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Ich bedaure nichts • Programmheft

Die Tagebücher der Schriftstellerin Brigitte Reimann, die sie bis kurz vor ihrem Krebstod 1973 führte, konnten erst 1989 veröffentlicht werden. Sie sind wie eine Zeitmaschine: Sie zeigen das Leben dieser jungen Frau in der DDR der 1950er und 1960er Jahre auf unfassbar ehrliche und berührende Weise. Berufliche, private, politische und künstlerische Gedanken spielen gleichermaßen eine große Rolle. Ihr Tagebuch erzählt Geschichten von Widerständigkeit und vom Scheitern: „Die Schatten, die der Schriftsteller und Künstler sieht, wirft das Licht des umfassenden Aufbaus des Sozialismus.“ Ausführlich beschreibt sie ihre Gefühle: „Ich kann nicht leben ohne diesen euphorischen Rausch einer neuen Liebe mit ihrem Schmerz, ihrem Betrug und Selbstbetrug.“ Und gleichzeitig sind all diese Themen, die Reimann umtreiben – die Suche nach einer privaten und politischen Heimat, nach Erfolg im Beruf, die Zweifel am eigenen Talent und dann wieder die Höhenflüge, das Aufbäumen gegen Heuchelei und Bürokratie – aktueller denn je. Der heutigen Oberflächlichkeit kann man den enormen inneren Reichtum dieser jungen Frau von einst entgegensetzen. Sie führte nach damaligen und sogar noch nach heutigen Begriffen ein unmoralisches Leben und war selbst sehr moralisch, was Anstand und Wahrheit anging. Diese lange freizügigen, tiefgründigen, lustigen, unglaublich modern gedachten und geschriebenen Tagebuchaufzeichnungen sind einzigartig und eröffnen einen Reimann-Kosmos, der weit über dieses Zeitdokument hinausragt. für die Bühne bearbeitet von Karoline Felsmann Premiere am 25. November 2023 Regie: Elina Finkel Bühnen- und Kostümbild: Norbert Bellen Dramaturgie Karoline Felsmann mit Sybille Böversen / Nicole Haase, Clara Luna Deina & Johanna Falckner / Anna Schönberg

Die Tagebücher der Schriftstellerin Brigitte Reimann, die sie bis kurz vor ihrem Krebstod 1973 führte, konnten erst 1989 veröffentlicht werden. Sie sind wie eine Zeitmaschine: Sie zeigen das Leben dieser jungen Frau in der DDR der 1950er und 1960er Jahre auf unfassbar ehrliche und berührende Weise. Berufliche, private, politische und künstlerische Gedanken spielen gleichermaßen eine große Rolle. Ihr Tagebuch erzählt Geschichten von Widerständigkeit und vom Scheitern: „Die Schatten, die der Schriftsteller und Künstler sieht, wirft das Licht des umfassenden Aufbaus des Sozialismus.“ Ausführlich beschreibt sie ihre Gefühle: „Ich kann nicht leben ohne diesen euphorischen Rausch einer neuen Liebe mit ihrem Schmerz, ihrem Betrug und Selbstbetrug.“ Und gleichzeitig sind all diese Themen, die Reimann umtreiben – die Suche nach einer privaten und politischen Heimat, nach Erfolg im Beruf, die Zweifel am eigenen Talent und dann wieder die Höhenflüge, das Aufbäumen gegen Heuchelei und Bürokratie – aktueller denn je. Der heutigen Oberflächlichkeit kann man den enormen inneren Reichtum dieser jungen Frau von einst entgegensetzen. Sie führte nach damaligen und sogar noch nach heutigen Begriffen ein unmoralisches Leben und war selbst sehr moralisch, was Anstand und Wahrheit anging. Diese lange freizügigen, tiefgründigen, lustigen, unglaublich modern gedachten und geschriebenen Tagebuchaufzeichnungen sind einzigartig und eröffnen einen Reimann-Kosmos, der weit über dieses Zeitdokument hinausragt.

