blimu_24_02_digitale_Ausgabe_blurred
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<strong>Ausgabe</strong> 128 (<strong>02</strong>/20<strong>24</strong>)<br />
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ISSN 1619-9421<br />
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EINE DEUTSCH-DEUTSCHE GESCHICHTE<br />
DAS MUSICAL VON RALPH SIEGEL<br />
STAR-BESETZUNG<br />
HEINZ HOENIG<br />
TIM WILHELM<br />
SIMONE BALLACK<br />
JENNIFER SIEMANN<br />
DAN LUCAS<br />
SONIA FARKE<br />
MUSIK: RALPH SIEGEL – BUCH: RONALD KRUSCHAK<br />
TEXTE: MICHAEL KUNZE, BERND MEINUNGER, RONALD KRUSCHAK<br />
08.- 19.05.<strong>24</strong><br />
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Das Deutsche Theater München präsentiert eine Veranstaltung der<br />
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LA CAGE<br />
REGIE Andreas Gergen<br />
MUSIKAL. LTG Günter Wallner<br />
ALBIN Mathias Schlung<br />
GEORGES Tim Grobe<br />
AUX FOLLES<br />
EIN KÄFIG VOLLER NARREN<br />
Musik und Gesangstexte von Jerry Herman<br />
Buch von Harvey Fierstein<br />
Nach dem Stück Ein Käfig voller Narren von Jean Poiret<br />
Deutsch von Erika Gesell und Christian Severin<br />
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Das Phantom der Oper<br />
Zurück im Wiener Raimund Theater<br />
SIX – The Musical Berlin<br />
Die Königinnen Linz<br />
Der große Gatsby Göttingen<br />
Hanf. Ein berauschender Abend Schwedt<br />
Pretty Woman London<br />
West Side Story Wien<br />
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Inhalt<br />
Inhalt<br />
<strong>Ausgabe</strong> 128, Nr. <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
… kurz vorweg<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
liebe Abonnentinnen und Abonnenten,<br />
das Jahr schreitet voran und wir sind<br />
sehr dankbar für die vielen positiven<br />
Resonanzen auf die vergangenen Wochen.<br />
Viele Veränderungen kommen gut<br />
voran und wir freuen uns besonders,<br />
Ihnen als Abonnent:innen unsere Jokertickets<br />
anbieten zu können. Wir<br />
sind weiterhin mit mehreren Theatern<br />
im Gespräch, einige werden erst mit<br />
kommenden Veranstaltungen bei uns<br />
in den Verkauf einsteigen, das heißt,<br />
dass da gerade ganz viel passiert, und<br />
obwohl wir, mit dieser <strong>Ausgabe</strong> beginnend,<br />
auch immer eine Seite für unsere<br />
Jokertickets bereithalten, empfiehlt<br />
es sich doch, regelmäßig auf die Webseite<br />
zu schauen oder unseren Newsletter<br />
zu abonnieren.<br />
Wir haben außerdem »Backstage« als<br />
Rubrik hinzugefügt, hier gehen wir intensiver<br />
auf Teile einer Produktion ein.<br />
Der Start macht die Probenzeit von<br />
»Dear Evan Hansen« in Gmunden, mit<br />
tollen Bildern und kurzen Interviews<br />
können wir da die vergangenen Monate,<br />
bis es nun auf die Bühne kommt,<br />
darstellen.<br />
Ansonsten ist es eine Freude zu sehen,<br />
wie viele große und großartige Produktionen<br />
unsere Redakteur:innen in<br />
den vergangenen Wochen sehen durften,<br />
um für Sie darüber zu berichten<br />
und wie viele für die kommenden Wochen<br />
auf dem Redaktionsplan stehen!<br />
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen<br />
viel Freude beim Lesen unserer neuesten<br />
<strong>Ausgabe</strong>,<br />
Herzliche Grüße,<br />
Sabine Haydn<br />
Chefredaktion der blickpunkt musical<br />
Topthema<br />
4 Das Phantom der Oper Raimund Theater Wien<br />
Musicals in Deutschland<br />
26 Absolventenpräsentation 20<strong>24</strong> Essen<br />
12 UA Bittersüße Zitronen Ohnsorg<br />
Theater Hamburg<br />
20 Broadway Danny Rose Schlosstheater Celle<br />
19 China Girl – Liebe ist stärker als Blut<br />
F1rst Stage Theater Hamburg<br />
<strong>24</strong> UA Der große Gatsby Deutsches Theater<br />
Göttingen<br />
14 Hello, Dolly! Musiktheater im Revier<br />
Gelsenkirchen<br />
16 UA Hanf. Ein berauschender Abend<br />
Uckermärkische Bühnen Schwedt<br />
28 Jubiläumsshow F1rst Stage Theater Hamburg<br />
23 UA Käthe holt die Kuh vom Eis<br />
Kammertheater Karlsruhe<br />
8 SIX – The Musical (Tour) Admiralspalast Berlin<br />
Musicals in Österreich<br />
56 Candide Theater an der Wien, Wien<br />
49 UA Die Königinnen Landestheater Linz<br />
62 Footloose (Tour) Wiener Stadthalle<br />
54 UA Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin<br />
Rabenhof Theater Wien<br />
58 Titanic Bühne Baden<br />
60 UA Twist! Metropol Theater Wien<br />
52 West Side Story Volksoper Wien<br />
Musicals in Europa<br />
66 La Cage aux Folles Bühnen Bern<br />
64 Rent Theater St. Gallen<br />
Musicals in Großbritannien<br />
72 Pretty Woman (Tour) New Wimbledon<br />
Theatre London<br />
Musicals in den USA<br />
70 Merrily We Roll Along Hudson Theatre<br />
New York<br />
Einblick<br />
46 Alfons Haider über »My Fair Lady« Mörbisch<br />
36 Frank Nimsgern über »Zauberflöte« Füssen /<br />
München<br />
34 Seth Sklar-Heyn über »Das Phantom der<br />
Oper« Wien<br />
31 Anton Zetterholm über »Das Phantom der<br />
Oper« Wien<br />
30 Ein bisschen Frieden Deutsches Theater München<br />
Filme & Serien<br />
67 Die Farbe Lila im Kino<br />
Rubriken<br />
40 Backstage bei »Dear Evan Hansen« Musical<br />
Frühling in Gmunden<br />
76 Abgeschminkt – Peter Scholz über seine<br />
sozialen Engagements<br />
74 Das war anno … 1974<br />
78 Einspielungen<br />
81 Abonnenten-Info<br />
82 Impressum & Ausblick<br />
Abb. von oben:<br />
1. »Der große Gatsby« Göttingen<br />
Foto: Thomas M. Jauk<br />
2. »Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« Wien<br />
Foto: Rita Newman / Rabenhof Theater<br />
3. »La Cage aux Folles« Bern<br />
Foto: Rob Lewis<br />
4. »Pretty Woman« London<br />
Foto: Marc Brenner<br />
Titelfoto:<br />
»Das Phantom der Oper Wien«<br />
Foto: VBW / Deen van Meer<br />
<strong>24</strong><br />
54<br />
66<br />
72<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/<strong>24</strong><br />
3
Musicals Topthema in Deutschland<br />
Lang ersehnte Rückkehr im neuen Look<br />
»Das Phantom der Oper« am Wiener Raimund Theater<br />
Abb. oben:<br />
Als Christine (Lisanne Clémence<br />
Veeneman) das Phantom (Anton<br />
Zetterholm) ohne Maske sieht, kann<br />
dieser seine Wut nicht mehr bändigen<br />
Abb. unten:<br />
Eine Erinnerung aus Kindheitstagen:<br />
Raoul (Roy Goldman) überreicht<br />
seiner angebeteten Christine (Lisanne<br />
Clémence Veeneman) eine rote Rose<br />
Fotos (2): VBW / Deen van Meer<br />
Zugegeben, ganz neu ist sie nicht, die als »spektakuläre<br />
Neuinszenierung« angekündigte Produktion<br />
von »Das Phantom der Oper«. Bereits 2011, zum<br />
25-jährigen Jubiläum des Andrew Lloyd Webber-Klassikers,<br />
verpasste niemand geringerer als Musicalproduzent<br />
Cameron Mackintosh dem Stück einen neuen<br />
Look – und das mit Erfolg. In den USA, Großbritannien<br />
und Australien kam das neue »Phantom« gut an,<br />
nun holte es Christian Struppeck, Musical-Intendant<br />
der Vereinigten Bühnen Wien, fast 40 Jahre nach der<br />
deutschsprachigen Erstaufführung in diesem Look<br />
in die österreichische Hauptstadt. Bereits im Vorfeld<br />
wurde heiß diskutiert: Während sich unter hart gesottenen<br />
Fans der Originalinszenierung Unmut breit<br />
machte, forderten andere wiederum Offenheit für eine<br />
neue, entstaubte Fassung.<br />
Die Geschichte rund um die Geschehnisse an der<br />
Pariser Oper, in der ein Mann mit entstelltem Gesicht<br />
in den Katakomben haust, Opern komponiert und<br />
sich in die junge Sängerin Christine Daaé verliebt, ist<br />
hinlänglich bekannt. Sie entstammt einem Roman von<br />
Gaston Leroux aus dem frühen 20. Jahrhundert und<br />
begeistert seit Jahrzehnten Fans auf der ganzen Welt.<br />
Rund 160 Millionen Besucher sahen die Originalproduktion<br />
bisher, die Uraufführung fand 1986 am Londoner<br />
West End statt, von wo es bis heute nicht wegzudenken<br />
ist. Mit sieben Tony Awards und zahlreichen<br />
weiteren Theaterpreisen gilt das »Phantom« heute als<br />
das erfolgreichste Musical aller Zeiten. Die Neuinszenierung<br />
ist nun erstmals im deutschsprachigen Raum<br />
zu sehen, Regie führt Seth Sklar-Heyn basierend auf<br />
dem Staging von Laurence Connor.<br />
Am 15. März fand die mit Spannung erwartete<br />
Premiere am Wiener Raimund Theater statt. Bereits<br />
beim Betreten des Saales steht – zur Erleichterung<br />
vieler – fest: Der Kronleuchter als heimlicher Protagonist<br />
steht auch diesmal wieder im Fokus. Zu Beginn<br />
noch verhüllt, soll er später Funken sprühen und auf<br />
das Publikum zurasen. Gleich vorweg: Weder die<br />
Geschichte selbst noch die berühmten Songs wurden<br />
verändert. Lediglich an der deutschen Fassung wurde<br />
gekonnt etwas gefeilt. Wo »Phantom« drauf steht, ist<br />
also »Phantom« drin, wenn auch etwas anders verpackt.<br />
So beginnt auch diese Inszenierung wie gewohnt mit<br />
einer Auktion an der Pariser Oper. Ein alternder Raoul<br />
ersteigert eine Spieluhr und erinnert sich folglich an<br />
die Ereignisse von damals zurück. Auftritt für den<br />
Kronleuchter, der vom verstaubten Requisit zur schillernden<br />
Figur der Oper wird, die nach und nach unter<br />
den durch Mark und Bein gehenden Melodien aus dem<br />
28-köpfigen VBW-Orchester unter der Leitung von<br />
Carsten Paap zum Leben erwacht – ein Gänsehautmoment,<br />
nicht nur für Fans.<br />
Das im Vergleich zur Originalproduktion reduzierte,<br />
man könnte boshaft sagen »abgespeckte« Bühnenbild<br />
(Paul Brown), ermöglicht rasche Szenenwechsel<br />
sowie Wechsel der Schauplätze. Eine Drehbühne<br />
