Verzahl <strong>und</strong> en Feetz<br />

ghet beim bluemige verzehle <strong>und</strong> Sprich klopfe über de<br />

Schwenninger Standuhr Storiax vum „Storje Aujust“,<br />

vum gattige Kimmig Guscht us em legendaere, idyllische<br />

Lachehiesle.<br />

Jo, so wars<br />

Hubert Mauz , Herbscht 2022<br />

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<strong>Preisträger</strong><br />

des <strong>Kulturpreis</strong>es <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>2023</strong>:<br />

1. Preis: Carla Maria Rombach,<br />

Furtwangen<br />

1. Preis: Werner Leuthner,<br />

Villingen-Schwenningen<br />

2. Preis: Rike Richstein,<br />

Konstanz<br />

2. Preis: Gerhard Käfer,<br />

Brigachtal<br />

3. Preis: Hannah Below,<br />

Donaueschingen<br />

3. Preis: Hubert Mauz,<br />

Donaueschingen<br />

Jury<br />

des <strong>Kulturpreis</strong>es <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>2023</strong>:<br />

• Dr. Lucy Lachenmaier,<br />

Doktor in Linguistik <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong>,<br />

Referentin <strong>und</strong> Dozentin<br />

• Sabine Streck,<br />

Autorin <strong>und</strong> ehemalige Redakteurin<br />

• Christof Weiglein,<br />

Autor <strong>und</strong> Maschinenbauingenieur<br />

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