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Leseprobe_In den Spiegel greifen

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Achim Benning<br />

<strong>In</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Spiegel</strong><br />

<strong>greifen</strong><br />

Texte zum Theater 1976–2023<br />

Herausgegeben von Peter Roessler


<strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong><br />

Texte zum Theater<br />

1976–2023


Achim Benning<br />

<strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong><br />

Texte zum Theater<br />

1976–2023<br />

Herausgegeben und mit einem Essay von Peter Roessler


Gefördert von der Stadt Wien Kultur<br />

Lektorat: Christina Kramer<br />

Satz und Covergestaltung: Nikola Stevanović<br />

(Coverbild: © Kurt Brazda)<br />

Achim Benning:<br />

<strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong>. Texte zum Theater 1976–2023<br />

Herausgegeben und mit einem Essay von Peter Roessler<br />

2. überarbeitete und stark erweiterte Auflage<br />

Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Hergestellt in der EU<br />

© Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99094-176-8


<strong>In</strong>halt<br />

Peter Roessler<br />

9 Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

Achim Benning<br />

19 Texte zum Theater<br />

Wien 1976–1986<br />

21 1 Burgtheater – 201. Jahr – Gedanken nach dem Jubiläum<br />

25 2 Rückblick – Ausblick – Utopie<br />

27 3 Wohin geht das heutige Burgtheater?<br />

30 4 Alma Seidler (8. 6. 1899 – 8. 12. 1977)<br />

32 5 40. Jahrestag der Besetzung Österreichs – Eine Matinee<br />

33 6 Pressekonferenz vom 2. Mai 1978<br />

35 7 Verleihung der Ehrenurkunde des Yad Vashem an Dorothea Neff<br />

36 8 Verleihung der Josef Kainz-Medaille 1980<br />

40 9 Was erwarten Sie vom Burgtheater?<br />

45 10 Friedrich Heer (10. 4. 1916 – 18. 9. 1983)<br />

46 11 Leopold Lindtberg (1. 6. 1902 – 18. 4. 1984)<br />

51 12 Manfred <strong>In</strong>ger (1. 1. 1907 – 25. 7. 1984)<br />

54 13 Norbert Kappen (1. 2. 1928 – 23. 8. 1984) – Ein Briefwechsel mit Karl<br />

Fruchtmann<br />

60 14 Adrienne Gessner – Kein Hasard-Spiel<br />

62 15 Burgtheatertag „<strong>In</strong>sel der Seligen“ – „I<strong>den</strong>tität und Verdrängung in der<br />

Zweiten Republik 1945 – 1955 – 1985 – ?“<br />

64 16 Burgtheatertag 1955–1985 – 30. Jahrestag der Wiedereröffnung<br />

67 17 Blanche Aubry (21. 2. 1921 – 9. 3. 1986)<br />

70 18 An das Publikum<br />

74 19 Burgtheater – 211. Jahr<br />

Zürich 1987–1992<br />

85 20 Theater in Zürich 1987<br />

88 21 Warum überhaupt Theater<br />

92 22 Eine Revolution ist nicht absehbar<br />

94 23 Theater in Zürich – wozu?


104 24 Eröffnung des Kultursymposiums 90 im Schauspielhaus Zürich<br />

106 25 Ahnungsgarantien<br />

109 26 Friedrich Dürrenmatt (5. 1. 1921 – 14. 12. 1990)<br />

112 27 Alles ist gesagt, nichts ist gesagt<br />

114 28 Lorbeerbaum und Bettelstab<br />

117 29 Statt einer Bilanz<br />

120 30 Werner Weber – Abschied<br />

123 Begegnungen – Fotografien<br />

Wien 1998–2023<br />

139 31 <strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong> – Notizen zu Arthur Schnitzlers „Professor<br />

Bernhardi“<br />

145 32 Michael Kehlmann – Der unbekannte österreichische Regisseur<br />

149 33 Adolf Dresen (31. 3. 1935 – 11. 7. 2001) – Ein Briefwechsel mit Andreas<br />

Dresen<br />

152 34 Georg Schuchter (5. 12. 1952 – 29. 9. 2001)<br />

157 35 Oskar Werner – Der Andere<br />

170 36 Matthias Kralj – Spuren lesen und Fährten legen<br />

177 37 Das Phantom – Begegnungen mit Max Reinhardt<br />

186 38 Veruntreute Jahre? – Verspätete Erinnerungen<br />

192 39 Das Reinhardt-Seminar 2004 – Gedanken zum Jubiläum<br />

199 40 Von Beruf: Werner Schneyder – „Der hat’s verdient!“<br />

206 41 Theatergedanken – Eine überflüssige Rede<br />

215 42 Michael Kehlmann – Abschied<br />

217 43 Annemarie Düringer – Flügel an <strong>den</strong> Füßen?<br />

222 44 Wege der Erinnerung<br />

231 45 Joachim Bißmeier – Statt einer Laudatio – ein Brief<br />

234 46 Ernst Jacobi – Auf der Suche<br />

242 47 Robert Meyer – „Der Komiker Valentin ist ein Nestroy“<br />

246 48 Jiří Gruša – Mein bisschen Tschechien<br />

257 49 Erika Pluhar – Der ganz gewöhnliche Anstand<br />

262 50 Heinrich Schweiger (23. 7. 1931 – 14. 7. 2009)<br />

269 51 Elias Canetti – Erinnerungen in Ruse<br />

278 52 Reinhard Urbach – Ein Brief an Peter Michael Braunwarth<br />

283 53 Toleranz – Gleichgültigkeit – Beliebigkeit – Zufall oder der Triumph des<br />

Opportunismus


301 54 Maria Becker – Eine Laudatio<br />

306 55 Das Burgtheater 1976–1986 – Ebenbild und Widerspruch in der<br />

Kreisky-Zeit<br />

322 56 Nestroy<br />

323 57 <strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong> – Burgtheater-Jubiläums-Gedanken<br />

332 58 Karlheinz Hackl (16. 5. 1949 – 1. 6. 2014)<br />

334 59 Pavel Landovský (11. 9. 1936 – 10. 10. 2014)<br />

339 60 Rudolf Buczolich (15. 5. 1934 – 13. 6. 2015) – Ein Brief an Elisabeth<br />

Ofenböck<br />

342 61 Das Lachen<br />

348 62 Lotte Tobisch – <strong>In</strong> dem Alter stirbt man nicht mehr<br />

353 63 Wir vermissen heute Abend Václav Havel<br />

360 64 Klischees, Etiketten und Parolen<br />

365 65 Geboren in Magdeburg<br />

370 66 Angelika Hurwicz – Aufnahme ihres Portraits in die Ehrengalerie des<br />

Burgtheaters<br />

373 67 Tumult der Erinnerungen<br />

Peter Roessler<br />

381 Erkundungen<br />

Über Achim Benning<br />

441 Anmerkungen<br />

Anhang<br />

451 Editorische Notizen<br />

461 Biographische Notizen<br />

469 Personenregister<br />

479 Dank


8<br />

Peter Roessler


Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

Peter Roessler<br />

Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

Dieses Buch gab es in vielen Zügen schon einmal und doch ist dies keine<br />

einfache Neuauflage. Es handelt sich vielmehr darum, die einmal getane Arbeit<br />

aufzu<strong>greifen</strong>, fortzusetzen und damit auch einem Wandel auszusetzen.<br />

Wiederzufin<strong>den</strong> sind hier daher Achim Bennings Texte aus der ersten Version<br />

des Buches „<strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong>“ von 2012 sowie der darin enthaltene<br />

Essay „Erkundungen. Über Achim Benning“, der einen Zusammenhang mit<br />

der Theaterarbeit und <strong>den</strong> Verhältnissen, in <strong>den</strong>en diese stattgefun<strong>den</strong> hat,<br />

herstellt. Waren diese Texte selbst auch nicht oder nur kaum zu verändern, so<br />

kann ihnen heute unter veränderten Bedingungen ein neues und erweitertes<br />

Verständnis zuwachsen, das jeweils zu entdecken wäre. Neue Zusammenhänge<br />

und damit auch neue Blickwinkel entstehen im nunmehr vorliegen<strong>den</strong><br />

Buch aber vor allem durch die zahlreichen neuen Texte von Achim Benning.<br />

Schon seine Texte zum Theater, wie sie mit dem Buch von 2012 vorgelegt<br />

wur<strong>den</strong>, sind nicht auf Abgeschlossenheit gerichtet. Das hängt nicht nur<br />

mit ihrer Entstehung aus bestimmten Anlässen zusammen, weshalb Benning<br />

für sie <strong>den</strong> Begriff der „Anlasstexte“ verwendete, die Unabgeschlossenheit<br />

ist ihnen vielmehr Voraussetzung. Die neuen Texte sind ebenso „Anlasstexte“,<br />

manchmal in einem strengen, dann wieder in einem weiteren Sinn. Und<br />

auch dort, wo es um einen autobiographisch bestimmten Rückblick geht,<br />

wird nichts abgeschlossen, zumal es sich um Themen handelt, die der Autor<br />

öfter aufgreift. Der Blick in die eigene Vergangenheit ist in diesem neuen<br />

Buch stärker gewor<strong>den</strong>, wozu sich Benning bekennt. Das und sein steter Bezug<br />

auf die Geschichte mögen indes auf nahezu paradox anmutende Weise<br />

eine gesteigerte Gegenwart erzeugen – für <strong>den</strong> Autor selbst und für die Leserinnen<br />

und Leser dieser Texte.<br />

Das Thema der Erinnerung bleibt auch in <strong>den</strong> neuen Texten von großer<br />

Bedeutung. Wie zuvor schon wird der gesellschaftliche und individuelle<br />

Wert von Erinnerung betont und zugleich wird diese befragt und in Zweifel<br />

gezogen. <strong>In</strong> einem allgemeinen Sinn gilt dies etwa für Bennings Kritik an<br />

öffentlichen Veranstaltungen, bei <strong>den</strong>en die Berufung auf Geschichte als<br />

Erzeugung von Geschichtslosigkeit wirkt. Auf nahezu satirische Weise hat<br />

er sich in einer hier abgedruckten Rede – die er 2013 auf dem „Jubiläumskongress“<br />

des Burgtheaters gehalten und der er übrigens auch <strong>den</strong> Titel „<strong>In</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong>“ gegeben hat – mit Jubiläumsfeierlichkeiten des Burgtheaters<br />

und deren jeweils opportunen Zahlenspielen auseinandergesetzt.<br />

Das Misstrauen erstreckt sich jedoch weiterhin auch auf die eigenen Erinnerungen,<br />

wie sich in <strong>den</strong> stärker autobiographisch geprägten Texten zeigt. Benning<br />

hat sich übrigens <strong>den</strong> Angeboten von Verlagen, eine Autobiographie zu<br />

9


Peter Roessler<br />

schreiben, stets verweigert. Geradezu als <strong>In</strong>begriff des Negativ-Bildes von<br />

Erinnerungspose und -fälschung gelten ihm die grassieren<strong>den</strong> Memoiren von<br />

Schauspielerinnen und Schauspielern. So ist auch das vorliegende Buch wieder<br />

keine Autobiographie, auch wenn geschriebene und gesprochene Erinnerungen<br />

darin eine große Rolle spielen.<br />

Die Frage nach der Erinnerung hat im Fall von Achim Benning noch eine<br />

Komponente, bei der das Gesellschaftliche mit dem <strong>In</strong>dividuellen erkennbar<br />

zusammenfällt. Der Vorgang kann als symptomatisch für <strong>den</strong> Blick auf Kultur<br />

und Theater verstan<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, wie er in Wien für die jüngere Zeit existiert.<br />

Gemeint ist die in publizistischen Hervorbringungen gezeigte Bereitschaft,<br />

jene von Claus Peymann, also dem Benning 1986 nachfolgen<strong>den</strong> Direktor,<br />

über Jahrzehnte hin kolportierte eigene Darstellung zu übernehmen, die <strong>den</strong><br />

Eindruck erwecken sollte, das Burgtheater sei vor ihm – Peymann – ein verschlafener<br />

Ort des Konservativismus gewesen. Vom Literaturwissenschaftler<br />

und Publizisten Ulrich Weinzierl wur<strong>den</strong> übrigens (in der „Welt“ vom<br />

4. 8. 2012, anlässlich seiner Besprechung des Bandes „<strong>In</strong> <strong>den</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>greifen</strong>“)<br />

solche Behauptungen mit „nichts als ein geschickter Werbeschachzug“<br />

klassifiziert. Doch erlangten sie eben <strong>den</strong> Rang einer offiziösen Theatergeschichtsschreibung,<br />

vielleicht auch deshalb, da sie jenseits des Verstehens realer<br />

Vorgänge existieren und das Einverständnis mit landläufigen Klischees<br />

transportieren konnten. Je<strong>den</strong>falls überstiegen sie die übliche Werbestrategie<br />

von Theaterdirektionen, sich als Erste und Letzte des jeweiligen Hauses zu<br />

präsentieren. Gemeinsam ist aber <strong>den</strong> gängigen Direktions-Manieren, wie sie<br />

vielerorts vorzufin<strong>den</strong> sind, dass mit Parolen und Etikettierung hantiert wird.<br />

Einer der neuen Texte von Benning in diesem Buch behandelt „Klischees, Etiketten<br />

und Parolen“ (2017), und wenn es dabei auch nicht um Theater oder gar<br />

um konkrete Direktionen geht, können die Leserinnen und Leser ihn doch<br />

ebenso darauf beziehen – sowie auf viele andere Phänomene der Gesellschaft.<br />

Verzerrungen in der Theaterpublizistik, was die Bewertung der Burgtheaterdirektion<br />

von Achim Benning betrifft, habe ich im Essay „Erkundungen“<br />

in diesem Buch zurechtzurücken versucht und dabei nebenher auch<br />

Erklärungen für <strong>den</strong> Erfolg von Hel<strong>den</strong>posen und Verschleierungen in <strong>den</strong><br />

gesellschaftlichen Voraussetzungen Österreichs, besonders in Wien, gesucht.<br />

Benning selbst hat sich zu seiner Nachfolge-Direktion kaum geäußert, wohl<br />

aber verwendete er öfter <strong>den</strong> Begriff der „vorsätzlichen Amnesie“, um Vorgänge<br />

in Kultur und Politik zu beschreiben, auch was die öffentliche Erinnerung<br />

und Nicht-Erinnerung an seine Burgtheaterdirektion betraf. Mit diesem<br />

von Gedanken Arthur Schnitzlers abgeleiteten Phänomen suchte Benning zu<br />

zeigen, wie aus opportunistischen Motiven eine Vergangenheit zurechtgebogen,<br />

verschwiegen und letztlich auch vergessen wer<strong>den</strong> kann. Der Journalist<br />