tut hier ihr Übriges. Im Zentrum steht eine halbrunde<br />
Wand, die sich immer wieder öffnet und verändert,<br />
was zahlreiche Möglichkeiten bietet, die Bühne aber<br />
gleichzeitig auch gedrungener und enger wirken lässt.<br />
Auf die pompöse Treppe beim ›Maskenball‹ wartet<br />
man ebenso vergeblich wie auf die Kerzenpracht während<br />
der (in Wien übrigens äußerst kurz ausfallenden)<br />
Bootsfahrt in den Katakomben. Anstatt auf einer<br />
Orgel spielt das Phantom seine Melodien auf einem<br />
Requisit, das eher einem Keyboard ähnelt. Auch die<br />
beinah im Übermaß eingesetzte Pyrotechnik kann<br />
die fehlenden Details nicht wettmachen und scheint<br />
in manchen Szenen gar nicht von Nöten. Eine gute<br />
4<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals Topthema in Deutschland<br />
Idee sind hingegen im »Harry Potter«-Stil ausfahrende<br />
Treppen, die den Weg zum Verlies freimachen und<br />
spektakulär wirken. Bei den gelungenen Kostümen<br />
(Maria Björnson®, Überarbeitung von Jill Parker) setzt<br />
man in dieser Neuinszenierung auf Altbewährtes.<br />
All jene, die das Stück in- und auswendig kennen,<br />
dürften sich über so manche kleine Änderung von Szenen<br />
wundern. So nimmt etwa nicht Christine selbst<br />
dem Phantom im Verlies die Maske ab. Vielmehr nutzt<br />
er die Zeit, in der sie schläft, um sein Gesicht zu reinigen.<br />
Sie erwacht, sieht sein Gesicht und erschrickt, das<br />
Unglück nimmt seinen Lauf... Im Finale gibt Christine<br />
dem Phantom bekanntlich seinen Ring zurück, er<br />
gesteht ihr seine Liebe. In dieser Inszenierung wird auf<br />
ein neuerliches Treffen und den damit einhergehenden<br />
Blickkontakt verzichtet. Das Phantom kniet am<br />
Boden, spricht die Worte: »Christine, ich liebe dich«<br />
scheinbar mehr zu sich selbst, die Angesprochene legt<br />
den Ring im Hintergrund auf den Tisch und zieht sich<br />
zurück.<br />
Generell ist ein neuer Ansatz in der Interpretation<br />
der Figuren ersichtlich. Wirkte die Protagonistin<br />
Christine Daaé bislang eher passiv und schüchtern,<br />
nimmt sie in dieser Produktion eine emanzipiertere<br />
Rolle ein. Besonders stark tritt dies etwa im Duett mit<br />
Raoul (›Mehr will ich nicht von dir‹) zum Vorschein.<br />
So ist es weniger ein Flehen als ein Fordern, das hier<br />
von der Sängerin ausgeht. Grundsätzlich scheint es, als<br />
wolle man den Fokus diesmal weniger auf das Bühnenbild<br />
und mehr auf die Personen in der Geschichte<br />
lenken. Vor allem das Phantom solle menschlicher<br />
und jünger wirken, hieß es schon im Vorhinein. Überraschend<br />
für viele war die Wahl des schwedischen<br />
Musicalstars Anton Zetterholm, der bislang häufig<br />
in klassischen Prince-Charming-Rollen zu sehen war,<br />
für die Titelrolle. Doch der Plan geht auf: Zetterholm<br />
kann vor allem stimmlich in Höhen und Tiefen begeistern<br />
und weiß auch mit seiner Stimme zu spielen. Er<br />
macht das Phantom nahbar. Dadurch verliert die Figur<br />
zwar etwas an Mystik und Gruselfaktor, wirkt aber<br />
menschlicher. Was der Zuschauer / die Zuschauerin<br />
bevorzugt, ist natürlich subjektiv. Besonders überzeugend<br />
ist Zetterholm in der finalen Szene, in der er<br />
zwischen Liebe und Hass schwankt und seine Gefühle<br />
nicht mehr bändigen kann. Die junge Niederländerin<br />
Lisanne Clémence Veeneman ist eine Entdeckung und<br />
sorgt mit ihrer Darstellung der Christine für Gänsehaut.<br />
Ausdrucksstark im Schauspiel und mit einem<br />
traumhaften Sopran weiß sie die ambivalenten Gefühle<br />
der jungen Sängerin gekonnt zu vermitteln – Chapeau!<br />
Im Zusammenspiel mit Landsmann Roy Goldman als<br />
Raoul harmoniert sie wunderbar. Goldman schafft es,<br />
neben seinem angenehmen Timbre, vor allem durch<br />
seine Darstellung zu überzeugen. Der sonst oft etwas<br />
farblose Raoul bekommt durch ihn Charakter. Man<br />
darf demnach gespannt auf seine Interpretation der<br />
Titelrolle sein.<br />
Die fabelhafte Wiener Cast ist bis in die kleinsten<br />
Rollen außerordentlich stark besetzt. Als bissige<br />
Operndiva Carlotta überzeugt Milica Jovanović,<br />
die in Wien bereits als Christine in der »Phantom«-<br />
Fortsetzung »Love Never Dies« auf der Bühne stand.<br />
Als skurrile Maestri der Pariser Oper sorgen Rob<br />
Pelzer und Thomas Sigwald für Lacher. Patricia Nessy<br />
gibt eine fantastische Madame Giry (genialer Einfall:<br />
Den Rückblick auf das Kennenlernen des Phantoms<br />
erzählt sie vor einer Schattenwand), Greg Castiglioni<br />
ist ein ausgezeichneter Piangi. Hochachtung gebührt<br />
Das Phantom der Oper<br />
Andrew Lloyd Webber / Charles Hart /<br />
Richard Stilgoe<br />
Deutsch von Michael Kunze<br />
Vereinigte Bühnen Wien &<br />
Cameron Mackintosh<br />
Raimund Theater<br />
Premiere: 15. März 20<strong>24</strong><br />
Regie ....................... Laurence Connor<br />
Associate Regie .......... Seth Sklar-Heyn<br />
Musikalische Leitung ..... Carsten Paap<br />
Musical Supervision .............................<br />
.......................... Alfonso Casado Trigo<br />
Orchestrierung ............... David Cullen<br />
Choreographie ............... Scott Ambler<br />
Associate Choreographie .....................<br />
..................................... Nina Goldman<br />
Bühnenbild ....................... Paul Brown<br />
Kostüme ................... Maria Björnson®<br />
Associate Kostüme ............... Jill Parker<br />
Perücken, Haar- &<br />
Make-up-Design ............ Stefan Musch<br />
Lichtdesign ................ Paule Constable<br />
Associate Lichtdesign ......... Rob Casey<br />
Projektionen ...................... Zakk Hein<br />
Sounddesign ..................... Mick Potter<br />
Associate Sounddesign ......... Nic Gray<br />
Das Phantom .......... Anton Zetterholm<br />
Christine Daaé .....................................<br />
............. Lisanne Clémence Veeneman<br />
Raoul, Vicomte de Chagny .....................<br />
...................................... Roy Goldman<br />
Monsieur André ................. Rob Pelzer<br />
Monsieur Firmin ....... Thomas Sigwald<br />
Carlotta Giudicelli .... Milica Jovanović<br />
Madame Giry ............... Patricia Nessy<br />
Ubaldo Piangi ............ Greg Castiglioni<br />
Meg Giry ........... Laura May Croucherf<br />
In weiteren Rollen:<br />
Fleur Alders, Birgit Arquin,<br />
Eva Maria Bender, Niels Bouwmeester,<br />
Silke Braas-Wolter, Dejan Brkic,<br />
Jev Davis, Brodie Donougher,<br />
Amal El-Shrafi, Florian Fetterle,<br />
Ema Beatriz Fróis do Amaral,<br />
Julia Hübner (Dance Captain),<br />
Leonie Kappmeyer, Aaron Lynch,<br />
Lillian Mandaag, Vasilios Manis,<br />
Richard McCowen, Emma McFarlane,<br />
Robert Meyer, Matthew Petty,<br />
Wolfgang Postlbauer,<br />
Danielle Shani Raffoul,<br />
Lilly Rottensteiner, Steven Ralph,<br />
Darcie Jo Raukura Ridder,<br />
Samantha Rodulfo, Lowri Shone,<br />
Marco Trespioli, Timo Verse,<br />
Dean Welterlen<br />
Abb. von oben:<br />
1. Die ausgelassene Stimmung beim<br />
›Maskenball‹ in der Oper hält nicht<br />
lange an. Das Phantom mischt sich<br />
unter die Gäste<br />
2. Ein Brief nach dem anderen: Die<br />
Direktoren der Oper, Monsieur<br />
Firmin (Thomas Sigwald, l.) und Monsieur<br />
André (Rob Pelzer) kämpfen mit<br />
den Forderungen des Phantoms<br />
3. ›Mehr will ich nicht von dir‹ – Auf<br />
dem Dach der Oper gestehen sich<br />
Christine (Lisanne Clémence Veeneman)<br />
und Raoul (Roy Goldman)<br />
ihre Liebe<br />
Fotos (3): VBW / Deen van Meer<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
5
Musicals Topthema in Deutschland<br />
Abb. unten von links:<br />
1. Zwischen Trauer und Hass:<br />
Das Phantom (Anton Zetterholm)<br />
sieht Christine und Raoul auf<br />
dem Friedhof und fasst in seiner<br />
Verzweiflung einen Plan<br />
2. Operndiva Carlotta Giudicelli<br />
(Milica Jovanović, vorne l.) fühlt<br />
sich um ihren Ruhm betrogen,<br />
neben ihr Ubaldo Piangi (Greg<br />
Castiglioni, vorne r. mit Ensemble)<br />
3. Das Phantom (Anton Zetterholm)<br />
entführt Christine Daaé (Lisanne<br />
Clémence Veeneman) in sein Reich<br />
tief unter der Pariser Oper<br />
4. Die Anziehung ist zu groß:<br />
Christine (Lisanne Clémence<br />
Veeneman) folgt dem Phantom<br />
(Anton Zetterholm) in seine Welt<br />
Fotos (4): VBW / Deen van Meer<br />
ebenso dem Rest des Ensembles sowie dem »Corps de<br />
Ballet«, die mit perfekt synchron dargebotenen Choreographien<br />
die Wirkung des Stückes noch einmal<br />
verstärken.<br />
An der Cast dürfte es wohl nicht liegen, dass an<br />
manchen Stellen Emotion und Chemie fehlen. In<br />
Szenen wie ›Mehr will ich nicht von dir‹ legen die<br />
Darsteller unnötige Meter auf der Bühne zurück,<br />
gehen gestresst von links nach rechts, während hier<br />
ein kurzer Moment des Innehaltens beziehungsweise<br />
des Blickkontaktes der Intensität sicher gutgetan hätte.<br />
Hier gilt: Weniger ist mehr. Auch ist nicht klar, warum<br />
Christine in privaten Momenten ähnlich wild gestikuliert<br />
wie auf der Bühne. Anstatt ›Könntest du doch<br />
wieder bei mir sein‹ mit ausufernden Armbewegungen<br />
in Richtung Publikum zu singen, wäre es sicher eher<br />
angebracht, vor dem Grab zu stehen und das Zwiegespräch<br />
mit ihrem Vater oder Gott zu suchen. So wirken<br />
die Szenen zeitweise zu »einstudiert« und wenig natürlich<br />
– was sich nach der Premieren-Aufregung und mit<br />
der Routine legen könnte, sofern es keine bewusste<br />
Regieanweisung war.<br />
Das Premierenpublikum honorierte die Neuinszenierung<br />
mit tosendem, Minuten anhaltendem Applaus<br />
