Broschüre: Kulturpreis 2023 Schwarzwald-Baar, Werke der Preisträger 2023 – Literatur und Drama
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<strong>Werke</strong> <strong>der</strong> <strong>Preisträger</strong> <strong>2023</strong><br />
<strong>Literatur</strong> <strong>und</strong> <strong>Drama</strong>
ZUM KULTURPREIS<br />
<strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong><br />
Erstmals wurde <strong>der</strong> Preis im Jahr 2000 auf Initiative<br />
des „Theaters am Turm“ vergeben. Seither wird <strong>der</strong><br />
<strong>Kulturpreis</strong> <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> jährlich durch die Sparkasse<br />
<strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>und</strong> den <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> -Kreis<br />
ausgelobt. Der Preis wird abwechselnd in den Bereichen<br />
„Bildende Kunst“, „Theater/Schauspiel/Klein kunst“,<br />
„<strong>Literatur</strong>/<strong>Drama</strong>“ sowie „Musik/Gesang“ aus geschrieben.<br />
Der <strong>Kulturpreis</strong> wendet sich ausdrücklich an den künstlerischen<br />
Nachwuchs aus dem Kreisgebiet.<br />
-3-
INHALT<br />
Sieben Tage Warten<br />
von Carla Maria Rombach<br />
„Was wiegt denn eine Seele,<br />
Herr Rychel?“<br />
von Werner Leuthner<br />
Die Farben des Sees<br />
von Rike Richstein<br />
Ich würde es wie<strong>der</strong> tun <strong>–</strong><br />
eine Idee für den Frieden<br />
von Gerhard Käfer<br />
Pusteblumen-Zauber<br />
von Hannah Below<br />
De storje Aujust, Standuhr<br />
<strong>und</strong> Rennrad<br />
von Hubert Mauz<br />
-5-<br />
-18-<br />
-28-<br />
-35-<br />
-64-<br />
-68-<br />
-4-
Sieben Tage Warten<br />
von Carla Maria Rombach<br />
I. Erster Tag<br />
Wenn es stimmt, dass man nur dann wahrhaft über<br />
eine Sache schreiben kann, wenn man bis zum Hals in<br />
<strong>der</strong> Scheiße steckt, wenn man sich tief hinein verstrickt<br />
hat in eine Sache, dann nehme ich meine Situation als<br />
Anlass dazu, mich in dieser Tätigkeit, dem Schreiben,<br />
zu üben anstatt mich einer hoffnungslosen Lähmung<br />
hinzugeben. Doch keineswegs handelt es sich hierbei<br />
um einen Selbstzweck. Das Schreiben <strong>und</strong> auch das<br />
gute Schreiben, das authentische Schreiben ist mir im<br />
Gr<strong>und</strong>e genommen völlig unwichtig. Ich hätte genauso<br />
gut eine an<strong>der</strong>e Tätigkeit wählen können. Wichtig ist<br />
nur meine Wahrnehmung von Zeit zu manipulieren.<br />
Das Schreiben soll sie unbemerkter an mir vorbei fließen<br />
lassen. Dies <strong>und</strong> nur dies ist wichtig. Das Schreiben<br />
habe ich als ein geeignetes Mittel gewählt. So handelt<br />
es sich bei diesen hingeworfenen Notizen um einen<br />
Echtzeitbericht. Ich konserviere die Schärfe <strong>der</strong> Eindrücke.<br />
Im besten Fall werden diese Notizen einmal<br />
als Warnung <strong>und</strong> nur als Warnung gelesen werden.<br />
Ich schreibe im Hier <strong>und</strong> Jetzt <strong>und</strong> mittendrin in dieser<br />
verdammten Stadt, Marseille.<br />
II.<br />
Zweiter Tag (Auszüge)<br />
Man hat mir gesagt, man hätte nichts. Man hat mir gesagt,<br />
man wäre ges<strong>und</strong>. Man hat mir gesagt, man hätte<br />
einen Test gemacht. Die Zwei haben das zu mir gesagt<br />
<strong>und</strong> ich habe geantwortet, dass ich Angst habe. Beide<br />
-5-
haben in <strong>der</strong> fremden Sprache gesprochen. Die Kommunikation<br />
in je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sprache, ausgenommen<br />
<strong>der</strong> Eigenen, birgt so viel Raum für Missverständnisse,<br />
für eigene Interpretationen <strong>und</strong> für Egoismus. Ich lag<br />
nackt vor ihnen, erst vor dem einen <strong>und</strong> später vor dem<br />
an<strong>der</strong>en. Nur <strong>der</strong> Raum hat gewechselt. Meine Worte<br />
wurden von beiden überhört. Vielleicht war es so, weil<br />
ich nicht in meiner Sprache gesprochen habe. Ich habe<br />
die Augen geschlossen <strong>und</strong> wusste bereits, dass es<br />
lange Wochen werden.<br />
Wenn das Virus im Körper ist, dann hat es sich bereits<br />
jetzt so vermehrt, dass die Diagnose sicher ist. Warten<br />
muss man, bis man es nachweisen kann. Meine Angst<br />
ist diffus. Es ist die Angst vor einer bloßen Möglichkeit.<br />
Es ist die Angst enttäuscht zu haben, f<strong>und</strong>amental <strong>und</strong><br />
unwi<strong>der</strong>ruflich enttäuscht zu haben, die An<strong>der</strong>en <strong>und</strong><br />
mich. Ich habe gehört, die Wahrscheinlichkeit bei ungeschütztem<br />
Verkehr sei verschwindend gering. Sie ist für<br />
mich wie ein winziger Punkt am Horizont. [...]<br />
Der Himmel ist strahlend blau am Nachmittag. Himmel<br />
<strong>und</strong> Meer berühren sich ganz hinten am Horizont. Mein<br />
Auge reicht kaum hin. Am Strand ist es warm, die Farben<br />
sind klar <strong>und</strong> um mich ist nur die fremde Sprache.<br />
Mir geht die Frage durch den Kopf, ob es auch in meiner<br />
Sprache passiert wäre. Sie steht mir quer im Kopf.<br />
Das Virus kann Flecken verursachen. Auch die Sonne<br />
kann das. Nach dem Strand gehe ich nach Hause. Alleine<br />
stehe ich im Licht <strong>und</strong> unbeweglich ist mein Bild im<br />
Spiegel. Die roten Flecken könnten entwe<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Sonne o<strong>der</strong> vom Virus o<strong>der</strong> von beiden sein. Hautausschlag<br />
taucht etwa zwei bis vier Wochen nach einer In-<br />
-6-
fektion auf. Somit muss ich nur noch auf Fieber, Müdigkeit<br />
o<strong>der</strong> Durchfall warten. Manchmal kommt auch alles<br />
zusammen, aber manchmal auch nicht. In meinem Kopf<br />
habe ich eine Liste mit allen Symptomen. Da stehen<br />
sie in großen, weißen Buchstaben vor einem dunklen<br />
Hintergr<strong>und</strong>. Geordnet sind sie nach ihren Wahrscheinlichkeiten.<br />
Gut ist alles zu lesen. Und da sehe ich mich<br />
in meinem eigenen Kopf vor ihnen stehen, mit großen<br />
Augen <strong>und</strong> staunend wie ein Kind vor einer selbst gemachten<br />
Sauerei. [...]<br />
Ich laufe verfahren durch die Stadt. Die hellen Häuser<br />
<strong>und</strong> die bunten Fassaden ragen über mir in die Höhe.<br />
Aus den Fenstern lachen die Leute. Aber mich geht<br />
es schon gar nichts mehr an, die Häuser <strong>und</strong> ihre Bewohner,<br />
ihre Gespräche <strong>und</strong> ihr Lachen. Wie ein ganz<br />
kleiner Punkt gehe ich nach Hause. Ein kleiner Punkt<br />
schwebt durch ein Straßenmeer. [...]<br />
Wenn ich den Kopf beim Schreiben in meinem Zimmer<br />
zum Fenster drehe, dann sehe ich ins Restaurant gegenüber.<br />
Er arbeitet. Wer hat wen angesteckt? Er mich?<br />
O<strong>der</strong> ich ihn? Es könnte beides sein. Vielleicht war die<br />
Menge des Virus nicht ausreichend in <strong>der</strong> Nacht o<strong>der</strong> er<br />
hat das Virus gar nicht o<strong>der</strong> ich habe es nicht. Er hat mir<br />
gesagt, er hätte einen Test gemacht. In meiner Sprache<br />
hätte ich vielleicht nachgefragt, aber nur vielleicht.<br />
Ich habe Angst. Nur das habe ich gesagt. Das ist alles.<br />
Dann ist es passiert. Wir haben erst danach wie<strong>der</strong><br />
miteinan<strong>der</strong> gesprochen. Er hat gesprochen <strong>und</strong> ich<br />
habe ihn angeschaut. Manchmal, im Leben, da vergeht<br />
einem das Sprechen.<br />
-7-
III.<br />
Dritter Tag (Auszüge)<br />
Ein Fre<strong>und</strong> hat mir gesagt, man werde unter vor sich<br />
hin starrenden Leuten sitzen. Er konnte über meine<br />
Geschichte lachen weil seine eigene Geschichte gut<br />
ausgegangen war. Und vielleicht auch weil er mehr als<br />
zehn Jahre älter ist als ich <strong>und</strong> seine Geschichte schon<br />
mehr als zehn Jahre zurück liegt.<br />
In Marseille gibt es genau zwei, explizit darauf spezialisierte<br />
Stellen um sich testen zu lassen. Man wartet<br />
über eine Woche auf einen Termin zum Blut abnehmen<br />
<strong>und</strong> dann eine weitere Woche bis sie einem das Ergebnis<br />
mitteilen. Ich bin zu einer <strong>der</strong> Stellen gelaufen.<br />
Sie sagten mir, sie seien völlig überlastet. Man könnte<br />
sagen, sich testen zu lassen ist zur Mode geworden in<br />
diesem Land. Man könnte auch sagen, es herrscht ein<br />
gewisser Mangel an Sexualmoral in dieser Stadt. O<strong>der</strong><br />
man könnte auch sagen, Marseille ist eine gottverhurte<br />
Stadt. Letztendlich saß ich wirklich unter Leuten, die<br />
unbestimmt vor sich hin starrten. Dann waren alle ganz<br />
nett zu mir. Die Frau war nett, die mir Fragen gestellt<br />
hat, <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> ältere Mann in seinem weißen Arztkittel<br />
<strong>und</strong> mit seiner Nadel. Ganz rot ist das Blut in<br />
den kleinen Behälter geflossen. Wenn man sich testen<br />
lassen geht, dann bekommt man eine Nummer. Hier<br />
gibt es keine Fragen nach Versicherungen. Hier endet<br />
die Bürokratie. So eine Nummer besteht aus Zahlen<br />
<strong>und</strong> aus Buchstaben. So eine Nummer besteht aus acht<br />
Ziffern. Diese Nummer dient meiner Anonymität. Das<br />
haben sie gesagt. [...]<br />
Die roten Flecken waren am Morgen verschw<strong>und</strong>en.<br />
Ich setze mich zur gleichen St<strong>und</strong>e an den gleichen<br />
-8-
Platz am Strand. Wenn die Flecken heute wie<strong>der</strong>kommen,<br />
klein <strong>und</strong> r<strong>und</strong> <strong>und</strong> auf <strong>der</strong> Brust, dann war <strong>der</strong> Hautausschlag<br />
von gestern vielleicht auch einfach nur eine<br />
Sonnenallergie. Und wenn sie nicht kommen, dann<br />
heißt das auch nichts. [...]<br />
Dieser Test, dessen Ergebnis ich in fünf Tagen erhalten<br />
werde, macht einen Strich unter mein Leben. Man muss<br />
einen Monat nach dem letzten Kontakt warten. Dann<br />
erst ist <strong>der</strong> Test sicher. Dieser Test löscht alle Treffen<br />
vor Neujahr. Dann muss ich noch einmal zwei Wochen<br />
warten <strong>und</strong> einen neuen Test machen, um alle Kontakte<br />
vom Januar auszuschließen. Und dann muss ich<br />
noch einmal sieben Tage warten. Man könnte sagen,<br />
ich habe mich in ein Schlamassel begeben. Man könnte<br />
auch sagen, ich sei selber Schuld. Man könnte auch<br />
sagen, es ist menschlich sich hinzugeben in Momenten<br />
<strong>der</strong> Intimität. Man könnte auch sagen, es war kein einvernehmlicher<br />
Geschlechtsverkehr. [...]<br />
Meine Fre<strong>und</strong>in hat mir gesagt, ich werde lernen damit<br />
zu leben. Immer wie<strong>der</strong> hat sie das bei ihrem Besuch<br />
gesagt. Sie hat in meinem Bett geschlafen <strong>und</strong> länger<br />
ist sie geblieben <strong>und</strong> am Ende ihres Besuchs ist sie in<br />
den Zug gestiegen. Ich bin am Bahnsteig stehen geblieben<br />
<strong>und</strong> zum Testzentrum gelaufen. Das war vor drei<br />
Tagen. Dann habe ich mit dem Warten <strong>und</strong> mit dem<br />
Schreiben angefangen. [...]<br />
Unter den fremden Leuten im Warteraum sitzend,<br />
musste ich an eines <strong>der</strong> letzten Treffen denken. Bei<br />
diesem Treffen hat mein Körper angefangen zu bluten.<br />
Ich solle einen Test machen, hat er sofort gesagt. Und<br />
er hat auch gesagt, dass er selber einen Test machen<br />
-9-
wird. Das hat er gleich danach gesagt. Aber ich habe<br />
nicht gefragt, warum er noch einmal einen Test machen<br />
möchte. Er hat doch schon Einen gemacht. Jedenfalls<br />
hatte er das bei einem <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Treffen einmal gesagt.<br />
Aber ich habe schon oft gedacht, dass das mit<br />
dem Sagen <strong>und</strong> das mit dem Machen zwei völlig verschiedene<br />
Dinge sind. Vielleicht hat ihm mein Blut an<br />
seinem<br />
Bauch Angst gemacht. Auch mir hat es Angst gemacht<br />
in dieser Nacht <strong>und</strong> auch danach.<br />
IV.<br />
Vierter Tag (Auszüge)<br />
Zum Strand bin ich gegangen. Es ist Januar aber die<br />
Leute baden bereits. Wenn man sagt, dass das Leben<br />
weitergehen wird, dann meint man vielleicht das: Das<br />
Meer bleibt, <strong>der</strong> Strand bleibt <strong>und</strong> die Sonne bleibt.<br />
Und we<strong>der</strong> das Meer, noch <strong>der</strong> Strand, noch die Sonne<br />
urteilt. Es gibt Orte an denen man sein kann, mit allen<br />
seinen Fehlern. Es gibt Orte an denen es einem leichter<br />
fällt zu verzeihen <strong>und</strong> zu vergessen. [...]<br />
Neben den Bil<strong>der</strong>n von meiner eigenen Zukunft, ängstigen<br />
mich die Gespräche mit den beiden <strong>und</strong> das Aufdecken<br />
<strong>der</strong> Lügen, ihrer Lügen <strong>und</strong> meiner Lügen. Ich<br />
habe den beiden den jeweils an<strong>der</strong>en verschwiegen.<br />
Es gibt Geschichten, die nur von Schuldigen gespielt<br />
werden. [...]<br />
Meine Fre<strong>und</strong>in hat mir gesagt, ich hätte mir da aber<br />
eine ganz wilde Theorie zusammen gebastelt. Angenommen<br />
zwei Leute sind ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> tragen kein Virus<br />
in sich <strong>und</strong> man nehme eine dritte, ges<strong>und</strong>e Person<br />
-10-
dazu, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
eine <strong>der</strong> Personen anschließend positiv ist? Beinahe<br />
lachen muss ich. Aber ich kann mein Blut an seinem<br />
Bauch nicht vergessen, das ihn sofort hat aufhören<br />
lassen <strong>und</strong> unter die Dusche eilen <strong>und</strong> mich liegen lassen,<br />
blutend, auf seinem Bett. Ich kann es nicht vergessen,<br />
wie er auf seinen Bauch gestarrt hat. Ich sehe mich<br />
nackt unter ihm liegen <strong>und</strong> sehe ihn aufspringen. Immer<br />
wie<strong>der</strong> sehe ich sein Aufspringen. [...]<br />
Im Testzentrum haben sie mir keinen Rat gegeben wie<br />
umzugehen mit den Tagen. Erklärt haben sie mir, dass<br />
ich jetzt sieben Tage zu warten habe. Keine Zauberlösung<br />
gäbe es <strong>und</strong> überlastet seien sie. Es ist sehr<br />
einfach, es gibt keine Heilung. [...]<br />
Riesige Augen <strong>und</strong> einen ganz schmalen M<strong>und</strong> hätte<br />
ich gehabt. Das hat mir meine Fre<strong>und</strong>in später gesagt.<br />
Damals, am Bahnhof, als ich sie abgeholt habe, hätte<br />
ich so ausgesehen. Irgendwann später hat sie es mir<br />
einmal vorgemacht. Ganz groß hat sie die Augen gemacht<br />
<strong>und</strong> ganz schmal die Lippen. So, hat sie gesagt.<br />
Noch am Bahnhof ist die Geschichte mit dem Blut, das<br />
ganze Schlamassel aus mir herausgeplatzt. Sie hatte<br />
noch ihren Koffer in <strong>der</strong> Hand gehabt <strong>und</strong> um uns waren<br />
all die Kommenden, Wartenden <strong>und</strong> Hastenden als ich<br />
angefangen habe zu erzählen. [...]<br />
In <strong>der</strong> letzten Nacht mit ihm ist alles verdammt schnell<br />
gegangen. Als das Restaurant zu war, bin ich zu ihm<br />
gelaufen, ich wurde ich in den Arm genommen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Wein war noch nicht ausgetrunken, da hatten wir bereits<br />
einmal miteinan<strong>der</strong> geschlafen. Dann ist er in sein<br />
Bad gegangen, nackt <strong>und</strong> sich waschend <strong>und</strong> die Türe<br />
-11-
offen stehen lassend hat er mich gefragt, ob ich eigentlich<br />
mit meinen an<strong>der</strong>en Fre<strong>und</strong>en genauso schnell bei<br />
<strong>der</strong> Sache sei. Ich wusste nichts zu antworten in <strong>der</strong><br />
fremden Sprache. Später am Abend haben wir noch<br />
einmal miteinan<strong>der</strong> geschlafen. Da habe ich dann angefangen<br />
zu bluten. Meine Fre<strong>und</strong>in ist am Nachmittag<br />
des nächsten Tages gekommen. Irgendwann später<br />
meinte sie, vielleicht wäre es besser gewesen einen Tag<br />
früher zu kommen.<br />
V. Vierter Tag <strong>–</strong> Nachts (Auszüge)<br />
Durch den M<strong>und</strong> habe ich geatmet <strong>und</strong> ganz laut. Es<br />
war ganz still in meinem dunklen Zimmer. Nur mein<br />
lauter Atem war da <strong>und</strong> ich war ganz klein in meinem<br />
Bett. Ich war wie <strong>der</strong> kleine Punkt am Horizont. [...]<br />
VI.<br />
Fünfter Tag (Auszüge)<br />
Zum Labor haben sie die Proben geschickt. Ganz selten<br />
nur werden sie verwechselt. Wahrscheinlich, denke ich<br />
mir, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verwechslung<br />
vorliegt genauso wahrscheinlich wie sich mit einem Virus<br />
bei Jemandem zu infizieren, <strong>der</strong> es sicher nicht hat. Im<br />
letzten Fall muss dieser Jemand schon irgendwie etwas<br />
verwechselt haben mit dem Testen, den Frauen, <strong>der</strong><br />
Reihenfolge <strong>und</strong> dem Zeitfenster, das man dem Virus<br />
geben muss, damit es überhaupt nachgewiesen werden<br />