Reinhold Reiterer hat diesen Begriff aufgenommen und seinem Aufsatz zur<br />

Erinnerung an die Burgtheaterdirektion von Achim Benning <strong>den</strong> Titel „Theatergeschichtliche<br />

Amnesie“ gegeben.<br />

10


Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

Veröffentlicht ist Reiterers Aufsatz im Buch „Sturm und Spiel“, der die<br />

Theaterfotografie von Christine de Grancy dokumentiert. Benning hatte<br />

Christine de Grancy auf Vermittlung von Erika Pluhar als die wesentliche<br />

Fotografin für seine Direktionszeit am Burgtheater gewonnen. Das<br />

2022 veröffentlichte Buch „Sturm und Spiel“, samt Ausstellung im Theatermuseum<br />

(Wien), wurde von Mercedes Echerer initiiert und gestaltet. Die<br />

Theaterfotografien von Christine de Grancy, wie sie in „Sturm und Spiel“<br />

gesammelt sind, eröffnen – neben ihrem eigenständigen Rang in der Geschichte<br />

der fotografie – auch ein Verständnis zur Einschätzung der Direktionszeit<br />

von Achim Benning. Der Erfolg des Buches, der Ausstellung und der<br />

Begleitveranstaltungen kann zudem als Zeugnis für ein durchaus bestehendes<br />

oder hervorgerufenes <strong>In</strong>teresse an einer Kenntnisnahme dieser Direktion<br />

gedeutet wer<strong>den</strong>.<br />

Ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit Leben und Werk<br />

Achim Bennings ist auch der 2023 fertiggestellte Film „Achim Benning –<br />

Homo Politicus“ von Kurt Brazda. Für ORF III als Fernsehfilm hergestellt,<br />

kann dieses dokumentarisch und dialogisch gestaltete Epos über einen politischen<br />

Theaterdirektor, Regisseur und Schauspieler im Zusammenhang<br />

mit seiner Zeit ebenso als unabhängiger Kinofilm wirken. Der Film hat<br />

eine lange Entstehungszeit, die zu erzählen eine eigene Darstellung wert<br />

wäre, und bietet das erkenntnisfördernde Entdecken einer vielfach vergessenen<br />

und ins Vergessen abgedrängten Theaterarbeit. Dass man ihm gespannt<br />

folgt, ist neben der Gestaltung auch <strong>den</strong> Erzählungen seines Protagonisten<br />

Achim Benning geschuldet. Das Gesprochene wirkt wie Geschriebenes, das<br />

für Zuhörende bestimmt ist. Solches ist übrigens auch in <strong>den</strong> Gesprächen<br />

erkennbar, die Renata Schmidtkunz („Im Gespräch“, 2016) und Cornelius<br />

Hell („Menschenbilder“, 2021) für ihre Radiosendungen auf Ö1 mit Benning<br />

führten und die ebenfalls Ausnahmen im medialen Angebot bildeten.<br />

Umgekehrt wiederum ist in Bennings geschriebenen Texten ein prägnant<br />

und unterhaltsam Sprechender zu erkennen, der dem Publikum etwas für die<br />

Gegenwart sagt und dabei wie von selbst eine Sprache findet, in der Analyse,<br />

Unerschrockenheit und Pointe zu einer Einheit wer<strong>den</strong>.<br />

Die Theaterarbeit und das Schreiben von Achim Benning sind nicht mit<br />

Etikettierungen zu erfassen, seien es politische oder ästhetische. Davon hat<br />

er selbst sich deutlich ferngehalten. Schon sein Wort vom „Theater des Zweifels“,<br />

das er an <strong>den</strong> Anfang seiner Zeit als Burgtheaterdirektor setzte, bezeugt<br />

das. Und auch die für ihn untrennbare Verbindung zwischen Theater und<br />

Sprache gehört dazu. An dieser hielt er als Regisseur und Direktor ebenso<br />

fest, wie als Autor der in diesem Buch versammelten Texte. <strong>In</strong> ihnen findet<br />

sich eine Einheit von Gedachtem und Formuliertem, die wie selbstverständlich<br />

als Widerpart zu <strong>den</strong> angestrengten Parolen wirkt, von <strong>den</strong>en das<br />

Theater sonst häufig umrahmt wird. Bennings Schreiben verbindet sich mit<br />

der Sprache von Dichtern, die er zitiert und die auf solche Weise Teil seiner<br />

11


Peter Roessler<br />

Texte wer<strong>den</strong>. Sätze von ihnen wer<strong>den</strong> immer wieder verwendet, Fontane,<br />

Polgar, Schnitzler gehören dazu und unzählige andere; aus der Distanz ihrer<br />

historischen Verhältnisse heraus lässt sie Benning jene Verhältnisse beleuchten,<br />

in <strong>den</strong>en er schreibt.<br />

Die geistige und oft auch persönliche Nähe zu Zeitgenossen, für die Sprache<br />

und Schreiben existentiell waren, prägte Achim Bennings eigene Existenz<br />

in vielfältiger Form. Das beschränkte sich nicht nur auf das Theater, war<br />

aber oft auch hierfür bedeutsam. Zahlreiche Personen lassen sich nennen, mit<br />

<strong>den</strong>en es wesentliche Begegnungen von unterschiedlicher <strong>In</strong>tensität gab, von<br />

Elias Canetti bis Christa Wolf, von Václav Havel bis Friedrich Dürrenmatt,<br />

von Manès Sperber bis Thomas Hürlimann. Die in diesem Buch abgedruckten<br />

Fotografien sind vornehmlich Bennings Begegnungen mit Menschen aus<br />

dem Bereich der Literatur in vielerlei Dimensionen gewidmet, besonders natürlich<br />

der Dichtung, dann aber auch der Essayistik, der Übersetzung, der<br />

Literaturwissenschaft, schließlich der Verlagswelt.<br />

Als wichtige <strong>In</strong>stitution für Benning wirkte über die Jahre hin die „Österreichische<br />

Gesellschaft für Literatur“ (ÖGfL), deren Begründer Wolfgang<br />

Kraus sich in einem hohen Maße auch für Schriftsteller und Schriftstellerinnen<br />

engagierte, die von <strong>den</strong> Nationalsozialisten ins Exil getrieben wor<strong>den</strong><br />

waren, sowie für jene, die zu <strong>den</strong> Emigranten und „Dissi<strong>den</strong>ten“ aus dem<br />

„Osten“ gehörten. Benning hatte die Rolle der ÖGfL für seine eigene Arbeit<br />

bereits in Texten von 2008 und 2009 beschrieben, die in diesem Buch erneut<br />

abgedruckt sind. Sie wur<strong>den</strong> damals im Rückblick verfasst, aber seine Wertschätzung<br />

hielt an. 2022 schrieb er zur ÖGfL: „<strong>In</strong> vielen Jahrzehnten ein<br />

Ort ‚lebenserweitender‘ Begegnungen mit kostbaren Nebenmenschen, von<br />

<strong>den</strong>en ich mich gern bedingen ließ – und lasse“. Benning formulierte dies in<br />

einem Text aus „Anlass“ des 60-jährigen Jubiläums der „Gesellschaft“ – <strong>den</strong><br />

er für einen entsprechen<strong>den</strong> Band auf Ersuchen ihres Leiters Manfred Müller<br />

verfasste – und verwendete dabei, wie zuvor schon in anderen Zusammenhängen,<br />

Goethes Gedanken von <strong>den</strong> „Nebenmenschen“, die am „allerfördersamsten“<br />

für die eigene Entwicklung seien. <strong>In</strong> der ÖGfL hatte Benning in<br />

<strong>den</strong> frühen Jahren bei Veranstaltungen als Schauspieler Texte der Eingela<strong>den</strong>en<br />

gelesen und war dann über die Jahre hin immer wieder Autoren begegnet,<br />

die auch für seine Theaterarbeit wichtig waren oder wur<strong>den</strong>. Wolfgang<br />

Kraus ermöglichte solche Begegnungen und unterstützte überdies die Burgtheaterdirektion<br />

von Achim Benning, die von heftigen politischen Attacken<br />

betroffen war. Auch über diese langjährigen Angriffe ist im vorliegen<strong>den</strong><br />

Buch Genaueres zu erfahren.<br />

Begegnungen mit Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Bereiche<br />

erfolgten an verschie<strong>den</strong>en Orten und in verschie<strong>den</strong>en Zusammenhängen.<br />

Ihnen nachgehend lässt sich nicht nur etwas über Menschen und Werke, sondern<br />

auch über Kulturpolitik und Literaturverhältnisse erfahren. Bennings<br />

<strong>In</strong>teresse am Literarischen – worin natürlich das Dramatische seinen wichti-<br />

12


Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

gen Stellenwert hatte – war oft davon begleitet, gängigen Erscheinungsformen<br />

und Verhaltensweisen zu widerstreben. Er folgte also nicht der Absicht,<br />

sich informiert im Literaturbetrieb zu bewegen, sondern mit Autoren und<br />

Autorinnen etwas gedanklich in Bewegung zu bringen, das nicht in eine alte<br />

oder neue Apologie der Verhältnisse mündete. Dieses Verständnis von Zeitgenossenschaft<br />

erstreckte sich auch auf Verstorbene, die zu entdecken waren,<br />

um im gegenwärtigen Leben eine Rolle zu spielen. Nicht selten war das dann<br />

eine, die ihnen zu Lebzeiten verwehrt geblieben war – dafür ist die Entdeckung<br />

von Veza Canetti als Dramatikerin während der Direktion Benning<br />

am Schauspielhaus Zürich ein herausragendes Beispiel.<br />

All diese Begegnungen in- und außerhalb des Theaters vollständig zu erfassen<br />

oder gar ihren sichtbaren und unsichtbaren Spuren in <strong>den</strong> Texten von<br />

Benning zur Gänze nachzugehen, ist gar nicht möglich. Viele der Begegnungen<br />

in Form von Lektüre und Gespräch bergen ihre besonderen Erzählungen<br />

in sich, meist sind sie zudem mit anderen Begegnungen verknüpft, die wiederum<br />

ihre eigenen verzweigten Geschichten haben. Wiederholt lassen sich<br />

Hinweise darauf in <strong>den</strong> vorliegen<strong>den</strong> Texten fin<strong>den</strong>, doch ebenso in Texten<br />

oder Textfragmenten, die nicht in diesen Band aufgenommen wur<strong>den</strong>. Auch<br />

auf solche wird hier Bezug genommen.<br />

Eine Begegnung, die für Benning von großer Bedeutung war, und über<br />

die er nicht in seinen „Anlasstexten“, sondern nur in unveröffentlichten Aufzeichnungen<br />

geschrieben hat, war die mit Maik Hamburger, Dramaturg am<br />

Deutschen Theater in Berlin, bedeutender Shakespeare-Übersetzer, Theaterhistoriker.<br />

Im vorletzten Heft der „Planungen“ (I/1985) – wie die Vorschauhefte<br />

des Burgtheaters unter der Direktion von Achim Benning genannt<br />

wur<strong>den</strong> –, das dem Thema „Übersetzungen“ gewidmet ist, findet sich ein<br />

Beitrag von Maik Hamburger mit dem Titel „Übersetzen fürs Theater“. Darin<br />

gibt dieser eine lakonische Bestimmung der Bedeutung des „Dialogs“ für<br />

das Drama, die zugleich von Lei<strong>den</strong>schaftlichkeit für diese Form getragen<br />

ist. Nicht nur hierin dürfte Benning mit Maik Hamburger übereingestimmt<br />

haben. Benning hat mit ihm in Wien – Maik Hamburger wirkte als Shakespeare-Übersetzer<br />

für <strong>den</strong> Regisseur Adolf Dresen – und in Zürich zusammengearbeitet,<br />

wo Hamburger Dramaturg bei Bennings <strong>In</strong>szenierung von<br />

Thomas Hürlimanns Stück „Der letzte Gast“ war. Schon in seinem Text über<br />

Oskar Werner (2002) erzählt Benning von <strong>den</strong> Proben zu diesem Stück und<br />

nennt dabei Maik Hamburger. <strong>In</strong> <strong>den</strong> über zwanzig Jahre später geschriebenen<br />

Notaten zu Maik Hamburger, <strong>den</strong> er auch nach der Zürcher Zeit in<br />

Wien und Berlin regelmäßig getroffen hat, bezeichnet Benning ihn als einen<br />

Freund und schreibt über ihn:<br />

Der war ein Mann mit einer ‚Welt-Biographie‘! Geboren in Shanghai, wo er<br />

seine frühe Kindheit erlebte. Seine Mutter war eine sowjetische Agentin. Der<br />

Sohn verbrachte schließlich nach Aufenthalten in der Tschechoslowakei, in<br />

13


Peter Roessler<br />

Polen und auch in der Schweiz seine Schulzeit in Oxford, folgte seiner Mutter<br />

Anfang der 1950er Jahre in die DDR, studierte Physik in Leipzig, wo er Adolf<br />

Dresen kennenlernte, der in meiner Direktionszeit am Burgtheater für einige<br />

Jahre mein ‚Hausregisseur‘ war. Dessen sehr erfolgreiches essayistisches Werk<br />

entstand unter der Obhut von Maik Hamburger, der auch dessen Herausgeber<br />

war. (2023)<br />

Klugheit, <strong>In</strong>tegrität, Mut und persönliche Beschei<strong>den</strong>heit dieses schreiben<strong>den</strong><br />

und in höchstem Maße sprachfähigen Dramaturgen hingen eng mit<br />

seinem Leben zusammen, obwohl, wie Benning schrieb, „sein ‚äußerlicher‘<br />

Lebenslauf als Sohn einer sowjetischen Agentin, freiwillig in der DDR lebend,<br />

für <strong>den</strong> flotten Halbwissen<strong>den</strong> ein unauslöschlicher biographischer<br />

Makel bleibt; aber sind Klischees Erkenntnis-fördernd?“ Benning bezeichnete<br />

Maik Hamburger als einen „vorbildlichen Menschen“.<br />

Die enge Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Verlegern gehörte<br />

ebenfalls zu Achim Bennings Bindung an die Literatur. Zu <strong>den</strong>jenigen, deren<br />