für die Bühne bearbeitet von Karoline Felsmann
Premiere am 25. November 2023

Regie: Elina Finkel
Bühnen- und Kostümbild: Norbert Bellen
Dramaturgie Karoline Felsmann
mit Sybille Böversen / Nicole Haase, Clara Luna Deina & Johanna Falckner / Anna Schönberg

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Uraufführung<br />

Die Tagebücher der<br />

Brigitte Reimann 1955-1970


<strong>Ich</strong> <strong>bedaure</strong> <strong>nichts</strong><br />

Die Tagebücher der Brigitte Reimann 1955-1970<br />

für die Bühne bearbeitet von Karoline Felsmann<br />

Uraufführung<br />

mit <br />

<br />

<br />

Sybille Böversen / Nicole Haase<br />

Clara Luna Deina<br />

Anna Schönberg / Johanna Falckner<br />

Regie Elina Finkel<br />

Bühnen- & Kostümbild Norbert Bellen<br />

Dramaturgie Karoline Felsmann<br />

Regieassistenz/Soufflage Vladislav Weis, Laura Mancusi<br />

Technische Leitung Peter Jeske Produktions- & Werkstattmanagement<br />

Steffen Wolf Technische Einrichtung Ralf Gärtner Beleuchtung Thomas-Frank<br />

Klein Tontechnik Reiner Lehmann Leiterin der Kostümabteilung Karin Laïd<br />

Gewandmeisterin Cornelia Weise Maske Lysann Rygiel<br />

Requisite Andreas Ellerfeld<br />

Premiere 25. November 2023 im Studio<br />

Dauer ca. 2 h 30 min (inkl. Pause)<br />

Aufführungsrechte henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin


v.l.n.r. Nicole Haase, Anna Schönberg & Clara Luna Deina<br />

1


Bemerkungen zu einer<br />

neuen Stadt<br />

Artikel aus der „Lausitzer Rundschau“ vom 17. August 1963<br />

Die Frage „Kann man in Hoyerswerda<br />

küssen?“ ist von einigen Lesern<br />

wohl allzu wörtlich verstanden<br />

worden, und gewiß wäre es überflüssig,<br />

einen Meinungsstreit zu<br />

entfesseln darüber, ob Küssen eine<br />

angenehme Beschäftigung ist und<br />

verliebte Leute auch in der nüchternsten<br />

Straße eine Zuflucht für<br />

ihre Zärtlichkeiten finden. In Wahrheit<br />

zielte meine Frage, die ich bei<br />

der Diskussionsrunde im Nationalrat<br />

stellte, auf etwas anderes: auf den<br />

Mangel an Atmosphäre, an Intimität<br />

in unserer Stadt, in Hoyerswerda.<br />

Wir leben in einer Stadt aus dem<br />

Baukasten: eine schnurgerade<br />

Magistrale, schnurgerade Nebenstraßen,<br />

standardisierte Häuser,<br />

standardisierte Lokale (man ist nie<br />

ganz sicher, in welchem man denn<br />

nun sitzt), standardisierte Kaufhallen<br />

… Die Straßen, obgleich nur für<br />

Durchgangsverkehr gedacht, sind<br />

zudem unpraktisch; sie ignorieren<br />

die Erfindung des Autos.<br />

Das Leben besteht nicht nur aus<br />

den acht Stunden Arbeitszeit. Es<br />

gibt kein Theater, kein Kino (wenn<br />

man das kümmerliche Provisorium<br />

in der Aula der Oberschule nicht<br />

rechnen will), es gibt kein Tanzlokal<br />

für die jungen Leute. Es ist ein<br />

Irrtum zu glauben, daß eine Stadt<br />

modern wird durch den Aufwand<br />

der Buntheit. Wer sich gründlich mit<br />

allen diesen Fragen beschäftigt,<br />

wird voraussagen können, wie<br />

in fünf oder zehn Jahren die Bewohner<br />

auf ihre Stadt reagieren<br />

werden: die kulturellen Bedürfnisse<br />

wachsen, das ästhetische<br />

Empfinden entwickelt sich, und die<br />

Beziehungen zu einer Stadt, der<br />

weder Großzügigkeit noch Intimität<br />