und Standing Ovations – und das auch zurecht. Das<br />
neue »Phantom der Oper« kann sich zweifelsfrei sehen<br />
und hören (nirgendwo sonst gibt es ein Orchester in<br />
dieser Größenordnung) lassen. Wer mit der Erwartungshaltung<br />
in die Show geht, das bekannte Original<br />
zu sehen, und durchweg Vergleiche zieht, wird vermutlich<br />
enttäuscht sein. In diesem Fall gilt es, sich auf<br />
etwas Neues einzulassen. Und das Neue ist zweifelsfrei<br />
gelungen – nicht zuletzt aufgrund der fantastischen<br />
Cast. Die Zahlen geben den Verantwortlichen übrigens<br />
recht: Bereits vor der Premiere wurde der Vorverkauf<br />
für die zweite Saison eröffnet. Sogar die übliche<br />
Sommerpause wurde verschoben. »Das Phantom der<br />
Oper«, es ist endlich wieder zurück – in einer Fassung,<br />
die überzeugt.<br />
Yvonne Mresch<br />
6<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
CAMERON MACKINTOSHS<br />
SPEKTAKULÄRE NEUPRODUKTION<br />
VON<br />
ANDREW LLOYD WEBBERS<br />
AUCH IM JULI LIVE ZU SEHEN!<br />
#WeAreMusical<br />
PHANTOM.MUSICALVIENNA.AT
Musicals in Deutschland<br />
Geschieden, geköpft – live!<br />
»SIX – The Musical« auf Deutschland-Tour im Berliner Admiralspalast<br />
Abb. oben:<br />
Die Königinnen haben sich zu<br />
einer neuen Sicht ihrer Identität<br />
durchgerungen, die sie unabhängig<br />
macht von ihrem (Ex-)Ehemann:<br />
(v.l.) Catherine of Aragon (Nicole<br />
Louise Lewis), Anne Boleyn (Izi<br />
Maxwell), Jane Seymour (Erin<br />
Caldwell), Anna of Cleves (Kenedy<br />
Small), Katherine Howard (Lou<br />
Henry) und Catherine Parr<br />
(Aiofe Haakenson)<br />
Foto: Pamela Raith Photography<br />
Das britische Musicalphänomen »SIX«, das sich in<br />
der Form eines Popkonzerts dem Leben und Leiden<br />
der sechs Ehefrauen König Heinrichs VIII. von<br />
England widmet, macht auf seiner Tournee durch Mitteleuropa<br />
als erste Station im Admiralspalast in Berlin<br />
halt (weitere Stationen werden München, Zürich und<br />
Triest sein, sowie die Niederlande im Herbst). Wenn<br />
man das notorisch schwierige Berliner Musicalpublikum<br />
kennt, standen einem so einige Überraschungen<br />
bevor. Als erstes: Es war Sonntagnachmittag und die<br />
Show war so gut wie ausverkauft – inklusive beider<br />
Ränge. Zweitens: In einer Art und Menge, wie man<br />
es sonst nur von »Tanz der Vampire« oder der »Rocky<br />
Horror Show« kennt, kamen viele, vor allem junge<br />
Frauen, kostümiert als eine der Königinnen. Drittens:<br />
Vom ersten Moment der Show an herrschte im Saal eine<br />
ausgelassene Stimmung, wurde jeder Witz belacht, fast<br />
bevor er zu Ende ausgesprochen war, und hier und da<br />
war sogar leises Mitsingen zu vernehmen. Das ist umso<br />
erstaunlicher, als das Stück nicht nur zum ersten Mal in<br />
Deutschland gespielt wird, sondern auch in englischer<br />
Sprache, und noch dazu ohne Übertitel. Trotzdem hatte<br />
man den Eindruck, dass der weitaus größte Teil des<br />
Publikums (tendenziell zu achtzig Prozent unter dreißig<br />
und weiblich) das Stück mehr oder weniger auswendig<br />
kannte. Das zeigt, dass dieses Stück einen Nerv trifft –<br />
ähnlich wie »Hamilton« oder auch die Plate-Version von<br />
»Romeo und Julia«, die ebenfalls in Berlin im Theater<br />
des Westens ein ähnliches Publikumssegment erfolgreich<br />
ansprach. Die einigermaßen moderate Preisgestaltung,<br />
inklusive Ermäßigungen für ein »Queens Special«<br />
mit Ermäßigungen für eine Gruppe von vier Personen –<br />
was dem optischen Eindruck nach rege genutzt wurde ‒,<br />
trug sicher auch zur guten Auslastung bei. Vielleicht<br />
sollten sich andere Musicalanbieter in Deutschland die<br />
Preisgestaltung zum Vorbild nehmen…<br />
Die Keimzelle von »SIX« war ein Poesiekurs der<br />
Universität Cambridge als Projekt von Lucy Moss und<br />
Toby Marlow. Schnell zeigte sich, dass die Idee Potenzial<br />
hatte, vor allem, als die musikalische Gestaltung<br />
dazukam. So kam es 2017 beim Edinburgh Fringe<br />
Festival zu einer ersten Aufführung mit Studentinnen<br />
der Universität Cambridge. Es war ein solcher Erfolg,<br />
dass sich Produzenten fanden, die sechs Vorstellungen<br />
in London am Arts Theatre arrangierten, die ihrerseits<br />
genügend Erfolg hatten, um 2018 eine kleinere Tour<br />
durch Großbritannien zu ermöglichen. Am Ende<br />
stand das offizielle West-End-Debüt im Januar 2019<br />
in der Regie von Co-Autorin Lucy Moss und Jamie<br />
Armitage, die bis heute für alle Produktionen verantwortlich<br />
sind. Nach zwei Corona-Pausen, in denen die<br />
Londoner Theater geschlossen waren, spielt die Show<br />
seit 2<strong>02</strong>1 am Vaudeville Theatre am West End. Auch<br />
die US-Produktion stand unter dem Corona-Fluch:<br />
Am Tag der geplanten Premiere (12. März 2<strong>02</strong>0)<br />
schlossen die Broadway-Theater. Die Premiere fand<br />
daher erst am 3. Oktober im Lena Home Theatre statt,<br />
fand als erste Premiere nach der Wiedereröffnung der<br />
New Yorker Theater starke Beachtung und wurde sogar<br />
als Liveaufnahme veröffentlicht. In den Folgejahren<br />
gab es Produktionen in Kanada und Australien. In<br />
Südkorea, Ungarn und Polen gibt es landessprachliche<br />
Produktionen. Die Tour, die momentan in Deutschland<br />
unterwegs ist, ist die UK-Tour des Jahres 2<strong>02</strong>3 in<br />
identischer Produktion und Besetzung.<br />
Der Admiralspalast ist nicht immer ein leichtes<br />
Pflaster – das Parkett steigt kaum an, und der Ton ist<br />
auch nicht immer das Beste vom Besten. Erstaunlicherweise<br />
störte das an diesem Nachmittag überhaupt<br />
nicht. Der Ton hatte, obwohl es nur vier Bandmitglieder<br />
(Pardon: Ladies-in-Waiting) gibt (Yutong Zhang<br />
als MD und am Keyboard, Janette Williams an den<br />
8<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Drums, Julia Ostrowska am Bass und Lola Barber<br />
an der Gitarre) genügend »Umpf«, um dem Publikum<br />
ordentlich etwas auf die Ohren zu geben. Die<br />
Bühne, bestehend aus einer Spielfläche vorne, einer<br />
Showtreppe in der Mitte, einer Empore für die Band<br />
und acht Elementen im Hintergrund, die in wechselnder<br />
Beleuchtung (Licht: Tim Deiling) wahlweise<br />
Säulen, gotische Kirchenfenster, einen Thronsaal oder<br />
einen angedeuteten Palast darstellen (Bühne: Emma<br />
Bailey), ist erfüllt von grandioser Energie (zu der die<br />
sehr modernen Choreographien von Carrie-Anne<br />
Ingrouille das Ihre beitragen) der sechs Darstellerinnen,<br />
die als die »Ex-Wives« von ihrem Leben (und Tod)<br />
mit Heinrich VIII. erzählen.<br />
Wenn sich im Admiralspalast der Vorhang öffnet,<br />
geht es gleich in medias res: Die sechs Königinnen in<br />
modernen stylischen Kostümen, die sich dennoch formal<br />
leicht an Renaissance-Vorbildern orientieren (Kostüme:<br />
Gabriella Slade), treten auf mit dem Abzählreim,<br />
mit dem allen englischen Schulkindern die sechs Königinnen<br />
beigebracht werden: »Divorced, beheaded, died,<br />
divorced, beheaded, survived.« Schnell einigen sich die<br />
Damen darauf, dass sie keine Lust mehr haben, sich<br />
hierauf reduzieren zu lassen und beschließen, stattdessen<br />
ihre Geschichte (»our history, or as we like to say,<br />
herstory«) selbst zu erzählen und dazu die Band der<br />
›Ex-Wives‹ zu gründen. Die Leadsängerin soll diejenige<br />
werden, die am meisten unter Heinrich gelitten hat.<br />
Catherine of Aragon (Nicole Louise Lewis), Heinrichs<br />
erste Frau, tritt an und ist überzeugt, dass sie mit<br />
Sicherheit die Gewinnerin sein wird. In ihrem Solo<br />
›No Way‹ beschreibt sie, wie sie <strong>24</strong> Jahre lang Heinrich<br />
eine treue und loyale Ehefrau war, trotz all seiner<br />
Affären, fest überzeugt, dass sie bis an ihr Lebensende<br />
Königin von England sein würde – wofür Heinrich<br />
prompt versuchte, sie in ein Kloster abzuschieben.<br />
Als sie sich weigerte, verbannte er sie vom Hof und<br />
trennte sie von ihrer Tochter. Sie starb allein drei Jahre<br />
nach ihrer erzwungenen und von ihr nie anerkannten<br />
Scheidung. Sie ist felsenfest der Meinung, dass sie es<br />
damit am schlechtesten von allen Ehefrauen getroffen<br />
hat, aber dann kommt ›The One You’ve Been Waiting<br />
For‹: Anne Boleyn (Izi Maxwell) erzählt von ihrer<br />
Jugend in Frankreich und wie der König zuerst auf sie<br />
aufmerksam wurde. Als sie zur Bedingung macht, dass<br />
er sie heiraten muss, wenn er sie in sein Bett bekommen<br />
will, nimmt das Unheil seinen Lauf: Er bricht mit<br />
der katholischen Kirche, um sie heiraten zu können,<br />
ist aber auch ihr kein treuer Ehemann. Als sie allerdings<br />
ihrerseits ein wenig herumflirtet, nimmt Henry<br />
das zum Anlass, sich ihrer durch Enthauptung wegen<br />
Untreue zu entledigen (›Don’t Lose Ur Head‹). Anne ist<br />
ebenfalls davon überzeugt, dass sie am meisten unter<br />
ihrem Mann gelitten hat.<br />
Während die Nummern der ersten beiden Königinnen<br />
Up-Tempo-Nummern sind (laut dem Autoren-/<br />
Komponistenteam dienten Beyoncé und Jennifer<br />
Lopez als stilistische Vorbilder für Catherine of Aragon<br />
und Miley Cyrus und Avril Lavigne für Anne Boleyn),<br />
kommt mit dem Auftritt der Jane Seymour, Heinrichs<br />
dritter Frau und Mutter seines einzigen Sohnes, eine<br />
neue musikalische Farbe dazu (laut Autorenteam inspiriert<br />
von Celine Dion und Adele). Ihre eher ruhige<br />
Popballade ›Heart of Stone‹ ist eine Liebeserklärung an<br />
den König, den sie nur als Liebenden erlebt hat (was<br />
sofort den Protest der anderen auslöst), auch wenn sie<br />