Arbeit und Person für ihn vorbildlich waren, zählten Klaus Juncker, Leiter<br />

des Rowohlt Theater Verlags, Verleger und Betreuer von Václav Havel, sowie<br />

Daniel Keel, Begründer, <strong>In</strong>haber und Leiter des Diogenes Verlags. Zahlreiche<br />

Treffen mit Daniel Keel fan<strong>den</strong> in <strong>den</strong> Verlagsräumen statt, aber auch<br />

im Haus des Verlegers und seiner Frau, der Malerin Anna Keel. Das gehörte<br />

wesentlich zu Bennings Zeit als Direktor des Zürcher Schauspielhauses – und<br />

oft waren das auch Begegnungen mit Autoren. Der Diogenes Verlag wurde<br />

für Benning durch dessen Leiter zum geistigen Bezugsort oder angesichts<br />

der Zürcher Kulturpolitik gar zum Fluchtort, an dem die bessere Schweiz zu<br />

fin<strong>den</strong> war. Jahre später, als Daniel Keel ihm ein bei Diogenes verlegtes Exemplar<br />

des Helmut Qualtinger-Hörbuchs zukommen ließ, schrieb Benning<br />

an Keel: „Ich habe mich über Ihre Gabe auch deshalb besonders gefreut, weil<br />

die Begegnungen mit Ihnen zu <strong>den</strong> besonders erinnernswerten Ereignissen<br />

meiner fragwürdigen Zürcher Zeit gehören.“ (Brief an Daniel Keel, Wien,<br />

30. 12. 2008). Daniel Keel, entdeckungsfreudig der Literatur zugewandt,<br />

auch als Autor tätig, die von ihm verlegten Bücher selbst grafisch gestaltend<br />

und immer die Zeit wach beobachtend, war der Typus des bedeuten<strong>den</strong><br />

Verlegers, der schon damals durch <strong>den</strong> Wandel der Buchproduktion im Verschwin<strong>den</strong><br />

begriffen war. Er erschien Benning, dessen früher Berufswunsch<br />

der Gang ins „Verlagswesen“ – eigentlich der Beruf des Lektors – gewesen<br />

war, als Idealtypus einstiger Träume.<br />

<strong>In</strong> der Nummer 60 des Diogenes-Magazins „Tintenfass“ (1990), die, von<br />

<strong>den</strong> Herstellern als „Diogenes Jubelbuch“ bezeichnet, Leben und Werk der<br />

bei<strong>den</strong> Diogenes-Verleger Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart anlässlich<br />

ihres jeweiligen 60. Geburtstags gewidmet war, veröffentlichte auch Achim<br />

Benning einen Geburtstagstext für Keel. <strong>In</strong> diesem kurzen Beitrag – wie die<br />

meisten Texte in dieser Magazin-Nummer als handschriftliches Faksimile<br />

14


Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

abgedruckt – erzählt Benning die Geschichte, wie er einst von einem Freund<br />

überredet wurde, mit ihm zur Aufnahmsprüfung am Reinhardt-Seminar anzutreten.<br />

Benning, der, wie gesagt, <strong>den</strong> Wunsch hatte, Lektor zu wer<strong>den</strong>,<br />

wurde als Schauspielstu<strong>den</strong>t aufgenommen, sein Freund, der unbedingt zum<br />

Theater gewollt hatte, fiel durch – und wurde später Cheflektor in einem<br />

großen Verlag. „Aber wenigstens“, schreibt Benning in seinem Beitrag für<br />

Keel, „kenne ich nun einen großartigen Verleger – und bewundere ihn. Wäre<br />

mir das mit dem Theater nicht passiert, dann hätte ich mich sicher bei ihm<br />

beworben.“ Und später heißt es in Bennings Gratulationstext:<br />

Es ist wunderbar, daß Daniel Keel Verleger ist, aber es ist schade, daß er nicht<br />

Theaterdirektor ist.<br />

Wäre das gut, wenn Daniel Keel das wäre – und wäre das schlecht für seinen<br />

Verlag! Dann wäre das Schauspielhaus bedeutender als der Diogenes Verlag.<br />

Gar nicht <strong>den</strong>kbar!<br />

Und so sind wir <strong>den</strong>n zufrie<strong>den</strong> mit der guten Nachbarschaft.<br />

Im gedruckten Dankschreiben an seine Gratulanten und Gratulantinnen fügte<br />

Daniel Keel für Benning einen handschriftlichen Dank hinzu, der auch eine<br />

Replik war: „Wäre ich nicht Verleger, wäre ich am liebsten Theaterdirektor<br />

+ Regisseur – und zwar so einer wie Sie.“ (Zürich, November 1990)<br />

Was sich hier im witzigen Austausch zwei einander Zugetaner äußert,<br />

kann anekdotisch genommen wer<strong>den</strong> und drückt doch zugleich Achim Bennings<br />

Verbun<strong>den</strong>heit mit einer Literatur aus, in der die Welt enthalten ist<br />

und ihr zugleich begegnet wird. Seine Bekanntschaft mit Diogenes-Autoren<br />

beschränkte sich nicht auf Dramatiker, wobei Friedrich Dürrenmatt für ihn<br />

von besonderer Bedeutung war. Zu Bennings Begegnungen im Bereich der<br />

Diogenes-Literatur zählte etwa auch der Schriftsteller und Publizist Hugo<br />

Loetscher. Mit vielfältigen historischen und literarischen Kenntnissen ausgestattet,<br />

Friedrich Dürrenmatt freundschaftlich verbun<strong>den</strong>, weit gereist und<br />

allen Etikettierungen entzogen, war Hugo Loetscher ein pointierter Durchleuchter<br />

der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Schweiz und<br />

vieler anderer Länder. Der Titel seines letzten bei Diogenes erschienenen Buches<br />

„War meine Zeit meine Zeit“ (2009), in dem er seine lebensgeschichtlichen<br />

Erfahrungen darlegt, ohne eine Autobiographie zu schreiben, hätte<br />

auch der Titel eines Textes von Achim Benning sein können. Benning hat<br />

übrigens einmal in Erwägung gezogen, sich diesen Titel-Satz, der eine Frage<br />

ohne Fragezeichen ist, für einen eigenen Text auszuborgen.<br />

Anstelle von Einordnungen, die im Falle der Theaterarbeit und des Schreibens<br />

von Achim Benning ohnehin vergeblich wären, soll nur ein Phänomen<br />

hervorgehoben wer<strong>den</strong>, dessen Stellenwert aber kaum zu überschätzen ist:<br />

Die Bedeutung von Menschen des Exils, der Emigration, der Dissi<strong>den</strong>z für<br />

Leben und Arbeit von Achim Benning. Das zeigte sich 1976 bis 1986 am<br />

15


Peter Roessler<br />

Burgtheater, wurde in Zürich fortgesetzt und findet sich in zahlreichen seiner<br />

Texte. <strong>In</strong>sbesondere was die Periode von Bennings Burgtheaterdirektion<br />

betrifft, fand diese Bezugnahme in einer gesellschaftlichen Situation statt, da<br />

solches für <strong>den</strong> Theater- und Kulturbetrieb noch ungewöhnlich war. Vieles<br />

ist auch für spätere, veränderte Bedingungen ungewöhnlich geblieben, bis in<br />

unsere Gegenwart hinein. Dazu gehört, Exil, Emigration, Dissi<strong>den</strong>z nicht<br />

als Reservoir jenseits des alltäglichen Betriebs zu be<strong>greifen</strong>, dessen man sich<br />

gelegentlich zu besinnen und zu bedienen hat, sondern die Personen und ihre<br />

Werke als wesentlich für die eigene Arbeit zu verstehen.<br />

Drei entsprechende Aspekte seien hierzu genannt, die nicht gleichgesetzt<br />

wer<strong>den</strong> können und dies auch nicht wur<strong>den</strong>, wobei es in einzelnen Biographien<br />

Verbindungen zwischen verschie<strong>den</strong>en Formen der Verfolgung geben<br />

mochte.<br />

Erstens wur<strong>den</strong> am Burgtheater Dramen von Autoren gezeigt, die von<br />

<strong>den</strong> Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben wor<strong>den</strong> waren, sie waren<br />

damals in Wien weitgehend unbekannt – von Elias Canetti bis Peter Weiss.<br />

Für eine eigens gestaltete Matinee wur<strong>den</strong> 1978 im Akademietheater Texte<br />

aus Manès Sperbers Autobiographie „All das Vergangene ...“ von Schauspielerinnen<br />

und Schauspielern gelesen sowie vom Autor selbst kommentiert.<br />

Anlässlich des „Burgtheatertages“ von 1985, der <strong>den</strong> Titel „<strong>In</strong>sel der Seligen.<br />

I<strong>den</strong>tität und Verdrängung in der Zweiten Republik 1945 – 1955 – 1985 – ?“<br />

trug, fand die österreichische Erstaufführung des Holocaust-Films „Zeugen“<br />

von Karl Fruchtmann statt. Karl Fruchtmann, der auch am Burgtheater inszenierte,<br />

war selbst Häftling in <strong>den</strong> Konzentrationslagern Sachsenburg und<br />

Dachau gewesen, dann – auf Zusicherung, Deutschland sofort zu verlassen<br />

– 1937 freigekommen und schließlich ins Exil nach Palästina gelangt. Im<br />

Rahmen dieses „Burgtheatertages“ von 1985 waren auch Mitglieder der Lagergemeinschaft<br />

Auschwitz (Franz Danimann, Anna Sussmann, Hermann<br />

Langbein) zu einem Diskussionsprogramm eingela<strong>den</strong> wor<strong>den</strong>.<br />

Zweitens inszenierten Personen am Burgtheater, die die DDR verlassen<br />

hatten, wie Adolf Dresen und Angelika Hurwicz, die überdies aufgrund ihres<br />

jüdischen Vaters im Nationalsozialismus Restriktionen unterworfen war.<br />

Und ein bedeutender Schauspieler wie Jürgen Hentsch fand am Burgtheater<br />

seine Zuflucht, die seine Rettung war. Nach dem Ausreiseverbot und <strong>den</strong><br />

Bedrängungen, die er in der DDR erleben musste, wurde er von Benning ans<br />

Burgtheater engagiert. Dies geschah mit Unterstützung der österreichischen<br />

Bundesregierung und mit Hilfe von Maik Hamburger.<br />

Drittens gab es am Burgtheater ein tschechisches Exiltheater, vor allem<br />

mit <strong>den</strong> Stücken Václav Havels, der sich selbst übrigens nicht als „Dissi<strong>den</strong>t“<br />

bezeichnet wissen wollte. <strong>In</strong> der ČSSR aufgrund seiner Haltung <strong>den</strong> Repressionen<br />

des Regimes ausgesetzt, konnte er als Folge der Restriktionen der<br />

tschechischen Behör<strong>den</strong> gegen ihn nicht nach Wien kommen und hatte bald<br />

jahrelange Gefängnishaft zu erdul<strong>den</strong>. Zum tschechischen Exil am Burgthe-<br />

16


Zu diesem Buch und darüber hinaus<br />

ater gehörten auch Pavel Kohout, der als Dramatiker und Dramaturg, sowie<br />

Pavel Landovský, der als Ensemblemitglied und Autor wirkte.<br />

Über nicht wenige der Genannten ist in Achim Bennings Texten zu lesen,<br />

die bereits 2012 erschienen sind, auch der Essay „Erkundungen“ berichtet<br />

von ihrer Arbeit und ihrer Situation. Und in <strong>den</strong> neuen Texten von Achim<br />

Benning, die sich im vorliegen<strong>den</strong> Band fin<strong>den</strong>, wird ebenso mit besonderer<br />

<strong>In</strong>tensität über sie erzählt, bis hin zu persönlichen Begegnungen. Geendet<br />

sei mit einem Auszug aus unveröffentlichten Notaten von Benning zu „Emigranten<br />

und Dissi<strong>den</strong>ten“ (2013). Sie sind fragmentarisch, gehen in jüngere<br />

Lebensjahre zurück, streifen ans Autobiographische, indem sie von anderen<br />

Personen sprechen, interpretieren aber deren Leben nicht, sondern erzählen<br />

von Gesehenem und Erfahrenem. Es handelt sich um eine frühe Begegnung<br />

mit dem Schauspieler Alfred Balthoff, der sonst in Bennings „Texten zum<br />

Theater“ nicht vorkommt, dem er aber verbun<strong>den</strong> blieb – in- und außerhalb<br />

des Burgtheaters:<br />

Ich erinnere mich an einen vorletzten Fernsehtag in München, irgendwann<br />

Anfang der 1970er Jahre; in der Regie von Kurt Meisel war „Haus Herzenstod“<br />

von George Bernard Shaw gedreht wor<strong>den</strong>. Ich war in dieser Zeit<br />

gelegentlich auch privat mit Alfred Balthoff, <strong>den</strong> ich nicht persönlich gekannt<br />

hatte, und mit Axel von Ambesser zusammen und verdanke ihnen eine aufregende<br />

Begegnung im damaligen Opern-Café auf der Maximilianstraße mit<br />

Friedrich Hollaender, dem berühmten Komponisten. Balthoff kannte ihn aus<br />

der Vorkriegszeit, war wohl mit ihm befreundet und hatte ihn seither nicht<br />

mehr gesehen.<br />

Ich kann diese Begegnung dieser bei<strong>den</strong> alten Männer nicht beschreiben. Ich<br />

war betroffen, dass der lustige Balthoff weinte. Er war plötzlich be<strong>den</strong>klich<br />

erschöpft und wiederholte dauernd, wie wahnsinnig er sich freue. – An dem<br />

genannten vorletzten Fernsehtag sagte mir Balthoff unvermittelt, dass er sich<br />

am nächsten Tag nicht verabschie<strong>den</strong> werde. Ich solle das nicht falsch verstehen;<br />

er könne das nicht. Ich fand das wunderlich.<br />

Später erfuhr ich, dass er in Berlin die Nazizeit unter ständiger Lebensbedrohung<br />

in mehr als 60 Quartieren als ‚U-Boot‘ überlebt hatte. Unter anderen<br />

auch bei Albin Skoda. Über sechzig Mal ein Abschied, wahrscheinlich immer<br />

fürs Leben, von Mal zu Mal hoffnungsloser. Dann konnte er nicht mehr „Auf<br />

Wiedersehen“ sagen.<br />

Diese Geschichte geht erneut über die hier versammelten Texte hinaus. Sie<br />

gehört aber zu deren Hintergrund, so wie manch Ähnliches auch. Hierin<br />

kann einer der Gründe liegen, warum Gegebenes in <strong>den</strong> Texten nie einfach<br />

hingenommen wird. Das gilt nicht nur für ihre Traurigkeit, sogar ihr Witz<br />

hängt damit zusammen – und mit Achim Bennings anderen Gewährsleuten,<br />

Johann Nestroy und Karl Valentin. Dieser Witz ist ebenfalls immer mit<br />

17


Peter Roessler<br />

Sprache verbun<strong>den</strong>, macht die Verhältnisse durchsichtig, lässt uns über diese<br />

lachen und sie erkennen. <strong>In</strong>sgesamt geben die Texte dieses Bandes nicht nur<br />

