22.02.2024 Aufrufe

Ich bedaure nichts • Programmheft

Die Tagebücher der Schriftstellerin Brigitte Reimann, die sie bis kurz vor ihrem Krebstod 1973 führte, konnten erst 1989 veröffentlicht werden. Sie sind wie eine Zeitmaschine: Sie zeigen das Leben dieser jungen Frau in der DDR der 1950er und 1960er Jahre auf unfassbar ehrliche und berührende Weise. Berufliche, private, politische und künstlerische Gedanken spielen gleichermaßen eine große Rolle. Ihr Tagebuch erzählt Geschichten von Widerständigkeit und vom Scheitern: „Die Schatten, die der Schriftsteller und Künstler sieht, wirft das Licht des umfassenden Aufbaus des Sozialismus.“ Ausführlich beschreibt sie ihre Gefühle: „Ich kann nicht leben ohne diesen euphorischen Rausch einer neuen Liebe mit ihrem Schmerz, ihrem Betrug und Selbstbetrug.“ Und gleichzeitig sind all diese Themen, die Reimann umtreiben – die Suche nach einer privaten und politischen Heimat, nach Erfolg im Beruf, die Zweifel am eigenen Talent und dann wieder die Höhenflüge, das Aufbäumen gegen Heuchelei und Bürokratie – aktueller denn je. Der heutigen Oberflächlichkeit kann man den enormen inneren Reichtum dieser jungen Frau von einst entgegensetzen. Sie führte nach damaligen und sogar noch nach heutigen Begriffen ein unmoralisches Leben und war selbst sehr moralisch, was Anstand und Wahrheit anging. Diese lange freizügigen, tiefgründigen, lustigen, unglaublich modern gedachten und geschriebenen Tagebuchaufzeichnungen sind einzigartig und eröffnen einen Reimann-Kosmos, der weit über dieses Zeitdokument hinausragt. für die Bühne bearbeitet von Karoline Felsmann Premiere am 25. November 2023 Regie: Elina Finkel Bühnen- und Kostümbild: Norbert Bellen Dramaturgie Karoline Felsmann mit Sybille Böversen / Nicole Haase, Clara Luna Deina & Johanna Falckner / Anna Schönberg

Die Tagebücher der Schriftstellerin Brigitte Reimann, die sie bis kurz vor ihrem Krebstod 1973 führte, konnten erst 1989 veröffentlicht werden. Sie sind wie eine Zeitmaschine: Sie zeigen das Leben dieser jungen Frau in der DDR der 1950er und 1960er Jahre auf unfassbar ehrliche und berührende Weise. Berufliche, private, politische und künstlerische Gedanken spielen gleichermaßen eine große Rolle. Ihr Tagebuch erzählt Geschichten von Widerständigkeit und vom Scheitern: „Die Schatten, die der Schriftsteller und Künstler sieht, wirft das Licht des umfassenden Aufbaus des Sozialismus.“ Ausführlich beschreibt sie ihre Gefühle: „Ich kann nicht leben ohne diesen euphorischen Rausch einer neuen Liebe mit ihrem Schmerz, ihrem Betrug und Selbstbetrug.“ Und gleichzeitig sind all diese Themen, die Reimann umtreiben – die Suche nach einer privaten und politischen Heimat, nach Erfolg im Beruf, die Zweifel am eigenen Talent und dann wieder die Höhenflüge, das Aufbäumen gegen Heuchelei und Bürokratie – aktueller denn je. Der heutigen Oberflächlichkeit kann man den enormen inneren Reichtum dieser jungen Frau von einst entgegensetzen. Sie führte nach damaligen und sogar noch nach heutigen Begriffen ein unmoralisches Leben und war selbst sehr moralisch, was Anstand und Wahrheit anging. Diese lange freizügigen, tiefgründigen, lustigen, unglaublich modern gedachten und geschriebenen Tagebuchaufzeichnungen sind einzigartig und eröffnen einen Reimann-Kosmos, der weit über dieses Zeitdokument hinausragt.