sich bewusst ist, dass das vor allem daran liegt, dass<br />
sie ihm den ersehnten Sohn geboren hat. Vom Stil her<br />
ist dieser Song viel klassischer und verlangt eine starke<br />
Sopranstimme, die Erin Caldwell absolut mitbringt.<br />
So ist Jane, wie wohl auch ihr historisches Vorbild, ein<br />
Ruhepol in der temporeichen Show. Ihre Tragödie,<br />
den so ersehnten Sohn nicht aufwachsen zu sehen,<br />
ist eher stiller Natur. Noch weniger tragisch erging es<br />
SIX – The Musical (Tour)<br />
Toby Marlow / Lucy Moss<br />
In englischer Sprache<br />
Kenny Wax, Wendy & Andy Barnes<br />
and George Stiles & BB Promotion<br />
Admiralspalast Berlin<br />
Premiere: 12. März 20<strong>24</strong><br />
Regie .... Lucy Moss & Jamie Armitage<br />
Musikalische Leitung ...... Yutong Zhang<br />
Orchestrierung .................. Tom Curran<br />
Choreographie .... Carrie-Anne Ingrouille<br />
Bühnenbild .................... Emma Bailey<br />
Kostüme ...................... Gabriella Slade<br />
Licht .................................. Tim Deiling<br />
Sounddesign ............... Paul Gatehouse<br />
Catherine of Aragon ...............................<br />
.............................. Nicole Louise Lewis<br />
Anne Boleyn ...................... Izi Maxwell<br />
Jane Seymour .................. Erin Caldwell<br />
Anna of Cleves ................ Kenedy Small<br />
Katherine Howard ............... Lou Henry<br />
Catherine Parr ............ Aoife Haakenson<br />
Ladies in Waiting (Band):<br />
Yutong Zhang (Keyboard),<br />
Janette Williams (Schlagzeug),<br />
Julia Ostrowska (Bass),<br />
Lola Barber (Gitarre)<br />
Abb. unten:<br />
›No Way‹ – Catherine of Aragon<br />
(Nicole Louise Lewis, Mitte) lehnt<br />
es kategorisch ab, ihren Platz als<br />
Königin abzugeben<br />
Foto: Pamela Raith Photography<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
9
Musicals in Deutschland<br />
Abb. unten von oben links:<br />
1. Man richtet sich her im<br />
›House of Holbein‹<br />
2. Catherine Parr (Aiofe Haakenson,<br />
Mitte) emanzipiert sich von<br />
ihrem Ex-Ehemann – ›I Don’t Need<br />
Your Love‹<br />
3. Catherine Parr (Aiofe Haakenson,<br />
Mitte) ruft die anderen dazu<br />
auf, sich nicht nur über ihren<br />
Ehemann zu definieren – ›I Don’t<br />
Need Your Love‹<br />
4. ›The House of Holbein‹ – Die<br />
Königinnen diskutieren die<br />
Schönheitsstandards ihrer Zeit,<br />
wenn sich die potenziellen Bräute<br />
für Heinrichs Hofmaler Hans<br />
Holbein herrichten müssen<br />
Fotos (4): Pamela Raith Photography<br />
ihrer Nachfolgerin, Anna of Cleves (Kenedy Small).<br />
Sie erzählt zunächst, wie Heinrich auf der Suche nach<br />
potenziellen Bräuten seinen Hofmaler Hans Holbein<br />
auf den Kontinent schickte und erntete mit dem Satz:<br />
»To find his next queen, we’re heading to Germany«<br />
den größten und langandauerndsten Szenenapplaus<br />
des Abends, der sie selbst ein wenig zu verblüffen<br />
schien. Zunächst beschreibt die temperamentvolle<br />
Ensemble-Nummer ›House of Holbein‹ die mehr oder<br />
weniger unangenehmen Schönheitsmittel der Zeit,<br />
mit denen sich die Heiratskandidatinnen herrichteten,<br />
bevor Holbein sie für den König malte. Da sowohl<br />
Anna als auch der Maler Deutsche waren, werden hier<br />
zur Belustigung des Publikums immer wieder kurze<br />
deutsche Wörter oder Sätze eingestreut. In ihrem<br />
anschließenden Solo beschreibt Anna sarkastisch, wie<br />
der mittlerweile alte und ziemlich unattraktive König<br />
die junge Prinzessin ablehnt, weil sie angeblich nicht<br />
so schön ist wie ihr Porträt. Ihr Solo ›Get Down‹ ist<br />
deutlich fröhlicher und optimistischer als die Songs<br />
der anderen (die Inspiration waren hier Rihanna und<br />
Nicki Minaj), singt sie doch statt von erlittenem Unrecht<br />
darüber, wie sie es geschafft hat, im Gegenzug zur<br />
Einwilligung zu ihrer fast sofortigen Scheidung nicht<br />
nur das schöne Schloss Richmond, sondern auch ein<br />
substanzielles Einkommen zu ergattern. Obwohl sie<br />
das im Rennen um das größte Unglück an Heinrichs<br />
Seite disqualifiziert, kann sie nun als unabhängige reiche<br />
Frau die »Queen of the castle« sein. Kenedy Small<br />
verdient großen Respekt dafür, dass sie durch den ganzen<br />
Song hindurch einen einigermaßen glaubwürdigen<br />
deutschen Akzent durchhalten kann, was sicher vor<br />
einem deutschsprachigen Publikum herausfordernder<br />
ist als in einem englischsprachigen Land.<br />
Mit dem nächsten Song wird dagegen wieder ein<br />
düsteres Schicksal angesprochen, das der oberflächlichen<br />
und dennoch tragischen Katherine Howard (Lou<br />
Henry). Das nicht überbordend intelligente, aber bildschöne<br />
junge Mädchen wurde schon in jungen Jahren<br />
(13) von ihrem Musiklehrer verführt und hatte dann<br />
eine Affäre mit dem Sekretär des herzoglichen Hauses<br />
Norfolk, wo sie als Nichte des Herzogs aufwuchs. Mit<br />
17 traf sie den 32 Jahre älteren König, der sie umgehend<br />
heiratete. Wenig erstaunlich war Katherine zwar<br />
gerne Königin, fand aber junge Höflinge attraktiver als<br />
ihren alten Ehemann. Nachdem eine Affäre mit Thomas<br />
Culpeper, einem Höfling, dem König zu Ohren<br />
kam, ließ er sie als zweite seiner Gemahlinnen nach<br />
Anne Boleyn (die übrigens Katherines Cousine war)<br />
enthaupten – sie war wahrscheinlich noch nicht einmal<br />
zwanzig Jahre alt. Der Song ›All You Wanna Do‹ ist<br />
ein typischer Popsong im Stil von Britney Spears oder<br />
10<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Ariana Grande und bringt zum Ausdruck, wie sehr<br />
Katherine von allen Männern in ihrem Leben ausgenutzt<br />
wurde. Im Anschluss an diesen Song bekommen<br />
sich vor allem Catherine of Aragon und Anne Boleyn<br />
in die Wolle, wer von ihnen mehr Mätressen und<br />
Fehlgeburten ertragen musste. Bevor es handgreiflich<br />
wird, tritt Catherine Parr (Aoife Haakenson), Heinrichs<br />
sechste und letzte Frau, dazwischen und stößt<br />
die Diskussion an, ob man sich denn wirklich nur<br />
über den Ehemann definieren solle – schließlich seien<br />
andere Königinnen kaum bekannt und Heinrichs<br />
Frauen auch nur in Bezug auf ihre Stellung zu ihm.<br />
Zunächst stößt dieser Ansatz auf Unverständnis bei<br />
den anderen, und so erzählt Catherine in ›I Don’t Need<br />
Your Love‹ erst einmal von der Trauer, die sie empfand,<br />
als sie nach zwei lieblosen Ehen mit älteren Männern<br />
endlich den Mann gefunden hatte, den sie liebte (Thomas<br />
Seymour, Königin Janes Bruder), und ihn dann<br />
verlassen musste, weil der König sich in sie verliebte<br />
und Anspruch auf sie erhob als Ehefrau. Der Song, der<br />
Alicia Keyes und Emili Sandé als Inspirationen hat,<br />
ist am ehesten in dem ganzen Stück so etwas wie eine<br />
»klassische« Musicalballade, auch in seinem textlichen<br />
und dramatischen Aufbau und der darin enthaltenen<br />
Entwicklung: Zunehmend fragt sich die intelligente<br />
Catherine, warum sie sich eigentlich immer nur mit<br />
Heinrich befassen soll, wenn sie doch selbst Bücher<br />
geschrieben und sich für die Bildung von Frauen eingesetzt<br />
hat. Sie beklagt, dass die Geschichtsschreibung<br />
sie immer noch auf ihre Rolle als »die Überlebende«<br />
reduziert. Ermuntert von ihr stimmen nach und nach<br />
alle Königinnen in den Song mit ein und erklären, sich<br />
ihre eigene Geschichte zurückholen zu wollen: »We’re<br />
taking back control, you need to know, I don’t need<br />
your love, no, no.«<br />
Im abschließenden Song ›Six‹ (ein Remix aus allen<br />
Soli) bekräftigen alle Königinnen noch einmal ihr neu<br />
gewonnenes Selbstbewusstsein: »We’re free to take our<br />
crowning glory.« Als Zugabe/Applausmusik gibt es<br />
dann noch den ›Megasix‹, in denen unter Mittanzen<br />
und Mitsingen des Publikums alle Songs noch einmal<br />
angespielt werden. Der Jubel des Publikums erforderte<br />
noch einige weitere Verbeugungen – so eine grandiose<br />
Stimmung ist im Theater nicht allzu häufig und beweist<br />
wieder einmal, dass das Berliner Publikum, wenn ihm<br />
denn etwas wirklich gefällt, äußerst ausdauernd ist im<br />
Spenden von Applaus.<br />
»SIX« ist vielleicht kein traditionelles Musical – es<br />
hat kaum eine äußere Handlung ‒, aber es scheint<br />
einen Nerv vor allem bei jungen Frauen zu treffen.<br />
Man könnte es vielleicht als Pop-Konzert im historischen<br />
Rahmen (der im Übrigen erstaunlich korrekt<br />
wiedergegeben ist) bezeichnen, und es scheint, dass<br />
diese Verbindung von historischem Inhalt und moderner<br />
Form im Moment ein Erfolgsrezept ist. Ein Besuch<br />
lohnt sich ganz sicher!<br />
Merit Murray<br />
Abb. oben:<br />
Verpassen Sie nicht die große,<br />
bunte Party, die bereits weltweit für<br />
so viel Begeisterung sorgt:<br />
26. März 20<strong>24</strong> – 7. April 20<strong>24</strong><br />
Deutsches Theater München<br />
9. April 20<strong>24</strong> – 21. April 20<strong>24</strong><br />
Theater 11 Zürich (CH)<br />
25. April 20<strong>24</strong> – 28. April 20<strong>24</strong><br />
Politeama Rossetti Triest (IT)<br />
„Der Wahnsinn geht weiter!<br />
Nach über 500.000<br />
begeisterten ZuschauerInnen<br />
von Ku’damm 56 -<br />
jetzt die Fortsetzung!“<br />
Regie: Christoph Drewit z<br />
Choreograf ie: Jonathan Huor<br />
Jetzt<br />
Tickets<br />
sichern!<br />
W E L T P R E M I E R E<br />
5. Mai 20<strong>24</strong><br />
STAGE THE ATER DES WESTENS<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
w w w . m u s i c a l s b e r l i n . c o m<br />
11<br />
S C A N M I C H !