eignet, werden nicht mehr allein<br />

bestimmt durch die Freude am<br />

privaten Wohnkomfort.<br />

<strong>Ich</strong> habe eine große Bibliothek, eine<br />

Schallplattensammlung, ich reise,<br />

besuche oft die Gemäldegalerie –<br />

kurz, um es offen zu sagen, meine<br />

Freizeit ist nicht verknüpft mit der<br />

Stadt, wenn man von gelegentlichen<br />

Gesprächen mit Freunden<br />

und Kollegen absieht. Eine Zeitlang<br />

habe ich mich einer übertriebenen<br />

Empfindlichkeit verdächtigt, weil<br />

mich die langweiligen Fassaden<br />

der Magistrale bedrücken (nein, es<br />

macht keinen Spaß, dort entlang<br />

zu bummeln, es gibt nicht einmal<br />

Schaufenster zu besehen), und weil<br />

ich den Ausblick auf eine Kolonne<br />

von Müllkübeln und Leinen voll<br />

trocknender Wäsche nicht schön<br />

finde, der einen Eindruck von<br />

kleinstädtischer Enge hervorruft.<br />

Inzwischen habe ich mich mit vielen<br />

Leuten unterhalten, die ein ähnliches<br />

Unbehagen verspüren.<br />

2


Eine dringliche Aufgabe: Wir brauchen<br />

ein Jugendklubhaus – nicht<br />

irgendein Provisorium, sondern<br />

ein festes Haus, das Raum genug<br />

bietet für die verschiedenen Zirkel<br />

und Interessengruppen, und in dem<br />

man Konzerte und Tanzabende<br />

veranstalten kann. Die Jugend will<br />

etwas „erleben“, und diese Unruhe<br />

hat <strong>nichts</strong> Negatives und kann nicht<br />

allein in die geordneten Rahmen der<br />

Produktionstaten gelenkt werden.<br />

Die Jugend hat auch ein Recht auf<br />

Vergnügen, sie ist temperamentvoll<br />

– soll sie sich doch austoben.<br />

Und, da ich nun schon beim<br />

Wünschen bin: ein Lese-Café, das<br />

von einem guten Innenarchitekten<br />

mit Geschmack eingerichtet wird,<br />

in dem kein Radio brüllt, und wo es<br />

so frivole Dinge wie eine kleine Bar,<br />

Klubtische und Stehlampen mit<br />

mildem Licht gibt.<br />

Zum Schluß ein paar Worte über<br />

eine ärgerliche Beobachtung:<br />

Wir sind im Januar 1960 in einen<br />

Wohnblock im ersten Stadtviertel<br />

gezogen. Vor uns waren schon<br />

rührige Kolporteure dagewesen, die<br />

bemalte Wandbehange feilgeboten<br />

hatten, und man findet heute noch<br />

in vielen Wohnungen diese Reiher<br />

im Schilf oder singende Gondolieri<br />

in einer Landschaft, die sich venezianisch<br />

gibt. Später lernte ich dann<br />

auch Leute kennen, die Ölschinken<br />

(Sie kennen die beliebten Motive:<br />

röhrende Hirsche und Birkenwäldchen)<br />

verscherbelten zu Preisen,<br />

für die man ein Dutzend vortrefflicher<br />

Reproduktionen bekommt.<br />

Freilich bin ich weit entfernt davon,<br />

mich über jene lustig zu machen,<br />

die sich diese Scheußlichkeiten<br />

gekauft haben: Sie kamen in eine<br />

neue Wohnung, sonnig, mit pastellfarbenen<br />

Wänden, und natürlich<br />

hatten sie das Bedürfnis, die Wände<br />

zu schmücken; wer wollte ihnen<br />

ihren Mangel an Kunstverständnis<br />

vorwerfen? Von den Zimmerwänden<br />

ablesbar ist die Schuld<br />

einer Gesellschaftsordnung, die<br />

den Geschmack systematisch<br />

verbildet hat. Heute aber muß man<br />

die Flut von Kitsch und Kunstersatz<br />

eindämmen, es ist unsere Aufgabe,<br />

und wir haben die Mittel. Warum<br />