Auskunft über einen Autor, der eigentlich bloß zu „Anlässen“ Autor wird,<br />

sondern auch über eine Welt, die weit über das Theater hinausreicht und<br />

doch in dieses hineinwirkt.<br />

Nachschrift<br />

Am 30. Jänner 2024 ist Achim Benning gestorben. Das Buch war bereits abgeschlossen.<br />

Wenn Achim Benning mir als dem Herausgeber auch sämtliche<br />

Freiheiten überlassen hatte, wur<strong>den</strong> seine Texte doch in enger Zusammenarbeit<br />

ausgewählt und redigiert. Ebenso wur<strong>den</strong> die Fotos, die allesamt seinem<br />

Privatarchiv entstammen, gemeinsam ausgesucht. Die mit diesem Buch vorliegen<strong>den</strong><br />

„Anlasstexte“ bil<strong>den</strong> nun in ihrer Gesamtheit wohl so etwas wie<br />

ein Werk, obwohl solches nicht beabsichtigt war. Sie sind auch jetzt nicht<br />

letzte Worte gewor<strong>den</strong>, sondern weiterhin Worte, die das Gespräch eröffnen.<br />

18


Wien 1976–1986<br />

Achim Benning<br />

Texte zum Theater<br />

19


20<br />

Achim Benning


Wien 1976–1986<br />

Wien 1976–1986<br />

1<br />

Burgtheater – 201. Jahr<br />

Gedanken nach dem Jubiläum<br />

Das Burgtheater gehe, so konnte man es in <strong>den</strong> letzten Wochen wiederholt<br />

und allerorten lesen und hören, einer ungewissen Zukunft entgegen. Ich hoffe<br />

das von ganzem Herzen. – Freilich ist meine Hoffnung eine ganz andere<br />

als jene der zitierten Auguren, die dem Burgtheater wohl oft lieber anempfehlen<br />

wür<strong>den</strong>, einer gewissen Vergangenheit nachzulaufen. – <strong>In</strong> unserer<br />

Welt der Unruhe, der Unbeständigkeit, der Angst und des Zweifels kann<br />

kein glaubwürdiges Theater, auch kein Staatstheater, kein Nationaltheater<br />

ein Ort der Gewissheit, der Ruhe und der beschaulichen Beglückung sein –<br />

aber sehr wohl, fern aller Esoterik, ein Ort der Hoffnung. – <strong>In</strong> unserem kleinen<br />

Vorschauheft, das wir Ihnen überreicht haben, stehen ein paar Sätze, die<br />

vielleicht geeignet sind, Ihnen anzudeuten, was wir unter glaubwürdigem Theater<br />

verstehen. Es heißt da, das glaubwürdige Theater könne die Wirklichkeit<br />

vergegenwärtigen und unsere Sehnsüchte am Leben erhalten, sie sicht- und<br />

hörbar wer<strong>den</strong> lassen, es könne unsere Gedanken versinnlichen und unsere<br />

Träume artikulieren, d. h. es könne Kunst sein. – Die aufklärerischen Ansprüche<br />

haben das Theater oft stranguliert, da sie, insbesondere im deutschen<br />

Sprachraum, immer wieder zu einer Waffe der Doktrinäre und Oberlehrer<br />

gewor<strong>den</strong> sind. – Mit dem Scheitern der bürgerlichen Aufklärung ist natürlich<br />

das aufgeklärt-humanistische Denken in keiner Weise diskreditiert; und<br />

selbstverständlich können Lessing und Schiller und auch nicht Joseph II. die<br />

provinziellen Theater-Oberlehrer vorgeworfen wer<strong>den</strong>, die sich permanent<br />

als lei<strong>den</strong>schaftliche Liebhaber der Vernunft deklarieren – und auch nicht die<br />

pubertären Weltbeglücker, die aus der moralischen eine ideologische Anstalt zu<br />

machen versuchen; <strong>den</strong>n es ist nun einmal, wie Peter Brook das sagt, „nicht<br />

die Schuld des Heiligen, dass er zu einer Waffe der Mittelklasse gewor<strong>den</strong> ist,<br />

damit die Kinder artig bleiben.“<br />

Das Theater ist also nicht die Fortsetzung der Erziehung mit anderen<br />

Mitteln. Wenn es schöpferisch ist, dann ist es ein Ort der Ungewissheit und<br />

unberechenbar wie die Wirklichkeit. Ohne Phantasie gibt es eine Welt der<br />

Fakten, der Zustände, der Vorkommnisse, doch keine Wirklichkeit. Die theatralische<br />

Vergegenwärtigung von Wirklichkeit ist also ein Werk der Phantasie,<br />

ist, wenn sie gelingt, Kunst, und Kunst ist immer, wie das Ernst Fischer<br />

gesagt hat, ein „Sieg der Wirklichkeit über die Ideologie.“ – Unsere Zeit,<br />

unsere Wirklichkeit müssen uns täglich neu verletzen können. Es ist eine<br />

wichtige Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit, in diesem Sinne verwund-<br />

21


Achim Benning<br />

bar zu sein. Wir dürfen uns nicht in die scheinbare Sicherheit der Programme<br />

flüchten. Wenn ich in diesem Zusammenhang von Programmen spreche, dann<br />

meine ich selbstverständlich vor allem die im Handel befindlichen Programme<br />

und Perspektiv-Pläne der deutschsprachigen <strong>In</strong>tendanten und Direktoren.<br />

– Der Reigen der programmatischen Erklärungen und Spielplan-Konzepte,<br />

die jährlich zwischen Flensburg und Klagenfurt mit großem und ernstem<br />

Anspruch verkündet wer<strong>den</strong>, legt doch vor allem Zeugnis ab über das<br />

schlechte Gewissen des Theaters, das offenbar überall unter Anklage steht<br />

und sich gesenkten Blickes schämt, weil es scheinbar nicht so ‚nützlich‘ ist<br />

wie die Autobahn oder die Krankenhäuser und trotzdem viel Geld kostet.<br />

Das anspruchsvolle Konzept gibt da wohl sehr oft zunächst einmal vor, dass<br />

die Subvention für etwas sehr Wichtiges, etwas „Relevantes“, das kulturelle<br />

Wohl und Wehe der Gemeinde, des Landes, des Staates Bestimmendes ausgegeben<br />

wird. Diese theoretische Überbeanspruchung des Theaters ist dann<br />

zumeist künstlerisch nicht zu erfüllen, so dass infolge der unvermeidlichen<br />

Enttäuschung das Misstrauen gegen das Theater wächst, und seine Verächter<br />

immer zahlreicher wer<strong>den</strong>.<br />

Das Burgtheater wurde und wird zudem noch der Überbeanspruchung<br />

durch seine Vergangenheit ausgesetzt: Das ‚eigentliche‘ Burgtheater ist immer<br />

das vergangene, nie das gegenwärtige, manchmal das zukünftige, wenn<br />

die Zukunft der Vergangenheit ähnlich zu wer<strong>den</strong> verspricht.<br />

Mit dieser Feststellung sind wir in die Nähe eines Begriffes geraten, der<br />

in der Geschichte dieses Theaters immer von Bedeutung war, und der auch<br />

heute noch im Zentrum vieler Diskussionen, Aggressionen und Apologien<br />

steht, nämlich der Begriff der Tradition. Ich bekenne mich zur Tradition des<br />

Burgtheaters, wobei ich unter Tradition das Gegenteil von Konvention verstehe<br />

– ganz im Sinne Iherings, der <strong>den</strong> Kampf um die ständige Erneuerung<br />

des Theaters als Auseinandersetzung zwischen Konvention und Tradition<br />

interpretiert, und seine Definitionen sind für das Burgtheater wohl von andauernder<br />

Aktualität. – „Wenn Tradition die Solidarität des künstlerischen<br />

Handwerks bedeutet, das sich immer wieder in der Gegenwart erneuert, so<br />

ist Konvention die Schlamperei, die das Handwerk zu einer stumpfsinnigen<br />

Gewohnheit entarten lässt und gegen <strong>den</strong> Blutkreislauf der Gegenwart abschließt.<br />

Tradition bleibt streng und selbstkritisch, Konvention genügsam<br />

und selbstzufrie<strong>den</strong>. Die Tradition betont sich nicht und ändert und entwickelt<br />

sich im Zusammenhang mit der Zeit. Die Konvention ist laut und der<br />

Feind je<strong>den</strong> Fortschritts. Sie diskreditiert die Tradition, indem sie sich diesen<br />

Begriff aneignet und der Entwicklung in <strong>den</strong> Weg wirft. Was in der Tradition<br />

Genauigkeit und Klarheit ist, wird in der Konvention wolkig und trübe.“<br />

Die Weltoffenheit des Burgtheaters – wie sie seit dem „Welttheater-<br />

Spielplan“ Heinrich Laubes erkennbar ist – scheint mir eine der wertvollsten<br />

Traditionen dieses Theaters zu sein. Sie hat sich, übrigens oft in Symbiose<br />

mit einer provinziellen Selbstherrlichkeit, als außergewöhnlich lebensfähig<br />

22


Wien 1976–1986<br />

erwiesen. Dabei wurde und wird die ‚Weltoffenheit‘ wohl oft im oberflächlich<br />

modischen Sinne nur als geographische verstan<strong>den</strong>: offen gegenüber <strong>den</strong><br />

Literaturen und der Theaterkunst des Auslandes. Wir sollten aber <strong>den</strong> Begriff<br />

der ‚Weltoffenheit‘ weiter fassen und mehr darunter verstehen als nur<br />

eine Art der Gastfreundschaft: offen gegenüber der Welt, in der wir leben,<br />

offen für die Herausforderungen der zeitgenössischen Literatur, Musik, Malerei<br />

etc., offen auch gegenüber <strong>den</strong> Kräften, die das Theaterspielen – sofern<br />

es <strong>den</strong> Anspruch der Kunst erhebt – heute so unbequem machen. – Dass unser<br />

Beruf wieder sehr unbequem gewor<strong>den</strong> ist, steht wohl heute außer Frage.<br />

Wir dürfen uns unsere Lage aber sicher nicht dadurch scheinbar erleichtern,<br />

dass wir z. B. die übliche Hatz auf Minderheiten eines Teiles der Öffentlichkeit,<br />

ihren lei<strong>den</strong>schaftlichen Neid, ihr Bedürfnis nach Kristallnächten, ihre<br />

Kultur- und Geistfeindlichkeit unsererseits zum Vorwand eines Standpunkts<br />

elitärer kultureller Überlegenheit nehmen. Wir müssen uns an alle wen<strong>den</strong> –<br />

und nicht deshalb, wie Jean Vilar das gesagt hat, „weil das Theater als Kunstform<br />

generöser ist als andere Künste, nein, sondern weil es selbst alle braucht,<br />

damit es nicht krank wird.“<br />

Die Frage nach dem Stellenwert des Burgtheaters im Begründungszusammenhang<br />

der demokratischen österreichischen Gesellschaft kann durch ein<br />

Direktionsprogramm nicht oder nicht schlüssig beantwortet wer<strong>den</strong>. Eine solche<br />

Standortbestimmung kann nicht ausschließlich an die Theaterleute delegiert<br />

wer<strong>den</strong>; der Staat als Garant der künstlerischen Freiheit, die Gesellschaft als<br />

Trägerin und das Publikum als mitwirkender Partner des Theaters sind zur<br />

Beantwortung dieser Frage in gleicher Weise wie die Theaterleute aufgerufen.<br />

Dabei darf diese notwendige geistige Auseinandersetzung mit dem<br />

Theater nicht von der Alibi-Diskussion über die sogenannte Wirtschaftlichkeit<br />

des Theaters verschüttet wer<strong>den</strong>. – „Offensichtlich benützt man Etatfragen<br />

als Vorwand, um sich der geistigen Auseinandersetzung mit dem Theater,<br />

im Besonderen mit dem subventionierten Theater, zu entziehen. […] Das<br />

Theater dient offensichtlich für viele als Sün<strong>den</strong>bock, auf dem Spiel- und<br />

Geistfeindlichkeit, vor allem die Abneigung gegenüber geistiger Provokation,<br />

abgelagert wird.“ (Dr. Hermann Glaser, Kulturdezernent der Stadt<br />

Nürnberg). – Die künstlerische Kraft und damit die Glaubwürdigkeit eines<br />

Theaters erweisen sich nur und ausschließlich in der Probe und in der Vorstellung,<br />

nicht in <strong>den</strong> programmatischen Vorankündigungen einer Direktion<br />

und nicht in der Geschichte dieses Theaters. – Die Zehntausende Abende, an<br />

<strong>den</strong>en das Burgtheater in <strong>den</strong> 200 Jahren seines Bestehens gespielt hat, sind<br />

ja nicht eine theatergeschichtliche Summe, die mit Zinsen und Zinseszinsen<br />

als Erbe auf uns gekommen ist. Die Geschichte der Kunst, die hier an manchen<br />

Aben<strong>den</strong> stattgefun<strong>den</strong> hat, die ist, wie Garrick es, auf die Schauspieler<br />

bezogen, gesagt hat: „in Wasser geschrieben“. Greifbar ist für uns nur die<br />

Geschichte der <strong>In</strong>stitution Burgtheater – und deren Kraft ist unbestritten und<br />

wird es wohl auch in Zukunft sein.<br />

23


Achim Benning<br />

Es heißt, die Kultur sei insgesamt eine große Zukunftswerkstätte. Davon<br />

war einleitend die Rede, das Theater könne ein Ort der Hoffnung sein, in<br />

dem Wirklichkeiten entworfen wer<strong>den</strong>, eine durchaus unheile Welt, die<br />