Musicals in Deutschland<br />
Dat rappelt op dat Dachböhn<br />
Uraufführung von »Bittersüße Zitronen« im Hamburger Ohnsorg-Theater<br />
Abb. oben:<br />
Zitronenjette (Marina Lubrich)<br />
und Bruno Michalke (Cem Lukas<br />
Yeginer) nähern sich nicht nur<br />
körperlich an, sondern entdecken<br />
auch Gefühle<br />
Foto: Oliver Fantitsch<br />
Bittersüße Zitronen<br />
Christian von Richthofen / Murat Yeginer<br />
Plattdeutsch von Frank Gruppet<br />
Ohnsorg-Theater Hamburg<br />
Uraufführung: 25. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie ............................ Murat Yeginer<br />
Musikalische Leitung ............................<br />
..................... Christian von Richthofen<br />
Ausstattung ......................... Beate Zoff<br />
Zitronenjette ............... Marina Lubrich<br />
Jette John ........................ Rabea Lübbe<br />
Paul John ....................... Jannik Nowak<br />
Bruno Michalke ..... Cem Lukas Yeginer<br />
Paulina Piperkarzcka .... Tanja Bahmani<br />
Emil Qoaquaro ................. Robert Eder<br />
Harro Hassenreuther ............................<br />
............................. Konstantin Graudus<br />
Anna Müller ........ Caroline Kiesewetter<br />
Alice Rütterbusch ............ Sorina Kiefer<br />
Erich Spitter .................... Flavio Kiener<br />
Therese Hassenreuther .... Beate Kiupel<br />
Walburga Hassenreuther .... Nele Larsen<br />
Mit:<br />
Christian von Richthofen<br />
Regisseur Murat Yeginer lädt, frei nach Gerhart Hauptmanns<br />
»Die Ratten«, auf den Dachboden eines alten<br />
Mietshauses ein, der als Theaterfundus mit vielen Verstecken<br />
dient und wo die unterschiedlichen Bewohner nun<br />
aufeinander treffen: Die kinderlose Maurerfrau Jette John<br />
(Rabea Lübbe), die einer illegalen Prostituierten (Tanja<br />
Bahmani) das Baby abkauft und es als ihr eigenes ausgibt,<br />
ihr Ehemann, der Maurer (Jannik Nowak), sowie ihr<br />
zwielichtiger Bruder Emil (Robert Eder), ein Hausmeister-<br />
Blockwart, der für Ordnung und Recht sorgt (Cem Lukas<br />
Yeginer), und ein ehemaliger Theaterdirektor (Konstantin<br />
Graudus), der gern vollmundig über die Kunst und das<br />
Leben philosophiert. Am liebsten tut er das mit seinem<br />
Schauspielschüler, dem ehemaligen Theologiestudenten<br />
Erich Spitter (Flavio Kiener), der in die Theaterdirektorentochter<br />
Walburga (Nele Larsen) verliebt ist. Nicht zu vergessen<br />
sind auch die Ehefrau des Theaterdirektors (Beate<br />
Kiupel) und dessen Geliebte Alice (Sorina Kiefer).<br />
Mitten unter ihnen: Henriette Johanne Marie Müller<br />
(Marina Lubrich), die den Hamburgern bis heute als<br />
Hamburger Unikat und als »Zitronenjette« bekannt ist.<br />
Hinzu kommt noch ihre Schwester Anna Müller (Caroline<br />
Kiesewetter).<br />
Allesamt Menschen, die im Gängeviertel (um 1841-<br />
1916) am Rande der Gesellschaft lebten und deren Leben<br />
nun auf schicksalhaft-komische Weise miteinander verbunden<br />
sind.<br />
Das Drama »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann<br />
(das in Berlin spielt und das soziale Elend der armen<br />
Bevölkerungsschichten im späten 19. Jahrhundert thematisiert<br />
und sich mit der Handlung auf das Schicksal einer<br />
jungen Frau namens Pauline Piperkarcka konzentriert, die<br />
in prekären Verhältnissen lebt und von ihrem Geliebten,<br />
dem Maler Paul Gollin, schwanger wurde, der dann stirbt,<br />
so dass sie sich von da an alleine organisieren muss) bildet<br />
den Grundstock für den durch Regisseur Murat Yeginer<br />
liebevoll nun auf die Zitronenjette angepassten und in die<br />
Stadt Hamburg umtransferierten Stoff von »Bittersüße<br />
Zitronen«.<br />
Yeginer geht die Erzählung der Geschichte nun so an,<br />
dass die Figuren die Zuschauer wie in einem Puppentheater<br />
nacheinander begrüßen und diese spielerisch und auch<br />
musikalisch in ihre Puppenstube, den Theaterfundus-<br />
Dachboden, einladen. Dabei begeistert ein herrlich<br />
verspieltes Bühnenbild, mit diversen Kleiderstangen und<br />
Kostümen, Harlekinen an der Wand, Masken, Sesseln<br />
und Lichtlein sowie kleinen Verstecken und die darin platzierten<br />
Musikern von Beate Zoff, die zusätzlich auch noch<br />
die zauberhaften und kreativen Kostüme entwarf, wie zum<br />
Beispiel den großartigen Mantel des Theaterdirektors mit<br />
rotem Schal und roten Handschuhen, fein aufeinander<br />
abgestimmt.<br />
Das Stück kommt zu Beginn verspielt und niedlichsüß<br />
daher, zieht aber dann im Spieltempo und in der Personenregie<br />
stark an, indem sich schnell herausstellt, dass<br />
der Abkauf des Babys von Paulina Piperkarzcka (Tanja<br />
Bahmani), einer illegalen Prostituierten, durch Jette John<br />
(fantastisch vielschichtig gespielt durch Rabea Lübbe) und<br />
die heimliche Geburt auf dem Dachboden nicht legal vonstattengingen<br />
und Jettes Mann Paul und der Hauswart<br />
nun misstrauisch über die Vorgänge im Haus werden.<br />
Hinzukommend werden viele weitere Nebenschauplätze<br />
eröffnet, die wie in einer Bauernkomödie daherkommen:<br />
Der Theaterdirektor trifft heimlich seine Affäre, plötzlich<br />
12<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
taucht seine Ehefrau auf, ihre gemeinsame Tochter verliebt<br />
sich in den Nachhilfelehrer, der aber lieber Schauspieler<br />
werden möchte statt Theologe, die Prostituierte möchte<br />
auf einmal ihr Kind zurück und Jettes halbseidener Bruder<br />
Emil wird mit der Lösung des Problems beauftragt und<br />
auf sie angesetzt.<br />
In dem Strudel der parallellaufenden Handlungsstränge<br />
agiert die Hauptfigur Zitronenjette, die bei ihrer<br />
Schwester lebt, durch eine Krankheit mit Spastiken und<br />
Kleinwuchs gezeichnet ist und die Familie mit dem Verkauf<br />
von Zitronen unterstützt. (Dieser Teil der Geschichte<br />
ist nicht fiktiv und hat damals in Hamburg tatsächlich<br />
so stattgefunden. Es gibt sogar ein Denkmal, das an die<br />
Zitronenjette erinnert.)<br />
Murat Yeginer entlässt den Zuschauer unter Schock in<br />
die Pause, nachdem es beim Babythema auch noch eine<br />
Verwechslung gab und ein Kleinkind auf offener Bühne<br />
stirbt.<br />
Wie Hauptmann in seinem Werk, so kritisiert auch<br />
diese Produktion die sozialen Missstände ihrer Zeit und<br />
stellt die Frage nach Verantwortung und Mitgefühl gegenüber<br />
den weniger Privilegierten. »Die Ratten« sind dabei<br />
ein bedeutendes Werk des Naturalismus, das die Lebensumstände<br />
der Unterschicht realistisch und schonungslos<br />
darstellt. An Schonungslosigkeit wird auch heute im<br />
Ohnsorg-Theater, das in der Regel eher für unterhaltendes<br />
Volkstheater steht, nicht gespart. Die Ereignisse und<br />
Verwechslungen nehmen im zweiten Teil noch einmal an<br />
Fahrt auf und Zitronenjette bandelt nun mit Emil an, der<br />
aber im Verdacht steht, der illegalen Prostituierten etwas<br />
angetan zu haben. Der Theaterdirektor eskaliert mit seiner<br />
Haltung zur modernen Theaterwelt, streitet mit seinem<br />
Schüler und wirft die Frage auf, wie subjektiv denn das<br />
Theater allen dienen sollte.<br />
Diese Frage stellte ich mir auch, ob diese Produktion<br />
mich nun gut unterhält und mir dient oder ob mich als<br />
Ohnsorg-Erstgänger ein plattdeutsch-norddeutsches Musiktheaterprojekt<br />
vielleicht doch leicht überfordert. Anfänglich<br />
hatte ich schon meine Schwierigkeiten reinzukommen und<br />
den oft oberflächlichen und schnell agierenden Rollen mit<br />
ihren diversen und parallellaufenden Handlungssträngen<br />
zu folgen. Auch habe ich seit dem Tod meiner Oma nie<br />
wieder Plattdeutsch gesprochen oder irgendwo gehört<br />
und das ist nun auch schon über 20 Jahre her… Zudem<br />
wurde hauptsächlich die Musikform der Moritat gewählt,<br />
eine Form, die von Bänkelsängern verbreitet wurde (hier<br />
in Plattdeutsch). Aber auch Elemente des bürgerlichen<br />
Küchenlieds sowie von Jazz, Swing und Chanson aus dem<br />
20. Jahrhundert sind enthalten. Die vier Musiker unter der<br />
Leitung von Christian von Richthofen spielen schwungvoll<br />
auf, wenn sie nicht gerade schlafend als Harlekine im<br />
Bühnenbild sitzen, aber dies ist ein cleverer Schachzug,<br />
denn so passiert immer mal wieder etwas im Bühnenbild,<br />
wenn sie sich plötzlich bewegen und ihre Instrumente<br />
dann klangvoll bedienen.<br />
Im Endeffekt war es ein spannender Dramaabend und<br />
eine schauspielerische Glanzleistung des gesamten Teams,<br />
wobei die Rollen Zitronenjette, Jette John und Harro Hassenreuter<br />
spielerisch am stärksten im Gedächtnis blieben.<br />
Insgesamt schuf das gesamte Ensemble einen prächtigen,<br />
wenn auch nicht ganz leicht verdaulichen Theaterabend.<br />
Die Themen von sozialen Ungerechtigkeiten, dem<br />
Kampf zwischen Tradition und der Moderne, unerfülltem<br />
Kinderwunsch und Neurosen, dem Umgang mit Verfehlungen<br />
und dem Überlebenskampf der einfachen Leute<br />
sind leider auch heute wieder aktueller denn je.<br />
Das Ohnsorg-Theater mit seinem Regisseur Murat<br />
Yeginer hat hier etwas geschaffen, das die Welt zum Nachdenken<br />
auffordert, unterhält und bleibende Momente<br />
schafft.<br />
Wenn die Zitronenjette tänzelnd schreit: »Zitronen,<br />
Zitronen, kauft Zitronen«, ist das einmalig und löst Gänsehautschauer<br />
aus. Bis vorerst zum 03. April 20<strong>24</strong> kann man<br />
sich noch vom Geschmack der »Bittersüße(n) Zitronen«<br />
überzeugen.<br />
Stefan Schön<br />
Abb. unten von links oben:<br />
1. Harro Hassenreuther (Konstantin<br />
Graudus, l.) und Erich Spitter<br />
(Flavio Kiener, r.) kämpfen für ihre<br />
jeweilige Position: klassisch gegen<br />
modern<br />
2. Jette John (Rabea Lübbe, vorne)<br />
kann nicht fassen, dass man ihrem<br />
Plan auf die Schliche kommt,<br />
hinten Erich Spitter (Flavio Kiener)<br />
und Walburga Hassenreuther (Nele<br />
Larsen), die miteinander anbändeln<br />
3. Paul (Jannik Nowak) und Jette<br />
John (Rabea Lübbe) freuen sich<br />