werden sie so wenig genützt?<br />

Warum stehen noch immer in den<br />

Läden jene halbnackten rosigen<br />

Tänzerinnen? Warum sind wir den<br />

Kolporteuren nicht zuvorgekommen?<br />

Das Bedürfnis nach Schmückendem,<br />

Schönem ist da, man muß<br />

es aber behutsam beeinflussen<br />

und lenken. <strong>Ich</strong> möchte nur drei<br />

von vielen möglichen Wegen vorschlagen:<br />

Man kann regelmäßig<br />

Ausstellungen von Werken der bildenden<br />

Kunst, mit Leihgaben oder<br />

Reproduktionen, veranstalten; man<br />

kann für einige Zeit Reproduktionen<br />

in die Hausaufgänge hängen, vielleicht<br />

mit einem erläuternden Text<br />

zum Bild und seinem Maler.<br />

Das ist also einiges von dem, was<br />

ich auf dem Herzen habe, ich würde<br />

mich freuen, wenn es öffentliche<br />

Gespräche darüber geben würde,<br />

wie man unsere Stadt schöner und<br />

heiterer gestalten kann.<br />

Brigitte Reimann<br />

3


Brief an die Eltern<br />

Brigitte Reimanns<br />

Schierke, der 25.03. 1973<br />

Liebe, sehr verehrte Frau Reimann, sehr geehrter Herr Reimann,<br />

ich habe das Bedürfnis, Ihnen zu schreiben.<br />

In den letzten drei Jahren, als ich mit Brigitte befreundet war, hat mich ihre<br />

Art, trotz der Krankheit zu leben und die Ansprüche an sich selbst nicht zu<br />

senken, sehr beschäftigt. Als ich sie zum letzten Mal besuchte – das war fünf<br />

Tage vor ihrem Tod –, warf sie sich selber vor, daß sie nicht mehr die Kraft<br />

zum Schreiben aufbrachte. Immer noch erlaubte sie sich nicht, die Krankheit<br />

vollkommen Macht über sich gewinnen zu lassen. Wir haben oft über ihre neuen<br />

Einsichten gesprochen, die sie, wenn sie erst dieses letzte Buch beendet hätte,<br />

dazu bringen sollten, neu und ganz anders zu schreiben. Wahrscheinlich hätte<br />

sie es gekonnt.<br />

<strong>Ich</strong> weiß nicht, ob viele Menschen – auch die, die in hohem Alter erst sterben –<br />

von sich sagen können, daß sie so intensiv gelebt haben wie Brigitte. Daß sie<br />

so lebendig war, hat andere angezogen, daß sie neugierig, aber nicht hochmütig<br />

war, daß sie vieles verstand und sich selbst mit ihrer eigenen Problematik<br />

nicht hinter einer Maske versteckte. Natürlich erfuhr sie dabei, daß es anstrengender<br />

ist, so zu leben, sich nicht einzumauern, auf alles zuzugehen.<br />

Aber sie erfuhr auch, daß es nur so sinnvoll ist. Sie hat viel Freude gehabt,<br />

und sie konnte sich freuen, bis in ihre letzte Zeit hinein. Vielleicht kann es<br />

auch Ihnen mit der Zeit gelingen, dieses frühere Gesicht von Brigitte hinter<br />

dem anderen aus den letzten Tagen, das auch mir jetzt dauernd vor Augen steht,<br />

wiederzugewinnen.<br />

Die ganze Zeit über habe ich tief bedauert, daß wir uns erst näher kennenlernten,<br />

als sie schon krank war und ich wußte, daß ihre Lebenszeit nach Jahren<br />

gezählt war. So ist es in der Frage, die ihr die wichtigste sein mußte – Leben<br />

oder Tod –, nie zur letzten Aufrichtigkeit zwischen uns gekommen. Der Gesunde<br />

muß in diesem Fall Lüge und Verstellung auf sich nehmen. Aber ich denke heute,<br />

sie hat manches auch von dem verstanden, was nicht ausgesprochen wurde, und<br />

hat versucht, es den anderen nicht zu schwer zu machen. Zuletzt habe ich ihr den<br />

