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Alexander Deeg | Marie Hecke | Matthias Loerbroks | Christian Staffa (Hrsg.): Evangelium an dunklen Tagen (Leseprobe)

Auf unterschiedliche Weise erinnern der 9. November und der 27. Januar an deutsche Verbrechen am jüdischen Volk und an eine christliche Schuldgeschichte. Seit der Perikopenreform 2018 sind beide Tage auch Teil des evangelischen liturgischen Kalenders. Wie kann heute in einem Gottesdienst Sprache gefunden werden am Gedenktag der Novemberpogrome und am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus? Muss sich in der Predigt die Fraglichkeit und Gebrochenheit christlicher Theologie spiegeln? Kann den Todesmächten zum Trotz die befreiende Botschaft des Evangeliums laut werden? Dieser Band dokumentiert Predigten, die seit 2002 in Gottesdiensten gehalten wurden, zu denen die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zusammen mit der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, Berlin, und seit 2013 auch die Evangelische Akademie Berlin einluden. Vorangestellt sind den Predigten Reflexionen aus jüdischer und christlicher Perspektive.

Auf unterschiedliche Weise erinnern der 9. November und der 27. Januar an deutsche Verbrechen am jüdischen Volk und an eine christliche Schuldgeschichte. Seit der Perikopenreform 2018 sind beide Tage auch Teil des evangelischen liturgischen Kalenders. Wie kann heute in einem Gottesdienst Sprache gefunden werden am Gedenktag der Novemberpogrome und am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus? Muss sich in der Predigt die Fraglichkeit und Gebrochenheit christlicher Theologie spiegeln? Kann den Todesmächten zum Trotz die befreiende Botschaft des Evangeliums laut werden?
Dieser Band dokumentiert Predigten, die seit 2002 in Gottesdiensten gehalten wurden, zu denen die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zusammen mit der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt, Berlin, und seit 2013 auch die Evangelische Akademie Berlin einluden. Vorangestellt sind den Predigten Reflexionen aus jüdischer und christlicher Perspektive.

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40 <strong>Matthias</strong> <strong>Loerbroks</strong><br />

Die Antwort Jesu beginnt mit zwei Verneinungen, zwei Abfuhren, die aber<br />

nur, wie sich d<strong>an</strong>n herausstellt, die negative Kehrseite einer großen Zusage, einer<br />

leuchtenden Verheißung sind. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass m<strong>an</strong> seiner<br />

durch skeptisch prüfendeBeobachtung gewahrwürde,sondern ist wahrnehmbar<br />

nur für Beteiligte, für Mittäter, Mitkämpfer. Die <strong>an</strong>dere Verneinung: Erwartet<br />

nichts Sensationelles, Aufsehen Erregendes. Das Reich Gottes kommt nicht so,<br />

dass Leute auf spektakuläre Ereignisse zeigen und rufen: Siehe, da ist es! Nein<br />

dort! Denn »siehe!«, sagt Jesus nun selbst, nimmt damit ein Hinweiswort auf, mit<br />

dem die Bibel darauf aufmerksam macht, dass mitten in der Menschenwelt und<br />

-geschichte Gott eingreift: Siehe! Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Diese<br />

Zusage erinnert <strong>an</strong> die Bedeutung des Namens des Gottes Israels: Ich bin da, mit<br />

euch, wie immer ich da sein werde. Es sind Pharisäer, denen Jesus diese Verheißung<br />

zusagt, Menschen also, die mit Ernst Juden sein wollen, die nicht nur<br />

»Herr, Herr« sagen, sondern versuchen, seinen Willen, die Tora zu tun, seine<br />

Wege zu gehen, über seiner Tora murmeln Tag und Nacht und in zahlreichen<br />

Einzelheiten es unternehmen, nicht nur den Feiertag, sondern auch den Alltag zu<br />

heiligen. Ihnen sagt Jesus: »Achtet sie nicht gering, eure g<strong>an</strong>z alltägliche Praxis,<br />

euer unauffälliges, unspektakuläres Tun und Lehren des Gebotenen. Es gibt<br />

Gerechte,die der Umkehr, es gibt – Gott sei D<strong>an</strong>k! – Gesunde, die des Arztes nicht<br />

bedürfen. Das Reich, das Regieren Gottes ist schon da: mitten unter euch.«<br />

Mitten unter uns haben sie gelebt und gewirkt, dieJuden in Deutschl<strong>an</strong>d, in<br />

Europa, mitten unter uns Christen. Wir Christen haben aber im Leben und<br />

Überleben des jüdischen Volks nicht ein Zeichen der Treue Gottes gesehen, geschweige<br />

denn die Anwesenheit und Wirksamkeit Gottes und seines Reichs<br />

mitten unter uns. Im Gegenteil: Es war die christlicheKirche, die die falsche Lehre<br />

verbreitete, Gott habe sein Volk Israel verstoßen,seinen Bund mit dem jüdischen<br />

Volk aufgekündigt, ihn durch einen neuen Bund mit einem neuen Bundesvolk,<br />

nämlich: mit der Kirche, ersetzt. So hat die Kirche theologisch-theoretisch vom<br />

Ende Israels gesprochen, l<strong>an</strong>ge bevor die Nazis diese Rede wörtlich nahmen und<br />

den Massenmord <strong>an</strong> den europäischen Juden »Endlösung der Judenfrage«<br />

n<strong>an</strong>nten. Die christliche Theologie hatte den Weggebahnt, der nach Auschwitz<br />

führte.<br />

Doch wie kam es zu dieser ungeheuren und folgenschweren Lehre von der<br />

Ablösung und Ersetzung Israels durch die Kirche? Sie wurde ja nicht damit<br />

begründet, dass es sich bei diesem Gott um einen untreuen undunzuverlässigen<br />

Bundesgenossen h<strong>an</strong>delt, der mal einen Bund schließt und ewige Treue verheißt,<br />

ihn d<strong>an</strong>n aber willkürlich wieder fallen lässt. Als Grund für ihre Behauptung<br />

n<strong>an</strong>nte die Kirche vielmehr die Tatsache, dass die meisten Juden in Jesus nicht<br />

den l<strong>an</strong>g erwarteten Messias Israels, den Christus, erkennen konnten und so<br />

nicht Christen wurden,sondern Juden blieben. Diese Begründung ist zwar nicht<br />

logisch, und eine Kirche, die ernsthaftlehrt, Gott habe sein Volk verstoßen,weil er<br />

von ihm enttäuscht war, sägt natürlich <strong>an</strong> dem Ast, auf dem sie sitzt; und doch

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