über ihr Wiedersehen. Nachdem<br />
Paul auf Montage war, erfährt er,<br />
dass sie ein Kind haben<br />
4. Zitronenjette (Marina Lubrich)<br />
zusammen mit ihrer Schwester<br />
Anna Müller (Caroline Kiesewetter)<br />
5. Harro Hassenreuther (Konstantin<br />
Graudus) hat ein Händchen für<br />
die Frauen, hier ein Tänzchen mit<br />
seiner Affäre Alice Rütterbusch<br />
(Sorina Kiefer)<br />
Fotos (5): Oliver Fantitsch<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
13
Musicals in Deutschland<br />
Mit’ nem Teelöffel Dolly!<br />
»Hello, Dolly!« am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen<br />
Abb. oben:<br />
Slapstick-Verwechslungen in<br />
Molloys Hutladen (v.l.: Sebastian<br />
Schiller, Sonja Hebestadt, Dirk<br />
Weiler, Anke Sieloff, Julia Heiser)<br />
Foto: Pedro Malinowski<br />
Hello, Dolly!<br />
Jerry Herman / Michael Stewart<br />
Songs in englischer Sprache<br />
Deutsche Dialoge von Robert Gilbert<br />
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen<br />
Premiere: 13. Januar 20<strong>24</strong><br />
Regie .................... Carsten Kirchmeier<br />
Musik. Leitung ....... Peter Kattermann /<br />
Mateo Peñaloza Cecconi<br />
Chorleitung .............. Alexander Eberle<br />
Choreographie .................. Paul Kribbe<br />
Bühnenbild ..................... Jürgen Kirner<br />
Kostüme ................ Beata Kornatowska<br />
Licht ........................ Thomas Ratzinger<br />
Ton .............................. Jan Wittkowski<br />
Dolly Gallagher Levi ........ Anke Sieloff<br />
Horace Vandergelder .......... Dirk Weiler<br />
Cornelius Hackl ........ Sebastian Schiller<br />
Barnaby Tucker ............ Nicolai Schwab<br />
Irene Molloy ....................... Julia Heiser<br />
Minnie Fay .................. Sonja Hebestadt<br />
Ermengarde .................... Alina J. Simon<br />
Ambrose Kemper ........... Jonathan Guth<br />
Ernestina Money ........... Alfia Kamalova<br />
Richter ............................. Oliver Aigner<br />
Rudolph ................ Charles E.J. Moulton<br />
In weiteren Rollen:<br />
Faye Anderson (Dance Captain),<br />
Mika Einmal, Eileen Michelle Landsmann,<br />
Julie Martin, Liam Tiesteel, Mykhaylo Tovt<br />
MiR Opernensemble & -chor<br />
Ist in einer Zeit, wo auf dem Handy durch einen<br />
Wisch nach rechts oder links über ein Date entschieden<br />
wird, ein Musical über eine Heiratsvermittlerin<br />
noch aktuell? Darf der Hauptdarsteller<br />
im Stück ein Frauenbild zeichnen, bei dem die<br />
Partnerin nur zu Hause putzt und kocht und<br />
den Geld verdienenden Mann dankbar von früh<br />
bis spät bedienen soll? Autor Michael Stewart<br />
kreierte die Titelheldin seines Broadway-Erfolgs<br />
»Hello, Dolly!« von 1964 sehr emanzipiert und<br />
selbstständig. Ausgezeichnet mit 7 Tony Awards<br />
zeigte Carol Channing mit Charme in 2844 Aufführungen,<br />
wer tatsächlich das starke Geschlecht<br />
ist. Nach New York feierte das Musical 1965 im<br />
Londoner West End Premiere und kam im folgenden<br />
Jahr in deutscher Version auch an das Düsseldorfer<br />
Schauspielhaus. Bette Midler glänzte in<br />
einem Revival am Broadway ab März 2017 in der<br />
Rolle der Dolly Levi, die als verwitwete Heiratsvermittlerin<br />
den geizigen Halb-Millionär Horace<br />
Vandergelder aus Yonkers unter die Haube bringen<br />
will. Ganz nebenbei verkuppelt Dolly seine<br />
beiden Angestellten Barnaby und Cornelius mit<br />
zwei Hutmacherinnen in New York, denn eigentlich<br />
hat sie für Horace längst die perfekte Ehepartnerin<br />
gefunden: sich selbst.<br />
Unter der Regie von Gene Kelly gab es 1969 die<br />
weltberühmte Verfilmung mit Barbra Streisand<br />
als eigentlich zu junger Dolly, mit Walter Matthau<br />
als griesgrämigem Horace, mit dem späteren Londoner<br />
»Phantom der Oper« Michael Crawford<br />
als schlaksigem Cornelius und mit Louis Armstrong<br />
in einer Gastrolle. Von sieben Oscar-<br />
Nominierungen konnte der Film drei Trophäen<br />
mit nach Hause nehmen. Jahre später war der<br />
Roboter »Wall-E« im gleichnamigen Pixar-Film<br />
von »Hello, Dolly!« und dem Song ›Put on Your<br />
Sunday Clothes‹ besessen.<br />
Am 13. Januar 20<strong>24</strong> feierte »Hello, Dolly!«<br />
Premiere am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.<br />
Unter der Regie von Carsten Kirchmeier<br />
wird eine deutsche Dialogfassung mit englischen<br />
Songtexten präsentiert. Von der ersten Minute an<br />
zeigt die Bühne von Jürgen Kirner, wie man den<br />
angestaubten Musical-Klassiker modern ins Bild<br />
setzt. Dabei haben die Darsteller wohl ein Fläschchen<br />
mit der Aufschrift »Trink mich!« aus »Alice<br />
im Wunderland« konsumiert und wurden mit<br />
dem »Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft«-<br />
Effekt miniaturisiert, denn Horace Vandergelder<br />
hat ein Geschäft in Form einer überdimensionalen<br />
Registrierkasse und in Molloys Hutmacherladen<br />
verstecken sich Cornelius und Barnaby in<br />
Riesenhutschachteln. Im exklusiven Restaurant<br />
Harmonia Gardens besteht die Einrichtung aus<br />
mit Servietten dekorierten Speisetellern und man<br />
sitzt auf riesigen Sektkorken. »Sei hier Gast« (»Die<br />
Schöne und das Biest«) könnte das Motto dieses<br />
Luxus-Restaurants sein. Passend dazu findet Dollys<br />
spektakulärer Auftritt zum Showstopper des<br />
Titel-Songs ›Hello, Dolly!‹ nicht auf der üblichen<br />
Showtreppe statt, sondern auf einem schwebenden<br />
Teelöffel!<br />
Zu diesem Regiekonzept passen auch die<br />
Regenbogen-bunten Kostüme von Beata Kornatowska,<br />
die eher an die Traumsequenz aus »Mary<br />
Poppins« im Bonbonladen erinnern als an historisch<br />
korrekte Straßenkleidung der Vereinigen<br />
Staaten um 1890, obwohl man sich diese superkalifragilistischexpialigetische<br />
Kluft vom tristen<br />
Grau in Yonkers erst durch Dollys frohe Lebens-<br />
Lektionen »verdienen« muss. Pfiffig ist auch die<br />
14<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Umsetzung der in der Verfilmung unglaublich aufwändigen<br />
Szene zum Song ›Before the Parade Passes<br />
By‹, denn in Gelsenkirchen sehen die Zuschauer<br />
nicht die patriotische Parade selbst, sondern nur die<br />
Reaktionen der Darsteller darauf.<br />
Zu diesen optischen Leckerbissen tanzt das<br />
Ensemble in der stimmigen Choreographie von<br />
Paul Kribbe, die das hektische Treiben der Kellner<br />
im Harmonia Gardens zeigt, zwar weniger<br />
akrobatisch als in anderen Inszenierungen, aber<br />
mit mehr Ruhe und Stil. Etwas zu viel Ruhe verströmte<br />
das Dirigat der musikalischen Leitung<br />
von Peter Kattermann, der die Neue Philharmonie<br />
Westfalen bei der Premiere mit angezogener<br />
Handbremse nicht zur vollen Power antreiben<br />
wollte. Der Orchestersound wurde im Ton von<br />
Jan Wittkowski zurückhaltender abgemischt, was<br />
die Textverständlichkeit der Darsteller verbessert,<br />
besonders da im englischen Original mit deutschen<br />
Übertiteln gesungen wird. Hier können die<br />
Darsteller umso mehr punkten.<br />
Anke Sieloff verkörpert ihre eigene Auslegung<br />
der Titelfigur Dolly Gallagher Levi – ohne<br />
dabei Rollenvorgängerinnen zu kopieren – in<br />
ihrer persönlichen Stimmfärbung. Einerseits<br />
sympathisch im Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen<br />
Mann, energetisch beim Verteilen ihrer<br />
Visitenkarten für unterschiedlichste Kurse von<br />
zwischenmenschlichen Aktivitäten oder einfühlsam<br />
bei der Anbahnung einer Pärchen-Bildung<br />
von Mann und Frau, bedient Sieloff alle Register.<br />
Dirk Weiler als Horace Vandergelder zieht<br />
bei so viel geballter Frauenpower den Kürzeren,<br />
überzeugt aber mit einer weitaus gehaltvolleren<br />
Singstimme als Walter Matthau im Film. Sebastian<br />
Schiller als Cornelius Hackl und Nicolai<br />
Schwab als Barnaby Tucker sind das energiegeladene<br />
Comedy-Paar, das von ihren weiblichen<br />
Gegenpolen Julia Heiser als bodenständige Irene<br />
Molloy und Sonja Hebestadt als liebenswerte<br />
Minnie Fay gezähmt wird. Mit Alina J. Simon als<br />
Horaces zierlicher Nichte Ermengarde und Jonathan<br />
Guth als Bohnenstange Ambrose Kemper<br />
hat sich bereits ein perfektes Paar gefunden, das<br />
Dolly in den Augen des Onkels aber erst noch etablieren<br />
muss. Alfia Kamalova spielt die überdrehte<br />
Lebedame Ernestina Money, die Dolly Horace als<br />
schlechtes Beispiel vorführt, um sich schließlich<br />
selbst besser an den Mann bringen zu können.<br />
Charles E.J. Moulton verkörpert die kleine, aber<br />
dankbare Rolle des Chefkellners Rudolph.<br />
Das Musiktheater im Revier zeigt mit der aktuellen<br />
Inszenierung von ›Hello, Dolly!‹, dass man<br />
auch vermeintlich altbackenen Musical-Klassikern<br />
neues Leben einhauchen kann. So fällt es gar<br />
nicht ins Gewicht, wenn die Handlung keinen<br />
aktuellen Bezug zu haben scheint, weil Hochzeiten<br />
zumindest in westlichen Kulturkreisen längst<br />
nicht mehr von älteren Damen eingefädelt werden<br />
und Männer nicht mehr vom Frauchen für Küche<br />
und Bett träumen – oder vielleicht doch?<br />
Stephan Drewianka<br />
Abb. oben:<br />
Viel Spaß bei der Arbeit und noch<br />
mehr Vergnügen in New York haben<br />
Vandergelders Angestellte Barnaby<br />
(Nicolai Schwab) und Cornelius<br />
(Sebastian Schiller)<br />
Abb. unten von links oben:<br />
1. Im Harmonia Gardens feiert man<br />
Dollys (Anke Sieloff, Mitte) Rückkehr<br />
2. Horace Vandergelder (Dirk Weiler,<br />
Mitte mit Ensemble) hat ein unumstößlich<br />
altmodisches Frauenbild<br />
3. Falsche Frau (Alfia Kamalova) für<br />
Vandergelder (Dirk Weiler)<br />
4. Ein ›Hello, Dolly!‹-Auftritt ohne<br />
Showtreppe, aber mit fliegendem<br />
Teelöffel für Dolly (Anke Sieloff,<br />
Mitte mit Ensemble)<br />
Fotos (5): Pedro Malinowski<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
15
Musicals in Deutschland<br />
Legal? Illegal? Scheißegal?<br />
Uraufführung von »Hanf. Ein berauschender Abend« in Schwedt<br />