Sehnsüchten und Träumen Gastfreundschaft gewährt und sie gestärkt oder<br />

entzaubert wieder entlässt. Wenn das Theater das zu leisten vermag, dann ist<br />

es auch gesellschaftlich relevant.<br />

<strong>In</strong> diesem Sinne hoffe ich, dass wir in <strong>den</strong> nächsten Jahren in Solidarität<br />

mit allen, die an diesem Theater arbeiten, einen Weg fin<strong>den</strong>, auf dem uns<br />

möglichst viele Menschen mit Neugier in eine ungewisse Zukunft folgen.<br />

Pressekonferenz in der Concordia<br />

Wien, am 8. Juni 1976<br />

24


Wien 1976–1986<br />

2<br />

Rückblick – Ausblick – Utopie<br />

Gebeten, zurückzublicken und einen Ausblick zu wagen, fühle ich mich einerseits<br />

heillos überfordert und andererseits ermutigt, Sie mit meinen Utopien<br />

bekanntzumachen.<br />

1. Der Rückblick ist nicht mein Geschäft: Das handliche Verpacken des gerade<br />

Vergangenen erfordert journalistische Gaben, die Aufbereitung des<br />

längst Vergangenen solche des Historikers, die mir nicht hinreichend<br />

gegeben sind. Zudem ist in diesem Jubiläumsjahr des Burgtheaters so<br />

ausgiebig zurückgeblickt wor<strong>den</strong>, es ist so unendlich viel Vertrauen in<br />

die Vergangenheit investiert wor<strong>den</strong>, dass man schon aus Grün<strong>den</strong> der<br />

Originalität einen weiteren Rückblick unterlassen und wenigstens einen<br />

kleinen Rest des verschwendeten Vertrauens in die Vergangenheit für die<br />

Zukunft übriglassen sollte.<br />

2. Der Ausblick ist eigentlich nur ein vorweggenommener Rückblick, vor<br />

allem dann, wenn es um das Burgtheater geht. Zum einen ist das so, weil<br />

beim Rück- wie beim Ausblick zumeist nicht das, auf das geblickt wird,<br />

interessiert, sondern lediglich die Perspektive dessen, der da zurück- oder<br />

ausblickt; zum anderen wird, glaube ich, in Wien ein Ausblick in jedem<br />

Fall so verstan<strong>den</strong>, als stelle der Ausblickende Vermutungen darüber an,<br />

wie sich die unmittelbare Zukunft in einer späteren Zukunft als Vergangenheit<br />

bewähren könnte. Es ist also nur folgerichtig, in der Utopie<br />

die einzige realistische Alternative zum Rückblick zu sehen, da nur die<br />

Utopie nicht geeignet ist, in absehbarer Zeit Vergangenheit zu wer<strong>den</strong>.<br />

3. Die Utopie eines wer<strong>den</strong><strong>den</strong> Burgtheaterdirektors sieht nun in etwa so<br />

aus: Bald wird es in Österreich nur noch wenige Leute geben, die der<br />

Meinung sind, Kultur sei eine unzeitgemäße Freizeitgestaltung von einigen<br />

wenigen anderen Leuten; die Theater wer<strong>den</strong> glaubwürdig sein und<br />

ihr Publikum gut unterhalten und aufregen, sie wer<strong>den</strong> die Sehnsüchte<br />

der Menschen am Leben erhalten, sie wer<strong>den</strong> ihre Träume artikulieren,<br />

sie wer<strong>den</strong> unsere Wirklichkeit mit entwerfen; das Publikum wird offen<br />

und kritisch sein, es wird – sofern es Burgtheater-Publikum ist – seine<br />

vielgerühmte Hassliebe zu diesem Theater als große einheitliche, stimulierende<br />

Lei<strong>den</strong>schaft bewahren und nicht mehr vorwiegend die Liebe<br />

der Vergangenheit und <strong>den</strong> Hass der Gegenwart zuwen<strong>den</strong>, es wird Alfred<br />

Polgar Lügen strafen, der gesagt hat:<br />

„Unbedingt stellt sich die Wirkung ein, dass jene Hörer, welche ganz der<br />

Meinung sind, die von der Bühne herab propagiert wird, zu dieser eisenfest<br />

in ihnen verankerten Meinung herumgekriegt wer<strong>den</strong>. Sie wer<strong>den</strong><br />

von der Überzeugung, die sie haben, überzeugt und zum Bekenntnis, auf<br />

das sie eingeschworen sind, hingerissen.“<br />

25


Achim Benning<br />

Und es wird eine große Solidarität unter <strong>den</strong> Künstlern geben; Hochmut<br />

und Neid wer<strong>den</strong> keine Rolle spielen, provinzielle <strong>In</strong>trigen der Theater untereinander<br />

wer<strong>den</strong> ein viel belachtes Kapitel der Theatergeschichte sein. Die<br />

Gewerkschaften wer<strong>den</strong> fanatisch für das Recht auf Arbeit im Theater kämpfen,<br />

sie wer<strong>den</strong> sich mit aller Macht für jene Mitglieder einsetzen, die ihres<br />

Schutzes in besonderer Weise bedürfen, nämlich für die Theaterdirektoren.<br />

Die zeitgenössischen österreichischen Dramatiker wer<strong>den</strong> unsere Spielpläne<br />

dominieren und die Dramaturgien vor die schwierige Aufgabe stellen, <strong>den</strong><br />

großen Werken der Vergangenheit wegen der Fülle und der Qualität der<br />

zeitgenössischen Dramatik zu ihrem Recht zu verhelfen.<br />

Von all diesen erfreulichen Vorgängen und paradiesischen Zustän<strong>den</strong><br />

wird die ganze Welt erfahren, weil gebildete und völlig unbestechliche Journalisten<br />

in <strong>den</strong> großen weltweit gelesenen österreichischen Zeitungen darüber<br />

kritisch und objektiv schreiben wer<strong>den</strong>.<br />

Leider muss man wohl davon ausgehen, dass die Österreicher des Jahres<br />

2000, sollte diese Utopie einmal Wirklichkeit wer<strong>den</strong>, wehmutsvoll an ihre<br />

große und interessante kulturelle Vergangenheit <strong>den</strong>ken und, wenn sie dann<br />

gelegentlich aus ihrer unendlichen Langeweile aufschrecken, sicher auch von<br />

<strong>den</strong> 70er Jahren des 20. Jahrhunderts schwärmen.<br />

Bis dahin müssen wir versuchen, unsere armselige Gegenwart zwischen der<br />

jeweils großen Vergangenheit und irgendeiner Zukunft hindurch zu retten.<br />

Erschienen im „Kurier“ am 6. September 1976<br />

26


Wien 1976–1986<br />

3<br />

Wohin geht das heutige Burgtheater?<br />

Robert Musil, 1926 anlässlich des 150-jährigen Burgtheaterjubiläums mit<br />

der Rundfrage des „Tag“ konfrontiert, wohin <strong>den</strong>n das heutige Burgtheater<br />

seiner Meinung nach gehe und wohin es seiner Meinung nach wohl gehen<br />

solle, gab folgende Antwort: „Ihre zwei Fragen erinnern mich an die<br />

Geschichte der Türkei. Am 14. Jänner 1853 ist das Osmanische Reich zum<br />

ersten Mal mit einem an Altersschwäche lei<strong>den</strong><strong>den</strong> Kranken verglichen wor<strong>den</strong>,<br />

bald darauf mit einem sterben<strong>den</strong> Mann, danach ist 60 Jahre lang mit<br />

ungeduldigem Bedauern vom kranken Mann gesprochen wor<strong>den</strong>, aber heute<br />

lebt dieser historische Kranke, soviel man hört, wie ein frischer Jüngling.<br />

Als Ersatz haben wir das Burgtheater bekommen. Darum lässt sich ihm eine<br />

schöne Zukunft keineswegs noch absprechen. Aber ich bin außerstande, ihm<br />

einen Weg dahin vorherzusagen.“<br />

Heute, 50 Jahre danach, zeigt dieses Theater noch immer deutliche Symptome<br />

von Lebensfähigkeit, gibt nach 200 Jahren Krise immer noch Anlass zur<br />

Hoffnung, die Zukunft könne besser wer<strong>den</strong>, als es die Vergangenheit war.<br />

Das hoffende Wiener Publikum, vor allem aber die hoffen<strong>den</strong> Wiener<br />

Kritiker, orientieren sich immer wieder am Theater des übrigen deutschen<br />

Sprachraumes, das sie allerdings meistens gar nicht kennen. Die einen hoffen,<br />

das Burgtheater möge <strong>den</strong> Anschluss an das deutsche Theater gewinnen,<br />

die anderen erwarten eine splendid isolation. Als „Erstes Theater Deutscher<br />

Zunge“ – so meinen sie – könne man sich einiges an distanzierter Arroganz<br />

leisten, unter anderem deshalb, weil man so „spezifisch österreichisch“ ist<br />

oder es zumindest sein sollte, so dass jeder Vergleich mit anderen Bühnen<br />

von vornherein ganz einfach absurd sei. Dergleichen lässt sowohl auf Wiens<br />

mangelhaftes Selbstverständnis als Theaterstadt schließen, als auch auf einen<br />

Minderwertigkeitskomplex dieser Stadt, der ständig von der sinnlosen Frage<br />

genährt wird, auf welcher Stufe einer imaginären Wertskala der deutschsprachigen<br />

Theater man wohl stehe.<br />

Schon vor mehr als 50 Jahren hat Egon Friedell zu dieser imaginären<br />

Wertskala Stellung genommen und in seinem Aufsatz „Das Burgtheater“<br />

vermerkt: „Und so ist <strong>den</strong>n auch das Burgtheater seit un<strong>den</strong>klichen Zeiten<br />

die ‚Erste Deutsche Bühne‘, aber seit mindestens einem halben Menschenalter<br />

ist es das nur noch für Wien.“ Die Kritiker als professionelle Vergleicher,<br />

die heute allerdings sehr oft ihre Kenntnis des heimischen Theaters mit<br />

bloßen Vermutungen und aufgrund sporadischer, touristischer Kostproben<br />

des deutschen Theaters vergleichen, <strong>den</strong>ken in diesem Zusammenhang dem<br />

Publikum etwas vor, was das Publikum gar nicht interessiert. Für das Publikum,<br />

das am Abend ins Theater geht, ist es nämlich völlig unerheblich, an<br />

welchem Platz der imaginären Skala der Kritiker sich sein Theater befindet.<br />

27


Achim Benning<br />

Seine Bewertungsmaßstäbe richten sich nach <strong>den</strong> Erwartungen, mit <strong>den</strong>en es<br />

ins Theater geht, unabhängig davon, was und wie in Berlin, München oder<br />

Hamburg gespielt wird.<br />

Wenn man die deutschsprachige Theaterszene analysiert, und – unabhängig<br />

von der besagten Wertskala – die Situation der vergleichbaren Theater<br />

vergleicht, stellt sich immer wieder heraus: Es gibt keinen Theater-Vatikan.<br />

Wichtige Theaterereignisse können heute in Hamburg oder Berlin, morgen<br />

in Freiburg oder Tübingen, im nächsten Jahr in München oder Wien oder<br />

woanders stattfin<strong>den</strong>. Wenn überhaupt, so findet man jenes imaginäre „Erste<br />

Theater Deutscher Zunge“ je<strong>den</strong> Abend in einer anderen Stadt – und sicher<br />

manchmal auch in Wien.<br />

<strong>In</strong> diesem Theater-Atlas wird Wien aber trotz aller Verbindungen zu anderen<br />

Theaterstädten als „<strong>In</strong>sel“ aufscheinen. Die geographische und politische<br />

<strong>In</strong>sellage bestimmt zweifellos in besonderer Weise das Wiener Theater<br />

einschließlich des Burgtheaters, und sie kennzeichnet die Wiener Theaterkritik<br />

in ihrer splendid isolation; da außerdem die großen deutschsprachigen<br />

Zeitungen ihre Kritiker zwar zu wichtigen Premieren in die Bundesrepublik<br />

und auch in die Schweiz schicken, Wien aber im Allgemeinen aussparen,<br />

kommt es fast immer dazu, dass in der Bundesrepublik <strong>In</strong>formationen über<br />

die Wiener Theater nur von Wiener Kritikern zu lesen sind, die ihrerseits<br />

wiederum – mit wenigen Ausnahmen – die deutsche Theaterszene aussparen.<br />

Darunter leidet ein so großes Theater wie das Burgtheater ganz besonders,<br />

weil es seine Mitarbeiter im gesamten deutschsprachigen Raum suchen<br />

muss. Da sich auch sehr bedeutende Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner<br />

usw. in Wien vom übrigen deutschsprachigen Theaterraum abgeschnitten<br />

fühlen, ist es nicht leicht, aus der ohnehin nicht großen Anzahl von Talenten<br />

dem Burgtheater die gewünschten qualifizierten Mitarbeiter zu gewinnen.<br />

So muss sich ein hervorragender Regisseur wie Dieter Dorn, mit dessen<br />

Arbeiten in Deutschland sich die großen deutschsprachigen Zeitungen auseinandersetzen,<br />

bei einer erfolgreichen Arbeit in Wien eben mit einigen wenigen<br />

Sätzen der Wiener Korrespon<strong>den</strong>ten in diesen Zeitungen abfin<strong>den</strong>, da<br />

die österreichischen Zeitungen im Allgemeinen nur von heimwehkranken<br />

Auslandsösterreichern mit Verspätung gelesen wer<strong>den</strong>. Sie haben daher an<br />

der Meinungsbildung im übrigen deutschsprachigen Raum keinen Anteil. So<br />

trägt neben der Abgeschie<strong>den</strong>heit Wiens diese „Un-<strong>In</strong>ternationalität“ seiner<br />

Presse einiges dazu bei, das Burgtheater im deutschen Sprachraum als populäre<br />

Unbekannte im Halbdunkel von Klischee-Vorstellungen zu belassen.<br />

(Die Schuld des Burgtheaters besteht nun darin, diesen an sich falschen Klischee-Vorstellungen<br />

gelegentlich immer wieder einmal zu entsprechen – und<br />

Tradition mit Konvention zu verwechseln.)<br />

Die Wiener Kritik betreffend, möchte ich abschließend noch einmal <strong>den</strong><br />

polemischen Egon Friedell zitieren, der in seinem Aufsatz „Die ‚Theaterstadt‘<br />