kann. Ich bin es immer wie<strong>der</strong> durchgegangen, habe<br />
die Ereignisse in meinem Kopf immer wie<strong>der</strong> aufgereiht<br />
wie an einem Zahlenstrahl. Wenn ich es vom Ersten<br />
habe, dann könnte ich den Zweiten angesteckt haben.<br />
Wenn ich es dagegen vom Zweiten habe, dann könnte<br />
ich den Ersten angesteckt haben. Es ist genau diese<br />
-12-
Überlegung, die mir so große Angst macht. Es ist die<br />
Angst ihnen den Zahlenstrahl in meinem Kopf zu erklären.<br />
[...]<br />
Die Mama hat gesagt, sie würde es vielleicht sogar<br />
noch mehr angehen als mich. Sie war am Telefon, an<br />
einem <strong>der</strong> Nachmittage am Strand <strong>und</strong> ich war am<br />
Weinen. [...]<br />
Ich schiebe die Wut auf die An<strong>der</strong>en, auf mich <strong>und</strong> wie<strong>der</strong><br />
zurück. Ich gehe den Zahlenstrahl auf <strong>und</strong> wie<strong>der</strong><br />
ab. Die Sache dreht sich im Kreis. Die Tage biegen sich<br />
zu einem Bogen. Je<strong>der</strong> gleicht dem An<strong>der</strong>en, bedeckt<br />
von Sonnenschein. [...]<br />
Ich denke, er wird nicht mehr viel über die ganze Sache<br />
nachgedacht haben, denn später, als meine Periode zu<br />
Ende war, hat er mich gefragt, ob wir uns wie<strong>der</strong>sehen<br />
wollen. Und als ich meinte, dass meine Fre<strong>und</strong>in da sei,<br />
da hat er diese Sache zu dritt in den Raum gestellt, einfach<br />
so. Da war dann auch von keinem Test mehr die<br />
Rede. Meine Fre<strong>und</strong>in hat nur gelacht. Sie hat häufig<br />
gelacht während ihres Besuchs. Aber am Ende meinte<br />
sie, sie hätte sich den Besuch doch etwas an<strong>der</strong>s vorgestellt.<br />
Marseille sei ja verrückt, aber so. Und einmal<br />
hat sie gesagt, sie würde keine Späße machen wenn sie<br />
irgendeine Gefahr bei <strong>der</strong> ganzen Angelegenheit sehen<br />
würde. Und erst nachdem ich meine Geschichte zum<br />
dritten Mal erzählt habe, da meinte sie, hätte sie das<br />
Problem überhaupt erst verstanden. Meine ganz wilde<br />
Theorie hat sie die Sache dann genannt <strong>und</strong> gelacht.<br />
-13-
VII.<br />
Sechster Tag (Auszüge)<br />
Sie haben mir die Ergebnisse gleich am Morgen geschickt,<br />
einen Tag früher als erwartet <strong>und</strong> sechs Tage<br />
nach <strong>der</strong> Blutentnahme. Ich habe die Wörter nachgeschlagen.<br />
Ich bin sieben<strong>und</strong>zwanzig Jahre jung,<br />
getestet am ein<strong>und</strong>zwanzigsten Januar zweitausendzwei<strong>und</strong>zwanzig<br />
im Zentrum Saint Adrien in Marseille.<br />
Nummer SA220615 weist keine abnormalen Anomalien<br />
auf.<br />
Es ist wie bei einem Strategiespiel. Nun kann ich alle<br />
Ereignisse von vor vier Wochen vergessen. Ich hatte<br />
vor etwas mehr als zwei Wochen den Einen gesehen<br />
<strong>und</strong> wenig später dann den An<strong>der</strong>en. Mit dem Ersten<br />
konnte ich sprechen, denn mit dem ersten Ergebnis war<br />
klar, dass ich ihn nicht angesteckt habe. Ich habe ihm<br />
die Sache kurz umrissen, vage <strong>und</strong> unbestimmt. Ob er<br />
denn sicher wäre, dass er nichts hätte, habe ich mich<br />
getraut zu fragen <strong>und</strong> gemeint, wir haben darüber doch<br />
nur einmal kurz gesprochen, damals, er auf Drogen<br />
<strong>und</strong> ich noch völlig betrunken. Er denke, das an<strong>der</strong>e<br />
Mädchen sei ges<strong>und</strong>. Es muss irgendwann dazwischen<br />
passiert sein, zwischen uns, das mit dem an<strong>der</strong>en Mädchen.<br />
Einen Test hätte sie aber auch gemacht. Ganz<br />
sicher könne er natürlich nicht sein, aber er hoffe das<br />
Beste. Danke für das Gespräch, denke ich mir.<br />
VIII.<br />
Siebter Tag (Auszüge)<br />
Über die Angst hat sich ein Schleier gelegt. Die Gedanken<br />
<strong>der</strong> letzten Tage verblassen. Aber alles ist nur aufgeschoben.<br />
[...]<br />
Und ich frage mich, wie oft ich noch zum Strand gehen<br />
-14-
muss bis zum zweiten Test <strong>und</strong> wie oft ich noch kommen<br />
muss um von <strong>der</strong> Sonne <strong>und</strong> den Wellen, vom Wind<br />
<strong>und</strong> vom Sand die Gleichgültigkeit zu lernen.<br />
IX.<br />
Nach fast einer weiteren Woche (Auszüge)<br />
Gestern kam alles wie<strong>der</strong> hoch, die Gesprächsfetzen <strong>der</strong><br />
Nächte, das Gefühl des Versagens <strong>und</strong> natürlich auch<br />
das Bewusstsein, dass noch immer keine Klarheit besteht.<br />
Bis zum zweiten Test sind es noch fast zehn Tage.<br />
Es ist ein Geduldspiel. Es ist ein langatmiger Kampf<br />
gegen das eigene Verrücktwerden mit unabsehbaren<br />
Langzeitfolgen. [...]<br />
Der Wind weht mir Sand auf meine Jacke, gebückt sitze<br />
ich an dem alten Zaun. Fast leer ist <strong>der</strong> Strand heute.<br />
Nur einige Arbeitslose <strong>und</strong> Verwirrte sind hier. [...]<br />
Das neue Mädchen, das in mein Zimmer ziehen wird,<br />
ist bereits da. Das neue Mädchen hat von allen Restaurants<br />
in dieser Stadt ausgerechnet das Restaurant<br />
in meiner Straße ausgesucht. Heulen hätte ich können<br />
als sie mich heute morgen fragte, ob ich die Leute aus<br />
dem Restaurant kennen würde. Kennen wäre zu viel<br />
gesagt, dachte ich mir <strong>und</strong> im selben Moment war sein<br />
Blick, wie er auf seinen Bauch starrt, <strong>der</strong> voll <strong>und</strong> ganz<br />
beschmiert ist von meinem dunklen Blut, wie<strong>der</strong> vor<br />
meinen Augen. Und als das junge Mädchen mich fragte,<br />
ob ich sie, die Leute im Restaurant, kennen würde, da<br />
habe ich mein ganzes Blut für mich behalten <strong>und</strong> habe<br />
nur zu ihr gemeint, wenn du schön nett bist, dann bekommst<br />
du die Stelle. Sie sucht Arbeit, das neue, junge<br />
Mädchen mit den langen, blonden Haaren. [...]<br />
-15-
X. Noch später (Auszüge)<br />
Nachts überfallen mich die Erinnerungen in Bil<strong>der</strong>n.<br />
Und ich bin so dünn geworden weil man mich so wenig<br />
als Mensch behandelt hat. Objekte können keine Angst<br />
haben, zum Spaß haben sind sie da. Meine gesamte<br />
Existenz hat sich auf zwei Blutproben reduziert. Und<br />
die achtstellige Nummer dient meiner Anonymität. Das<br />
hat man mir gesagt. Und ich denke mir, in <strong>der</strong> fremden<br />
Sprache miteinan<strong>der</strong> schlafen hat auch viel mit Anonymität<br />
zu tun. […]<br />
XI.<br />
Noch etwas später (Auszüge)<br />
Ich zwinge mich zum Aufstehen. Am Strand habe ich<br />
mein Gesicht <strong>der</strong> Sonne entgegen gehalten. Ich habe<br />
die Augen geschlossen <strong>und</strong> war ganz ruhig. Ich habe<br />
die kalte Panik von heute morgen mit Wärme zugedeckt.<br />
Sie war da, heute, am Morgen, beim Aufwachen.<br />
Sie hat mich ganz flach gedrückt. Ich konnte kaum<br />
atmen. Ganz leise hat es da in meinem Kopf von Mut<br />
gesprochen. Und dann bin ich aufgestanden <strong>und</strong> habe<br />
die Sonne <strong>und</strong> das Meer gesucht. Und da saß ich dann,<br />
habe geweint <strong>und</strong> irgendwann hat nur noch das Meer<br />
gesprochen. Und dann, irgendwann hat es auch da in<br />
meinem Kopf von Mut gesprochen. Ganz leise saß ich<br />
da an dem verrosteten Zaun. Und hätte mich ein Frem<strong>der</strong><br />
in den Arm genommen, ich hätte es zugelassen.<br />
XII.<br />
Kurz vor dem zweiten Testergebnis (Auszüge)<br />
Der Durchfall <strong>und</strong> das Fieber kamen heute in <strong>der</strong> Nacht<br />
mit den Halsschmerzen. Es muss schon ein Zufall sein.<br />
Dann weint man einfach nur noch <strong>und</strong> zittert am ganzen<br />
-16-
Leib. Man hat das Gefühl man könnte sich selbst umbringen<br />
<strong>und</strong> alle an<strong>der</strong>en. Und die Zeit vergeht nicht.<br />
Man traut sich nicht zu atmen <strong>und</strong> nicht zu gehen. Die<br />
Symptome haben genau vier Wochen auf sich warten<br />
lassen, so wie es <strong>der</strong> Arzt gesagt hat. Ich habe die<br />
Mama in <strong>der</strong> Nacht angerufen <strong>und</strong> sie weinte mit mir<br />
<strong>und</strong> dann meinte sie, mir gehöre eine geschlagen. Sie<br />
klang so weit weg. [...]<br />
Am Mittag ist die Zunge pelzig geworden. Ganz weiß<br />
liegt sie nun friedlich bedeckt in meinem M<strong>und</strong>raum.<br />
Abbeißen will man sie, so fremd liegt sie da. Hefepilze<br />
werden friedlich ihren M<strong>und</strong>raum besiedeln. Genauso<br />
stand es irgendwo geschrieben. Mit friedlich hat das<br />
Alles nichts zu tun.<br />
Ich finde kaum die Kraft mir mein Ergebnis geben zu<br />
lassen. Dann schwimmt alles an einem vorbei, die Gesichter,<br />
die Straßen <strong>und</strong> die Sonne dazwischen. Es ist<br />
nur noch eine Minute bis ich mein Ergebnis bekomme.<br />
Dann steht ein Lachen im Raum. […]<br />
XIII.<br />
Und dann, danach (Auszüge)<br />
Danach dann, da ist es ganz still. Da ist die Zeit kein<br />
Feind mehr <strong>und</strong> auch das Fieber nicht. Da ist niemand<br />
mehr Feind. Da ist es dann ganz still in einem drinnen<br />
<strong>und</strong> auch um einen herum. Das ist eine Stille, die lässt<br />
sich mit gar nichts mehr vergleichen. Die Stille verschluckt<br />
jede Beschreibung. Da trägt einem die Stille<br />
<strong>und</strong> überall ist nur noch Stille. [...]<br />
-17-
„Was wiegt denn eine Seele,<br />
Herr Rychel?“<br />
von Werner Leuthner<br />
Bernd Rychel hatte als Lehrer hier im Gymnasium die<br />
Fächer „Deutsch“ <strong>und</strong> „Ethik“ unterrichtet <strong>und</strong> war nun<br />
schon fünf Jahre im Ruhestand. Seine Lieblingslektüre<br />
in allen Zeitungen, die er in die Finger bekam, waren<br />
die Todesanzeigen. Diese studierte er hingebungsvoll.<br />
Und mit einer ihm selbst nicht ganz geheueren Genugtuung.<br />
Irgendwann kam ihm die Idee, als Trauerredner zu<br />
wirken. Und so dem Sterben <strong>und</strong> dem Tod näher zu<br />
kommen, nicht nur vermittelt, auf Distanz, durch die<br />
Todesanzeigen. Er las entsprechende Berufsbil<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
bildete sich autodidaktisch fort. Er hatte schon eine<br />
breite Basis. Und er konnte zuhören <strong>und</strong> emphatisch<br />
sein. Seinen ersten Einsatz hatte er bei <strong>der</strong> Trauerfeier<br />
für einen ehemaligen Kollegen. Nachdem dieser Auftritt<br />
erfolgreich ablief, war er sich sicher, dass dies das<br />
richtige Betätigungsfeld für ihn im Ruhestand war.<br />
Allerdings musste er sich mit seinen persönlichen Ansichten<br />
sehr zurückhalten.<br />
Für Bernd Rychel waren die Menschen unbelehrbar;<br />
Kriegsfolgen hatten sie nie davon abgehalten, weitere<br />
Kriege zu führen. Inzwischen mit mo<strong>der</strong>nster, effizienter<br />
Technologie - doch dahinter die alten archaischen Muster.<br />
Und die Ausplün<strong>der</strong>ung des Planeten schritt ungehin<strong>der</strong>t<br />
voran. Für den Planet „Erde“ war die Menschheit<br />
sicher wie eine schlimme Krätze. Deshalb musste je<strong>der</strong><br />
-18-
Todesfall dem Planeten ein Quentchen Erleichterung<br />
bringen. Doch die Weltbevölkerung wuchs stetig weiter<br />
<strong>und</strong> damit die Belastung für diese Welt.<br />
Die Hinterbliebenen hatten sich auch das Paul-Gerhard-<br />
Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“ gewünscht. Beim Spazierengehen<br />
summte er die erste Strophe vor sich hin:<br />
„Wir sind nur Gast auf Erden,<br />
Und wan<strong>der</strong>n ohne Ruh,<br />
Mit mancherlei Beschwerden,<br />
Der ewgen Heimat zu!“<br />
Ihm gefiel dieses Lied auch, doch an zwei Begriffen<br />
störte er sich, <strong>und</strong> zwar immer wie<strong>der</strong>, an „Gast“ <strong>und</strong><br />
an „Heimat“!<br />
In seiner Vorstellung bedeutete „Gast“, dass man eingeladen<br />
wurde. Dass man folglich auch die Möglichkeit<br />
gehabt hätte, die Einladung auszuschlagen. Doch<br />
niemand ist je gefragt worden. Niemand konnte gefragt<br />
werden. Ungefragt ist jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> zu Welt gekommen.<br />
Wer hätte auch antworten sollen? Vor <strong>der</strong> Befruchtung<br />
gab es nichts. Und <strong>der</strong> Zellhaufen danach kann sich auch<br />
nicht äußern. Doch dann ist es bereits zu spät. Bis man<br />
auf die hypothetische Frage „Wolltest du denn auf die<br />
Welt kommen?“ antworten kann, muss man in seiner<br />
persönlichen Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten<br />
sein. Später würde die Frage dann vielleicht lauten:<br />
„Willst du auf <strong>der</strong> Welt sein o<strong>der</strong> bleiben?“.<br />
Sollte man nicht die erste Zeile in diesem Liedtext umformulieren;<br />
wie wäre es mit:<br />
„Vorübergehend sind wir auf Erden“<br />
Das sind zwei Silben mehr als beim Original. O<strong>der</strong>:<br />
-19-
„Begrenzte Zeit sind wir auf Erden“<br />
Auch nicht besser.<br />
Statt „Gast“ das Wort „kurz“ zu nehmen, schien ihm zu<br />
dürftig. Dann wollte er es doch bei <strong>der</strong> alten Form belassen.<br />
Der Begriff „Heimat“ war für Rychel zuerst einmal ein<br />
Ort o<strong>der</strong> eine Gegend, zu dem man eine emotionale<br />
Bindung hat. Entwe<strong>der</strong> aus eigener Erfahrung, weil<br />
man dort aufgewachsen ist o<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung<br />
seiner Eltern o<strong>der</strong> Großeltern, wie etwa bei den Heimatvertrieben.<br />
Aber von <strong>der</strong> „ewgen Heimat“ konnte ja niemand berichten,<br />
sie ist ein reiner Sehnsuchtsort. Ist man von<br />
dort aufgebrochen bei <strong>der</strong> Geburt? Niemand hat eine<br />
Erinnerung. Niemand kann eine Erinnerung haben!<br />
Sie ist <strong>der</strong> Ort, in dem es im Gegensatz zum oft beschriebenen<br />
„Jammertal“, <strong>der</strong> Erde, eben keine Beschwernisse,<br />
Krankheiten, Not <strong>und</strong> Bedrängnis mehr<br />
gibt. Also eigentlich das Paradies.<br />
Doch da gibt es noch eine Hürde für die Gläubigen<br />
zu überwinden, das Fegefeuer. Rychel grinste in sich<br />
hinein, als er darüber nachdachte. Er war froh, nicht<br />
kirchengläubig zu sein. Er würde einmal diesen Umweg<br />
nicht nehmen müssen.<br />
Bei den Gesprächen mit den Hinterbliebenen musste<br />
er darauf achten, keine religiösen Gefühle zu verletzen.<br />
Doch in <strong>der</strong> Regel kamen zu ihm, dem „Freien Trauerredner“,<br />
überwiegend Leute mit nur noch geringer o<strong>der</strong><br />
gar keiner Kirchenbindung mehr.<br />
Ein Begriff schien Rychel alle Verän<strong>der</strong>ungen überdauert<br />
zu haben, <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Seele.<br />
-20-
Aber auch sein Lieblingsphilosoph Arthur Schopenhauer<br />
brachte ihn hier nicht weiter. Dieser schrieb, „Die sogenannte<br />
Seele ist die Verbindung des Willens mit dem<br />
Intellekt“.<br />
Dies aufzugreifen, würde alles verkomplizieren <strong>und</strong><br />
seiner Absicht zuwi<strong>der</strong>laufen, auf ein allgemein verbreitetes<br />
Verständnis von Seele zu bauen.<br />
Auch die mo<strong>der</strong>ne Hirnforschung war für ihn nicht hilfreich,<br />
taucht doch dort <strong>der</strong> Begriff „Seele“ kaum mehr<br />
auf. Forschungsgegenstand ist jetzt „Geist“ o<strong>der</strong> „Gehirn“.<br />
Ihm, Rychel, war eine reduktionistische Sicht, dass alles<br />
„Geistige“ auf chemisch-elektrische Prozesse zurückzuführen<br />
sei, ja selbst zu nüchtern <strong>und</strong> musste erst recht<br />
für seine K<strong>und</strong>schaft enttäuschend sein.<br />
Auch aus Sicht <strong>der</strong> Hinterbliebenen kam es weniger auf<br />
die geistige Kompetenz an, die einen Verstorbenen auszeichnete,<br />
son<strong>der</strong>n auf seinen Charakter, sein Wesen.<br />
Also die immaterielle „Essenz“, die als Seele bezeichnet<br />
wird. War er o<strong>der</strong> sie eine „Gute Seele“?<br />
Bei seinen Spaziergängen trug Bernd Rychel <strong>–</strong> ganz altmodisch<br />
<strong>–</strong> ein Notizbuch mit sich <strong>und</strong> hielt darin seine<br />
Einfälle zum Begriff „Seele“ fest. Redewendungen <strong>und</strong><br />
zusammengesetzte Wörter.<br />
Irgendwann stellte er diese Liste zusammen:<br />
- sich etwas von <strong>der</strong> Seele reden,<br />
- Worte, die Balsam für die Seele waren,<br />
- ein Herz <strong>und</strong> eine Seele sein,<br />
- es liegt mir auf <strong>der</strong> Seele,<br />
- du sprichst mir aus <strong>der</strong> Seele,<br />
- mit Leib <strong>und</strong> Seele dabei sein,<br />
- seine Seele dem Teufel verkaufen,<br />
-21-
- nun hat die arme Seele Ruh‘,<br />
- Essen <strong>und</strong> Trinken hält Leib <strong>und</strong> Seele zusammen,<br />
- darauf erpicht sein, wie <strong>der</strong> Teufel auf die arme Seele,<br />
- eine schwarze Seele haben,<br />
- Die Absicht ist die Seele <strong>der</strong> Tat,<br />