Tod gewünscht.<br />

<strong>Ich</strong> bin sicher, daß ihr letztes Manuskript, auch wenn das allerletzte Kapitel<br />

fehlt, veröffentlicht werden wird. Wenn ich dabei irgendwie helfen kann, will<br />

ich es gerne tun. Überhaupt bitte ich Sie, sich an mich zu wenc n, falls ich<br />

Ihnen in irgendeiner Angelegenheit helfen kann.<br />

Es bleibt mir <strong>nichts</strong>, als Ihnen zu sagen, daß viele Brigitte liebten und mit<br />

Ihnen trauern.<br />

Ihre Christa Wolf<br />

4


Brigitte Reimann<br />

und<br />

das Ministerium<br />

für Staatssicherheit<br />

Wolfgang Schreyer erinnert sich<br />

„Oberst Knoppe, Leiter des MfS in Magdeburg lädt den Vorstand des DSV-<br />

Bezirksverbandes Magdeburg zum 19.12.1958 in den Club ‚Otto v. Guericke‘,<br />

diesmal plus Kronzeugin. Zuvor hat er sie aus Burg abholen und zur Furchteinflößung<br />

in sein Amt bringen lassen. Dort erklärt ihr Major Kühne, wegen<br />

des Bruchs ihrer Schweigepflicht setze man sie fest! Entweder widerrufe<br />

sie ihre Behauptungen, oder der Staatsanwalt schreibe den Haftbefehl<br />

aus. Tatbestand: Staatsverleumdung. Ihr wird angst, doch sie weigert<br />

sich, kann ohne Gesichtsverlust nicht mehr zurück. Kühne lässt sie<br />

schikanieren. Im hauseigenen U-Haft-Trakt, Frauenabteilung, zeigt man<br />

ihr als künftige Zellengefährtin eine Person, die beklemmend wirkt. Frau<br />

Reimann wird erkennungsdienstlich behandelt und peinlich auf Hafttauglichkeit<br />

untersucht; man hält ihr vor, die Liebhaber zu wechseln. Die Frau<br />

am Pranger! Zeitweilig nackt, auch verbal erniedrigt, gibt sie zu Protokoll,<br />

ja, es sei falsch von ihr gewesen, sich an den DSV zu wenden; sie habe das<br />

MfS nicht in Mißkredit bringen wollen. Ihr hilft jetzt nur, daß man sie zum 19.<br />

Dezember braucht – unversehrt, auf freiem Fuß. Ein wenig glaubt sie sich<br />

durch ihre Mitgliedschaft im DSV geschützt.“<br />

Am 18. November 1958 beschließt das MfS, die Verbindung zum GI<br />

„Caterine“ abzubrechen, und übergibt Brigitte Reimann der „Operativen<br />

Personenkontrolle“. Ab diesem Zeitpunkt wird die Autorin von der Staatssicherheit<br />