Wien“ 1920 geschrieben hat: „Der Wiener will Kritiker, die zu allem<br />

28


Wien 1976–1986<br />

einen Korrekturrand machen, die abstreichen und reduzieren, ‚Einflüsse aufzeigen‘,<br />

beschämende Vergleichungen ziehen, für jedes begeisterte Bemühen<br />

sofort eine kalte Dusche bereit haben; er will Kritiker, die die Kunstwerke<br />

verhässlichen.“<br />

Vielleicht habe ich mit meinen Gedanken zu der Frage, wo das Burgtheater<br />

wohl stehe und wohin es gehe, gleichfalls nur „Korrekturränder“ gemacht<br />

und „verhässlicht“. Das war nicht beabsichtigt. Ein Theater jedoch,<br />

das seinen künstlerischen Auftrag darin sieht, auf glaubwürdige Weise offen<br />

zu sein, durch die Wirklichkeit verwundbar zu sein und sich zu seinen produktiven<br />

Widersprüchen, zu seinen Unsicherheiten und zu seinen Zweifeln<br />

zu bekennen, ein solches Theater kann nicht nur sich, sondern muss auch<br />

seine Kritiker, sein Publikum, seine Stadt in Frage stellen können, wobei<br />

freilich gilt:<br />

„Die einzige Kunst, über die das Publikum ein Urteil hat, ist die Theaterkunst.<br />

Der einzelne Zuschauer, also vor allem der Kritiker, spricht Unsinn,<br />

alle zusammen haben sie recht.“ (Karl Kraus)<br />

Erschienen in <strong>den</strong> „Oberösterreichischen Nachrichten“<br />

am 18. Jänner 1977<br />

29


Achim Benning<br />

30<br />

4<br />

Alma Seidler<br />

8. 6. 1899 – 8. 12. 1977<br />

Lieber Karl Eidlitz,<br />

verehrter Herr Dr. Eidlitz,<br />

Eminenz,<br />

Herr Bundesminister,<br />

Frau Staatssekretärin,<br />

verehrte Trauergäste,<br />

in <strong>den</strong> frühen Morgenstun<strong>den</strong> des 8. Dezember hat der Tod von Alma Seidler<br />

unsere Welt verändert und uns in tiefe fassungslose Trauer gestürzt. Verzweifelt<br />

und ohne Trost stehen wir heute an ihrem Sarg und können ihre Abwesenheit<br />

noch nicht be<strong>greifen</strong>. – Dieser Tod hat das Burgtheater verwundet.<br />

Jedes Wort des Abschieds, das wir hier zu sagen versuchen, ist daher nicht<br />

nur Ausdruck unserer Dankbarkeit und Verehrung, sondern bekundet auch<br />

unsere armselige Bemühung, Trost zu suchen und uns aus der Lähmung zu<br />

lösen, die auf unseren Herzen lastet.<br />

Die Erinnerung an das erfüllte Leben der Alma Seidler, der Gnade, Glück<br />

und Liebe in einem Maße zuteil wur<strong>den</strong>, wie ein Mensch das gemeinhin<br />

nicht erwarten darf, gewährt allen, die sie geliebt haben, Trost und Einsicht;<br />

aber wir haben sie nicht nur geliebt, wir haben sie wirklich und wahrhaftig<br />

gebraucht und wir hätten ihrer noch lange bedurft; und da hilft uns kein<br />

tröstliches Erinnern und keine Flucht in verklärende Nachrufe, die vor dem<br />

Reichtum ihres Lebens und ihrer großen Kunst sowieso nur zu Phrasen erstarren<br />

können.<br />

Ich maße mir also nicht an, Alma Seidler in dieser kurzen Abschiedsstunde<br />

zu würdigen, <strong>den</strong>n die Würde und die Größe dieser wunderbaren Schauspielerin<br />

bedürfen hier und heute keiner Benennung; aber wir bedürfen der<br />

lebendigen Wahrheit der Alma Seidler, ihrer zarten Anmut, ihrer sanften<br />

Dämonie, ihres ironischen Witzes, ihrer Poesie, ihrer urmütterlichen Liebeskraft,<br />

ihres geheimnisvollen Zaubers, mit dem sie in nahezu 60 Jahren hunderte<br />

Gestalten an tausen<strong>den</strong> Aben<strong>den</strong> zum Leben erlöst hat; wir bedürfen<br />

ihrer unsagbaren Beschei<strong>den</strong>heit, ihrer lei<strong>den</strong>schaftlichen Treue, an die wir<br />

uns alle schon so leichtfertig gewöhnt hatten, dass wir nun nicht be<strong>greifen</strong><br />

können, dass der Tod diese Treue gebrochen hat; wir bedürfen ihrer Demut<br />

und ihrer Hingabe, und wir bedürfen in dieser Zeit ihres beruflichen Ethos.<br />

Alma Seider war die mütterliche Mitte unseres Theaters; darum hat uns<br />

ihr Tod so arm gemacht, darum hat uns ihr Tod so verwundet. Darum erscheint<br />

uns unsere Dankbarkeit, die wir sichtbar bekun<strong>den</strong> durch die Aufnahme<br />

eines Portraits von Alma Seidler in die Ehrengalerie des Burgtheaters<br />

und durch <strong>den</strong> Antrag auf eine Stiftung, die der Herr Bundesminister für<br />

Unterricht und Kunst vorstellen wird, so ärmlich.


Wien 1976–1986<br />

Was immer wir tun wer<strong>den</strong>, wir bleiben in ihrer Schuld.<br />

Hugo von Hofmannsthal schrieb in einem Aufsatz, der Eleonora Duse<br />

gewidmet war: „Und vieles gewann für uns einen neuen Sinn und das künstliche<br />

Leben unseres <strong>In</strong>neren einen großen Reiz mehr. Denn dazu, glaube ich,<br />

sind Künstler: dass alle Dinge, die durch ihre Seele hindurchgehen, einen<br />

Sinn und eine Seele empfangen.‘ ‚Die Natur wollte wissen, wie sie aussah,<br />

und schuf sich Goethe.‘ Und Goethes Seele hat widerspiegelnd tausend Dinge<br />

zum Leben erlöst. Und dann gibt es Künstler, die waren viel kleinere <strong>Spiegel</strong>,<br />

wie enge stille Brunnen, in <strong>den</strong>en nur ein einziger Stern blinkt: die gossen<br />

<strong>den</strong> Schmelz ihrer Seele um ein einziges Ding und tauchten ein einziges<br />

Fühlen in Schönheit. So einer war Eichendorff, der das sehende Suchen offenbarte<br />

und das rätselhafte Ruhen der atmen<strong>den</strong> Nacht, wenn die Brunnen<br />

plätschern. Und Lenau hat dem Schilf re<strong>den</strong> zugehört und der Schönheit der<br />

Heide einen Namen gegeben. Und manche Wolken, schwere bo<strong>den</strong>geballte,<br />

haben ihre Seele von Poussin und manche, rosigrunde, von Rubens, und<br />

andere, prometheische, blauschwarze, düstere, von Böcklin. Und es gibt Regungen<br />

unserer Seelen, die Schumann geschaffen hat; und es gibt Gedanken,<br />

die ohne Hamlet uns nie gewor<strong>den</strong> wären; und viele unserer Wünsche haben<br />

die Farben aus einem vergessenen Bild und <strong>den</strong> Duft von einem verwehten<br />

Lied.“<br />

Und ich glaube, wir dürfen fortsetzen und sagen: Es gibt Regungen unserer<br />

Seelen, die uns ohne Alma Seidler nicht gewor<strong>den</strong> wären.<br />

<strong>In</strong> Ehrfurcht vor diesem schöpferischen Geheimnis ihres Lebens und ihrer<br />

Kunst nehmen wir nun von ihr Abschied, verwundet und verzweifelt<br />

– und in tiefem Mitleid mit unserem Kollegen Karl Eidlitz und mit <strong>den</strong> Hinterbliebenen<br />

unserer geliebten Alma Seidler.<br />

Rede zum Tod von Alma Seidler auf der Feststiege des Burgtheaters<br />

am 16. Dezember 1977<br />

31


Achim Benning<br />

32<br />

5<br />

40. Jahrestag der Besetzung Österreichs<br />

Eine Matinee<br />

Sehr geehrter Herr Bundespräsi<strong>den</strong>t,<br />

sehr geehrter Herr Bundeskanzler,<br />

sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung, Exzellenzen,<br />

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete zum Nationalrat,<br />

sehr geehrte Festgäste,<br />

ich heiße Sie alle zu dieser Stunde des Ge<strong>den</strong>kens und der Besinnung herzlich<br />

willkommen.<br />

Das Burgtheater ist in der Zweiten Republik als österreichisches Nationaltheater<br />

wieder ein Ort österreichischen Selbstverständnisses und österreichischer<br />

Selbstbehauptung gewor<strong>den</strong> und ist in <strong>den</strong> Begründungszusammenhang<br />

der demokratischen österreichischen Gesellschaft fest eingeschlossen.<br />

Der aufklärerische Auftrag Josephs II. hat die Gründung des Burgtheaters<br />

bestimmt und hat dieses Theater in seiner zweihundertjährigen Geschichte<br />

begleitet. Heute begreift sich das Burgtheater nicht nur dem Titel<br />

nach als österreichisches Nationaltheater; über die bürgerlich humanistischen<br />

Postulate der Aufklärung hinausgehend will dieses Theater ein Ort sein, an<br />

dem unsere Welt vergegenwärtigt wird, an dem Sehnsüchte am Leben erhalten<br />

und Träume artikuliert wer<strong>den</strong> und an dem die Kunst eine Front gegen<br />

Unmenschlichkeit und Barbarei jedweder Provenienz bildet.<br />

Es kommt dem Burgtheater daher im besonderen Maße zu, heute an der<br />

Vergegenwärtigung der Märztage von 1938 mitzuwirken, <strong>den</strong> Demokraten<br />

dieser Zeit seine Achtung zu erweisen, der Opfer der faschistischen Diktatur<br />

zu ge<strong>den</strong>ken und sich jenseits jeder Phrase zur Demokratie zu bekennen, <strong>den</strong>n<br />

der Sinn des Menschen für Gerechtigkeit macht die Demokratie möglich, aber die Neigung<br />

des Menschen zur Ungerechtigkeit macht die Demokratie notwendig.<br />

Die heutige Veranstaltung soll auch helfend dazu beitragen, dass die Jüngeren<br />

unter uns, <strong>den</strong>en das Erleben dieser Phase faschistischer Barbarei erspart<br />

geblieben ist, ihr Wissen über diese historische Zeit zum Wohle unserer<br />

gemeinsamen demokratischen Zukunft vertiefen; <strong>den</strong>n unser Gewissen, unser<br />

politisches Gewissen ist ohne Kenntnis schwach.<br />

„Es ist gut“, wie Manès Sperber in seinem Text „Die polizistische Geschichtsauffassung“<br />

sagt, „wenn sich das Gewissen gegen jede Ungerechtigkeit<br />

empört, die auf unserer Welt begangen wird. Doch ist es auch nötig,<br />

dass jene Leute, die protestieren, weder zu faul noch zu feige sind, um sich<br />

über die Tatsachen zu unterrichten. Das Recht auf Unwissenheit ist nicht<br />

unverbrüchlich.“<br />

Eröffnungsrede zu einer „Ge<strong>den</strong>kmatinee anlässlich des 40. Jahrestages der<br />

Besetzung Österreichs“ im Theater an der Wien am 12. März 1978


Wien 1976–1986<br />

6<br />

Pressekonferenz vom 2. Mai 1978<br />

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, dass Sie so zahlreich meiner Einladung<br />

gefolgt sind, obwohl das Thema inzwischen einiges an Brisanz, an journalistischer<br />

Brisanz, für Sie eingebüßt hat. Unser heutiges Thema die „Situation am<br />

Burgtheater“ oder die „Krise des Burgtheaters“ oder der „Fall Benning“ wird der<br />

Gegenstand meiner Ausführungen und, ich hoffe, unseres Gesprächs sein.<br />

Eigentlich könnte ich Sie heute in extremer Weise langweilen, indem<br />

ich Ihnen Ihre eigenen Feuilletons der letzten Tage vorlese. Sie haben mir<br />

da nämlich in vieler Hinsicht die Worte aus dem Mund genommen. Viele<br />

von Ihnen haben in der Kampagne dieser letzten Tage mit Mut und Eindeutigkeit,<br />

unbeschadet ihrer sonstigen kritischen Einstellung dem Burgtheater<br />

oder mir gegenüber, die Position des Theaters vertreten und haben für eine<br />

sachliche, durch Kenntnis getrübte, durch Diffamierung ungetrübte Diskussion<br />

über das Burgtheater und über meine Direktionstätigkeit plädiert.<br />

Ich möchte Ihnen dafür ohne jedes Kalkül herzlich danken. Es ist auch<br />

sonst <strong>den</strong> <strong>In</strong>itiatoren dieser künstlich heraufbeschworenen „Krise des Burgtheaters“<br />

und des „Falles Benning“ in eindrucksvoller Weise gelungen, innerhalb<br />

und außerhalb des Hauses Sympathie, Zustimmung und Solidarität<br />

zu aktivieren – zu unserer großen Freude … Bevor ich nun zu meiner detaillierten<br />

Stellungnahme komme, erlauben Sie mir, bitte, einleitend ein paar<br />

allgemeine Feststellungen zu dieser Kampagne. Wenn ich Kampagne sage,<br />

dann meine ich ‚Kampagne‘ und nicht ‚Kritik‘.<br />

1. Ich glaube, dass die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (26. April 1978)<br />

sich nicht irrt, wenn sie über die Urheber dieser Kampagne schreibt, es<br />

handle sich um „eine ‚seltsame Allianz‘, nämlich eine Allianz zwischen<br />

dem FPÖ-Obmann Peter und Herrn Stadtrat Busek, Redakteuren der<br />

Kronen Zeitung und einer Minorität unzufrie<strong>den</strong>er Burgschauspieler“.<br />

Das ist zumindest das äußere Erscheinungsbild dieser Allianz.<br />

2. Diese Kampagne zeichnet sich durch ein besonderes Vokabular aus. Ich<br />

zitiere wahllos:<br />

„Bürokraten mit Polit-Neurosen leiten das Theater“ – „Linke Unterwanderung“<br />

– „Monströse Theaterkonfusionen“ – „Ansatz zur Zwangsbeglückung“<br />

– „Durchgehende politische Linie“ – „Besucherschwund“<br />

– „Experimentierbühne“ – „Vorstadttheater“ – „Experimentierbühne für<br />

linke Polit-Regisseure“ – „Experimentierfeld für DDR-Regisseure“ –<br />

„Krankhaftes Bestreben des Direktors nach Experimenten“ – „Das verfehlte<br />

Benning-Experiment“ – „Faschistische Metho<strong>den</strong>“ – „Politische<br />