Abb. oben:<br />
(v.l.): Bauer Pfeiffer (Janik Oelsch),<br />
Sabine (Antonia Schwingel), Chris<br />
Paffke (David Alonso), Meister Klein<br />
(Katarzyna Kluczna), Frau Schmidt<br />
(Ines Venus Heinrich) sind überzeugt:<br />
»Hanf kann´s!«<br />
Abb. unten:<br />
Mary Jane (Antonia Schwingel, l.)<br />
verführt Chris Paffke (David Alonso, r.)<br />
Fotos (2): Udo Krause<br />
Tom van Hasselts neuestes Werk »Hanf. Ein berauschender<br />
Abend« feierte am 8. März auf der kleinen<br />
Bühne der Uckermärkischen Bühnen Schwedt<br />
Uraufführung. Als das Werk vor rund 1,5 Jahren in<br />
Auftrag gegeben wurde, begannen die Gespräche rund<br />
um die Legalisierung von Cannabis in Deutschland<br />
gerade – nun ist es soweit, und völlig egal, wie man<br />
zu legal oder nicht steht – anscheinend ist das Thema<br />
so hipp, dass man mit Dialogen wie: »Stimmt es, dass<br />
Cannabis furchtlos macht?« ‒ »Es macht das, was man<br />
sich wünscht!« ‒ wohl auf die Bühne gehen darf, unabhängig<br />
vom Wahrheitsgehalt und in Missachtung dessen,<br />
dass Cannabis für die Gehirne Jugendlicher und<br />
junger Erwachsener gefährlich ist. Gefährlicher im<br />
Übrigen sogar als moderater Alkoholgenuss, was sich<br />
dann ab ca. dem 25. Lebensjahr umkehrt, wo Alkohol<br />
zu der weit gefährlicheren Droge wird. Dass der fatale<br />
Konsum von Alkohol legal ist und von der Gesellschaft<br />
völlig verharmlost wird, hätte auch Teil des Abends<br />
sein können. Als Thema wurde es zumindest kurz in<br />
einer Szene angespielt: Der makellose Makler zieht<br />
eine Line und schleppt dann ein Bierfass an, welches er<br />
mit allerlei hartem Alkohol anreichert. Er fordert dann<br />
alle auf, sich zu besaufen, denn mit Hilfe der Polizei<br />
und einem Alkoholtest soll der Gewinner ermittelt<br />
werden: Derjenige, der die höchste Promillezahl aufweisen<br />
kann. Ein Thema mit durchaus großer Brisanz,<br />
da Komasaufen ja etwas ist, was unter Jugendlichen<br />
ebenso blind durchgezogen wird wie so manch andere<br />
Droge. Aber auch hier bleibt es bei dieser oberflächlichen<br />
Szene, in der zwar aufgezeigt wird, wie absurd<br />
die Rechtsprechung sein kann, aber die vermutlich<br />
trotzdem bei niemandem ein Nachdenken bezüglich<br />
des eigenen Konsums von Nervengiften jeglicher Art<br />
auslöst.<br />
Der ganze Abend erscheint (leider) fast wie eine billige<br />
Werbeveranstaltung für Hanf, was eine Schande<br />
ist, wenn man bedenkt, wie viel eine wirkliche, ernstzunehmende<br />
Auseinandersetzung hätte hergeben können,<br />
sollen und müssen. Insbesondere gerade jetzt, wo<br />
es darum geht, die Augen und Sinne zu schärfen und<br />
zu bewussten Entscheidungen anzuregen. Aber das<br />
Buch und Textzeilen wie: »Ich will dich nicht verlieren,<br />
ich will auch nicht, dass du frierst, ich will auch nicht,<br />
dass du mich verlierst«, oder »Das ist mein letzter Joint,<br />
du warst mein bester Freund«, lassen einen wirklich<br />
intensiven Umgang mit der Thematik leider nicht zu.<br />
Dabei ist unbestritten, dass man Papier aus Hanf<br />
herstellen kann, auch für Seile, Seifen und Ähnliches<br />
ist der Rohstoff geeignet und es gibt sicher einige Möglichkeiten,<br />
so umweltschonende Produkte herzustellen.<br />
Ebenso unbestritten ist auch der medizinische Effekt,<br />
insbesondere im niedrigschwelligen Schmerzbereich,<br />
bei chronischen Erkrankungen sowie in der Krebsund<br />
Aidsbehandlung, wo neben der eigentlichen Wirkung<br />
insbesondere die appetitsteigernde Wirkung hilfreich<br />
ist. Statt ein plumpes »Joints sind super«-Stück<br />
zu schreiben, hätte man diese Aspekte hervorheben<br />
können. Aber obwohl das mit der Oma sogar angelegt<br />
wurde, indem der Enkel ihr Hanf-angereicherten<br />
Kaffee gibt, verpuffte dieses Thema in dem Moment<br />
faktisch als Glühstengel, in dem man erfährt, dass sie<br />
bereits seit Jahrzehnten kifft und den perfekten Ofen<br />
baut. Alles mündet in der Verherrlichung von Joints –<br />
16<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
mit ›Willkommen im Club‹ wird ein klares Zeichen<br />
gesetzt. Warum nur?<br />
Nachdem vieles nun besprochen wurde, was es<br />
hätte sein können, hier nun, was es ist:<br />
Wir schreiben das Jahr 20<strong>24</strong>, der ca. 20-jährige Chris<br />
Paffke hat es, nach seinem Abitur 2<strong>02</strong>2, versäumt, sich<br />
für einen Beruf zu entscheiden. Stattdessen kifft er, lebt<br />
im Haus seiner Oma und erhält Waisenrente, nachdem<br />
vor knapp fünf Jahren seine Eltern ums Leben gekommen<br />
sind. Oder – besser gesagt, er erhielt Waisenrente<br />
bis vor einem Jahr, wie ihm seine Freundin Sabine<br />
mitteilt, angeblich zum wiederholten Male. Anscheinend<br />
war aber in dem ganzen Jahr sein Kopf nicht klar<br />
genug, um es einmal tatsächlich zu verstehen. An diesem<br />
Abend realisiert er es, das mag auch daran liegen,<br />
dass zeitgleich Sabine mit ihm Schluss macht, weil er<br />
nichts macht außer Kiffen. Seine beste Freundin Mary<br />
Jane (amerikanisches Pseudonym für Marihuana) darf<br />
ihn (vermeintlich) noch ein letztes Mal durch den<br />
Abend begleiten. Völlig problemlos lässt er das Kiffen<br />
ab da sein und bekommt dank seiner Oma die Idee, ein<br />
Geschäft mit Hanfprodukten zu eröffnen sowie Hanf<br />
anzubauen. Der örtliche Bauer lässt sich auf den Anbau<br />
ein, idealerweise kommt es Chris da auch zugute, dass<br />
(was er bis dahin nicht wusste) das große Grundstück<br />
hinter Omas Haus ihnen gehört und dort früher auch<br />
schon Tabak angebaut wurde, der Boden also ideal<br />
dafür ist. Schnell bekommt er auch finanzielle Förderungen,<br />
erhält etliche Produkte auf Kommission<br />
und kann sich einen Laden einrichten – unwissend,<br />
was das alles bedeutet. Aber das macht ja nichts,<br />
wichtig ist nur: Er ist jetzt beruflich selbstständig!<br />
Ein alter Schulrivale, Jesko, hingegen ist schon länger<br />
als makelloser Makler unterwegs und möchte zum<br />
einen das Haus von Chris’ Oma verkaufen, zum anderen<br />
will er sich Sabine schnappen, die sich zumindest<br />
einmal kurz auf eine Knutscherei mit ihm eingelassen<br />
hat. Mit miesen Hintergedanken täuscht Jesko<br />
vor, er würde Chris’ Geschäft fördern wie ein echter<br />
Freund – als es dann allerdings tatsächlich zu einer Art<br />
Geschäftseröffnungs-, in Wahrheit irgendwie verspäteter<br />
Abiparty kommt, stellt er diesen allerdings vor der<br />
Polizei bloß, indem er nachweist, dass Chris ohne das<br />
Wissen anderer die Milch, die er verkauft, mit THC<br />
angereichert hat. Chris wird verhaftet und Jesko sieht<br />
den großen Moment gekommen – wie auch immer<br />
schafft er es angeblich im Handumdrehen, die Oma<br />
von Chris in ein Altersheim abzuschieben, für unmündig<br />
erklären zu lassen und Chris als Straftäter für nicht<br />
mehr geschäftsfähig zu erklären, so dass er sich das<br />
Haus unter den Nagel reißen und verkaufen kann. Die<br />
bis dahin so brave Sabine wird daraufhin wütend, lässt<br />
den Vamp in sich raus, betört so den Polizisten und<br />
befreit Chris. Sie eilen zur Oma ins Altersheim, die mit<br />
perfektem Joint das Leben genießt, bereitwillig aber<br />
nach Hause zurückkehrt, wenn sich denn dann Chris<br />
und Sabine wieder als Paar zusammenfinden. Mit herzzerreißenden<br />
Zeilen wie: »Dein Herz und mein Herz<br />
waren schon immer ein Herz« passiert natürlich genau<br />
das und so schaffen sie es, Jesko gerade noch rechtzeitig<br />
zu überführen. Statt ihn ins Gefängnis wandern zu lassen,<br />
verpflichten sie ihn, im Cannabis-Club Mitglied<br />
zu werden. Mit ›Willkommen im Club‹ wird die neue<br />
Legalität gefeiert.<br />
Musikalisch sind viele Momente weit schöner<br />
ausgearbeitet als die Texte, dass Tom van Hasselt hier<br />
gerade einmal eine dreiköpfige Band leitet, geht im<br />
guten Sound der kleinen Bühne völlig unter, so satt<br />
und kräftig klingt es. Die Melodien sind durchaus<br />
abwechslungsreich, ein echter Ohrwurm bleibt zwar<br />
nicht hängen, aber die Musik macht durchaus Freude<br />
an diesem Abend.<br />
André Nicke stehen für viele Rollen nur fünf Darsteller<br />
zur Verfügung, d.h. jede wurde mehrfach besetzt<br />
und er versteht es, ihnen dafür immer den nötigen<br />
Feinschliff mit auf den Weg zu geben – sei es sprachlich<br />
oder in den Bewegungen und Gesten. Für die Kostüme<br />
zeichnet Anke Fischer ebenso wie für das Bühnenbild<br />
verantwortlich – schnelle Wechsel, insbesondere von<br />
Katarzyna Kluczna, werden zum Teil offen gespielt<br />
und unterstreichen den Boulevardkomödieneindruck,<br />
der in sich dann wieder stimmig ist. Der Einsatz von<br />
Schwarzlichteffekten ist sehr wirkungsvoll, so werden<br />
mit einfachsten Mitteln tatsächlich echte Hingucker-<br />
Momente kreiert.<br />
Schauspielerisch hervorzuheben und sehr süß ist<br />
Hanf. Ein berauschender Abend<br />
Tom van Hasselt<br />
Uckermärckische Bühnen Schwedt –<br />
Kleiner Saal<br />
Uraufführung: 8. März 20<strong>24</strong><br />
Regie .............................. André Nicke<br />
Musik. Leitung .......... Tom van Hasselt<br />
Choreographie.............. Sven Niemeyer<br />
Ausstattung ..................... Anke Fischer<br />
Chris Paffke /<br />
Dinosaurier ................... David Alonso<br />
Sabine /<br />
Mary Jane ............. Antonia Schwingel<br />
Jesko / Bauer Pfeiffer ....... Janik Oelsch<br />
Meister Klein / Justina ..........................<br />
.............................. Katarzyna Kluczna<br />
Oma Paffke /<br />
Frau Schmidt ....... Ines Venus Heinrich<br />
Stimme Erzähler .... Christian Hirseland<br />
Abb. von links:<br />
1. Chris Paffke (David Alonso, 2.v.r.)<br />
zeigt Sabine (Antonia Schwingel, l.),<br />
Justina (Katarzyna Kluczna, 2.v.l.) und<br />
Frau Schmidt (Ines Venus Heinrich, r.)<br />
sein neues Geschäft<br />
2. Jesko (Janik Oelsch) zeigt der<br />
Hauskäuferin (Katarzyna Kluczna) den<br />
Vertrag<br />