umfangreich überwacht.<br />

5


v.l.n.r. Nicole Haase, Clara Luna Deina & Anna Schönberg


11. Plenum der DDR<br />

Das Ende des Reformprozesses<br />

Das Wirtschaftsplenum findet wie<br />

geplant im Dezember 1965 statt. Ulbricht<br />

selbst hält die programmatische<br />

Rede mit dem Wirtschaftsthema<br />

im Zentrum. Doch den Bericht<br />

des Politbüros überlässt Ulbricht<br />

seinem Stellvertreter Honecker. Und<br />

der sonst so blasse Politbürokrat<br />

hält eine in ihrer Aggressivität<br />

überraschende Inquisitions-Rede,<br />

die dem 11. ZK-Plenum den Ruf des<br />

„Kahlschlagplenums“ eingebracht<br />

hat.<br />

Unter der Überschrift „Ein sauberer<br />

Staat mit unverrückbaren Maßstäben“<br />

beginnt die große Abrechnung.<br />

Honecker arbeitet einen Sündenfall<br />

der „Kulturschaffenden“ nach dem<br />

anderen ab, versucht den Eindruck<br />

zu erwecken: Die Republik ist in<br />

Gefahr! Wer sie dahin gebracht hat?<br />

Künstler und Literaten!<br />

Tauwetter? Nicht mit uns! Honeckers<br />

Generalvorwurf lautet:<br />

„Leider hat sich in den letzten<br />

Jahren eine neue Art Literatur<br />

entwickelt, die im Wesentlichen aus<br />

einer Mischung von Sexualität und<br />

Brutalität besteht. Ist es ein Wunder,<br />

wenn nach dieser Welle in Literatur,<br />

Film, Fernsehen und Zeitschriften<br />

manche Jugendlichen nicht mehr<br />

wissen, ob sie richtig oder falsch<br />

handeln, wenn sie dort ihre Vorbilder<br />

suchen?“<br />

Pünktlich zum Plenumsbeginn<br />

machen altbekannte Dogmatiker<br />

der Kulturpolitik Stimmung – was<br />

beweist, dass Honecker <strong>nichts</strong> dem<br />

Zufall überlässt. Alexander Abusch<br />

hat eine Klassenkampfpredigt<br />

parat, die eigentlich, so dachte<br />

man, nicht mehr in die Zeit passt. Er<br />

behauptet, der „Kampf gegen den<br />

Dogmatismus“ sei ein Argument des<br />

Gegners, der auf diese Weise dem<br />

Sozialismus schaden wolle. Das ist<br />

Honeckers Linie des 11. ZK-Plenums.<br />

Wenn die „kapitalistische Unkultur<br />

ihre Sumpfblüten in der Literatur<br />

und Kunst treibt“, dann sei es Pflicht<br />

des sozialistischen Realismus, dagegen<br />

das Prinzip der „Sauberkeit“<br />

zu stellen.<br />

Das Maß an Militanz, mit dem Honecker<br />

über die Künstler und Literaten<br />

herfällt, erschreckt selbst Ulbricht.<br />

Unmittelbar nach Plenumsende<br />

hat Honecker ein Sofortprogramm<br />

parat. Kulturminister Hans Bentzien<br />

wird abgesetzt, der Chef der<br />

Jugendkommission des Politbüros<br />

ebenso.<br />

Bei den Künstlern und Literaten wird<br />

aus Erschrecken über die Militanz<br />

der Angriffe schnell Lähmung, aus<br />

Lähmung wird Ekel. Die Eliten – auch<br />

die sozialistisch eingestellten,<br />

die den Mauerbau noch mittrugen<br />

– wenden sich nach dem<br />

11. Plenum des ZK der SED von der<br />

herrschenden Partei ab. Die DDR<br />

stirbt von nun an nicht nur einen<br />

langsamen, aber unaufhaltsamen<br />

ökonomischen, sondern auch einen<br />

geistigen Tod.<br />

Gunnar Decker<br />

8


v.l.n.r. Nicole Haase, Clara Luna Deina & Anna Schönberg<br />

v.l.n.r. Anna Schönberg, Nicole Haase & Clara Luna Deina<br />

9


Lebensdaten<br />

Brigitte Reimann<br />

1933 am 21. Juli<br />

als Tochter des Bankkaufmanns Willi Reimann und seiner Frau Elisabeth<br />

(Angestellte eines kleinen Verlags) in Burg bei Magdeburg als<br />

ältestes von vier Geschwistern geboren.<br />

1947<br />

Erkrankung an Kinderlähmung mit 14 Jahren.<br />

1951<br />

Abitur. Bis Herbst 1953 Grundschullehrerin.<br />

Ende 1953<br />

heiratete sie überraschend den Maschinenbauer Günter Domnik.<br />

1954<br />

Fehlgeburt. Selbstmordversuch.<br />

1955<br />