aber auch einzelne Worte wie „seelengut“, „seelenruhig“,<br />
“unbeseelt“, „unselig“, „Seelenheil“ o<strong>der</strong> „Seelsorger“.<br />
Er wollte diese Aufzählung dahin gehend abklopfen,<br />
was für den Einsatz bei seinen Trauergesprächen geeignet<br />
wäre.<br />
Ganz aus <strong>der</strong> Reihe fiel dabei etwas durchaus Materielles,<br />
das im süddeutschen Raum vorkommende Gebäck<br />
„Seele“. Meist ist es mit Salz <strong>und</strong> Kümmel garniert <strong>und</strong><br />
sieht wie ein kleines Baguette aus (<strong>und</strong> schmeckt ähnlich).<br />
Wie kam diese Art von „Weißbrot“ wohl zu seinem<br />
Namen, rätselte Rychel. Neben all den Semmeln, Brötchen,<br />
Schrippen, Laugen <strong>und</strong> Laugenstangen? Stellte<br />
man sich so die Form von Seelen vor: etwas über 20<br />
Zentimeter lang, sechs bis sieben Zentimeter breit <strong>und</strong><br />
drei hoch?<br />
Rychel stand dem Seelenglauben sehr skeptisch gegenüber,<br />
vor allem dem <strong>der</strong> kirchlichen Ausprägung. Die<br />
Seele ist unsterblich <strong>–</strong> so lautet das Dogma. Doch wenn<br />
die Seele die personale Essenz eines Menschen ist, so<br />
muss sie sich im Laufe des Lebens erst heranbilden <strong>und</strong><br />
ausprägen. „Reifen?“<br />
Bei <strong>der</strong> Geburt wird jedem neuen Menschlein eine Seele<br />
„von Gott zugeteilt“. O<strong>der</strong> eine Seele geht auf irgendeinem<br />
geheimnisvollen Wege die Verbindung zu diesem<br />
Neugeborenen ein, das ja noch keine Persönlichkeit ist<br />
o<strong>der</strong> hat. Rychel legte sich das mit einem Bild aus <strong>der</strong><br />
Chemie o<strong>der</strong> Physik zurecht: So wie sich zwei Atome<br />
gegenseitig anziehen (können), um dann gemeinsam<br />
-22-
ein Molekül zu bilden, so ziehen sich Mensch <strong>und</strong> Seele<br />
an.<br />
(Was den Zeitpunkt anging, hielt er es für völlig unwahrscheinlich,<br />
dass diese Koppelung schon mit <strong>der</strong><br />
Zeugung erfolgen könnte).<br />
Es war für Bernd Rychel logisch, dass diese so verb<strong>und</strong>ene<br />
Seele ein „Blanko“-Exemplar sein müsse, denn<br />
diese sollte ja im Laufe des Lebens „gefüllt“ werden mit<br />
all dem, was diesen einen Menschen später ausmacht!<br />
Rychel plagten Zweifel. (Doch von diesen Zweifeln bekamen<br />
seine K<strong>und</strong>en nichts mit.) Da Seelen unsterblich<br />
sind, müssen sie schon vorhanden sein! Es müsste also<br />
einen unerschöpflichen F<strong>und</strong>us an Seelen geben. Jetzt<br />
leben etwa acht Milliarden Menschen auf <strong>der</strong> Erde. Hinzu<br />
kommen die vielen, die schon früher lebten.<br />
Die Kirchengläubigen gehen von <strong>der</strong> Weiterexistenz<br />
ihrer Seelen aus <strong>–</strong> möglichst nahe bei (ihrem) Gott, also<br />
in <strong>der</strong> „ewgen Heimat“.<br />
Und was passiert mit den Seelen <strong>der</strong> Ungläubigen?<br />
Werden diese recycelt? Nach einem „Reset“ erneut in<br />
Umlauf gebracht? Ganz nachhaltig!<br />
An eine für Rychel sympathischere Sicht von Seelen im<br />
Jenseits konnte er sich bei Dante erinnern. In Dante<br />
Alighieris vor etwa 700 Jahren erschienenen „Commedia“<br />
werden Seelen als sichtbare Schatten beschrieben.<br />
Man konnte sie aber nicht anfassen o<strong>der</strong> umarmen,<br />
auch wenn sie eine (ihre) Stimme besaßen. In <strong>der</strong><br />
christlichen Lehre sind Seelen körperlos <strong>und</strong> (eigentlich)<br />
unsichtbar. Doch wie kann man etwas Unsichtbares<br />
Gläubigen vermitteln?<br />
-23-
Rychel kamen verschiedene mittelalterliche Darstellungen<br />
von Sterbenden in den Sinn. Darin sieht man<br />
eine (kleine) menschliche Gestalt aus dem M<strong>und</strong> des<br />
Morib<strong>und</strong>en entweichen: die Seele. Und oft streiten<br />
sich dann ein Engel <strong>und</strong> ein Teufel um diese sich vom<br />
Körper lösende Seele.<br />
Die Ägypter haben dagegen den „Geist“ des Toten als<br />
Vogel dargestellt. Bereits in den Höhlen von Lascaux,<br />
also vor cirka zwanzigtausend Jahren, hat man den<br />
nicht-materiellen Teil des Menschen in Form von<br />
„Totenvögeln“ veranschaulicht.<br />
Der Stauferkaiser Friedrich <strong>der</strong> Zweite wurde für seine<br />
Naturbeobachtungen berühmt, zum Beispiel seine Aufzeichnungen<br />
über Falknerei. Von diesem Friedrich wird<br />
berichtet, dass er einen zum Tode Verurteilten in ein<br />
dichtes Fass einschließen ließ. Wie zu erwarten, erstickte<br />
<strong>der</strong> Unglückliche dort. Friedrichs Überlegung war, dass<br />
die Seele des Toten aus diesem Behältnis ja nicht entweichen<br />
konnte <strong>und</strong> folglich zu sehen sein müsste. Er<br />
ließ das Fass vorsichtig öffnen. Außer dem Toten war<br />
nichts zu entdecken. Von dem Gesuchten also keine<br />
Spur.<br />
Bei seinen Recherchen zum Thema „Seele“ stieß Rychel<br />
auch auf den amerikanischen Arzt Duncan MacDougall<br />
(1866 -1920), <strong>der</strong> Sterbende auf die Waage legte <strong>und</strong><br />
ihr Gewicht vor <strong>und</strong> nach <strong>der</strong>en Tod ermittelte. Die<br />
Gewichtsunterschiede betrugen zwischen 8 <strong>und</strong> 35<br />
Gramm. Das müsste dann das Gewicht <strong>der</strong> flüchtigen<br />
Seelen sein, schlussfolgerte MacDougall. Doch nachdem<br />
die Versuchsreihe nur sechs<br />
„Probanden“ umfasste, gerieten seine Ergebnisse in<br />
Vergessenheit...<br />
-24-
Teil II<br />
Da wurde an Bernd Rychel ein ungewöhnlicher Antrag<br />
gestellt. Ob er nicht auch als Sterbebegleiter wirken<br />
könne? Ein späterer Einsatz als Trauerredner würde sich<br />
dann ja geradezu anbieten, da er den Sterbenden noch<br />
persönlich kennengelernt habe.<br />
Der Betroffene sei 66 Jahre alt, leide an einer inzwischen<br />
unheilbaren Form von Leukämie, seine Lebenserwartung<br />
sei <strong>–</strong> optimistisch geschätzt <strong>–</strong> noch 14 Tage. Er sei<br />
Forstarbeiter gewesen <strong>und</strong> heiße Franz Kornhaas.<br />
Rychel hatte Bedenken, ob er bei jemandem, <strong>der</strong> eine<br />
vergleichsweise einfache Arbeit ausgeübt hatte, den<br />
„richtigen Ton“ treffen würde. Doch er war auch neugierig<br />
<strong>und</strong> sagte zu.<br />
Das Zimmer im Hospiz, in dem Herr Kornhaas untergebracht<br />
war, war hell <strong>und</strong> geräumig <strong>und</strong> das Bett stand<br />
mit dem Fußende zum Fenster. Rychel räusperte sich,<br />
doch nichts geschah. Er trat zum Bett <strong>und</strong> erschrak: Ein<br />
großer <strong>und</strong> völlig abgemagerter Mann lag da im Bett,<br />
das Kopfteil erhöht. Zugedeckt mit einer leichten Decke,<br />
auf <strong>der</strong> Arme <strong>und</strong> Hände lagen. Kornhaas wandte den<br />
Kopf <strong>und</strong> sah ihn erwartungsvoll an.<br />
„Ich heiße Bernd Rychel“, so stellte er sich vor. „Ihr<br />
Sohn meinte, ich könnte mich mit Ihnen unterhalten?<br />
Darf ich mich zu Ihnen setzen?<br />
Rychel wartete, <strong>und</strong> es kam ihm sehr lange vor, bis Herr<br />
Kornhaas nickte. Rychel zog einen Stuhl heran, setzte<br />
sich <strong>und</strong> verharrte so.<br />
Dann sprach Herr Kornhaas mit leiser Stimme: „So,<br />
mein Sohn hat Sie also geschickt? Sind Sie denn Pfarrer?“<br />
-25-
„Geschickt? Das trifft es nicht. Da ich im Ruhestand bin,<br />
habe ich viel Zeit. Und Ihr Sohn hat dies mitbekommen<br />
<strong>und</strong> wohl gemeint, es wäre eine Abwechslung für Sie.<br />
Ich bin kein Pfarrer; ich war Lehrer.“<br />
„Mir ist nicht langweilig! Mir war nie langweilig!“ <strong>und</strong><br />
nach einer Pause: „Ich war oft allein in meinem Wald<br />
<strong>und</strong> habe nichts vermisst! Was haben Sie unterrichtet?<br />
Naturk<strong>und</strong>e? Biologie?“<br />
Rychel schüttelte den Kopf: „Nein, nicht Bio <strong>–</strong> Deutsch<br />
<strong>und</strong> Ethik!“<br />
„Schade!“<br />
„Aber vielleicht wollen Sie sich ja nicht über Gehölze<br />
mit mir unterhalten, son<strong>der</strong>n über die knappe Zeit, die<br />
Ihnen noch bleibt“, entgegnete Rychel.<br />
Kornhaas lachte heiser: „Also doch Pfarrer! Ich habe<br />
nichts zu beichten. Ich bin mit mir im Reinen! Es gibt<br />
für mich nichts mehr zu klären. Die Person, die ich vernachlässigt<br />
habe, die zu kurz gekommen ist, da kann<br />
ich nichts mehr gut machen. Die ist schon lange tot,<br />
Else, meine Frau!<br />
In meiner Freizeit war ich viel, sehr viel mit meinen<br />
Feuerwehrkameraden unterwegs - <strong>und</strong> wenig zu Hause.“<br />
Kornhaas holte ziehend Luft.<br />
„Und mit meinen beiden Kin<strong>der</strong>n gibt es auch nichts zu<br />
klären! Sie erben das Häuschen je zur Hälfte. - Aber ich<br />
bin ihnen dankbar, dass ich hier sein kann. Ich kann mir<br />
nämlich nicht vorstellen, dass das alles die Krankenkasse<br />
zahlt! Schönes Zimmer, sehr fre<strong>und</strong>liche Leute. Gutes<br />
Essen, von dem ich kaum etwas zu mir nehmen kann.<br />
Wirklich wie im Urlaub!“<br />
Kornhaas machte eine Pause. „Es geht mir gut. Ziemlich<br />
gut sogar!“<br />
-26-
Er hielt wie<strong>der</strong> inne, dann: „Keine Schmerzen. Nur müde<br />
<strong>–</strong> immer müde! Vom Nichtstun müde! Ich verstehe das<br />
nicht. Ich werde noch mein Sterben verschlafen. Dabei<br />
will ich doch wissen, wie es ist, das mit dem Sterben!<br />
Wissen Sie, wie das ist? Herr...Herr... Entschuldigung.<br />
ich hab‘ Ihren Namen vergessen!“<br />
„Das macht nichts“, entgegnete Rychel, „mein Name ist<br />
auch nicht so geläufig. Rychel heiße ich! Er hielt inne.<br />
„Ich glaube, jede o<strong>der</strong> je<strong>der</strong> stirbt an<strong>der</strong>s. Es ist immer<br />
ein ganz persönlicher Vorgang. Haben Sie denn eine<br />
bestimmte Erwartung, Herr Kornhaas?“<br />
Kornhaas lächelte: „Ja, ich glaube, ich werde immer<br />
leichter. So leicht, bis ich abheben kann. Ich meine<br />
nicht meinen Körper.“ Er bewegte seine rechte Hand<br />
<strong>und</strong> beschrieb damit einen Bogen vom Kopf bis zu den<br />
Füßen. „Ich bin schon sehr dünn geworden. Ich wog<br />
einmal über neunzig Kilo <strong>und</strong> jetzt nur noch knapp<br />
Sechzig. Aber das meine ich nicht. Ich meine das<br />
‚Innerlich-leicht-Werden‘“.<br />
Nun schwiegen beide.<br />
Rychel räusperte sich wie<strong>der</strong>: „Und Sie fühlen sich jetzt<br />
schon fast leicht genug, um abzuheben?“ Kornhaas<br />
nickte. „Ich freue mich auf das Wegschweben. Ich<br />
stelle mir das vor wie bei einem Distelsamen, den ein<br />
Windhauch trägt.“<br />
„Ja, das muss schön sein, so zu schweben“, sagte<br />
Rychel, lächelte Kornhaas an <strong>und</strong> ergriff seine Hand.<br />
Kornhaas nickte. „Und wenn ich hoch genug bin, werde<br />
ich Else treffen!“<br />
„Ganz sicher werden Sie das“, sagte Rychel <strong>und</strong> drückte<br />
Korhaas‘ Hand noch fester. „Und ihre Frau wird Ihnen<br />
nichts nachtragen; sie wird sich nur freuen. Auf Sie, auf<br />
ihren Franz!“<br />
Lange blieben die beiden so. Stumm. Rychel wandte<br />
-27-
den Kopf, sah zum Fenster hinaus, verfolgte die Wolken<br />
<strong>und</strong> verlor das Zeitgefühl. Irgendwann hatte er das<br />
Bedürfnis, seine Hand <strong>und</strong> den Arm zu bewegen, sonst<br />
drohte beides einzuschlafen. Da bemerkte er, dass<br />
Kornhaas‘ Hand nur locker in seiner lag. Er erschrak<br />
<strong>und</strong> fuhr mit einem Ruck herum. nicht mehr.<br />
Rychel legte Kornhaas‘ Arm <strong>und</strong> Hand sanft auf <strong>der</strong><br />
Decke ab <strong>und</strong> strich die Finger glatt. Langsam erhob er<br />
sich <strong>und</strong> murmelte: „Nun habe ich Ihr Abheben verpennt!<br />
Leicht wie ein Distelsamen sind Sie los. Und den<br />
Windhauch habe ich gar nicht gespürt“. Er blickte zum<br />
gekippten Fenster. Und lächelte, als er das Zimmer verließ.<br />
Die Farben des Sees<br />
von Rike Richstein<br />
Erscheint am 1. Dezember <strong>2023</strong> im Stadler Verlag, Konstanz.<br />
Geb<strong>und</strong>en mit Lesebändchen, 224 Seiten.<br />
ISBN: 978-3-7977-0785-7<br />
Nach einer schmerzhaften Trennung<br />
reist Matilda an den Bodensee in<br />
das Haus ihrer kürzlich verstorbenen<br />
Großmutter Enni. Seit ihrer Kindheit<br />
ist sie nicht mehr hier gewesen <strong>und</strong><br />
ihr wird bewusst, wie wenig sie über<br />
diese Frau weiß. In Ennis Nachttisch<br />
findet sie das Foto eines jungen<br />
Mannes, <strong>der</strong> nicht ihr Großvater war.<br />
Um sich abzulenken <strong>und</strong> auch aus<br />
Neugier, begibt sie sich auf die Suche nach dem Unbe-<br />
-28-
kannten <strong>und</strong> begegnet dabei einer Wahrheit, die alles<br />
verän<strong>der</strong>t.<br />
»Die Farben des Sees« ist ein ebenso ergreifen<strong>der</strong> wie<br />
zärtlicher Roman über die richtigen <strong>und</strong> die falschen<br />
Entscheidungen im Leben <strong>und</strong> darüber, dass es am<br />
Ende genau diese sind, die uns ausmachen.<br />
PROLOG<br />
Weißt du noch, dass <strong>der</strong> See an jedem Tag eine an<strong>der</strong>e<br />
Farbe hat? Man vergisst es, wenn man fortgeht <strong>und</strong><br />
ihn nicht mehr sieht. Keine Farbe taucht zweimal auf.<br />
Es gibt Tage im Herbst, wenn <strong>der</strong> Nebel sich verzogen<br />
hat, da sieht er aus wie flüssiges Silber. Manchmal hat<br />
er schaumfarbene Muster, manchmal liegt er da wie ein<br />
riesiger Spiegel, in den die ganze Welt schauen kann.<br />
An manchen Tagen atmet er samtgrau wie ein großes,<br />
schlafendes Tier. Manchmal sieht er aus, als ende die<br />
Welt an seinem Horizont <strong>und</strong> manchmal wirkt es, als<br />
könne man mit zwei Sätzen über sein gleißendes Blau<br />
die schneebedeckten Berggipfel berühren. Es gibt Tage,<br />
da ist seine Oberfläche rau vom Regen <strong>und</strong> Tage, an<br />
denen er türkisblau schimmert mit einem Schuss Flaschengrün.<br />
Weißt du es noch?<br />
Ich denke immer noch an dich, jedes Mal, wenn ich auf<br />
die Wasseroberfläche schaue.<br />
EINS<br />
Das Schiff gleitet ruhig durch die Nacht. Auch <strong>der</strong> Wind<br />
schläft. Die Lichter am Ufer glitzern verheißungsvoll <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> fast volle Mond spiegelt sich im tintenschwarzen<br />
Wasser. So, als ob es noch eine Ahnung davon weitergeben<br />
will, wie leuchtend blau es heute bei Tageslicht<br />
gewesen sein muss. Die Mischung aus dem orangenen<br />
-29-
Schimmern <strong>der</strong> Uferpromenaden <strong>und</strong> dem glänzenden<br />
Schwarz ist so perfekt, dass ich sie dir gerne zeigen<br />
würde. Aber seit ich heute die Zeitung aufgeschlagen<br />
habe, weiß ich, dass das nie wie<strong>der</strong> möglich sein wird.<br />
Matildas Leben ist vorbei. Alle Ausrufezeichen <strong>der</strong> letzten<br />
Jahre haben sich zu Fragezeichen gekrümmt <strong>und</strong> mit<br />
dieser Bewegung ihr Herz entzweigeschnitten. Natürlich<br />
bedeutet ein Herz, das sich anfühlt wie zerteilt, nicht<br />
wirklich das Ende des Lebens. Das weiß sie selbst <strong>und</strong><br />
alle Menschen um sie herum sind in den letzten Wochen<br />
nicht müde geworden, es ihr zu versichern. Aber<br />
Wissen <strong>und</strong> Fühlen waren schon immer zwei sehr verschiedene<br />
Dinge.<br />
Sie steht auf dem ausgestorbenen Deck <strong>der</strong> schmalen<br />
Fähre zwischen leeren Plastikbänken in Holzoptik <strong>und</strong><br />
starrt auf das Wasser. In den hell erleuchteten Innenbereich<br />
will sie nicht gehen, aus Angst, einer <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Fahrgäste würde die Müdigkeit in ihrem Gesicht als<br />
Traurigkeit entlarven <strong>und</strong> ihr eine erneute »Istdochallesnichtsoschlimm«-Litanei<br />
vor¬tragen. Auch wenn es<br />
unwahrscheinlich ist, fürchtet sie sich davor. Die Nachtluft<br />
ist warm <strong>und</strong> streicht tröstend über ihr dunkles<br />
Haar, das im Licht <strong>der</strong> Schiffsbeleuchtung schimmert.<br />
Seit Neuestem trägt sie wie<strong>der</strong> Pferdeschwanz, auch<br />
wenn sie findet, dass das ihrem Gesicht eine unnötige<br />
Strenge verleiht. Aber Matilda ist klein <strong>und</strong> zierlich;<br />
Menschen, die ihr die Hand schütteln, packen nie richtig<br />
zu, aus Angst, sie zu zerquetschen. Daher kann etwas<br />
Strenge vielleicht nicht schaden.<br />
Mit den Fingern greift sie immer wie<strong>der</strong> an den billigen<br />
Schmuck um ihren Hals <strong>und</strong> an ihren Ohrläppchen. Sie<br />
hat ihn im Studium gekauft <strong>und</strong> sich nicht davon getrennt,<br />
obwohl man sieht, dass die Steine nur aus Glas<br />
-30-
sind <strong>und</strong> <strong>der</strong> Silberlack an den Fassungen abblättert<br />
<strong>und</strong> hässliche Stücke von weißlichem Plastik freigibt.<br />
Aber erst kam die BAföG-Rückzahlung, dann ist sie von<br />