Kamarilla“ – „Provinztheater“ – „Einführung der Fäkalienära“ – „Deutsche<br />

Unterwanderung mit mittelmäßigen Schauspielern“ – „Marxistische<br />

Regisseure und Dramaturgen“ – usw. und so fort.<br />

3. Diese Kampagne ist wesentlich bestimmt durch <strong>den</strong> Wahlkampf, durch<br />

die Direktionsnachfolgefrage – Herr Peter und die FPÖ verlangen meine<br />

33


Achim Benning<br />

Ablöse und fordern eine Direktion Gobert – und durch die Unzufrie<strong>den</strong>heit<br />

einer kleinen, einer sehr kleinen Anzahl von Kollegen und Kolleginnen,<br />

die ihre Lobbys in Politik und Presse mobilisiert haben.<br />

4. Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Kampagne weitergeht. Ich nehme die<br />

Worte des Herrn Peter zur Kenntnis, der in der Zeitung „Die Presse“<br />

am 28. April erklärt: „Wir haben mit unseren Attacken überhaupt erst<br />

angefangen. Das wird jetzt Schlag auf Schlag weitergehen.“ Nun gut, ich<br />

fürchte für Herrn Peter, es wird auch diesmal nichts aus einem Endsieg.<br />

Und da wird es auch sicher nichts nützen, wenn nun nach bewährtem Muster,<br />

nach der ideologischen und künstlerischen Diffamierung die materielle<br />

folgen wird, d. h., dass der Direktor, die Dramaturgen, die Regisseure<br />

vielleicht keine „Linksfaschisten“, „Fäkalienproduzenten“ usw. sind, dass<br />

sie aber je<strong>den</strong>falls für das, was sie tun, zu viel Geld bekommen, dass der<br />

Steuerzahler dann eben deshalb vor ihnen geschützt wer<strong>den</strong> muss. Diese<br />

Methode wird auch dieses Mal – „Schlag auf Schlag“ – in gleicher Weise<br />

angewendet wer<strong>den</strong>, aber wie gesagt, zum Endsieg wird auch das nichts<br />

beitragen. Wir haben nämlich die besseren Argumente, und die Wahrheit<br />

ist keine Frage der Auflagenhöhe.<br />

Nach dieser pathetischen Einlage möchte ich mich nun <strong>den</strong> Detailfragen<br />

zuwen<strong>den</strong>:<br />

Thema 1 ist der Spielplan, die Angriffe auf <strong>den</strong> Spielplan. Die künstlerische,<br />

konzeptionelle, ideologische oder ideelle – wie immer sie das nennen wollen<br />

– Diskussion über das Burgtheater und seinen Spielplan in meiner Direktion<br />

steht noch aus, sie hat noch nicht begonnen, auch wenn manche der in letzter<br />

Zeit erhobenen Vorwürfe einer solchen Gesprächseröffnung ähnlich sehen.<br />

Diese Diskussion, die wir wünschen, die kann und soll gekennzeichnet<br />

sein durch Kritik, durch Widersprüche, von mir aus auch durch ehrliche,<br />

persönliche Gegnerschaft, aber diese Diskussion hat sich an der Bühne, am<br />

Theater zu orientieren, und sie setzt Liebe zum Theater, Offenheit und ein<br />

Mindestmaß an Sachkenntnis voraus.<br />

Wenn die Diffamierungen und Pöbeleien der letzten Zeit, wenn diese<br />

Orgie von Unkenntnis und Unwahrheit, außer dass sie so viel Sympathie und<br />

Solidarität für unser Theater mobilisiert hat, auch noch dazu beiträgt, diese<br />

für ein glaubwürdiges Theater, das sich zu seinen Widersprüchen bekennt,<br />

sehr notwendige und wichtige Auseinandersetzung in Gang zu setzen, dann<br />

wollen wir mit dieser jetzigen Kampagne sogar zufrie<strong>den</strong> sein.<br />

Das Burgtheater ist je<strong>den</strong>falls zu diesem Gespräch bereit. Doch wie gesagt,<br />

so weit ist es noch nicht. Heute muss ich mich vorwiegend darauf beschränken,<br />

mit Zahlen zu argumentieren, allerdings im Gegensatz zu meinen<br />

Widersachern mit richtigen Zahlen.<br />

Aus dem Protokoll der Eröffnung einer Pressekonferenz<br />

anlässlich der Kampagne gegen das ‚politische‘, ‚linke‘ Burgtheater<br />

am 2. Mai 1978<br />

34


Wien 1976–1986<br />

7<br />

Verleihung der Ehrenurkunde des Yad Vashem<br />

an Dorothea Neff<br />

Sehr geehrter Herr Bundespräsi<strong>den</strong>t,<br />

sehr geehrter Herr Bundeskanzler,<br />

sehr geehrte Herren Bundesminister,<br />

Exzellenzen,<br />

sehr geehrte Damen und Herren,<br />

es ist für das Burgtheater eine besondere und gern empfangene Ehre, dass<br />

heute, hier in unserem Hause Dorothea Neff, der großen Schauspielerin des<br />

Volkstheaters, die unserem Burgtheater in vieler Hinsicht verbun<strong>den</strong> ist –<br />

und nicht nur darum, weil sie ihre letzten Rollen auf dieser Bühne gespielt<br />

hat – die Medaille und die Ehrenurkunde des Yad Vashem verliehen wird.<br />

Meine Damen und Herren, ich heiße Sie alle hier im Akademietheater<br />

herzlich willkommen, vor allem Dich, liebe Dorothea, und ich bitte Dich,<br />

fühle Dich auf dieser Bühne, umgeben von Schauspielerinnen und Schauspielern,<br />

die Deines Vorbildes bedürfen und das wissen, in Verehrung und<br />

Zuneigung geborgen. Ich glaube, Du bist hier am rechten Ort; Havels Versuch,<br />

in der Wahrheit zu leben, hat sich auf dieser Bühne mehrfach artikuliert,<br />

die Macht der Ohnmächtigen hat sich auf dieser Bühne mehrfach erwiesen.<br />

Heute wird hier von Deinem Versuch, in der Wahrheit zu leben, von<br />

Deiner guten Tat die Rede sein, die zwar mehr als 35 Jahre zurückliegt, aber<br />

keiner Verjährung anheimgefallen ist.<br />

Du hast einem Menschen unter Einsatz Deines Lebens das Leben gerettet.<br />

Du hast wahrscheinlich gar nicht anders handeln können, da Du immer unter<br />

Einsatz Deines Lebens gelebt hast – in Treue zu Dir selbst und unter der faschistischen<br />

Diktatur mit der gleichen lei<strong>den</strong>schaftlichen Entschlossenheit zu Deiner<br />

Wahrheit und mit dem gleichen Mut, mit dem Du Dir wohl später Dein eigenes<br />

Leben gerettet und dabei auch entschlossene Hilfe gefun<strong>den</strong> hast.<br />

Ich maße mir aber jetzt nicht an, Dich zu würdigen; ich möchte Dir am<br />

Anfang dieser Feierstunde nur sagen, dass wir, die wir uns dem Theater gewidmet<br />

haben, in Dir ein verpflichtendes Vorbild sehen, weil das Gesetz der<br />

Menschlichkeit und der entschlossenen Wahrhaftigkeit, unter dem Dein Leben<br />

stand und steht, auch Deine Kunst bestimmt hat. Diese Einheit, die nie von<br />

biographischen Zufälligkeiten beschädigt wor<strong>den</strong> ist, bewundern wir zutiefst.<br />

Du hast unserem Berufsstand große Ehre gemacht, und wir freuen uns<br />

sehr, dass Du heute ausgezeichnet wirst.<br />

Die Verleihung fand auf Wunsch von Dorothea Neff<br />

im Akademietheater statt, am 21. Februar 1980<br />

35


Achim Benning<br />

8<br />

Verleihung der Josef Kainz-Medaille 1980<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Zilk,<br />

sehr geehrter Herr Dr. Mauthe,<br />

meine Damen und Herren,<br />

nach angemessener Gegenwehr habe ich die ehrenvolle Aufgabe übernommen,<br />

im Namen der heute Geehrten <strong>den</strong> gebotenen Dank auszusprechen<br />

und meine Freude und die meiner ausgezeichneten Kolleginnen und Kollegen<br />

über die freundliche Ehrung zu bekun<strong>den</strong>. Ich gestehe Ihnen, meine<br />

Damen und Herren, dass ich dies zu tun nur mit großer Befangenheit imstande<br />

bin; je<strong>den</strong>falls erbitte ich gleich einleitend Ihr nachsichtiges Verständnis<br />

für die womöglich allzu rigorose Subjektivität meiner Danksagung. Besagte<br />

Befangenheit erwächst nicht nur aus dem Bewusstsein, dass viele mit der<br />

Empfehlung der unabhängigen Jury unglücklich sein mögen, dass diese Auszeichnung<br />

für die Ausgezeichneten beschämend ist – im Angesicht so mancher<br />

wunderbaren Schauspielerin, des einen oder anderen hervorragen<strong>den</strong><br />

Schauspielers und einiger großartiger Regisseure, <strong>den</strong>en diese Auszeichnung<br />

bislang nicht zuerkannt wurde. Diese Befangenheit erklärt sich auch nicht<br />

nur aus der Festlichkeit der heutigen Überreichungszeremonie, oder aus der<br />

Prominenz dieser Versammlung, oder aus der Ehrfurcht vor dem, in dessen<br />

Namen dies alles geschieht, sondern sie wurzelt wohl auch und vor allem<br />

in der Befürchtung, solche Feierlichkeit und solch ein öffentliches <strong>In</strong>einanderverliebtsein<br />

verschleiere gar zu sehr die wahre Lage, verewige unsere<br />

unaufrichtigen Haltungen zueinander und handle unsere jeweiligen opportunistischen<br />

Attitü<strong>den</strong> als aufrichtige Überzeugungen.<br />

Zu Ehren des großen Josef Kainz, der ein ehrlicher Mann war, wollen<br />

wir das doch vermei<strong>den</strong>, uns nicht allesamt in Feierlichkeit verbrüdern, wollen<br />

auf dem bestehen, was uns trennt – im Sinne des mahnen<strong>den</strong> Satzes von<br />

Brecht, daran zu <strong>den</strong>ken, dass gutes Theater nicht vereinen dürfe, sondern<br />

trennen müsse.<br />

1911 polemisierte der große Hasser Karl Kraus gegen ein Kainz-Denkmal,<br />

sprach von der Überschätzung seines Talentes, die allerdings, wie Kraus<br />

meinte, insofern berechtigt war, „als nie zuvor die Distanz eines einzelnen<br />

Könners zum Jammer einer herabgekommenen Bühne so deutlich erlebt wurde.“<br />

– Kraus beendet seinen Aufsatz „Schauspielermonumente“ mit <strong>den</strong> Sätzen:<br />

„Künstler brauchen kein Monument. Schauspieler verdienen keines und<br />

haben an jeder Möglichkeit, durch ein Denkmal ersetzt zu wer<strong>den</strong> vorbeigelebt.<br />

Einem Schauspieler ein Monument zu setzen, schließt, um der Nachwelt<br />

wenigstens einen Trost der Logik zu gewähren, die Verpflichtung in sich,<br />

auch dem Publikum ein Denkmal zu setzen, das <strong>den</strong> Schauspieler bewundert<br />

hat. […] Die Verewigung des Publikums wäre aber ein Ziel, aufs innigste<br />

36


Wien 1976–1986<br />

nicht zu wünschen. Zudem wächst es immer frisch nach. Und mit ihm die sozialen<br />

Parasiten, die aus dem Rahmen des Publikums herausbrechen, um sich<br />

im Zwischenakt bemerkbar zu machen. Sie verdienen gewiss kein Denkmal.<br />

Sie können die Logik eines Denkmals nicht zu Ende <strong>den</strong>ken.“ Im krassen<br />

Widerspruch zu diesen Sätzen von Karl Kraus halte ich die Stiftung der Josef<br />

Kainz-Medaille durch die Stadt Wien für eine lobenswerte Denkmalsetzung<br />

und für eine freundschaftliche Geste der Stadt an uns Theaterleute; wir, vor<br />

allem die heute Ausgezeichneten, nehmen <strong>den</strong> Ruhm des Toten als Reklame<br />

der Leben<strong>den</strong> an und danken der Stadt Wien und Ihnen, sehr geehrter Herr<br />

Stadtrat, für die Verleihung der Kainz-Medaillen an uns.<br />

Hernach wäre der Jury zu danken für ihr freundlich gesinntes Votum.<br />

Die jeweilige Freundlichkeit der Jury, verbun<strong>den</strong> mit der Eitelkeit der jeweils<br />

Geehrten, hat wohl 23 Jahre lang die konfliktfreie Annahme der zugesprochenen<br />

Kainz-Medaillen gewährleistet. Es ist aber doch vorstellbar, dass<br />

einmal jemand auf die Idee kommt, eine Auszeichnung durch <strong>den</strong> Wiener<br />

Kulturjournalismus als unzumutbar zurückzuweisen. – Allerdings glaube<br />

ich, solange auch nur ein Mitglied der Jury Achtung verdient, solange einige<br />

wenige Journalisten sich mit <strong>den</strong>en, die Theater machen, in der Hoffnung<br />

begegnen, man könne im Theater auf freundliche und diesseitige Weise mit<br />

seinen Träumen, seiner Angst, seiner Sehnsucht und seiner Verzweiflung<br />

verständnisvolle Aufnahme fin<strong>den</strong>, solange sollte das Aufbegehren gegen<br />

diese Unzumutbarkeit bezähmt wer<strong>den</strong>. Der Minderheit zuliebe!<br />

Aus Eitelkeit, das sei zugegeben, aus pragmatischem Kalkül und, wie<br />

gesagt, aus Solidarität mit <strong>den</strong> wenigen vom Theater tatsächlich berührten<br />

und betroffenen Journalisten, nehmen wir Theaterleute die Stimmen derer<br />

in Kauf, die von ihrer kritischen Aufgabe intellektuell überfordert zu sein<br />

scheinen; die in einem traurig qualvollen Verhältnis mit der deutschen Sprache<br />

leben, sich auf ihre Arbeit nicht vorbereiten, Stücke, Übersetzungen, Sekundärliteratur<br />

nicht lesen, für Pressekonferenzen zu fein sind oder zu spät<br />

aufstehen; die aber, wenn sie kommen, nicht in der Lage sind, die gebotenen<br />