für die Bühne bearbeitet von Karoline Felsmann
Premiere am 25. November 2023

Regie: Elina Finkel
Bühnen- und Kostümbild: Norbert Bellen
Dramaturgie Karoline Felsmann
mit Sybille Böversen / Nicole Haase, Clara Luna Deina & Johanna Falckner / Anna Schönberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Brief an die Eltern<br />

Brigitte Reimanns<br />

Schierke, der 25.03. 1973<br />

Liebe, sehr verehrte Frau Reimann, sehr geehrter Herr Reimann,<br />

ich habe das Bedürfnis, Ihnen zu schreiben.<br />

In den letzten drei Jahren, als ich mit Brigitte befreundet war, hat mich ihre<br />

Art, trotz der Krankheit zu leben und die Ansprüche an sich selbst nicht zu<br />

senken, sehr beschäftigt. Als ich sie zum letzten Mal besuchte – das war fünf<br />

Tage vor ihrem Tod –, warf sie sich selber vor, daß sie nicht mehr die Kraft<br />

zum Schreiben aufbrachte. Immer noch erlaubte sie sich nicht, die Krankheit<br />

vollkommen Macht über sich gewinnen zu lassen. Wir haben oft über ihre neuen<br />

Einsichten gesprochen, die sie, wenn sie erst dieses letzte Buch beendet hätte,<br />

dazu bringen sollten, neu und ganz anders zu schreiben. Wahrscheinlich hätte<br />

sie es gekonnt.<br />

<strong>Ich</strong> weiß nicht, ob viele Menschen – auch die, die in hohem Alter erst sterben –<br />

von sich sagen können, daß sie so intensiv gelebt haben wie Brigitte. Daß sie<br />

so lebendig war, hat andere angezogen, daß sie neugierig, aber nicht hochmütig<br />

war, daß sie vieles verstand und sich selbst mit ihrer eigenen Problematik<br />

nicht hinter einer Maske versteckte. Natürlich erfuhr sie dabei, daß es anstrengender<br />

ist, so zu leben, sich nicht einzumauern, auf alles zuzugehen.<br />

Aber sie erfuhr auch, daß es nur so sinnvoll ist. Sie hat viel Freude gehabt,<br />

und sie konnte sich freuen, bis in ihre letzte Zeit hinein. Vielleicht kann es<br />

auch Ihnen mit der Zeit gelingen, dieses frühere Gesicht von Brigitte hinter<br />

dem anderen aus den letzten Tagen, das auch mir jetzt dauernd vor Augen steht,<br />

wiederzugewinnen.<br />

Die ganze Zeit über habe ich tief bedauert, daß wir uns erst näher kennenlernten,<br />

als sie schon krank war und ich wußte, daß ihre Lebenszeit nach Jahren<br />

gezählt war. So ist es in der Frage, die ihr die wichtigste sein mußte – Leben<br />

oder Tod –, nie zur letzten Aufrichtigkeit zwischen uns gekommen. Der Gesunde<br />

muß in diesem Fall Lüge und Verstellung auf sich nehmen. Aber ich denke heute,<br />

sie hat manches auch von dem verstanden, was nicht ausgesprochen wurde, und<br />

hat versucht, es den anderen nicht zu schwer zu machen. Zuletzt habe ich ihr den<br />

Tod gewünscht.<br />

<strong>Ich</strong> bin sicher, daß ihr letztes Manuskript, auch wenn das allerletzte Kapitel<br />

fehlt, veröffentlicht werden wird. Wenn ich dabei irgendwie helfen kann, will<br />

ich es gerne tun. Überhaupt bitte ich Sie, sich an mich zu wenc n, falls ich<br />

Ihnen in irgendeiner Angelegenheit helfen kann.<br />

Es bleibt mir <strong>nichts</strong>, als Ihnen zu sagen, daß viele Brigitte liebten und mit<br />

Ihnen trauern.<br />

Ihre Christa Wolf<br />

4

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!