<strong>der</strong> WG in eine Zwei-Zimmer-Wohnung gezogen <strong>und</strong><br />
musste eine Küche kaufen; es gab nie den Moment, an<br />
dem sie über neuen Schmuck nachgedacht hat. Die einzig<br />
schöne Kette, die sie hat, die mit dem Vogel mit den<br />
ausgebreiteten Schwingen, hat Mads ihr geschenkt <strong>und</strong><br />
die hat sie zu Hause gelassen.<br />
Erst als die Fähre anlegt, reißt sie sich vom Anblick ihrer<br />
eigenen Gedanken <strong>und</strong> dem des Wassers los, um all<br />
ihre Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Wegsuche zu widmen. Sie<br />
weiß nicht, ob sie sich nach über zwanzig Jahren noch<br />
an einzige Straßenkreuzung erinnert.<br />
Es ist spät, als sie in Ennis Haus ankommt. Es riecht<br />
noch wie früher. Erst hat man den Geruch des Sees in<br />
<strong>der</strong> Nase. Das Kühle, Leichte. Dann <strong>der</strong> süße, schwere<br />
Holzgeruch im Flur. Sie tastet nach dem Lichtschalter<br />
<strong>und</strong> lässt ihre Taschen vor <strong>der</strong> ersten Treppenstufe auf<br />
den Boden fallen. Mit zögernden Schritten durchquert<br />
sie den Flur. Sie hat noch nie etwas besessen, das größer<br />
war als ein Sofa o<strong>der</strong> eine Küche, <strong>und</strong> jetzt soll all das<br />
hier ihr gehören?<br />
Mit den Fingerspitzen befühlt sie die holzvertäfelten<br />
Wände. Die Küchentür ist angelehnt <strong>und</strong> Matilda stößt<br />
sie vorsichtig auf. Auf <strong>der</strong> Anrichte steht eine Flasche<br />
Wein, das Licht aus dem Flur fällt in einem breiten<br />
Streifen auf den Küchentisch mit <strong>der</strong> schweren Holzplatte,<br />
<strong>der</strong> sich an die Eckbank drückt. Die Fenster,<br />
das weiß sie noch, gehen auf den schlichten Hinterhof<br />
hinaus, <strong>der</strong> im Dunkeln liegt. Eine Weile steht Matilda<br />
regungslos in <strong>der</strong> Tür <strong>und</strong> atmet die Stille ein. Vielleicht<br />
funktioniert das so. Wenn man nur lange genug Stille<br />
-31-
einatmet, umhüllt sie irgendwann die Fragen <strong>und</strong> Bil<strong>der</strong><br />
im eigenen Kopf <strong>und</strong> bringt sie zum Schweigen. Dann<br />
macht sie einen Schritt auf die Fliesen <strong>und</strong> sieht sich<br />
um.<br />
Plötzlich fällt ihr <strong>der</strong> Stromausfall wie<strong>der</strong> ein. Sechs<br />
Jahre muss sie gewesen sein o<strong>der</strong> ein bisschen älter.<br />
Sie sieht es vor sich. Alle saßen um den Küchentisch.<br />
Sie <strong>und</strong> Juli vermutlich hinten auf <strong>der</strong> Eckbank. Vor wenigen<br />
Minuten waren die Lichter in <strong>der</strong> ganzen Straße<br />
erloschen <strong>und</strong> Enni hatte sie alle vom Wohnzimmer in<br />
die Küche gescheucht, wo sie sich dann um den Tisch<br />
drängten. Gerade noch war <strong>der</strong> Backofen an gewesen,<br />
die Küche ist <strong>der</strong> kleinste Raum im Haus <strong>und</strong> bleibt am<br />
längsten warm. Matilda erinnert sich, wie ihr Vater pfeifend<br />
die Treppen hochstieg, langsamer als sonst, weil<br />
er im Dunkeln die Stufen nicht richtig erkennen konnte,<br />
<strong>und</strong> mit ein paar zusätzlichen Decken herunterkam.<br />
Enni suchte Kerzen zusammen <strong>und</strong> das warme Licht,<br />
das in ihren Gesichtern wi<strong>der</strong>schien, ließ den Sturm<br />
draußen unecht erscheinen.<br />
Als die Lampen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fernseher ausgingen, war Matilda<br />
<strong>der</strong> brüllende Wind, <strong>der</strong> durch die Gassen hastete<br />
<strong>und</strong> gegen die Fensterläden schlug, unheimlich, auch<br />
wenn sie das nie zugegeben hätte. Höchstens vor Juli.<br />
Aber Juli saß schon den ganzen Tag über mit großen<br />
Augen am Fenster <strong>und</strong> beobachtete, wie kleinere Äste<br />
durch die Gasse gewirbelt wurden, <strong>und</strong> zeigte, selbst<br />
als ein paar Dachziegel krachend auf <strong>der</strong> Straße zerbarsten,<br />
keine Spur von Furcht. Aber dann, in <strong>der</strong> von<br />
Kerzen erleuchteten Küche, umgeben von ihrer Familie,<br />
wich Matildas Angst einem an<strong>der</strong>en Gefühl, irgendetwas<br />
zwischen Abenteuer <strong>und</strong> Geborgenheit. Sie versucht,<br />
sich zu erinnern, was danach geschah, wann <strong>der</strong> Strom<br />
wie<strong>der</strong>kam <strong>und</strong> was sie bis dahin gemacht haben, aber<br />
-32-
außer dem Bild <strong>der</strong> vom Kerzenlicht erhellten Gesichter<br />
in <strong>der</strong> Küche ist ihr Kopf leer. Wahrscheinlich haben sie<br />
eines von Opas selbst ausgedachten Würfelspielen gespielt,<br />
bei denen sich ab <strong>und</strong> an noch die Regeln än<strong>der</strong>ten,<br />
o<strong>der</strong> ihr Vater hat für alle etwas vorgelesen.<br />
Waren die Lichter <strong>und</strong> Heizungen schon wie<strong>der</strong> an gewesen,<br />
als sie ins Bett gingen? Und war das eine <strong>der</strong><br />
Nächte, in denen sie <strong>und</strong> Juli sich zu zweit in eines <strong>der</strong><br />
schmalen Betten legten? Sie schliefen oft so, auch ohne<br />
beson<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>.<br />
Matilda tritt näher an die Fenster <strong>und</strong> bemüht sich, in<br />
dem Schwarz die Konturen des Hinterhofes auszumachen,<br />
doch sie sieht nur die Spiegelung ihres eigenen<br />
Gesichts.<br />
In einem Sommer gab es dort hinten in <strong>der</strong> Ecke ein<br />
Wespennest <strong>und</strong> Juli wurde gestochen. Es muss <strong>der</strong><br />
Sommer gewesen sein, in dem sie es lustig fanden,<br />
alles rückwärts auszusprechen <strong>und</strong> sich »Iluj« <strong>und</strong><br />
»Adlitam« rufend über den Hof jagten. Doch plötzlich<br />
schrie Juli auf <strong>und</strong> rief »Mama!«, nicht »Amam«. Der<br />
Stich schwoll so sehr an, dass ihre Mutter fahrig wurde<br />
<strong>und</strong> sie schließlich zum Arzt brachte. Matilda erinnert<br />
sich noch daran, wie die beiden das Haus verließen. Juli<br />
weinte <strong>und</strong> ließ sich von niemandem beruhigen, obwohl<br />
sie doch sonst nicht müde wurde zu betonen, dass sie<br />
schon groß sei <strong>und</strong> längst keines von diesen Heu-Babys<br />
mehr. Sie sagte Heu-Babys, weil sie immer das »l«<br />
von Heulen verschluckte. Seit Juli sprechen konnte,<br />
sprach sie zu schnell. Matilda musste bei Enni bleiben,<br />
obwohl sie doch bei Juli sein wollte. Aber als die Tür ins<br />
Schloss fiel, da war sie doch froh, dass niemand mehr<br />
schrie <strong>und</strong> weinte. Trotzdem wollte sie nicht weiter im<br />
Hof spielen <strong>und</strong> sie nahm auch sonst keines von Ennis<br />
Ablenkungsangeboten an, bis Juli mit einem dicken Ver-<br />
-33-
and um den Stich <strong>und</strong> vor Stolz strahlend zurückkam.<br />
»Eine große Spritze hab‘ ich bekommen, direkt als wir<br />
ankamen«, berichtete sie, als sei das ein großer Verdienst.<br />
»Und dann den Verband, damit die Salbe nicht abgeht.<br />
Mama <strong>und</strong> ich waren auch schon in <strong>der</strong> Apotheke, morgen<br />
müssen wir den Verband neu machen. Und Traubenzucker<br />
durfte ich mir aussuchen.«<br />
Nachdem sie mit den Händen nochmal verdeutlicht hatte,<br />
wie groß die Spritze war, gab sie Matilda die Hälfte<br />
<strong>der</strong> r<strong>und</strong>en, bröseligen Bonbons ab, ohne dass ihre<br />
Mutter sie dazu ermahnen musste.<br />
Noch am selben Tag kam ein Mann, <strong>der</strong> mit Opa das<br />
Wespennest entfernte. Matilda <strong>und</strong> Juli sahen vom<br />
Wohnzimmer aus zu, die Zähne klebrig <strong>und</strong> die Gesichter<br />
wie<strong>der</strong> leuchtend, aber Tür <strong>und</strong> Fenster zur Sicherheit<br />
geschlossen.<br />
Fast lächelt Matilda. Wie lange sie schon nicht mehr an<br />
diesen Nachmittag gedacht hat. Zur Abwechslung ist<br />
es ganz schön, mal Erinnerungsstücken nachzuhängen,<br />
die keine scharfen Kanten haben. Keine Fallen, Löcher<br />
o<strong>der</strong> Netze, die man immer erst bemerkt, wenn man<br />
sich schon darin verfangen hat. Sie hält die Luft an <strong>und</strong><br />
lauscht. Die Stille ist eher friedlich als gespenstisch. Die<br />
Wand zum Wohnzimmer ist zum Teil verglast, mit diesen<br />
altmodischen, fast blinden, leicht farbigen Gläsern,<br />
die auch tagsüber wenig Licht hindurchlassen. Matilda<br />
öffnet die nächste Tür ebenso behutsam <strong>und</strong> sieht,<br />
dass sie vergessen hat, wie viele Bücher Enni besaß.<br />
Jedes Stückchen Wand ist von einem Regal verdeckt, in<br />
dem ordentlich Buchrücken an Buchrücken nebeneinan<strong>der</strong><br />
aufgereiht ist. Das alles fühlt sich gar nicht an, als<br />
ob es ihr gehören würde.<br />
-34-
Matilda lässt ihren Blick über die Regale <strong>und</strong> das Sofa<br />
schweifen <strong>und</strong> für einen Moment fällt ihr etwas ein,<br />
etwas, das damals die Kühle zwischen ihrer Mutter <strong>und</strong><br />
Enni für einen Moment verschwinden ließ, aber sie weiß<br />
nicht mehr, was es war. Bevor sie sie greifen kann, ist<br />
die Erinnerung schon wie<strong>der</strong> fort.<br />
Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf <strong>und</strong> unterdrückt<br />
ein Gähnen. Morgen, morgen wird sie alles genauer in<br />
Augenschein nehmen. Sie muss ins Bett. Leise, als ob<br />
sie keine <strong>der</strong> Erinnerungen verscheuchen will, schließt<br />
sie erst die Tür zum Wohnzimmer, dann die zur Küche<br />
<strong>und</strong> trägt ihre Taschen nach oben. Und noch bevor ihr<br />
Herz sie wie<strong>der</strong> daran erinnern kann, dass sie gerade<br />
unglücklich ist, fällt sie in einen tiefen, traumlosen<br />
Schlaf.<br />
Ich würde es wie<strong>der</strong> tun<br />
<strong>–</strong> eine Idee für den Frieden<br />
von Gerhard Käfer<br />
So,<br />
jetzt habe ich mich endlich aufgerafft <strong>und</strong> sitze im Zug<br />
nach Berlin. Wie schon so oft frage ich mich, ob die<br />
Entscheidung zu dieser Fahrt wohl richtig war, <strong>und</strong> ob<br />
ich damit wirklich etwas erreichen könnte. Ein Rest an<br />
Zweifel steckt in mir <strong>und</strong> wird auch bleiben. Dagegen<br />
steht die Gewissheit, dass ich je<strong>der</strong>zeit aussteigen<br />
kann, wann immer es mir beliebt. Es sei denn, ein<br />
bestimmter Punkt, welcher weiß ich nicht, wäre überschritten.<br />
-35-
Mein Ziel ist die russische Botschaft.<br />
Spätnachmittag, ich bin in Berlin angekommen <strong>und</strong><br />
habe mein Hotel bezogen, es liegt ganz in <strong>der</strong> Nähe<br />
vom Gendarmenmarkt. Es ist ein warmer Tag, so entschließe<br />
ich mich, einen Spaziergang zur Botschaft zu<br />
machen, die liegt nicht allzu weit weg.<br />
Ich bin allerdings erstaunt über die Größe des Gebäudes,<br />
ja Komplexes. Mir kommt es wie ein ganzer Block<br />
vor. An <strong>der</strong> Straße „Unter-den-Linden“ versperrt ein<br />
langes <strong>und</strong> hohes eisernes Gitter den Zugang zum Botschaftsgebäude,<br />
nur ein kleiner Eingang ohne weiteres<br />
Hinweisschild - <strong>der</strong> muss irgendwo an<strong>der</strong>s liegen, denke<br />
ich, <strong>und</strong> umr<strong>und</strong>e das Gebäude. Auf <strong>der</strong> Rückseite finde<br />
ich dann, was ich suche: ein Schild „Botschaft <strong>der</strong> russischen<br />
Fö<strong>der</strong>ation“ <strong>und</strong> „Sprechzeiten von 9-13 Uhr“.<br />
In Verbindung mit <strong>der</strong> doch kleinen Tür wirkt das sehr<br />
bescheiden auf mich <strong>und</strong> eigentlich wenig einladend.<br />
Egal, ich weiß jetzt, wo ich mich morgen hinwenden<br />
werde.<br />
Natürlich stand ich schon vor neun Uhr an <strong>der</strong> Tür <strong>und</strong><br />
wartete. Ich war sehr angespannt. Da nichts geschah,<br />
drückte ich fünf nach neun die Klingel <strong>der</strong> Sprechanlage.<br />
Eine Stimme meldete sich, doch ich verstand nichts;<br />
war ja sehr wahrscheinlich Russisch, <strong>und</strong> das beherrschte<br />
ich nicht.<br />
Wie ich mir zuvor zurechtgelegt hatte, sagte ich einfach<br />
in bestem Schriftdeutsch: “Hallo <strong>und</strong> guten Tag, ich<br />
habe eine Nachricht für den russischen Botschafter.“<br />
Zunächst herrschte Stille, dann kam etwas zurück,<br />
das ich als „einen Moment bitte“ interpretierte. Nach<br />
gefühlten fünf Minuten, die ich als sehr unangenehm<br />
empfand, von vermeintlich tausend Videokameras beobachtet,<br />
knackte es kurz <strong>und</strong> eine weibliche Stimme<br />
-36-
war zu hören:<br />
„Guten Tag, mein Herr. Was kann ich für Sie tun, was<br />
ist Ihr Anliegen?“<br />
„Guten Tag, ich habe eine Nachricht für den russischen<br />
Botschafter.“<br />
„Um was geht es denn?“<br />
„Das kann ich Ihnen über die Sprechanlage nicht sagen.“<br />
„Sind Sie Deutscher?“<br />
„Ja.“<br />
Wie<strong>der</strong>um Schweigen am an<strong>der</strong>en Ende, ich spürte<br />
geradezu, wie auf <strong>der</strong> Gegenseite Gedanken kreisten.<br />
Doch dann hörte ich:<br />
„Bitte kommen Sie herein <strong>und</strong> warten Sie vor <strong>der</strong><br />
nächsten Türe. Sie werden dort abgeholt.“<br />
Das war ja einfacher <strong>und</strong> ging schneller als ich gedacht<br />
hatte.<br />
Es dauerte nicht lange <strong>und</strong> ein junger Mann trat auf<br />
mich zu, for<strong>der</strong>te mich auf, ihm zu folgen, <strong>und</strong> führte<br />
mich in ein kleines schmuckloses Zimmer, in dem ein<br />
Tisch mit mehreren Stühlen stand. Er bat mich, Platz<br />
zu nehmen <strong>und</strong> einen Augenblick zu warten, es käme<br />
gleich jemand.<br />
Dieses Mal dauerte es aber ganz schön viele Augenblicke.<br />
Vielleicht kam es mir auch deshalb so lange vor,<br />
weil es in dem Raum wirklich nichts zu entdecken gab.<br />
Der Tisch, die Stühle, beides einfacher Machart, die<br />
Wände weiß blank, ebenso die Decke, dort eine r<strong>und</strong>es<br />
Glaslicht. Einzig am Boden blieb mein Blick etwas länger<br />
hängen, ein Parkett im Fischgrätenmuster verlegt.<br />
Irgendwann öffnete sich die Tür <strong>und</strong> eine Frau, spontan<br />
geschätzt um die 40 Jahre alt, blonde Haare, zum Zopf<br />
streng nach hinten geb<strong>und</strong>en, in dunklem Hosenanzug<br />
mit rotem Halstuch trat auf mich zu <strong>und</strong> streckte mir<br />
ihre Hand entgegen.<br />
-37-
„Guten Tag, mein Name ist Irina Teskoslowsjanka<br />
(diesen Namen konnte ich erst viel später so schreiben,<br />
nachdem ich Frau Irina bei einer späteren Gelegenheit<br />
gebeten hatte, ihn mir zu buchstabieren). Was kann ich<br />
für Sie tun?“<br />
Ich stand gleichfalls auf, schüttelte ihre Hand <strong>und</strong> sagte:<br />
„Guten Tag, mein Name ist Stefan Mauner. Sagen Sie<br />
mir Ihren Namen noch einmal, ich habe ihn nicht ganz<br />
verstanden?“<br />
„Mein Name ist Irina Teskoslowsjanka. Was kann ich für<br />
Sie tun?“<br />
Ich verstand ihren Namen wie<strong>der</strong>um nicht so, dass ich<br />
ihn mir spontan merken konnte, Irina schon, aber den<br />
Familiennamen nicht, <strong>und</strong> so konnte ich sie auch nicht<br />
förmlich ansprechen. Da sagte ich einfach nur: „Ich<br />
habe eine Nachricht für Ihren Botschafter.“<br />
„Und welche?“<br />
„Die Nachricht ist nur für Ihren Botschafter bestimmt.<br />
Ist es denn möglich, ihn persönlich zu sprechen?“<br />
„Das kommt drauf an. Dazu muss ich Ihr Anliegen<br />
kennen. Je nachdem kann ich dann nach einem Termin<br />
schauen.“<br />
„Spontan <strong>und</strong> einfach geht das also nicht?“<br />
„Nein!“<br />
„Auch wenn ich sage, dass meine Nachricht außerordentlich<br />
wichtig für ihn ist <strong>und</strong> möglicherweise auch für<br />
Ihr Land große Bedeutung hat?“<br />
„Nein! Ich bitte um Verständnis. Der Terminkalen<strong>der</strong><br />
des Botschafters ist sehr voll, <strong>und</strong> wir müssen Gesprächswünsche<br />
im Vorfeld auf ihre Bedeutung gewichten.“<br />
„Ja, das verstehe ich. Ist <strong>der</strong> Botschafter denn im Hause?“<br />
„Nein, jetzt nicht.“<br />
„Wann ist er denn wie<strong>der</strong> da?“<br />
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, ich bitte um Verständ-<br />
-38-
nis.“<br />
„Das ist schade!“ <strong>und</strong> nach einer Pause sagte ich, mehr<br />
so vor mich hin: „Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.“<br />
Auch sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort:<br />
„Sagen Sie mir einfach, um was es geht, dann sehen<br />
wir weiter.“ Kopfschüttelnd entgegnete ich: „Das kann<br />
ich so einfach nicht. Die Sache ist sehr vertraulich.“<br />
Nach einer weiteren Pause fragte ich sie: „Kann ich<br />
jemanden sprechen, <strong>der</strong> direkt dem Botschafter unterstellt<br />
ist <strong>und</strong> <strong>der</strong> unmittelbaren, persönlichen Zugang zu<br />