<strong>In</strong>formationen ihren Lesern zu vermitteln; die das Theater nicht lei<strong>den</strong><br />

können und die, die es machen, schon gar nicht und die sich oft – in <strong>den</strong><br />

verschie<strong>den</strong>sten Masken, manchmal sogar als alter Goethe hergerichtet – in<br />

der Nachfolge von Karl Kraus sehen, aber dessen großen Hass nur in kleinen<br />

Portionen schnell vergänglicher Gehässigkeiten tradieren; ferner nehmen<br />

wir die Stimmen derer in Kauf, die <strong>In</strong>formationen als Erschwernis ihres<br />

Geschäftes betrachten, die Stimmen der geistig oder seelisch ausgemergelten<br />

Gouvernanten und Oberlehrer, die sich nie mit dem Publikum, aber immer<br />

das Publikum mit sich i<strong>den</strong>tifizieren.<br />

Sollte das wirklich so sein, dann sind wir wohl – bei aller Notwendigkeit<br />

der Solidarität mit der Minderheit – doch einigermaßen inkonsequent. Aber,<br />

so hat Emerson gesagt: „Konsequenz ist ein Kobold, der in engen Köpfen<br />

spukt.“ – Und so danken wir der Jury nochmals für ihr freundliches Votum.<br />

37


Achim Benning<br />

Ohne die genannte Befangenheit kann ich als Regisseur meinen Schauspielern,<br />

Ausstattern, Dramaturgen, Technikern und allen anderen Mitarbeitern<br />

der „Sommergäste“ danken, die mir die Kainz-Medaille verdient haben<br />

– womit die Reihe der Danksagungen eigentlich abgeschlossen wäre.<br />

Aber da ich der amtierende Burgtheaterdirektor bin, der mit einer Kainz-<br />

Medaille ausgezeichnet wird, erlauben Sie mir bitte, auch ein paar Worte des<br />

Dankes an die Theaterleute, für die Kainz-Medaillen oder andere theatralische<br />

Auszeichnungen gar nicht vorgesehen sind und die uns Schauspielern, Regisseuren<br />

und Bühnenbildnern unsere Arbeit überhaupt erst möglich machen<br />

und sie als Partner begleiten. Unter diesen Partnern gibt es eine Gruppe,<br />

die in Wien nicht nur keinen öffentlichen Dank erfährt, sondern im Gegenteil<br />

zumeist angepöbelt und diffamiert wird: Ich meine die Dramaturgen.<br />

Ohne sie wäre unsere heutige Arbeit nicht so erfolgreich, ohne sie hätte das<br />

Burgtheater in <strong>den</strong> letzten Jahren wohl nicht so viele Kainz-Medaillen hinzugewonnen.<br />

Die dramaturgische Arbeit, die dramaturgische Haltung des<br />

Burgtheaters, ist in der österreichischen Tagespresse ohne Echo, ohne sachliche<br />

Auseinandersetzung, Zustimmung oder Ablehnung geblieben.<br />

So wer<strong>den</strong> z. B. seit 1976 die Vorschauhefte des Burgtheaters keiner Beachtung<br />

durch die Presse für würdig befun<strong>den</strong>.<br />

Allerdings ist jetzt wenigstens eine ablehnende Auseinandersetzung – sogar<br />

auf holzfreiem Papier einer Kulturzeitschrift – mit <strong>den</strong> Programmheften<br />

angekündigt; aber wie – nun sagen wir: ‚sachlich‘ wird die wohl wer<strong>den</strong>,<br />

da der <strong>In</strong>itiator dieses Artikels seine Diffamierung der Dramaturgie schon<br />

vor meinem Direktionsantritt gestartet hat, also ein echter Pionier war und<br />

später auch geblieben ist beim Aufspüren österreichfeindlicher, zersetzender<br />

Linksten<strong>den</strong>zen in der Dramaturgie und Direktion unseres Theaters, deren<br />

Dauer besagter Kulturkritiker schon vor ihrem Beginn als ein für das Publikum<br />

– natürlich wieder in fiktiver I<strong>den</strong>tität – „allzu langes Zwischenspiel“<br />

klassifizierte. – Aber ich irre ab, besagter Herr ist nicht mehr in der Jury, und<br />

solche Erinnerungen können meinen Dank für das freundliche Votum nicht<br />

trüben.<br />

Außerdem verführt mich die Festlichkeit dieser Stunde und meine befriedigte<br />

Eitelkeit zu einem durchaus optimistischen Schluss meiner Danksagung:<br />

Ich bin überzeugt, dass die Zeit nicht mehr fern ist, in der in Wien gut<br />

informierte, gebildete, nicht korrumpierbare, sprachgewandte Kulturjournalisten<br />

in <strong>den</strong> internationalen und großen weltweit gelesenen österreichischen<br />

Zeitungen kritisch und objektiv – nach erkennbaren Kriterien – über<br />

das Wiener Theater schreiben wer<strong>den</strong>; sollte dann jemals wieder die Arbeit<br />

der Theaterleute und der Kulturpolitiker durch theaterfeindliche Gesetze erschwert,<br />

durch dilettantisches Geschwätz sogenannter Experten – und seien<br />

es auch solche der Wirtschaft – und durch verantwortungslose Vorschläge<br />

von Kammervertretern behindert wer<strong>den</strong>, die die Existenz der Bundestheater<br />

und Hunderter Arbeitsplätze gefähr<strong>den</strong>, dann wer<strong>den</strong> diese Journalisten<br />

38


Wien 1976–1986<br />

der Zukunft – ohne jede philisterhafte Pose triefender Fürsorge für <strong>den</strong> an<br />

<strong>den</strong> Kulturbudgets verbluten<strong>den</strong> kleinen, ausgebeuteten Steuerzahler – nach<br />

gründlichen Analysen und gewissenhaften Recherchen all <strong>den</strong> Schwätzern<br />

journalistisch <strong>den</strong> Garaus machen.<br />

Die kurze Zeit, bis sich dieser Optimismus erfüllt, müssen wir alle gemeinsam<br />

irgendwie überbrücken. Das fällt uns, mit Kainz-Medaillen ausgezeichnet,<br />

leichter.<br />

Dankesrede aus Anlass der Verleihung der Kainz-Medaille<br />

der Stadt Wien an Helmuth Lohner, Josefin Platt und Achim<br />

Benning (für die <strong>In</strong>szenierung der „Sommergäste“ von Maxim<br />

Gorkij) im Wiener Rathaus am 23. Februar 1981<br />

39


Achim Benning<br />

40<br />

9<br />

Was erwarten Sie vom Burgtheater?<br />

Der Titel dieses Versuchs, mit Ihnen über das Burgtheater ins Gespräch zu<br />

kommen, ist eine Frage an Sie und bürdet Ihnen, meine Damen und Herren,<br />

von vornherein die Hauptlast der heutigen Veranstaltung auf; <strong>den</strong>n natürlich<br />

werde ich Sie nicht mit meinen Mutmaßungen über Ihre Erwartungen<br />

belästigen – zumal ein in Wien Zugereister als Wiener Gast in Graz schon<br />

besonders vermessen sein müsste, Ihnen Ihre Meinung zu sagen –, sondern<br />

ich werde mich lediglich bemühen, die gestellte Frage aufzufächern, um <strong>den</strong><br />

Bo<strong>den</strong> für die Diskussion zu bereiten und gelegentlich deutlich zu machen,<br />

welcher Art <strong>den</strong>n meine Erwartungen sind; <strong>den</strong>n der Status quo des Burgtheaters<br />

ist selbstverständlich nicht die Summe meiner erfüllten Hoffnungen.<br />

Das Burgtheater ist als österreichisches Nationaltheater auch Ihr Theater,<br />

auch dann, wenn Sie in Graz leben, nur selten in dieses Theater gehen können,<br />

die einzige authentische <strong>In</strong>formationsmöglichkeit aber der regelmäßige<br />

Besuch wäre. Welche Beziehung auch immer Sie zu Ihrem Nationaltheater<br />

unterhalten, zumindest finanzieren Sie es und haben in einer demokratischen<br />

Gesellschaft schon deshalb das Recht, Ihren Erwartungen Gehör zu verschaffen<br />

und Nachdruck zu verleihen; Ihre Erwartungen könnten sich also<br />

durchaus zu Forderungen auswachsen, die <strong>den</strong> Staat erreichen und seine Theaterpolitik<br />

mitbestimmen. Ihre Erwartungen sind daher wichtig, sie kennenzulernen<br />

ist kein Zeitvertreib, kein unverbindlicher Gedankenaustausch.<br />

Unsere thematische Frage ist sicher eine Folge-Frage der Grundfrage:<br />

„Was erwarten Sie von der Kunst?“ und der Nach-Frage: „Was erwarten<br />

Sie vom Theater?“, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass Theater<br />

<strong>den</strong> Künsten zuzurechnen ist und nicht Egon Friedells Meinung teilt, die<br />

Oberflächlichkeit des Theaters schrecke die Kunst ab, sich zum Theater zu<br />

degradieren. Wie immer man die Grundfrage beantwortet – Kunst als Lebensbereicherung,<br />

Lebenshilfe, unverzichtbares Element der Lebensqualität, als Bildung,<br />

als Zukunftswerkstätte, als Überlebensmittel und ähnliche Versuche zu sagen,<br />

was man von der Kunst erwarte – wie immer: alle diese Umschreibungen<br />

bedrängen auch das Theater, oft mit besonderer Betonung irgendeines pädagogischen<br />

Auftrags: Eine moralische Anstalt sei das Theater oder solle es sein,<br />

ein nationales Forum, ein Bildungsinstitut, ein Ort des „gesteigerten Daseins“<br />

(Jouvet), „an dem das Volk seine Idee vom Leben in einem wachen Traum<br />

erblickt“ – „ein Ort der Verdichtung, Entzündung und Entladung schöpferischer<br />

Phantasiekräfte der Volksseele“ (B. Viertel), ein Ort der „Irrealität“,<br />

der „Magie der Seele“, der „Mythomanie“ – oder aber politisches Forum, ein<br />

Ort ideologischer Auseinandersetzungen, oder Agitprop usw. usw. – oder<br />

eben schlechthin der „<strong>Spiegel</strong> der Zeit“.<br />

Vom Theater als purem Zeitvertreib, zu dem sich die Kunst nach Meinung<br />

der überwiegen<strong>den</strong> Mehrheit der erwarten<strong>den</strong> <strong>In</strong>terpreten tatsäch-


Wien 1976–1986<br />

lich nicht degradieren darf, soll in diesem Zusammenhang nicht die Rede<br />

sein, obwohl die schlichte Unterhaltung, die Entspannung nach Arbeit und<br />

Mühe, das Vorgaukeln heiler Annehmlichkeiten nach einem sorgenvollen<br />

Tag durchaus zu <strong>den</strong> Erwartungen eines beachtlichen Teils des Publikums<br />

– z. B. auch des Burgtheaterpublikums – gehören und seit Anbeginn gehört<br />

haben. So wurde das Burgtheater mit großem aufklärerischen Anspruch als<br />

„Teutsches National-Theater“ gegründet, aber mit dem zu Recht vergessenen<br />

Stück „Die Schwiegermutter“ eröffnet, und der Gesamtspielplan wurde<br />

seit 1776 bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von dramatischer Alltagsware<br />

dominiert: Nur ca. ein Fünftel der in zweihundert Jahren gespielten Stücke<br />

sind der ‚gehobenen Literatur‘ zuzurechnen. Dieser Umstand bedürfte sicher<br />

einer diffizilen und historisch verständnisvollen Darstellung, auch wenn er<br />

zu polemischer Verkürzung verleitet. Dieser Versuchung ist der schon zitierte<br />

Feind des neueren Burgtheaters Egon Friedell erlegen, als er 1920 schrieb:<br />

„Literarisch war das Burgtheater ja niemals eine führende, geschweige <strong>den</strong>n<br />

die erste Bühne; auch nicht unter Laube. Dieser hat sich in seinem Geschmack<br />

immer vom Publikum leiten lassen, nicht aus Schwäche, sondern aus Überzeugung.<br />

Er hielt dies im Gegensatz zu Goethe, für das einem Theaterdirektor<br />

einzig angemessene Verfahren.“<br />

Friedell behauptet dann, Laube hätte sicher, so liberal und fortschrittlich<br />

er politisch war, als erzkonservativer Ästhetiker, auch „Die Räuber“ abgelehnt,<br />

wenn sie zu seiner Zeit neu gewesen wären. – Allerdings hatte der<br />

<strong>In</strong>tendant, der „Die Räuber“ uraufführte, der Freiherr von Dalberg, in dem<br />

von ihm geleiteten Mannheimer Theater ebenfalls neben der großen Literatur<br />

vorwiegend Unterhaltungspossen, Singspiele und Rührstücke zu verantworten,<br />

und natürlich war Schiller der Konkurrenz von Rautenstrauchs<br />

„Der Jurist und der Bauer“, dem meist gespielten Stück der Aera Dalberg,<br />

nicht gewachsen. Friedells Vorwurf gegen das Burgtheater und gegen Laube<br />

verfängt also nicht so recht, zumal er an anderer Stelle sogar die Meinung<br />

vertritt, auch die guten Stücke waren fast nie so gut wie die Schauspieler.<br />

„Nun wur<strong>den</strong> die vielen schlechten Stücke, die das Burgtheater auf dem<br />

Gewissen hat“, setzt Friedell seine Polemik fort, „in seiner Blütezeit allerdings<br />

von ganz außeror<strong>den</strong>tlichen Schauspielern mit so viel Eigenart und<br />

Leben gefüllt, dass man ganz und gar vergaß, was <strong>den</strong>n eigentlich auf der<br />

Bühne geredet wurde. […] Und nun muss man zugeben, dass auch heute<br />

noch das Burgtheater die Gabe besitzt, durch <strong>den</strong> Reichtum, die Farbigkeit<br />

und die Gestuftheit seines Ensembles <strong>den</strong> hohlsten Kitsch mit Glanz zu umgeben.<br />

Aber so viel Geist auch seine einzelnen Mitglieder besitzen, dieses<br />

Ensemble selber hat keinen Geist.“<br />

Die von Friedell polemisch behauptete Geistlosigkeit des Burgtheater-<br />

Ensembles – ein inzwischen traditionsreicher Vorwurf – ist wohl gleichzusetzten<br />

mit der von Herbert Ihering 1922 beschriebenen „Versteinerung des<br />

Burgtheaters“.<br />

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