Veröffentlichungen: „Der Legionär“, „Zwei schreiben eine Geschichte.<br />

Eine Skizze“, „Der Tod der schönen Helena“<br />

1956<br />

Veröffentlichungen: „Die Frau am Pranger“, „Die Kinder von Hellas“.<br />

Aufnahme in den DSV.<br />

1958<br />

Scheidung von Günter Domnik.<br />

1959<br />

Heirat mit dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann.<br />

1960<br />

Umzug nach Hoyerswerda. Veröffentlichung „Das Geständnis“.<br />

1961<br />

Veröffentlichung „Ankunft im Alltag“.<br />

10


1961<br />

Literaturpreis des FDGB (zusammen mit Siegfried Pitschmann) für die<br />

Hörspiele „Ein Mann steht vor der Tür“ und „Sieben Scheffel Salz“.<br />

1962<br />

Literaturpreis des FDGB für „Ankunft im Alltag“.<br />

1963<br />

Veröffentlichung „Die Geschwister“. Beginn der Arbeit an<br />

„Franziska Linkerhand“. Wahl in den Vorstand des DSV.<br />

1964<br />

Teilnahme an der II. Bitterfelder Konferenz. Sibirienreise als Mitglied<br />

einer Delegation des Zentralrats der FDJ. Scheidung von Siegfried<br />

Pitschmann. Heirat mit Hans Kerschek.<br />

1965<br />

Veröffentlichung: „Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise“.<br />

Heinrich-Mann-Preis der DAK für „Die Geschwister“. Carl-<br />

Blechen-Preis des Rates des Bezirks Cottbus für Kunst, Literatur und<br />

künstlerisches Volksschaffen.<br />

1968<br />

wird Krebs festgestellt und OP. Umzug nach Neubrandenburg.<br />

1970<br />

Scheidung von Hans Kerschek.<br />

1971<br />

Heirat mit dem Arzt Rudolf Burgartz.<br />

Brigitte Reimann stirbt am 20. Februar 1973 in Berlin-Buch.<br />

Weitere Veröffentlichungen: 1974 „Franziska Linkerhand“ (unvollendet);<br />

2005 „Das Mädchen auf der Lotosblume“; 2022 „Die Denunziantin“<br />

(unzensiert); 2023 „Die Geschwister“ (mit neugefundenen Manuskriptseiten)<br />

11


Stadtbibliothek Senftenberg<br />

Öffnungszeiten<br />

Mo: 09:00 - 18:00 Uhr<br />

Di: 11:00 - 18:00 Uhr<br />

Mi: Geschlossen<br />

Do: 11:00 - 18:00 Uhr<br />

Fr: 11:00 - 18:00 Uhr<br />

Sa: 09:00 - 12:00 Uhr<br />

Adresse<br />

Krankenhausstr. 4<br />

01968 Senftenberg<br />

Webseite<br />

https://stadtbibliot<br />

hek.senftenberg.de<br />

Wir freuen uns auf Ihren<br />

Besuch!<br />

Bibliothek<br />

Schule<br />

Kita<br />

Grafiken: Canva<br />

12


→ Liebe Gäste,<br />

wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und /oder Bildaufnahmen<br />

unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Bitte schalten<br />

Sie Ihre Mobiltelefone stumm. Vielen Dank.<br />

→ Die neue Bühne dankt<br />

Blumen Mädler für die Premierenrosen<br />

→ Ein besonderer Dank geht an das Literaturzentrum<br />

Neubrandenburg e.V., Brigitte-Reimann-Literaturhaus<br />

für die freundliche Unterstützung der Recherchearbeit!<br />

Impressum<br />

neue Bühne Senftenberg, Theaterpassage 1, 01968 Senftenberg<br />

Intendant Daniel Ris Gestaltung www.pingundpong.de Redaktion Karoline Felsmann Fotos Steffen<br />

Rasche Textnachweis Brigitte Reimann: „Bemerkungen zu einer neuen Stadt“, aus: Lausitzer Rundschau<br />

vom 17.8.1963, BRA 171, (gekürzt) Brigitte Reimann, Christa Wolf: Sei gegrüßt und lebe – Eine<br />

Freundschaft in Briefen, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin und Weimar 1993, (gekürzt). Carsten<br />

Gansel: <strong>Ich</strong> bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2023<br />

Gunnar Decker: 11. Plenum der DDR vor 50 Jahren, aus: Der Tagesspiegel, 09.12.2015; https://www.<br />

tagesspiegel.de/gesellschaft/das-ende-des-reformprozesses-5202352.html (gekürzt)<br />

Gefördert mit Mitteln des Ministeriums<br />

für Wissenschaft, Forschung und Kultur<br />

des Landes Brandenburg.<br />

13


„Alles schmeckt<br />

nach Abschied.“

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