ihm hat?“<br />
„Ja, das können Sie. Ich stehe Ihnen dafür zur Verfügung.“<br />
Jetzt war ich aber verblüfft <strong>und</strong> fragte: „Sie sind<br />
dem Botschafter direkt unterstellt?“<br />
„Ja!“<br />
„Und Sie haben ohne Mittelsperson Zugang zu ihm?“<br />
„Ja!“<br />
Meine Überraschung wurde größer: „Oh! - Sie haben<br />
keinen Vorgesetzten vor dem Botschafter?“<br />
„Nein!“<br />
„Und Sie brauchen niemanden zu fragen, wenn Sie zu<br />
ihm wollen?“<br />
„Nein!“<br />
„Und das je<strong>der</strong>zeit?“<br />
„Ja! Natürlich muss ich seine Termine berücksichtigen,<br />
ich kann nicht einfach so zu ihm reinplatzen.“<br />
„Ja, das verstehe ich. <strong>–</strong> Was ist denn Ihre Aufgabe hier<br />
in <strong>der</strong> Botschaft, ich meine, wie stehen Sie zu Ihrem<br />
Botschafter, beruflich meine ich?“<br />
„Ich bin eine seiner direkten Assistenten. Mehr kann ich<br />
Ihnen dazu nicht sagen.“<br />
„Und Sie können direkt <strong>und</strong> ohne jemanden zu informieren<br />
mit ihm reden?“<br />
„Ja, das kann ich!“<br />
-39-
Erneut entfuhr mir ein erstauntes Oh!<br />
Ich drehte mich in Richtung Fenster <strong>und</strong> ging ein paar<br />
Schritte. Sie schien zu merken, dass ich in Gedanken<br />
mit mir selbst kämpfte, <strong>und</strong> schwieg. Mit den Fingerspitzen<br />
fuhr ich mir über die Stirn, so als ob ich sie einreiben<br />
wollte, kniff die Augen zusammen <strong>und</strong> wischte<br />
wie<strong>der</strong> darüber.<br />
Schließlich wandte ich mich ihr wie<strong>der</strong> zu <strong>und</strong> sagte<br />
halblaut, mehr als Feststellung, denn als Frage: „Sie<br />
können direkt zum Botschafter, wann immer Sie wollen!“<br />
<strong>und</strong> nach einer kurzen Pause: „Gut, dann rede ich mit<br />
Ihnen.“<br />
Mit einer Handbewegung bot Sie mir einen Stuhl an,<br />
<strong>und</strong> wir setzten uns über Eck an den Tisch.<br />
„Darf ich Sie mit Ihrem Vornamen ansprechen, Ihr Familienname<br />
ist so schwer für meine Zunge?“<br />
„Natürlich, das ist in Ordnung.“<br />
„Also Frau Irina“, begann ich langsam <strong>und</strong> mit Bedacht,<br />
„ich habe Zugang zu einer Internet-Anwendung, die etwas<br />
Unglaubliches möglich macht. Sie kennen sicherlich<br />
die Plattform Google-Maps. Dort kann man r<strong>und</strong> um die<br />
Welt jeden Ort finden <strong>und</strong> über die Funktion Sattelitenbild<br />
von oben ansehen. Man kann sich dort sehr nahe<br />
an ein Objekt heranzoomen <strong>und</strong> bekommt einen guten<br />
Überblick <strong>der</strong> Gegebenheiten an diesem Ort. Allerdings<br />
wird ab einem bestimmten Punkt das Bild unscharf, die<br />
Auflösung ist zu gering, Details sind nicht erkennbar.“<br />
Die Frau gegenüber blickte mich mit unbewegter Miene<br />
an, so fuhr ich fort:<br />
„Mein System hat Ähnlichkeit mit dieser Anwendung,<br />
geht aber sehr, sehr viel weiter. Ich kann wie bei Google<br />
ein Objekt heranzoomen <strong>und</strong> Gegenstände in <strong>der</strong><br />
Größe eines Blatt Papiers noch klar erkennen. Außerdem<br />
sind die Ansichten in meinem System live! An<strong>der</strong>s<br />
-40-
als bei Google, wo Sie nur Fotos, also statische Bil<strong>der</strong>,<br />
anschauen, sehen Sie in meinem System aktuelle <strong>und</strong><br />
lebende Bil<strong>der</strong>, so wie die Situation vor Ort im Moment<br />
des Betrachtens ist. Sie sehen also Menschen, wie sie<br />
die Straße entlang gehen o<strong>der</strong> auf einer Bank sitzen<br />
<strong>und</strong> Zeitung lesen - alles, was an dem Ort gerade geschieht.<br />
Weiter kann ich Objekte in ihren Bewegungen nachverfolgen.<br />
Wenn ich ein Auto markiere, kann ich sehen,<br />
welchen Weg es nimmt.“<br />
Es entstand eine lange Pause. Während meinen Ausführungen<br />
hatte ich meinen Blick auf meine Hände konzentriert,<br />
wie sie sich schlossen <strong>und</strong> öffneten, unterbrochen<br />
nur von einem kurzen Aufschauen o<strong>der</strong> auch nur eines<br />
Seitenblickes auf Irina. Jetzt blickte ich sie direkt an<br />
<strong>und</strong> fühlte ein tiefes Ausatmen in mir. Irina zeigte keine<br />
Regung, ihre Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, ihr<br />
Blick ging irgendwie durch mich hindurch. Ich wartete<br />
darauf, dass sie etwas sagte.<br />
„Ich kann Ihnen das Ganze auch demonstrieren <strong>–</strong> jetzt,<br />
hier <strong>und</strong> heute“, unterbrach ich die Stille.<br />
„Einfach so?“ kam es zurück.<br />
„Ja! Ich brauche dazu nur einen Computer, am besten<br />
einen Laptop.“<br />
Ihr Gesicht blieb <strong>und</strong>urchdringlich für mich, ich konnte<br />
keinen Hinweis erkennen, ob sie mich ernst nahm o<strong>der</strong><br />
für einen Spinner hielt. Dann stand sie auf.<br />
„Bitte warten Sie hier, ich bin in fünf Minuten zurück“,<br />
sagte sie <strong>und</strong> verschwand durch die Tür.<br />
Ich bekam ein ungutes Gefühl. Was macht sie? Kommt<br />
sie mit jemandem vom Sicherheitspersonal zurück? Gar<br />
mit Leuten vom Geheimdienst? Ich stand auf <strong>und</strong> ging<br />
ans Fenster. Kommen da etwa Fluchtgedanken hoch?<br />
Mich irritierte sehr, dass Irina keinerlei Reaktion gezeigt<br />
-41-
hatte, ich hatte we<strong>der</strong> Erstaunen noch Zweifel noch<br />
Interesse in ihrer Miene ausmachen können.<br />
Ich hatte mein Geheimnis preisgegeben, ohne zu wissen,<br />
ob es in die richtigen Ohren gelangt war. Die Anspannung<br />
zerriss am Geräusch <strong>der</strong> sich öffnenden Tür.<br />
Irina kam herein, ein Laptop in <strong>der</strong> Hand. Hinter ihr<br />
blieb eine junge Frau im Türrahmen stehen. „Darf ich<br />
Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ fragte mich Irina.<br />
„Ja gerne, einen Kaffee.“ gab ich zurück. Die junge Frau<br />
entfernte sich.<br />
Irina legte den Laptop auf den Tisch, wo ich zuvor gesessen<br />
hatte. Wir nahmen beide Platz. Ihr Gesicht verriet<br />
mir immer noch nicht, wie sie die Sache einschätzte.<br />
Immerhin, sie hatte einen Computer mitgebracht, also<br />
wollte sie mehr wissen, sie hielt mich also nicht für<br />
einen Spinner <strong>–</strong> o<strong>der</strong> vielleicht noch nicht.<br />
„Bitte“, sagte sie, in ihrem Ton lag etwas Auffor<strong>der</strong>ndes.<br />
„Können wir in einen Raum gehen, <strong>der</strong> eine Türe nach<br />
draußen hat, auf eine Terrasse o<strong>der</strong> einen Rasen?“<br />
fragte ich.<br />
„Ja“, entgegnete sie verdutzt, stand auf <strong>und</strong> ging zur<br />
Tür. Ich folgte ihr auf den Flur <strong>und</strong> nur wenig weiter<br />
bogen wir in einen Raum ab, <strong>der</strong> geradezu wohnlich<br />
aussah, ein langer Tisch wie eine Tafel, Gemälde an<br />
den Wänden, bodentiefe Vorhänge, auf <strong>der</strong> linken Seite<br />
eine Tür, die auf eine gepflasterte Terrasse führt.<br />
Irina setzte sich <strong>und</strong> legte den Laptop wie<strong>der</strong>um vor<br />
mich. Ich schob ihn an sie zurück <strong>und</strong> for<strong>der</strong>te sie auf:<br />
„Bitte machen Sie! Gehen Sie auf Google-Maps <strong>und</strong><br />
lokalisieren Sie diese Botschaft.“<br />
Sie sah mich ungläubig an. „Ja“, ermunterte ich sie,<br />
„Sie können das auch in Ihrer Sprache, auf Russisch,<br />
machen.“<br />
Ich bemerkte ein leichtes Zögern, doch sie zog das Ge-<br />
-42-
ät vor sich hin, klappte den Bildschirm auf <strong>und</strong> wartete,<br />
bis <strong>der</strong> Computer hochgefahren war, ohne mir auch nur<br />
einen Blick zuzuwerfen. Gefühlt dauerte dieser Moment<br />
unendlich lange. Sie begann zu tippen, strich über das<br />
Cursorfeld, tippte wie<strong>der</strong> <strong>und</strong> drehte schließlich den<br />
Bildschirm so, dass wir beide drauf schauen konnten.<br />
Ja, da war das Botschaftsgebäude, wie ich es aus<br />
meinen Recherchen vor Antritt <strong>der</strong> Reise in Erinnerung<br />
hatte. Dass soeben das junge Mädchen wie<strong>der</strong> hereingekommen<br />
war <strong>und</strong> mir eine Tasse Kaffee hin gestellt<br />
hatte, nahm ich kaum wahr.<br />
Ich bat Irina, so nah wie möglich bis ins Unscharfe<br />
hinein auf einen beliebigen Gebäudeteil zu zoomen<br />
<strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> langsam zurück. Das Bild solle sie<br />
möglichst nah an <strong>der</strong> Grenze, an <strong>der</strong> das Bild unscharf<br />
wurde, stehen lassen. Jetzt hakte ich ein: „An dieser<br />
Stelle muss ich tätig werden. Dazu muss ich allerdings<br />
einen USB-Stick verwenden, den ich bei mir habe. Darf<br />
ich das?“<br />
„Ja.“<br />
„Gut. Ich erkläre Ihnen jetzt, was dann passieren wird.<br />
Das jetzige Bild des Botschaftsgebäudes wird umswitchen<br />
auf ein neues Bild. Im Ausschnitt wird das Neue<br />
genau gleich sein wie das Alte, doch wird es deutlich<br />
schärfer sein, das können Sie sofort sehen. Wir sind<br />
damit dann in meiner Internet-Anwendung.“<br />
Sie nickte leicht, ich kramte meinen USB-Stick hervor<br />
<strong>und</strong> schob ihn in den Port am Laptop. Am unteren Rand<br />
des Bildschirms erschien eine kleine Maske, die von<br />
mir einige wenige Angaben verlangte, ich drückte OK<br />
<strong>und</strong> das Bild switchte um. Das, was es zeigte, war das<br />
Gleiche wie zuvor, nur ungleich schärfer, hoch aufgelöst.<br />
Ich bemerkte eine leichte, erstaunte Bewegung in<br />
Irinas Gesicht.<br />
-43-
„Sie können jetzt genau gleich damit verfahren wie in<br />
Google-Maps, <strong>der</strong> Unterschied ist, dass Sie alles live<br />
beobachten <strong>und</strong> sehr nahe an die Dinge heranzoomen<br />
können.<br />
Probieren Sie!“ Ich schob ihr den Laptop wie<strong>der</strong> zu.<br />
Irina zoomte zögernd auf den Eingang <strong>der</strong> Botschaft,<br />
durch den ich auch gekommen war, dort war Bewegung<br />
zu erkennen,<br />
dort warteten Menschen. Eben fuhr auch ein Auto vorbei.<br />
Sie ging immer näher dran bis das Gesicht eines<br />
Mannes, schräg von oben, deutlich zu erkennen war.<br />
Das Bild war unruhig, weil <strong>der</strong> Mann sich bewegte <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Ausschnitt so groß war. Ich wandte mich <strong>der</strong>weilen<br />
meinem Kaffee zu, lauwarm wie er mittlerweile war,<br />
schob ich ihn von mir.<br />
Irina zoomte sich wie<strong>der</strong> etwas zurück <strong>und</strong> ging die<br />
Reihe <strong>der</strong> Wartenden entlang. Ihre Miene zeigte kaum<br />
Regung. Dann nahm sie das Gebäude <strong>der</strong> Botschaft in<br />
Augenschein. Erst die Gesamtansicht, dann die verschiedenen<br />
Teile des Gebäudes.<br />
Auf <strong>der</strong> Seite zur „Unter-den-Linden-Straße“ sah sie sich<br />
die Menschen auf dem Gehweg <strong>und</strong> die Autos näher<br />
an. Jetzt ging sie wie<strong>der</strong> ins Große, schwenkte über die<br />
Stadt ans Brandenburger Tor, zum B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> Potsdamer<br />
Platz, ging immer wie<strong>der</strong> ins Detail. Nach geraumer<br />
Zeit kehrte sie zum Botschaftsgebäude zurück,<br />
ging, mal in groß, mal in klein, r<strong>und</strong> um das Anwesen<br />
<strong>und</strong> blieb schließlich bei einer Gesamtansicht stehen.<br />
Mit einem hörbaren Ausatmen lehnte sie sich zurück<br />
<strong>und</strong> sah mich direkt an. Sie wirkte irgendwie entspannt,<br />
ihre Miene erschien mir zum ersten Mal fre<strong>und</strong>lich.<br />
Ich war erleichtert <strong>–</strong> <strong>und</strong> sie schwieg. Ich hatte jetzt<br />
das Gefühl, dass ihr Misstrauen gewichen war, wenigstens<br />
ein Stück weit.<br />
-44-
„Ich möchte Sie um noch etwas bitten. Bitte schreiben<br />
Sie etwas auf Ihren Block, ein Wort, einen kurzen Satz<br />
o<strong>der</strong> einen Vers o<strong>der</strong> irgendetwas, das nur Sie kennen<br />
<strong>und</strong> wissen können.“ Sie sah mich erstaunt an. „Ja, den<br />
Namen ihrer Großmutter o<strong>der</strong> eines Verwandten, ein<br />
Geburtsdatum o<strong>der</strong> den Namen, den Sie Ihrer ersten<br />
Puppe gegeben haben, egal was. Doch nur Sie sollten<br />
die Worte kennen. Und schreiben Sie das in Ihrer Muttersprache.“<br />
Sie schlug ihren Notizblock auf, ihr Blick ruhte auf dem<br />
Papier, einen Moment lang blieb sie in sich gekehrt. Ich<br />
stand auf, ging Richtung Terrassentür, öffnete sie <strong>und</strong><br />
schaute hinaus. Nur ein paar Bistrotische mit Stühlen<br />
standen da herum. Ich wollte warten, bis sie mich rief.<br />
Doch das tat sie nicht. Nach einer Weile wandte ich<br />
mich ihr zu. Sie hatte den Block zugeklappt, die Hände<br />
ineinan<strong>der</strong> geschlagen <strong>und</strong> darauf gelegt, fre<strong>und</strong>lich,<br />
leise lächelnd blickte sie mich an.<br />
„Bitte falten Sie jetzt das Blatt so, dass ich nichts erkennen<br />
kann <strong>und</strong> geben Sie es mir dann.“<br />
Das tat sie.<br />
„Jetzt zoomen Sie bitte im Computer auf die Terrasse<br />
vor diesem Raum. Und zwar so, dass Sie den Platz<br />
direkt vor dieser Tür sehen.“<br />
Sie nickte mir zu.<br />
„Ich werde jetzt hinausgehen, Ihr beschriebenes Blatt<br />
entfalten <strong>und</strong> auf den Boden legen. Sie zoomen dann<br />
darauf <strong>und</strong> sehen, was Sie geschrieben haben. Ist das<br />
in Ordnung für Sie?“<br />
Wie<strong>der</strong>um nickte sie. Ich hielt das Papier zwischen<br />
meinen Fingern hoch <strong>und</strong> ging auf die Terrasse, faltete<br />
es auseinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> legte es auf den Boden. Da es<br />
nicht ruhig liegen blieb, beschwerte ich es mit meiner<br />
Geldbörse. Ich sah, was sie geschrieben hatte. Offen-<br />
-45-
sichtlich drei Worte, ich konnte sie aber nicht lesen, es<br />
waren kyrillische Schriftzeichen.<br />
Nun ging ich in den Raum zurück. Irina schaute auf den<br />
Bildschirm <strong>und</strong> hatte eine Hand vor den M<strong>und</strong> gelegt.<br />
„Können Sie es lesen?“ fragte ich. Sie nickte.<br />
„Darf ich auch mal drauf schauen?“ Wie<strong>der</strong>um ein<br />
Nicken.<br />
Ich konnte die geschriebenen Worte erkennen, allerdings<br />
nicht gut, die Schrift war zu fein <strong>und</strong> die Auflösung<br />
auf dem Bildschirm an <strong>der</strong> Grenze, ein Stift mit<br />
einer breiten Fe<strong>der</strong> wäre besser gewesen.<br />
„Sind das Ihre Worte?“ fragte ich sie. Ein Nicken.<br />
„Darf ich erfahren, was sie bedeuten, ich kann kein<br />
Russisch?“<br />
Sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. Ihr Blick<br />
wechselte immer wie<strong>der</strong> zwischen Bildschirm <strong>und</strong><br />
Terrasse. Langsam ging ich zur Tür, wartete dort bis sie<br />
wie<strong>der</strong> aufschaute <strong>und</strong> bedeutete mit <strong>der</strong> Hand, dass<br />
ich raus gehen werde, was ich dann auch tat. Ich nahm<br />
die Geldbörse an mich, faltete das Blatt wie<strong>der</strong> zusammen,<br />
ging zurück <strong>und</strong> setzte mich wortlos an den Platz<br />
neben Irina.<br />
Sie schwieg immer noch, ich auch. Meine Ellenbogen<br />
hatte ich auf den Tisch gestützt, meine Hände gefaltet<br />
vor den M<strong>und</strong> gelegt, ich schaute nicht zu ihr hin. Ich<br />
wollte warten, bis sie etwas sagte. Offensichtlich war<br />
sie sehr in sich gekehrt, so als mache sie etwas mit sich<br />
aus. Dass ich sie mit meiner Vorführung beeindruckt<br />
hatte, war mir schon klar, doch schien es mir, ich hätte<br />
sie auch persönlich sehr berührt. So empfand ich unser<br />
gemeinsames Schweigen als etwas sehr Andächtiges,<br />
das wollte ich nicht brechen.<br />
Das Geräusch vom Zuklappen des Laptop brachte mich<br />
wie<strong>der</strong> an den Tisch zurück. Ich blickte Irina direkt <strong>und</strong><br />
-46-
unmittelbar in die Augen, sie schienen mir feucht.<br />
„Das ist sehr, sehr beeindruckend“, sagte sie, „ich kann<br />
das kaum glauben.“<br />
„Ich möchte nicht, dass Sie das glauben, son<strong>der</strong>n ich<br />
möchte Sie davon überzeugen“, entgegnete ich. Sie<br />
nickte verhalten, sagte aber nichts, <strong>und</strong> so fuhr ich<br />
fort: „Dieses System kann noch mehr. Nur bin ich jetzt<br />
verunsichert, ob wir fortfahren sollen. Sie scheinen sehr<br />
betroffen zu sein, <strong>und</strong> ich weiß nicht, ob es richtig ist<br />
weiterzumachen. Was meinen Sie?“<br />
„Was können Sie mir noch zeigen?“ fragte sie unvermittelt<br />
<strong>und</strong> überraschend sachlich, gleichzeitig lehnte<br />
sie sich in ihren Stuhl zurück, als hätte sie etwas abgeschüttelt.<br />
Jetzt musste ich innerlich erst wie<strong>der</strong> umschalten.<br />
Offensichtlich war ich dem Irrtum erlegen,<br />
unser Gespräch würde auch eine persönliche Note<br />
bekommen.<br />
„Mit diesem System kann ich auch Dinge verfolgen, die<br />
sich bewegen. Ich kann sie markieren <strong>und</strong> dann beobachten,<br />
welchen Weg sie nehmen. Ich kann das auch<br />
aufzeichnen <strong>und</strong> im Nachhinein sehen, wo <strong>und</strong> wie sie<br />
sich bewegt haben.“<br />
„Zeigen Sie es mir!“<br />
„Gut!“ entgegnete ich, nahm den Laptop so vor mich,<br />
dass Irina sehen konnte, was auf dem Bildschirm geschah.<br />
Ich rief eine kleine Maske auf <strong>und</strong> wählte eine<br />
bestimmte Option. Auf dem Bildschirm erschien ein<br />
roter Pfeil, den man mit dem Cursor führen konnte. Ich<br />
vergrößerte das Bild, bis <strong>der</strong> fließende Verkehr auf den<br />
Straßen um die Botschaft zu erkennen war. An einer<br />
Kreuzung zoomte ich auf ein blaues Auto, das an einer<br />
Ampel wartete. Ich fuhr mit dem roten Pfeil darauf <strong>und</strong><br />
markierte es mit einem Klick. Auf dem Fahrzeug war<br />
jetzt ein roter Punk zu sehen. Als es anfuhr, bewegte<br />
-47-
sich <strong>der</strong> rote Punkt mit ihm. Ich verkleinerte den Bildausschnitt<br />
wie<strong>der</strong> etwas, sodass das Straßennetz im<br />
Umfeld gut zu sehen war. Das Auto bog mal links, mal<br />
rechts ab, wartete immer an Ampeln. Der rote Punkt<br />
wan<strong>der</strong>te stets mit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bildausschnitt verschob<br />
sich so, dass er im Blickfeld blieb. Dann verschwanden<br />
Punkt <strong>und</strong> Auto vom Bildschirm, das Auto war in eine<br />
Tiefgarage gefahren.<br />
„Ich schlage vor, ich speichere so eine Fahrt einmal ab,<br />
<strong>und</strong> wir sehen uns danach die Fahrt an. Einverstanden?“<br />
„Ja.“<br />
Leichte Kürzung<br />
Ich ließ dieses Bild auf Irina wirken. Sie schüttelte den<br />
Kopf, immer wie<strong>der</strong>, <strong>und</strong> sagte schließlich halblaut vor<br />
sich hin: „Das ist unglaublich! Unglaublich!“<br />
„Aber es ist real!“ entgegnete ich. Sie sah mich direkt<br />
an <strong>und</strong> nickte leicht, irgendetwas arbeitete in ihr. Der<br />
fre<strong>und</strong>liche Ausdruck ihres Gesichtes war verschw<strong>und</strong>en,<br />
was ich mehr als schade fand.<br />
„Für heute will ich es bei diesem Stand belassen“,<br />
sagte ich, „das System kann noch etwas, was ich Ihnen<br />
zeigen muss, aber nicht hier <strong>und</strong> heute. Ist es für Sie in<br />
Ordnung, wenn wir uns auf morgen verabreden? Allerdings<br />
nicht hier in <strong>der</strong> Botschaft. Das geht nicht, ich<br />
muss dazu etwas vorbereiten.“<br />
„Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, ich rufe Sie an <strong>und</strong><br />
wir verabreden uns.“<br />
Sie erwartete wohl, dass ich ihr eine Visitenkarte gäbe,<br />
doch ich hatte so etwas ja nicht. Also schrieb sie meine<br />
Telefonnummer in ihren Block. Ich rief meine Maske auf<br />
dem Laptop auf, beendete meine Anwendung <strong>und</strong> zog<br />
den USB-Stick wie<strong>der</strong> ab.<br />
-48-
„Noch etwas ganz Wichtiges möchte ich Ihnen sagen“,<br />
ich sah sie eindringlich an, „nein, ich möchte Sie darum<br />
bitten.<br />
Reden Sie mit niemandem darüber, was ich Ihnen heute<br />
gezeigt habe. Auch nicht mit dem Botschafter! Tun Sie<br />
das erst, wenn Sie alles kennen <strong>und</strong> gesehen haben.<br />
Und bitte informieren Sie auch nicht Ihren Geheimdienst<br />
o<strong>der</strong> wie das heißt. Es ist mir wirklich wichtig, Sie werden<br />
später verstehen, warum.“ Irina nickte nur.<br />
„Und noch etwas: Ich vertrauen Ihnen, aufrichtig, <strong>–</strong><br />
<strong>und</strong> es wäre schön für mich, wenn Sie auch mir Ihr<br />
Vertrauen entgegen brächten. Mir ist sehr wohl klar, in<br />
welcher Situation Sie sich befinden. Sie sind Ihrer Aufgabe,<br />
Ihrem Amt <strong>und</strong> wahrscheinlich auch Ihrem Eid<br />
verpflichtet. Doch bitte, warten Sie noch bis wir uns das<br />
nächste Mal getroffen haben.“<br />
Ich sah sie fragend an, doch sie sagte nur: „Ich melde<br />
mich.“<br />
Dieses Mal nickte ich <strong>und</strong> Irina führte mich wortlos<br />
aus dem Raum. Bis zur Außentür ging sie vor mir her,<br />
öffnete sie <strong>und</strong> mit einem Händedruck verabschiedeten<br />
wir uns. „Danke, Frau Irina. Ich danke Ihnen sehr.“<br />
Sie nickte wie<strong>der</strong> mal nur, <strong>und</strong> ich überschritt die Türschwelle<br />
des Botschaftsgebäudes nach draußen.<br />
Leichte Kürzung<br />
Ich stand schon geraume Zeit in dem riesigen Glasdach<br />
über dem B<strong>und</strong>estag, ich genoss den Blick über das<br />
Gebäude, die Stadt, den Tiergarten, als plötzlich mein<br />
Handy klingelte. Es war keine Nummer zu sehen, also<br />
unterdrückt.<br />
„Ja, hallo, Stefan Mauner?“<br />
„Guten Tag, Herr Mauner. Hier spricht Irina Teskoslowsjanka.“<br />
-49-
Wow, das war eine Überraschung, so schnell kommt<br />
<strong>der</strong> Anruf!<br />
„Oh, Frau Irina! Was gibt es, was kann ich für Sie tun?“<br />
„Ich komme auf Ihr Angebot zurück. Können wir uns<br />
treffen?“<br />
„Ja, natürlich! Wann denn?“<br />
„Ginge heute noch?“<br />
„Oh! Ähh... ja klar! Wo denn?“<br />
„Sie sagten, das müsste außerhalb <strong>der</strong> Botschaft sein.<br />
Machen Sie einen Vorschlag.“<br />
Jetzt war ich aber sehr verlegen, hatte ich mir doch<br />
noch keinerlei Gedanke über einen geeigneten Ort gemacht.<br />
„Auf die Schnelle ist das schwierig für mich. Ich habe<br />
mich noch nicht umgeschaut. Können Sie mir ein Café<br />
o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>es Lokal empfehlen?“<br />
„Egal wo?“<br />
„Ja <strong>–</strong> aber halt! Voraussetzung ist, dass es dort wenigstens<br />
ein bodentiefes Fenster geben muss, <strong>und</strong> zwar so,<br />
dass man innen sitzen <strong>und</strong> nach draußen sehen kann.“<br />
„Wo sind Sie denn gerade?“<br />
„In <strong>der</strong> Glaskuppel des B<strong>und</strong>etages.“<br />
Es dauerte einen kurzen Moment, dann sagte Sie: „Das<br />
Café Dogart könnte passen. Dort gibt es einen Wintergarten<br />
zum Spielplatz hin. Wäre das geeignet?“<br />
„Das hört sich gut an. Wo ist dieses Café?“<br />
„In <strong>der</strong> Schumannstraße, Moment bitte, <strong>–</strong> Nr. 17. Das<br />
ist nicht weit vom B<strong>und</strong>estag weg, das können Sie zu<br />
Fuß erreichen. Sie gehen am besten über die Spree bis<br />
zur Luisenstraße, dann links ab Richtung Norden, solange,<br />
bis rechts die Schumannstraße abzweigt.“<br />
„Gut, ich gehe gleich hin. Wenn ich dort bin, rufe ich<br />
Sie an. Geht das?“<br />
„Ja. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Haben Sie<br />
-50-
etwas zum Schreiben?“<br />
„Ja, ich höre.“<br />
Es folgte eine Nummer, die nach allem an<strong>der</strong>en als<br />
nach einer Handy-Nummer aussah, die ich eigentlich<br />
erwartet hatte.<br />
Flugs eilte ich die schiefe Ebene <strong>der</strong> Glaskuppel hinab,<br />
mit dem Aufzug hinunter <strong>und</strong> an die Spree. Linke o<strong>der</strong><br />
rechte Brücke? Letztere liegt näher, also ging ich nach<br />
rechts am Ufer entlang, über die Brücke <strong>und</strong> war auch<br />
schon in <strong>der</strong> Luisenstraße. Bald war ich auch in <strong>der</strong>selbigen<br />
des Herrn Schumann <strong>und</strong> nicht viel später im<br />
Wintergarten des Café Do- gart.<br />
Der Tisch da drüben, an <strong>der</strong> rechten Glasfront stand<br />
wie in einer Nische zum Durchgang in den Innenraum<br />
des Cafés. Das wäre <strong>der</strong> optimale Platz! Den muss ich<br />
bekommen, was mir eine halbe St<strong>und</strong>e später auch gelang.<br />
Das Pärchen hatte sein Eis ausgelöffelt.<br />
Ich rief Irina an.<br />
„Ja?“<br />
„Also, ich bin vor Ort. Da passt alles super hier.“<br />
„Schön. Dann kann ich kommen?“<br />
„Jetzt sofort?“<br />
„Ja!“<br />
„Oh, ich bin allerdings darauf nicht vorbereitet. Dann,<br />
ähh…, müssen Sie allerdings verschiedene Dinge<br />
mitbringen. O<strong>der</strong> ich besorge sie <strong>und</strong> wir treffen uns<br />
später hier?“<br />
„Was brauchen Sie denn?“<br />
„Einen Laptop, meiner liegt im Hotel.“<br />
- Es entstand eine längere Pause. Ich hatte nicht mit<br />
dieser Dringlichkeit gerechnet, daher war ich jetzt<br />
gezwungen zu improvisieren. „Ein Buch.“ Erneut eine<br />
Pause. „Eine kleine Pflanze im Topf.“ Eine noch längere<br />
Pause. „Und einen Hammer!“<br />
-51-
Zunächst war Stille am an<strong>der</strong>en Ende. „Ein bestimmtes<br />
Buch, bestimmte Pflanze, ein bestimmter Hammer?“<br />
„Nein, das ist völlig egal. Es können auch drei an<strong>der</strong>e<br />
Gegenstände sein, nur aus unterschiedlichem Material.<br />
Mir ist gerade nichts Besseres eingefallen.“<br />
Wie<strong>der</strong>um Stille an meinem Ohr. „Gut, ich beschaffe die<br />
Dinge. Wieviel Zeit habe ich, wie lange bleiben Sie im<br />
Café?“<br />
„Bis Sie kommen. Ich habe Zeit. Nur übernachten<br />
möchte ich hier nicht.“<br />
„Dann mache ich mich auf den Weg. Ich melde mich,<br />
wenn ich alles habe.“<br />
Aufgelegt. Ich war mehr verdutzt als erstaunt. Jetzt hat<br />
sie es aber eilig! Was hat sie dazu bewogen? Hat sie<br />
etwa mit dem Botschafter gesprochen? Ich hatte mir<br />
unser zweites Treffen an<strong>der</strong>s vorgestellt, ohne genau zu<br />
wissen, wie eigentlich. Ich dachte, dazu hätte ich noch<br />
Zeit, das wollte ich mir genau zurechtlegen. Die Lokalität<br />
aber war entscheidend, <strong>und</strong> diese hier passt hun<strong>der</strong>tprozentig!<br />
Ich bestellte wie<strong>der</strong> mal einen Kaffee.<br />
Es mag eine gute St<strong>und</strong>e später geworden sein als<br />
mein Handy wie<strong>der</strong> klingelte. War <strong>der</strong> Akku eigentlich<br />
noch ausreichend geladen?<br />
„Ja, hallo, Stefan Mauner?“<br />
„Guten Tag, Herr Mauner. Hier spricht Irina Teskoslowsjanka.<br />
Ich habe die Sachen jetzt <strong>und</strong> komme vorbei. In<br />
Ordnung?“<br />
„Ja.“<br />
„Gut! In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.“<br />
Sprach‘s <strong>und</strong> legte auf. Zehn Minuten, wow! Mich erfasste<br />
eine <strong>und</strong>efinierbare Beunruhigung, ich wurde<br />
nervös. Das steigerte sich noch, als auf <strong>der</strong> gegenüber<br />
liegenden Straßenseite ein schwarzes Auto anhielt <strong>und</strong><br />
Irina hinten ausstieg. Mit Chauffeur <strong>und</strong> mit einer gro-<br />
-52-
ßen Tasche in <strong>der</strong> Hand! Und das wollte nicht zu dieser<br />
Person passen bzw. zu meinem Bild von <strong>der</strong> Person. Sie<br />
war gekleidet wie heute Morgen. Ich stand auf, damit<br />
sie mich gleich sehen konnte. Ihr blon<strong>der</strong> Zopf pendelte<br />
hin <strong>und</strong> her, als sie auf mich zukam.<br />
„Hallo Herr Mauner, guten Tag. Hier bin ich.“<br />
Hallo? Sie sagte hallo! Klang das etwa fre<strong>und</strong>schaftlich?<br />
„Hallo Frau Irina, bitte setzten Sie sich“, was sie auch<br />
tat. Sie wirkte ganz an<strong>der</strong>s als am Vormittag, entspannter,<br />
nicht so kühl <strong>und</strong> distanziert.<br />
„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für<br />
dieses Treffen“, begann sie, „<strong>und</strong> vor allem so kurzfristig.<br />
Das hat allerdings seinen Gr<strong>und</strong>.“<br />
Konzentriert <strong>und</strong> bedächtig, so als ob sie jedes Wort<br />
abwägen wollte, sprach sie weiter.<br />
„Unser Botschafter ist heute Nachmittag von einer Reise<br />
zurückgekommen, zwei Tage früher als erwartet. Ich<br />
will heute noch mit ihm über Ihr Anliegen reden. Ich<br />
trage ein Wissen in mir, dass ich keinen Tag länger für<br />
mich behalten darf. Das bin ich meiner Aufgabe schuldig.“<br />
Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort. „Und ich möchte<br />
mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie gedrängt<br />
habe.“<br />
„Das ist völlig in Ordnung. Ich habe ja alle Zeit <strong>der</strong><br />
Welt. Nur konnte ich mich in <strong>der</strong> Eile nicht so vorbereiten,<br />
wie ich das gerne getan hätte.“<br />
„Das macht nichts. Was wollen Sie mir denn zeigen?“<br />
„Wollen wir nicht zuvor etwas essen? Ich lade Sie ein.“<br />
„Nein, vielen Dank.“<br />
Sie machte eine kleine Pause <strong>und</strong> fuhr dann leise fort;<br />
„Ich habe nicht die Zeit dazu. Bitte verstehen Sie.“<br />
Na, das war mir wohl klar, sie wollte ja heute noch mit<br />
dem Botschafter reden. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie<br />
-53-
in keiner Weise geschminkt war, we<strong>der</strong> die Augen noch<br />
die Lippen. War das heute Morgen auch schon so?<br />
„Aber für einen Kaffee wird die Zeit allemal reichen.“<br />
„Ja, dann ein Mineralwasser bitte.“<br />
„Ja, dann legen wir los! Haben Sie die Sachen dabei?“<br />
Ich gab die Bestellung auf, während Irina zu ihrer Tasche<br />
griff <strong>und</strong> auf den Tisch legte, was sie besorgt hatte:<br />
Laptop, ein Buch mit kyrillischem Titel, ein Hammer, wie<br />
es ihn tausendfach in allen Haushalten gibt, <strong>und</strong> eine<br />
Geranie in einem viel zu kleinen Plastiktopf.<br />
„Das sieht gut aus. Bitte fahren Sie den Computer hoch<br />
<strong>und</strong> lokalisieren Sie unseren Standort hier in Google-<br />
Maps, sowie Sie es kennen. Ich werde <strong>der</strong>weil diese<br />
Gegenstände platzieren.“<br />
Ich nahm die Sachen <strong>und</strong> ging zur geöffneten Türfront<br />
des Wintergartens hinaus, bog rechts ab <strong>und</strong> an<br />
<strong>der</strong> Seitenwand zurück. Ich stand jetzt direkt neben<br />
unserem Tisch, nur draußen, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong><br />
Glasscheibe. Dort legte ich Buch, Topf <strong>und</strong> Hammer<br />
in einer Reihe auf den Boden, im Abstand von jeweils<br />
etwa einem Meter zueinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> zur Glasfront. Diese<br />
Ecke war unauffällig <strong>und</strong> kaum einsehbar. Dann ging<br />
ich zurück an unseren Tisch. Irina konzentrierte sich<br />
noch auf den Bildschirm. Ich wartete, bis sie ihn mir zu<br />
drehte, schob meinen USB-Stick in den Port, machte die<br />
Angaben, die die kleine Maske von mir anfor<strong>der</strong>te, <strong>und</strong><br />
das Bild switchte um.<br />
Ich zoomte nun auf die Gegenstände, die ich draußen<br />
neben <strong>der</strong> Glasfront auf den Boden gestellt hatte.<br />
„Das alles kennen Sie bisher“, begann ich, „dieses<br />
System hat noch eine weitere Funktion, <strong>und</strong> die will ich<br />
Ihnen jetzt zeigen.“<br />
Ihr Kinn auf die Hand gestützt hatte sie mein Tun<br />
verfolgt. Jetzt wandte sie sich mir zu <strong>und</strong> blickte mich<br />
-54-
erwartungsvoll an. Na mach schon, dachte sie wohl,<br />
du spannst mich auf die Folter! Anmerken ließ sie sich<br />
allerdings nichts.<br />
„Mit dieser Anwendung kann ich jeden Gegenstand,<br />
egal wo er sich befindet, auflösen.“<br />
Jetzt än<strong>der</strong>te sich ihre Miene. Sie trug plötzlich ein großes<br />
Fragezeichen im Gesicht.<br />
„Ich meine, <strong>–</strong> verschwinden lassen, <strong>–</strong> eigentlich zerstören,<br />
<strong>–</strong> bis auf einen kleinen Rest!“<br />
Sie ließ sich in ihren Stuhl zurück fallen. Ihr Gesicht<br />
zeigte jetzt wie<strong>der</strong> einen kühlen, distanzierten Ausdruck,<br />
hoch konzentriert. Wie kann man so schnell in<br />
eine an<strong>der</strong>e Verfassung fallen? Ich dachte, wir hätten<br />
zu einem entspannten Gespräch gef<strong>und</strong>en.<br />
Da sie weiter schwieg, zoomte ich auf das Buch, so<br />
dass es fast den ganzen Bildschirm füllte, rief eine Maske<br />
auf <strong>und</strong> machte dort meine Angaben. In die entstandene<br />
Pause hinein sagte ich: „Ich muss jetzt warten, bis<br />
ich das OK bekomme.“ Der rote Pfeil ploppte auf. „Ich<br />
markiere jetzt dieses Buch, indem ich es mit dem Pfeil<br />
umfahre.“ Frau Irina richtete sich auf, legte ihren Arm<br />
auf den Tisch <strong>und</strong> rückte näher an den Bildschirm. Das<br />
Buch war nun mit einer roten Linie umrahmt.<br />
Auf meinen Doppelklick hin erschien in einer Maske die<br />
Frage:<br />
„soll das gekennzeichnete objekt tatsächlich zerstört<br />
werden“<br />
Ich drückte „ja“<br />
Die nächste Frage: „hast du dazu die berechtigung“<br />
Wie<strong>der</strong> drückte ich “ja“<br />
Die dritte Frage: „ist <strong>der</strong> eigentümer damit einverstanden“<br />
Jetzt sah ich Irina fragend an, sie nickte. Ich klickte<br />
„ja.“<br />
-55-
Auf dem Bildschirm erschien rechts oben ein roter<br />
Punkt, etwa so groß wie ein Hemdknopf, er begann zu<br />
blinken.<br />
Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme ineinan<strong>der</strong><br />
<strong>und</strong> sagte zu Irina gewandt: „Wenn ich diesen<br />
Knopf betätige, wird das Buch verschwinden.“<br />
Ihr Blick wechselte ein paar Mal von mir zum Bildschirm.<br />
Ich zoomte das Bild etwas kleiner, sodass im<br />
ersten Schritt alle drei Gegenstände zu sehen waren,<br />
das Buch rot umrandet. Dann noch kleiner, Wintergarten<br />
<strong>und</strong> ein Teil des Gebäudes bestimmten nun das<br />
Bild. Schließlich ging ich wie<strong>der</strong> in die Vergrößerung bis<br />
nur noch das Buch <strong>und</strong> die Topfpflanze auf dem Bildschirm<br />
zu sehen waren.<br />
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust <strong>und</strong> sagte<br />
zu ihr rüber: „Sie entscheiden, wann ich auslösen soll.<br />
Konzentrieren Sie sich bitte auf eine Sache, den Bildschirm<br />
o<strong>der</strong> das echte Buch draußen.“<br />
Ihr Blick flog ein paar Mal hin <strong>und</strong> her, eine kleine<br />
Weile später, sie sah nach draußen, hörte ich ein leises<br />
„Jetzt!“ Ich drückte den roten Punk <strong>und</strong> innerhalb eines<br />
Sek<strong>und</strong>en- bruchteils fiel das Buch in sich zusammen<br />
<strong>und</strong> war verschw<strong>und</strong>en.<br />
Ich wandte mich ihr zu, sie starrte auf den Punkt neben<br />
<strong>der</strong> Pflanze <strong>–</strong> da war nichts mehr, vielleicht die Spur von<br />
einem Aschefleck, <strong>der</strong> Bildschirm zeigte nichts an<strong>der</strong>es.<br />
Ich lehnte mich zurück, während sie mich mit großen<br />
Augen ansah, ungläubig, nahezu fassungslos.<br />
„Ich weiß“, ich konnte ihren Blick nicht halten, „das ist<br />
unglaublich <strong>und</strong> man kann es rational nicht verstehen,“<br />
sagte ich in sanftem Ton zu ihr. „Sie brauchen nichts<br />
zu sagen.“ Sie schwieg weiter, <strong>und</strong> nach einer kleinen<br />
Pause fuhr ich fort. „Ich werde jetzt das Gleiche mit <strong>der</strong><br />
Pflanze machen.“ Keine Reaktion. So wie<strong>der</strong>holte ich<br />
-56-
das Proze<strong>der</strong>e von vorhin, bis <strong>der</strong> Blumentopf rot umrandet<br />
neben dem Hammer zu sehen war, rechts oben<br />
blinkte <strong>der</strong> rote Knopf.<br />
„Sie geben wie<strong>der</strong> das Zeichen.“<br />
Irinas Blicke wan<strong>der</strong>ten zwischen virtueller <strong>und</strong> realer<br />
Pflanze hin <strong>und</strong> her, ich blieb auf den Bildschirm fixiert.<br />
„Jetzt!“ flüsterte es leise neben mir, ich löste aus <strong>und</strong><br />
wie<strong>der</strong>um verschwand <strong>der</strong> Blumentopf schlagartig. Irina<br />
ließ sich zurück fallen, verschränkte die Hände hinter<br />
dem Kopf, atmete hörbar aus <strong>und</strong> schloss die Augen.<br />
Für mich war das ein schönes Bild, wie sie so in ihrem<br />
Stuhl hing, irgendwie hilfsbedürftig <strong>–</strong> ob sie sich besiegt<br />
fühlt? Einen Moment lang hielt ich inne.<br />
Doch nur einen Moment, dann tat ich mit dem Hammer<br />
das Gleiche wie zuvor mit Buch <strong>und</strong> Pflanze. Als <strong>der</strong><br />
rote Punkt 0blinkte, lehnte ich mich zurück. Frau Irina<br />
hatte zwischenzeitlich mein Tun wie<strong>der</strong> verfolgt.<br />
„Schauen Sie sich den Hammer genau an, ich habe<br />
nämlich nur das Eisenteil umrahmt, nicht den Stiel, <strong>der</strong><br />
wird übrig bleiben. <strong>–</strong> Und wenn Sie so weit sind…“<br />
Das „Jetzt!“ kam dieses Mal zügig. Draußen wie drinnen<br />
am Bildschirm war Gleiches zu sehen, ein Stück Holz,<br />
<strong>der</strong> Rest vom Hammerstiel.<br />
Irina blieb sprachlos, ich hatte keine Ahnung, wie ich<br />
ihren Gesichtsausdruck deuten sollte, irgendwie kam<br />
sie mir teilnahmslos vor. Doch das konnte nicht sein!<br />
Sie hatte soeben etwas Unvorstellbares gesehen <strong>und</strong><br />
erlebt! Das konnte sie doch nicht kalt lassen! Für mich<br />
überraschend griff sie nach ihrem Handy, ich konnte<br />
nicht verstehen, was sie sagte, doch es war sehr kurz<br />
<strong>und</strong> klang bestimmend.<br />
„Ich muss zurück in die Botschaft, bitte verzeihen Sie<br />
mir.“<br />
„So schnell?“<br />
-57-
„Es kommt mir nicht richtig vor, wenn ich Sie so einfach<br />
sitzen lasse, doch ich kann nicht an<strong>der</strong>s.“<br />
„Für mich ist das in Ordnung. Ich kann nur ahnen, wie<br />
Ihnen zumute ist. Gehen Sie ruhig.“ Ich machte eine<br />
kleine Pause <strong>und</strong> schob nach: „Verstehen Sie jetzt, dass<br />
ich Ihnen diesen Teil nicht in <strong>der</strong> Botschaft demonstrieren<br />
konnte?“<br />
Sie nickte. Ich meldete mich ab <strong>und</strong> zog den USB-Stick.<br />
Irina hatte sich erhoben.<br />
„Ich muss gehen. Vielen Dank <strong>–</strong> mir fällt im Moment<br />
nicht mehr ein. Danke.“ Ich war ebenfalls aufgestanden,<br />
sie reichte mir die Hand <strong>und</strong> ergänzte: „Doch, ich danke<br />
Ihnen für Ihr Vertrauen.“<br />
„Machen Sie’s gut <strong>und</strong> viel Erfolg!“, gab ich ihr mit,<br />
„<strong>und</strong> lassen Sie ihren Geheimdienst bitte noch außen<br />
vor. Noch!“ Sie versuchte ein Lächeln <strong>und</strong> wandte sich<br />
zum Gehen.<br />
Kann ich Ihre Handynummer noch haben“, rutschte<br />
es mir raus. Sie stockte leicht, drehte sich mir zu <strong>und</strong><br />
schüttelte wie<strong>der</strong>um sanft den Kopf. „Noch nicht“, entgegnete<br />
sie <strong>und</strong> strebte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite zu,<br />
wo <strong>der</strong> schwarze Wagen auf sie wartete.<br />
Der schwarze Wagen! Stand <strong>der</strong> die ganze Zeit hier?<br />
Hat <strong>der</strong> Fahrer uns etwa beobachtet, vielleicht beobachten<br />
müssen? Hat <strong>der</strong> was mitbekommen?<br />
Ich setzte mich wie<strong>der</strong> <strong>und</strong> bemerkte erst jetzt, dass<br />
Irina ihren Laptop vergessen hatte. Sie muss ganz<br />
schön durcheinan<strong>der</strong> sein, ging mir durch den Kopf,<br />
<strong>und</strong> bestellte noch einen Kaffee.<br />
Ich war schon eine ganze Weile wie<strong>der</strong> in meinem Hotel<br />
<strong>und</strong> hatte ein Buch zur Hand genommen. Ich lese ja<br />
gerne <strong>und</strong> auch viel, für mich ist das mehr als nur ein<br />
Zeitvertreib. Da klingelte mein Handy, eine anonyme<br />
-58-
Nummer! Frau Irina etwa?<br />
„Hallo <strong>und</strong> guten Abend Herr Mauner. Hier spricht Irina<br />
Teskoslowsjanka.“<br />
„Hallo Frau Irina! Das ist aber eine Überraschung! Was<br />
gibt es?“<br />
„Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“<br />
Bevor ich antwortete, musste ich schlucken. Was für<br />
Andeutungen machte sie da?<br />
„Äähh..., eigentlich wollte ich in die Berliner Philharmonie.<br />
Wieso fragen Sie?“<br />
„Könnten wir uns nochmals treffen?“<br />
„Klar! Wann?“<br />
„Heute Abend noch?“<br />
Mir blieb die Spucke weg! „Heute Abend noch? Wieso<br />
das denn?“<br />
„Ich habe mit dem Botschafter gesprochen. Er will Sie<br />
so schnell wie möglich kennenlernen. Und wenn es<br />
Ihnen möglich ist, auch noch heute Abend.“<br />
„Oh! Um wieviel Uhr denn?“<br />
„Sobald Sie können.“<br />
„Wow!“ <strong>–</strong> In das Konzert könnte ich ja morgen noch. <strong>–</strong><br />
„Gut, dann machen wir das. Ich brauche ungefähr eine<br />
halbe St<strong>und</strong>e bis zur Botschaft <strong>und</strong> will vorher noch<br />
eine Kleinigkeit essen. Sagen wir in einer guten St<strong>und</strong>e?<br />
Wo soll ich mich dann hinwenden?“<br />
„Nirgends, Sie werden abgeholt. Unser Fahrdienst wird<br />
Sie in einer St<strong>und</strong>e vor Ihrem Hotel erwarten <strong>und</strong> hier<br />
in die Botschaft bringen. Ich sorge auch für eine Kleinigkeit<br />
zum Essen. Ist das in Ordnung?“<br />
„Ja, sicher!“<br />
„Gut! Dann sehen wir uns nachher. Vielen Dank.“<br />
„Bis nachher.“<br />
„Denken Sie an den Laptop?“<br />
Und weg war Sie, mein „Ja!“ konnte sie nicht mehr hö-<br />
-59-
en. Ich schüttelte den Kopf <strong>und</strong> ging erst mal auf den<br />
Balkon eine Zigarette rauchen.<br />
Das ist ja <strong>der</strong> Hammer! Da gehe ich morgens in völliger<br />
Ungewissheit in die russische Botschaft <strong>und</strong> abends will<br />
mich schon <strong>der</strong> Botschafter persönlich sehen! Mein Anliegen<br />
hat wohl eingeschlagen wie eine Bombe! Ja, das<br />
erklärt mir ein Stück weit auch das wechselhafte Verhalten<br />
von Irina.<br />
Sie hat wohl schneller als von mir erwartet die Brisanz<br />
erkannt <strong>und</strong> weiter gegeben!<br />
Nervös, aufgeregt <strong>und</strong> auch aufgewühlt wartete ich in<br />
<strong>der</strong> kleinen Hotelhalle auf den Wagen, <strong>der</strong> mich abholen<br />
sollte. Immer wie<strong>der</strong> spazierte ich wie „zufällig“ an <strong>der</strong><br />
Fensterfront vorbei <strong>und</strong> schielte „unauffällig“ durch den<br />
Lammellenvorhang nach draußen.<br />
Jetzt fuhr ein schwarzer Wagen vorbei <strong>und</strong> parkte<br />
rechts vom Hoteleingang. Es war <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> heute<br />
Nachmittag Irina gebracht <strong>und</strong> abgeholt hatte. Ich ging<br />
tief ausatmend nach draußen <strong>und</strong> auf den Wagen zu.<br />
Ein älterer Herr stieg aus: dunkler Anzug, fre<strong>und</strong>liche<br />
Erscheinung.<br />
Als er mich wahrnahm, fragte er: „Herr Mauner?“<br />
„Ja! Kommen Sie von Frau Irina - <strong>der</strong> Botschaft?“<br />
„Ja, bitte steigen Sie ein.“ Er ging auf die Beifahrerseite<br />
<strong>und</strong> öffnete die hintere Wagentür.<br />
Nein, es war keine Limousine wie im Film, son<strong>der</strong>n ein<br />
ganz normaler Wagen eben, lediglich ein Handy steckte<br />
am Armaturenbrett. Wir blieben beide wortlos. Ich<br />
hätte den Herrn gerne nach seinem Namen gefragt, tat<br />
es aber nicht, weil ich befürchtete, ich könnte ihn dann<br />
nicht aussprechen, geschweige denn mir merken.<br />
Als am Botschaftsgebäude das große Tor aufging, <strong>und</strong><br />
wir hinein fuhren, wurde mir wie<strong>der</strong> mal mulmig, es<br />
gab kein Zurück mehr. Wir stiegen beide gleichzeitig<br />
-60-
aus, ich wollte nicht, dass er, ein älterer Herr, mir die<br />
Tür aufhält. Mein Blick musterte die Fassade.<br />
„Bitte folgen Sie mir.“<br />
Der Herr führte mich durch eine Nebentür in das Gebäude.<br />
Irina kam auf mich zu <strong>–</strong> sie trug diesmal einen<br />
hellen Hosenanzug mit blauem Schal, ihr blon<strong>der</strong> Haarschopf<br />
schaukelte hin <strong>und</strong> her <strong>–</strong> sie streckte mir die<br />
Hand entgegen.<br />
„Hallo Herr Mauner, schön, dass Sie da sind. Ich freue<br />
mich, Sie zu sehen.“<br />
„Vielen Dank. Ich freue mich auch, Frau Irina. Und <strong>–</strong> ich<br />
habe Ihnen etwas mitgebracht, Ihren Laptop.“<br />
„Danke, bitte folgen Sie mir.“<br />
Ich wandte mich noch an den Fahrer, er war bereits im<br />
Weggehen, <strong>und</strong> dankte ihm für die Fahrt. Dann ging<br />
ich Irina hinter her, einen Flur entlang <strong>und</strong> schließlich in<br />
den gleichen Raum, in dem Irina <strong>und</strong> ich heute Morgen<br />
schon gewesen waren. Nur hatte dieser jetzt einen<br />
an<strong>der</strong>en Charakter, geradezu einen festlichen! Über den<br />
langen Tisch war ein weißes Tuch geschlagen, Kerzen<br />
standen auf dem Tisch <strong>und</strong> drei Gedecke am Kopfende,<br />
einen Laptop entdeckte ich auch, an <strong>der</strong> Decke war ein<br />
Beamer herab gelassen. Der Raum war in ein warmes<br />
Licht getaucht.<br />
„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte Irina <strong>und</strong> bot mir den<br />
Stuhl auf <strong>der</strong> linken Seite an, „<strong>der</strong> Botschafter kommt<br />
gleich.“ Der Botschafter, schoss es mir in den Kopf!<br />
Wie gehe ich mit ihm um? Ich kenne die Etikette hierfür<br />
nicht, die Gepflogenheiten!<br />
„Ich bin etwas in Verlegenheit“, sagte ich zu Irina, „wie<br />
muss ich den Botschafter ansprechen? Darf ich ihm<br />
überhaupt die Hand reichen? Auf was muss ich denn<br />
ihm gegenüber achten?“<br />
„Machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt in diesem Fall<br />
-61-
keine Regel. Tun Sie, was in Ihrem Land üblich ist. Er<br />
ist kein komplizierter Mensch.“<br />
„Da bin ich froh!“ Wir saßen uns jetzt gegenüber, Irina<br />
wirkte entspannt <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, ich hingegen nicht,<br />
überhaupt nicht! Sie lächelte sanft, legte ihren Kopf<br />
etwas schräg.<br />
„Es freut mich sehr, dass Sie dieses Treffen so schnell<br />
möglich gemacht haben, <strong>und</strong> ich danke Ihnen sehr<br />
dafür.“ Ich nickte nur.<br />
„Und es macht Ihnen wirklich nichts aus, auf das Konzert<br />
zu verzichten?“<br />
„Nein!“<br />
„Was wird denn gespielt?“<br />
„<strong>Werke</strong> von Mozart, Haydn <strong>und</strong> Brahms.“<br />
„Hören Sie gerne klassische Musik?“<br />
„Ja!“<br />
„Sie wirken angespannt“, fuhr sie nach einer Weile fort,<br />
„darf ich fragen, warum?“<br />
„Ja, das bin ich!“<br />
„Warum denn?“<br />
„Naja, ich begegne zum ersten Mal in meinem Leben<br />
einem Botschafter, <strong>und</strong>, <strong>und</strong>…“<br />
„Und was?“<br />
„Irgendwie ist mir jetzt nicht mehr so wohl bei <strong>der</strong><br />
Sache.“<br />
„Aber warum?“<br />
„Naja, ich sitze hier in einem Gebäude, einer Botschaft,<br />
<strong>der</strong> russischen Botschaft! Keiner weiß, dass ich hier bin.<br />
Ich fühle mich irgendwie ausgeliefert.“<br />
„Das brauchen Sie nicht. Ich vertraue Ihnen, ehrlich.<br />
Habe ich Ihnen das schon gesagt? Bitte, vertrauen sie<br />
auch mir. Es wird so laufen, wie Sie es möchten.“<br />
Ich nickte, es entstand erneut eine Pause.<br />
„Ich möchte Sie nochmals auf Ihren Namen anspre-<br />
-62-
chen. Bei uns ist es üblich, dass man sein Gegenüber<br />
mit dem Familiennamen anspricht. Doch Ihrer ist ein<br />
Zungenbrecher für mich. Ist es für Sie wirklich in Ordnung,<br />
wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen Irina, Frau<br />
Irina, anspreche?“<br />
„Ja, das ist es.“<br />
„Ich möchte Ihren Familiennamen dennoch kennen,<br />
darf ich ihn aufschreiben?“<br />
„Ja natürlich.“<br />
„Buchstabieren Sie ihn mir?“<br />
Ich zog meinen kleinen Notizblock aus <strong>der</strong> Tasche.<br />
„T-e-s-k-o-s-l-o-w-s-j-a-n-k-a“<br />
„Danke, vielen Dank.“<br />
„Ich habe noch etwas, bitte notieren Sie das auch.“<br />
In mein fragendes Gesicht fuhr sie fort:<br />
„0-1-7-0-3-4-6-2-1-0-1-3“<br />
„Ihre Handynummer?“<br />
„Ja!“<br />
„Oh, vielen Dank, das freut mich sehr.“ Sie sah jetzt<br />
wohl in ein überraschtes Gesicht als sie sagte: „Wann<br />
immer Sie wollen.“<br />
Das beeindruckte mich natürlich. Na klar, sie sah in dieser<br />
ganzen Angelegenheit natürlich nur eine dienstliche<br />
Sache, ich ja auch, wo kämen wir sonst hin?<br />
Ich wollte Irina eben nach ihren Aufgaben hier in <strong>der</strong><br />
Botschaft fragen, als die Tür aufging <strong>und</strong> ein älterer<br />
Herr ein- trat: grau meliert, dunkler Anzug, zierliche<br />
Brille, athletischer Körperbau, schneller Schritt <strong>–</strong> <strong>der</strong><br />
Botschafter! Irina <strong>und</strong> ich standen auf.<br />
„Guten Abend, Herr Mauner.“ Wir schüttelten uns die<br />
Hände, er hielt meine fest. „Vielen Dank, dass Sie gekommen<br />
sind. Ich bin Juri Pawlow, Botschafter <strong>der</strong><br />
Russischen Fö<strong>der</strong>ation hier in Deutschland. Das war<br />
wohl sehr kurzfristig für Sie. Umso mehr schätze ich,<br />
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dass Sie unser Treffen heute möglich machen. Fühlen<br />
Sie sich wie zuhause. Bitte nehmen Sie Platz.“<br />
Sein Deutsch war gut, wenn auch etwas gebrochen, <strong>der</strong><br />
Akzent deutlich. Er nickte Irina zu <strong>und</strong> nahm den Stuhl<br />
am Tischende.<br />
„Wir haben eine Kleinigkeit vorbereitet <strong>und</strong> hoffen,<br />
dass es Ihnen schmeckt. Wir wollen erst ein bisschen<br />
plau<strong>der</strong>n, bevor wir auf Ihre Sache kommen. Sind Sie<br />
einverstanden?“<br />
„Ja, natürlich.“<br />
Pusteblumen-Zauber<br />
von Hannah Below<br />
Ein kleiner Löwenzahn saß einst in einem Tulpenfeld.<br />
Es kamen viele Menschen vorbei <strong>und</strong> die kleine Pusteblume<br />
beobachtete, wie mit jedem Tag mehr Tulpen<br />
gepflückt wurden. Sie hörte die Besucher Dinge sagen<br />
wie „Oma wird sich sehr darüber freuen.“ „Diese Gelben<br />
sind beson<strong>der</strong>s schön.“ „Ich habe den Geburtstag komplett<br />
vergessen <strong>–</strong> zum Glück mag sie Tulpen.“<br />
Der kleine Löwenzahn hörte jedem Wort ganz aufmerksam<br />
zu, doch niemand schien ihn so recht zu beachten.<br />
Es wurde immer leerer auf dem Feld <strong>und</strong> <strong>der</strong> kleine<br />
Löwenzahn wackelte sehr angestrengt mit seinen Blättern,<br />
um sich bemerkbar zu machen. Doch noch immer<br />
nahm keiner von ihm Notiz.<br />
Als sich eines Abends schließlich das Sonnenrot über<br />
das Feld legte, sagte eine pinke Tulpe zum Löwenzahn:<br />
„Du siehst so traurig aus, kleiner Löwenzahn. Was bereitet<br />
dir Kummer?“ Der kleine Löwenzahn seufzte <strong>und</strong><br />
sagte schließlich: „Weißt du, ich habe das Gefühl, dass<br />
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ich hier gar nichts erreiche. Keiner erkennt mich. Keiner<br />
findet mich schön. Keiner nimmt mich mit. Ich bin doch<br />
eine Blume, aber irgendwie habe ich das Gefühl komplett<br />
zu scheitern. Was, wenn ich für immer hierbleiben<br />
muss?“<br />
Die pinke Tulpe, die eine beson<strong>der</strong>s schöne <strong>und</strong> kräftige<br />
war, senkte ein wenig den Kopf <strong>und</strong> sagte behutsam:<br />
„Ach, lieber Löwenzahn. Was wäre denn so schlimm<br />
daran, wenn du für immer hierbliebest?“<br />
„Naja, ich wäre einfach nur hier, bis ich eines Tages<br />
verblühen würde.“, sagte <strong>der</strong> kleine Löwenzahn etwas<br />
ernüchtert.<br />
„Und ist nicht gerade das, das Wertvollste, das dir<br />
passieren kann? Einfach nur zu sein, bis deine Zeit gekommen<br />
ist?“<br />
Der Löwenzahn war etwas irritiert. Denn die Vorstellung,<br />
bis an sein Lebensende unerkannt auf dieser<br />
Stelle zu sitzen, empfand er als so gar nicht wertvoll.<br />
Doch die Art wie die pinke Tulpe es gesagt hatte, ließ<br />
den Löwenzahn innehalten.<br />
Die pinke Tulpe nickte dem Löwenzahn aufmunternd<br />
zu: „Du musst nichts tun. Es reicht hier zu sein <strong>und</strong> zu<br />
warten, bis die Zeit gekommen ist, um das zu tun wofür<br />
du hier bist.“<br />
„Und was ist das?“, fragte <strong>der</strong> kleine Löwenzahn gespannt.<br />
„Du wirst es bald herausfinden.“, antwortete die Tulpe.<br />
Die Sonne war untergegangen <strong>und</strong> <strong>der</strong> kleine Löwenzahn<br />
verstand, dass das Gespräch beendet war.<br />
Die Tage vergingen, das Feld wurde leerer <strong>und</strong> schließlich<br />
wurde auch die letzte Tulpe vom Feld genommen.<br />
Das Gelb des kleinen Löwenzahns verblasste <strong>und</strong> wurde<br />
zu einem Weiß. Die kleine Pusteblume saß nun ganz alleine<br />
auf <strong>der</strong> Erde <strong>und</strong> fragte sich, wie sie diesen Raum<br />
-65-
jemals alleine füllen könnte. Während die Pusteblume<br />
ganz traurig vor Einsamkeit den Wind dabei beobachtete,<br />
wie er das Gras zum Tanzen brachte, kam ein Vater mit<br />
seinem Kind auf das Feld spaziert.<br />
„Es sind keine Tulpen mehr da! Wir kommen zu spät!“,<br />
schrie das Kind vollkommen aufgebracht. Der Vater<br />
blieb entspannt stehen. Sanftmütig <strong>und</strong> lächelnd sprach<br />
er mit seinem Kind: „Ja, das sind wir. Aber weißt du<br />
was <strong>–</strong> ich glaube da wartet noch etwas viel Besseres auf<br />
uns.“ Und er nahm das Kind an die Hand <strong>und</strong> steuerte<br />
direkt auf die kleine Pusteblume zu.<br />
„Aber, das ist ja nur eine Pusteblume!“, sagte das Kind<br />
enttäuscht. „Ich wollte doch so gerne eine rosa Tulpe<br />
haben.“<br />
„Weißt du mein Schatz, manchmal ist das, was wir<br />
bekommen, viel brauchbarer als das, was wir wollen.<br />
Schau her.“<br />
Die kleine Pusteblume war ganz aufgeregt, als <strong>der</strong> Mann<br />
sie schließlich pflückte. Sie <strong>–</strong> die kleine Pusteblume<br />
wurde endlich erkannt. Wo sie doch auf diesem riesigen<br />
Feld so lange übersehen wurde <strong>und</strong> ihre Farbe beinahe<br />
verloren hätte. Wurde sie gerade etwa wahrgenommen?<br />
Der Mann kniete sich vor sein Kind, hob die Pusteblume<br />
in den Himmel <strong>und</strong> sagte: „Weißt du was die Pusteblume<br />
kann?“<br />
„Ich kann die Schirmchen wegpusten. Hab‘ ich schon<br />
oft gemacht.“, erwi<strong>der</strong>te das Kind trotzig,<br />
„Aber hast du auch schon mal den Pusteblumen-Zauber<br />
angewendet?“, fragte <strong>der</strong> Vater.<br />
Das Kind <strong>und</strong> auch die kleine Pusteblume wurden stutzig.<br />
„Pusteblumen-Zauber? Was soll das sein?“, fragte<br />
das Kind <strong>und</strong> vergaß bei <strong>der</strong> aufkommenden Neugier<br />
weiterhin enttäuscht zu gucken. Die Pusteblume spitzte<br />
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die Ohren.<br />
„Weißt du, die geheime Superkraft <strong>der</strong> Pusteblume liegt<br />
darin, dass sie loslassen kann, um etwas Größeres zu<br />
erschaffen. Wie glaubst du, ist diese Pusteblume hierhergekommen,<br />
als einzige zwischen all den Tulpen?“<br />
Das Kind überlegte kurz <strong>und</strong> sagte entschlossen: „Sie<br />
wurde von einem Gärtner eingepflanzt. So, wie die<br />
an<strong>der</strong>en Blumen auch!“<br />
„Nicht ganz. Was hast du gerade noch einmal gesagt <strong>–</strong><br />
was kannst du mit <strong>der</strong> Pusteblume machen?“<br />
„Die Schirmchen wegpusten?“<br />
„Genau. Und es sind nicht nur Schirmchen, die umherfliegen.<br />
Du kannst ganz nah an die Pusteblume herangehen,<br />
ihr einen Wunsch verraten <strong>und</strong> diesen dann<br />
ganz kräftig in die Welt hinauspusten. Es fliegen dann<br />
nicht nur die Schirmchen los, son<strong>der</strong>n auch die Samen<br />
deines Traums. Und je<strong>der</strong> Samen kann dort, wo er<br />
landet <strong>und</strong> nährende Erde findet, deinen Traum zum<br />
Wachsen bringen. Bis dieser zu einer neuen Pusteblume<br />
erblüht, jemand diese findet, auch ihr seinen Traum<br />
anvertraut, welchen sie dann wie<strong>der</strong> in die Welt tragen<br />
kann.“<br />
„Heißt das, wir haben gerade den Traum von jemand<br />
an<strong>der</strong>em gef<strong>und</strong>en?“, fragte das Kind mit großen Augen.<br />
„Ja, wahrscheinlich sogar sehr viele davon. In dieser<br />
einen Pusteblume stecken bestimmt schon hun<strong>der</strong>te<br />
von Träumen. Und du kannst sie bestärken, indem du<br />
dir auch etwas wünschst <strong>und</strong> die Samen wegpustest.<br />
Du gibst so nicht nur deinem Wunsch, son<strong>der</strong>n auch<br />
den Wünschen von ganz vielen an<strong>der</strong>en Rückenwind.<br />
Wahrscheinlich ist das Schirmchen, das aus dieser Pusteblume<br />
gewachsen ist, ganz beson<strong>der</strong>s weit geflogen,<br />
weil sie hier ganz alleine ist. Es scheint eine beson<strong>der</strong>s<br />
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Starke zu sein. Na, wie wäre es? Möchtest du dir etwas<br />
wünschen?“<br />
Die Augen des Kindes leuchteten, als es schließlich nah<br />
an die Pusteblume herantrat <strong>und</strong> seinen Wunsch in die<br />
Schirmchen hineinflüsterte. Dann holte es tief Luft <strong>und</strong><br />
pustete sie mit einem Atemzug davon. Der Vater <strong>und</strong><br />
das Kind beobachteten, wie sich die Samen langsam<br />
über dem Feld verteilten.<br />
„Weißt du mein Schatz, das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Pusteblume<br />
ist, dass sie eigentlich erst dann in ihrer wahren<br />
Schönheit blüht, wenn ihre Blüten bereits an Farbe<br />
verloren haben. Erst dann können wir ihr unsere Wünsche<br />
anvertrauen <strong>und</strong> sie wird sie in die Welt tragen.<br />
Erst dann kann sie loslassen.“ Die beiden beobachteten<br />
noch, wie <strong>der</strong> letzte Samen auf die Erde fiel <strong>und</strong> gingen<br />
dann nach Hause.<br />
Einige Zeit später blühten viele Löwenzähne auf dem<br />
Feld <strong>und</strong> zwischen den Blättern spürte man noch immer<br />
die Worte <strong>der</strong> pinken Tulpe hallen: „Du musst nichts<br />
tun, kleiner Löwenzahn. Es reicht hier zu sein <strong>und</strong> zu<br />
warten, bis die Zeit gekommen ist, um das zu tun wofür<br />
du hier bist.“<br />
De storje Aujust, Standuhr<br />
<strong>und</strong> Rennrad<br />
von Hubert Mauz<br />
Loset mol, bevor ichs vergiss.<br />
Zum Iirolle, zum warm up, fahrt de Auguscht aafang<br />
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sechzger Johr vum Lachehiesli mit sim 10 Gang Rennrädli,<br />
Marke Peugeot, vu de Kalte Herberg d Uure nab,<br />
s Bregtal ussi <strong>und</strong> ueber de Weiherhof, Dieremer Saline,<br />
gi Schwenninge, „ins Schobbe nuus“. Im Rucksäckli<br />
paar greichti Brotwürscht, en Riebel Buurebrot, e Bügelflasch<br />
Feierling Bier <strong>und</strong> e Cola. S Rennrädli isch putzt,<br />
d Kette g‘oelt <strong>und</strong> d Kläebreife mit 6 bar uffbumpet.<br />
On Ersatzreife isch im khaki-graene Holzmacherrucksäckli<br />
mit dene verschwitzte, miechtelige Le<strong>der</strong>rähme.<br />
Z Schwenninge sind die Badewürtebergische Strosseradmeischterschafte<br />
über giftige 120 km. Deuteberg,<br />
Wiehlersbach, Kappel, Nie<strong>der</strong>esche, Dauchinge <strong>und</strong><br />
zruck an Deuteberg. 5 mol mond die Helde <strong>der</strong> Landstrasse<br />
im Ring rum, bis de umtriebig Rennrad verruckt<br />
Helmut Hils, de Testes vum Schwenninger Rennradclub,<br />
begeischtered d Zielglocke scheppere loot.<br />
Des Iirolle vum Lachehiesli gi Schwenninge hät de Auguscht<br />
grad so reacht warm were lau. Noch de Übersetzungskontroll,<br />
des nimmt en an<strong>der</strong>e Rennradverruckt,<br />
de Technisch Delegiert Sauser Heinz ganz gnau,<br />
no die zwei Brotwürscht <strong>und</strong> des Cola wegputzt <strong>und</strong><br />
en Schluck Bier gsoffe. De Rescht in Trinkbuddel am<br />
Rahmehalter. De Präsi Helmut Hils schickt des gross Feld<br />
mit em Schuss us em Platzpatronebischtol uff d Strecke.<br />
Die erscht R<strong>und</strong>i sind sie alli no ziemli beienand. Aber<br />
im Aastieg vu Nie<strong>der</strong>esche gi Dauchinge riisst es des<br />
gross Feld scho ghörig usenand. I de dritte R<strong>und</strong>e kurblet<br />
nu no fuenf gaedrigi Rennraedler ganz vorne mit.<br />
Natierli isch de starch Auguscht us de Uure debei. Hinter<br />
sim Windschatte kinnet die vier an<strong>der</strong>e verschlupfe<br />
<strong>und</strong> so vill Kraft <strong>und</strong> Körner spare. I de letschte R<strong>und</strong>e,<br />
z Kappel am Zwischeposchte, sinds nuu no drei. No<br />
zwei Banane im vorbeisurre vum Rennleiter Heinz Sauser<br />
uffgnomme <strong>und</strong> verdruckt <strong>und</strong> de Rescht vum Bier<br />
-69-
us de Trinkflasche gsucklet. Und denno kunnt aber de<br />
gwaltig Aatritt vum Guscht gi Dauchinge uffi. Kurz vor<br />
Dauchinge sehnet die an<strong>der</strong>e zwei, natierli Schwobe vu<br />
de Alb raa, nu no de mächtig Buckel mit em SC Urach<br />
Trikot vum Auguscht im bärige Wiegetritt devukurble.<br />
Den homer gsehne, denket die beide Verfolger <strong>und</strong><br />
gänd resigniert uff. S goht nu no um d Silbermedaille<br />
fuer die zwei abghängte. De bärestark Wäl<strong>der</strong>, de<br />
Kimmig August, <strong>der</strong> nimmt desjohr bestimmt wie<strong>der</strong> de<br />
erscht Preis <strong>und</strong> d Goldmedaille mit de Urk<strong>und</strong>e „Bawü-<br />
Moeschter“ mit hoem in Hochschwarzwald, a d` B500,<br />
is einsam, idyllisch Lachehiesli. Nu en Plattfuess o<strong>der</strong> en<br />
bissige, vergelschterete H<strong>und</strong>, gottverdelli des dät no<br />
fehle, kinnt des no verhin<strong>der</strong>e.<br />
Z Dauchinge dobe guckt er mol hin<strong>der</strong>schi. Die han i<br />
baigott ghörig abghänkt. Und wie wenns nint gsii wär,<br />
rollt er mit mit uusgstreckte Ärm <strong>und</strong> sine Bärepranke<br />
freihändig is Ziel. Dä bämberlet de Helmut Hils mit de<br />
Titanic Schiffsglocke <strong>und</strong> verkind im Lautsprecher als<br />
Sieger de neu Bawü- Moeschter:<br />
„Sieger Auguscht Kimmig, SC Urach, Badischer Radsportverband“.<br />
Dass es z Schwennige im Uhr-Eldorado e Uhr als Preis<br />
gähe word, des hond die Radrennfahrer us em ganze<br />
Ländle g‘ ahnt, o<strong>der</strong> au scho gwisst. Und je<strong>der</strong> Starter<br />
het so e Praezisionsuhr mit so eme „Big Ben“ Schlag<br />
gern mit hoem gnomme. Dass es aber e Standuhr, e<br />
Vitrieneuhr isch mit eme lange Berebemdickel, des war<br />
natierli scho nomol on druff, en Brecher. Zu zweit hond<br />
Uhremachermäschter vu de spendable Sponsorefirma<br />
des uukommod Möbel as Siegerträppli schloepfe messe,<br />
dass de Vorstand Hilse Helmut des schwer Gschier<br />
im gifitzig griensende Kimmig Guscht uff em oberschte<br />
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Trepple uebergähe hät kinne.<br />
De Radkenner Helmut Hils hät gwisst, dass de Auguscht<br />
mit em Rennrädle kumme isch <strong>und</strong> hät ihm glii bei de<br />
Siegerehrung aabote <strong>und</strong> versproche, dass de Schwenninger<br />
Radverein ihm die schwer Standuhr i de näschte<br />
Woch mit eme Lieferwägeli us sim Volvo-Autohaus is<br />
Lachehiesli bringt.<br />
„He nai, waa glaubener au, selt goot baigott gar idde.<br />
Die Uhr schleet hit obbe de Big Ben Gong um zehni in<br />
de Stubbe bin mir , im Lachehiesli doobe“. D Schwenninger<br />
hond scho bleed us de Wesch guckt, wo <strong>der</strong><br />
Wäl<strong>der</strong>, desell rasend Rennradsatan Kimmig, scho<br />
wie<strong>der</strong> gwunne hät. Wa denno kunnt, haut sie no ganz<br />
us de Latsche.<br />
„Ihr bringe mir guedi, braiti Lä<strong>der</strong>rieme <strong>und</strong> binde mir<br />
des Gschirr uff de Buckel, no grait ich mit em Rennrädli<br />
ibber Eschinge, de Hammer, d Uure nuff bis an Ferndobel.<br />
Derter, im Lachehiesli Stibbli, gongt um zehni noch<br />
de Sabaradio Ziitaasag s erschtmol die gattig Schwobbe<br />
Uhr im Hoch- Badische, selt khaan ich eich saage“.<br />
Und noch <strong>der</strong>e Rähme Verzurraktion unterm Technische<br />
Delegierte Heinz Sauser, <strong>der</strong> hät gwisst wo so e Kischte<br />
drucke kinnt, isch de Buckel no e weng uuspolsteret<br />
wore mit Kabogg us de Uhrepackerei, isch de Kimmig<br />
Auguscht, de nei Bawü Stroosserad-Moeschter, de knorrig,<br />
gifitzig Rennradkaib vu de Fernhöhi, vor de verdutzte<br />
Schwenninger eweg, quitsch fidel mit de Standuhr<br />
uff em Buckel uffs Lachehiesli nuff graitet. Wa glaubeter<br />
wie do die Sunntigsfahrer im Bregtal <strong>und</strong> im Wald glotz<br />
hond ?<br />
Johre später hät e Uuremer Rennradler Gruppe emol<br />
an ere Hollandr<strong>und</strong>fahrt mitgmacht. Am Obet isch mer<br />
bei dunklem belgischem Bier, Krabbe mit Remoulade,<br />
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Gouda Käs <strong>und</strong> Jenever Schnäpsle mit de „Kan nit Verstan“<br />
Sportsfre<strong>und</strong> us dem tupfebene Tulpeland zemet<br />
ghuckt. Weil je<strong>der</strong> hollän<strong>der</strong> au guet Dietsch khaa, hond<br />
sie gfrogt, wo sie her saiet. „Wissener, mir sin Wael<strong>der</strong><br />
vum <strong>Schwarzwald</strong>“.<br />
„Oh jeh, sagt bloos, da kennen wir auch einen Rennradfre<strong>und</strong>,<br />
von dem wir oft, beson<strong>der</strong>s bei Bergr<strong>und</strong>rennen,<br />
nur das Hinterrad gesehen haben, „Minheer<br />
Aujust, de Storje Aujust“, haben wir ihn geheissen“.<br />
„He naii, jo so ebbis, des gits gar idd, selt isch ainer vun<br />
uns, de Kimmig Auguscht us de Uure, vum Lachehiesli<br />
überm Ferndobbel. Derte, wo mer mit eme wun<strong>der</strong>scheene<br />
Uusblick ins Glashitteloch, in d Wildguede, über<br />
de ganz Herrgottswinkel zum Kandel <strong>und</strong> zu de Vogese<br />
nibber sehne khaan. Do kaahnsch wid<strong>der</strong> mol sehne,<br />
wo die Wäl<strong>der</strong> überal rumkumme <strong>und</strong> angsehne sind“.<br />
Und natierli hond die Uuremer Wäl<strong>der</strong> mit de Kanitverstaan<br />
vu Holland no en mords Verzahl <strong>und</strong> en Feetz<br />
ghet beim bluemige verzehle <strong>und</strong> Sprich klopfe über de<br />
Schwenninger Standuhr Storiax vum „Storje Aujust“,<br />
vum gattige Kimmig Guscht us em legendaere, idyllische<br />
Lachehiesle.<br />
Jo, so wars<br />
Hubert Mauz , Herbscht 2022<br />
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<strong>Preisträger</strong><br />
des <strong>Kulturpreis</strong>es <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>2023</strong>:<br />
1. Preis: Carla Maria Rombach,<br />
Furtwangen<br />
1. Preis: Werner Leuthner,<br />
Villingen-Schwenningen<br />
2. Preis: Rike Richstein,<br />
Konstanz<br />
2. Preis: Gerhard Käfer,<br />
Brigachtal<br />
3. Preis: Hannah Below,<br />
Donaueschingen<br />
3. Preis: Hubert Mauz,<br />
Donaueschingen<br />
Jury<br />
des <strong>Kulturpreis</strong>es <strong>Schwarzwald</strong>-<strong>Baar</strong> <strong>2023</strong>:<br />
• Dr. Lucy Lachenmaier,<br />
Doktor in Linguistik <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong>,<br />
Referentin <strong>und</strong> Dozentin<br />
• Sabine Streck,<br />
Autorin <strong>und</strong> ehemalige Redakteurin<br />
• Christof Weiglein,<br />
Autor <strong>und</strong> Maschinenbauingenieur<br />
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