Fotos (2): Udo Krause<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
17
Musicals in Deutschland<br />
Abb. unten:<br />
1. Es war einmal… Mary Jane<br />
(Antonia Schwingel, l.) sorgt auch<br />
bei den Dinosauriern (David<br />
Alonso, r.) für Entspannung<br />
2. Justina (Katarzyna Kluczna)<br />
erklärt Sabine (Antonia Schwingel),<br />
dass doch jeder mal etwas<br />
außerhalb des Gesetzes macht<br />
3. (v.l.): Oma Paffke (Ines Venus<br />
Heinrich), Jesko (Janik Oelsch),<br />
Hauskäuferin (Katarzyna Kluczna)<br />
und Chris Paffke (David Alonso) lassen<br />
sich von Mary Jane einnebeln<br />
4. (v.l.): Jesko (Janik Oelsch) wird<br />
von Meister Klein (Katarzyna<br />
Kluczna) vor den Augen von Sabine<br />
(Antonia Schwingel) und Chris<br />
Paffke (David Alonso) verhaftet<br />
5. (v.l.): Oma Paffke (Ines Venus<br />
Heinrich), Jesko (Janik Oelsch),<br />
Meister Klein (Katarzyna Kluczna),<br />
Chris Paffke (David Alonso) und<br />
Sabine (Antonia Schwingel) sind<br />
nun Teil des neuen Hanf-Clubs<br />
Fotos (5): Udo Krause<br />
Antonia Schwingel als Sabine. Sie hat auch fast den<br />
berührendsten Moment, als sie davon singt, dass sie ja<br />
immer die Perfekte sein muss und damit nicht klarkommt.<br />
Gesanglich gewohnt sehr stark unterstreicht in<br />
diesem Stück Katarzyna Kluczna auch ihr komödiantisches<br />
Können. In der Hauptrolle überzeugt David<br />
Alonso weniger durch eine starke Stimme, dafür aber<br />
mit viel schauspielerischem Feingefühl für seine Interpretation<br />
des liebenswerten, wenngleich geistig nicht<br />
ganz hellen Chris Paffke. Als vor allem schmieriger<br />
Makler ganz in rosa steht Janik Oelsch auf der Bühne,<br />
einer gewissen Abscheu ihm gegenüber kann man sich<br />
nicht entziehen ‒ und dies sei ein Lob an dieser Stelle,<br />
denn genauso gehört der offenkundige Antagonist<br />
interpretiert. Ines Venus Heinrich als Oma und Lehrerin<br />
hat häufig die Lacher auf ihrer Seite, darf auch tatsächlich<br />
mal die wenigen ernsthaften Töne anstimmen<br />
und macht dies mit warmer Stimme.<br />
Es ist schade, wenn ein Stück mit so einem durchaus<br />
ernsten Thema sich selbst nicht ernst nimmt. Wie<br />
schon andere Stücke bewiesen haben, heißt ein Thema<br />
ernstzunehmen ja nicht gleich, dass man ohne Humor<br />
auskommen muss. In diesem Fall, bestärkt durch die<br />
Mittanz-Szene und das Jointschwenken, schien es<br />
aber der Wunsch zu sein, das Publikum nur sehr oberflächlich<br />
erreichen zu wollen. Sei es den Schwedtern<br />
gewünscht, dass dieses Konzept aufgeht, denn was<br />
in diesem Theater, egal welches Stück auf der Bühne<br />
gespielt wird, immer spürbar ist, ist die Liebe der<br />
Beteiligten zu dem, was sie tun. Und dies ist, jedes Mal<br />
wieder, viel wert.<br />
Sabine Haydn<br />
18<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Germanys Next Top-Musicalstars<br />
ZAV-Absolventenpräsentation 20<strong>24</strong> an der Folkwang Universität der Künste Essen<br />
Abb. oben:<br />
Die 34 Absolventen der deutschsprachigen<br />
Musicalstudiengänge<br />
präsentieren sich in Essen<br />
Abb. unten:<br />
Die Studenten der gastgebenden<br />
Folkwang Universität der Künste Essen<br />
Fotos (2): Stephan Drewianka<br />
Jedes Jahr präsentieren die 5 Musicalhochschulen im<br />
deutschsprachigen Raum ihre Abschlussklassen in<br />
einem von der ZAV-Künstlervermittlung organisierten<br />
Event. 20<strong>24</strong> war die Folkwang Universität der Künste<br />
in Essen-Werden der Gastgeber und präsentierte die<br />
frisch gebackenen Musicaldarsteller an zwei Tagen<br />
am 12. und 13. Januar 20<strong>24</strong> in einer 6-stündigen Veranstaltung<br />
in der Neuen Aula. Jedem Darsteller wird<br />
dabei ein festes Zeitkontingent eingeräumt, um sich<br />
dem Publikum angemessen musikalisch in Solo- und<br />
Ensemble-Stücken sowie schauspielerisch in Monologen<br />
zu präsentieren. Jede Hochschule verpackt diese<br />
Mini-Konzerte mit von den Darstellern ausgewählten<br />
Titeln in eine kleine Rahmenhandlung, die die einzelnen<br />
Darbietungen verknüpft.<br />
Am Samstag, dem 13. Januar 20<strong>24</strong>, beginnt die<br />
Absolventenpräsentation mit den Gästen der Theaterakademie<br />
August Everding aus München. Ömer<br />
Örgey philosophiert augenzwinkernd über Kebab und<br />
besucht eine »Wild Party«, die mit »Babytalk« endet.<br />
Lorena Brugger zitiert Barbie, fragt »Hörst du mein<br />
Herz?«, und nachdem das Ensemble festgestellt hat,<br />
wie das »Funny Girl« agiert ›If a Girl Isn’t Pretty‹, darf<br />
auf ihre »Parade« natürlich kein Regen fallen. Auch<br />
Juliette Lapouthe ergründet mit ›Will He Like Me‹ im<br />
Monolog von Frau Stern als die Unsichtbare ihr inneres<br />
Selbst mit dem Resultat ›Alle Leute lieben Louis‹. Tim<br />
Nicolai Morsbach steht der Sinn eher nach ›Stil und<br />
Dekor‹ als ›Frau mit dem Einkauf‹, der seinen Partner<br />
aus »Rent« gerne zudeckt. Emily Mroseks Motto<br />
als Margarethe mit ›Grünfink und Nachtigall‹ lautet<br />
›Maybe I Like It This Way‹ und Mats Vissers »Güldenstern«<br />
erlebt ›Dunkles Schweigen an den Tischen‹<br />
mit etwas ›Gehirnfrost‹ aus »Heathers«.<br />
Die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt<br />
Wien präsentiert eine »Klassenfahrt« ihrer Darsteller.<br />
Lucia Miorin weiß, was es heißt, eine Schauspielerin<br />
zu sein, und wie Mücken nerven. Sie singt sich<br />
verliebt durch »The Scarlet Pimpernel«, »Smash« und<br />
das ›Lass mich oder verlass mich‹-»Rent«-Duett mit<br />
Hannah Schranz, die gleich mit ›If I Ain’t Got You‹<br />
weiterdenkt und die Beziehung beendet mit ›Der wird<br />
schön schau’n‹. Magnus Jahr als ›The Devil You Know‹<br />
bittet ›Run Away With Me‹, weil ›I Can’t Stand Still‹.<br />
Auch Jonathan Kügler bekennt ›Ich brech’ die Herzen<br />
der stolzesten Frau’n‹, insbesondere das von ›Maria‹,<br />
während Giulia Wegmüller noch darüber nachdenkt<br />
›Wie’s sein wird‹, als »Modern Millie« zu heiraten, oder<br />
»Wicked« zu sagen ›Ich bin es nicht‹. Liam Solbjerg als<br />
Joseph ›Schließt jede Tür‹ als der verlorene Sohn, vermutet<br />
›I’m Not That Smart‹, träumt aber heimlich vom<br />
»Rocky Horror« ›The Sword of Damocles‹, und auch<br />
Teresa Jentsch braucht ›Glitter and Be Gay‹, sieht sich<br />
als heilige Johanna, die Päpstin, und im Kontrastprogramm<br />
auch als »Sweet Charity«.<br />
Die nächsten 75 Minuten gehören den zehn Absolventen<br />
des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück.<br />
UZOH hat einen »Bandscheibenvorfall«, weil<br />
»& Juliet« sie ›Hit Me Baby One More Time‹, bevor sie<br />
›Ruhig‹ »In The Heights« abtaucht, um ›Arme Seelen<br />
in Not‹ zu retten. Natalie Friedrich leidet unter ›Losing<br />
My Mind‹ nach »The Wild Party« und schüttet Richard<br />
Fuchs ihr »Kokoro«, sorry Herz, aus, denn er steht<br />
auf dem Standpunkt ›Love Is Not Love‹ – ›Wenn es<br />
stimmt‹, bevor er »Das Licht auf der Piazza« mit Leonie<br />
Dietrich löscht, denn mit ihr und »Rocky« ist es ›Vorbei‹,<br />
ihr Name sei nun Peggy und ›Art Is Calling for<br />
Me‹. Annemarie Purkert findet den großen Kometen<br />
von 1812 ›Reizend‹, sagt aber »Nein« zu »Heathers«, ist<br />
›Ein bisschen sehr verliebt‹ in die »Wonderful Town«<br />
und sieht sich zusammen mit Pascal Dominik Schmid<br />
als ›Ashe und Joe‹, der wiederum »Footloose« nicht stillstehen<br />
kann und die ›Rolle des Lebens‹ sucht. Dominik<br />
Räk deckt ›Wie jeder andre Mann‹ als Hospitant die<br />
›Unehrlichkeiten‹ der »City of Angels« auf. Yannic<br />
Blauert läuft dem »Hase(n) mit den Bernsteinaugen«<br />
26<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
davon und findet ›Sie‹ in den »Tagebücher(n) von<br />
Adam und Eva«. Stefan Schößwendter als ›Barry geht<br />
heute zum Ball‹ von »The Prom«, diskutiert mit »Beetlejuice«<br />
›Das Ding mit dem tot sein‹ und ist ›Aus Stein‹.<br />
Höhepunkte sind das im Ensemble getanzte A-capella-<br />
Stück ›Tap‹, der ›Cell Block Tango‹ aus »Chicago«<br />
des Herren-Ensembles und ›Was immer Lola will‹ aus<br />
»Damn Yankees« des Frauen- Ensembles.<br />
Nach der Mittagspause geht es musikalisch weiter<br />
mit den Absolventen der Universität der Künste<br />
Berlin, die uns als Ensemble in das »Wonderland«<br />
der »City of Angels« mitnehmen. Nathan Johns Reise<br />
geht zum »Glöckner von Notre Dame« und ins »Moulin<br />
Rouge« bis zu ›Zwei Nobodys in New York‹, im<br />
Duett mit Fabio Kopf, der »Elegies« und das ›Ehrenwerte<br />
Haus‹ besingt. Laura Goblirsch berichtet von<br />
ihrem »Bandscheibenvorfall« und auch bei »Chaplin«<br />
bricht alles zusammen, während ›Surabaya Jonny‹ ein<br />
»Happy End« erlebt. Tara Frieses ›Requiem‹ aus »Dear<br />
Evan Hansen« zieht ein ›Look at Me Now‹ nach sich,<br />
während sich Anna Weidinger auf derselben »Wild<br />
Party« fragt ›Vielleicht mag ich es so‹ und ihr ›Model-<br />
Verhalten‹ in Frage stellt – alle drei Damen sind<br />
schließlich »West Side Story« ›Cool‹.<br />
Als letzte Hochschule geht der Gastgeber, die<br />
Folkwang Universität der Künste Essen, ins Rennen.<br />
Eingerahmt von zwei Ensemble Songs aus »Rent« präsentiert<br />
jeder der sechs Studenten als Einzelsänger mit<br />
kompletter, aber stummer Unterstützung der übrigen<br />
Absolventen eine Rolle aus einem Musical. Antonia<br />
Kalinowski unterstützt als Julie »Tootsie«, Julius<br />
Störmer verfasst als Evan falsche Briefe mit dem Titel<br />
»Dear Evan Hansen«, Tamara Köhn bereitet als Mrs<br />
Lovett Fleischpasteten aus »Sweeney Todd(s)« Kundschaft,<br />
Maximilian Aschenbrenner wird in »Parade«<br />
unschuldig des Mordes an einem Kind verurteilt, Friederike<br />
Zeidler zelebriert als »Sweet Charity« die Kunst<br />
der käuflichen Liebe, während Til Ormeloh als Roger<br />
versucht, seine »Rent« als Sänger zu verdienen.<br />
Alle diesjährigen 34 Absolventen präsentieren sich<br />
auf sehr hohem Niveau und zeigen deutlich, dass sich<br />
Deutschland und Österreich keine Sorgen um exzellenten<br />
Bühnen-Nachwuchs machen müssen. Es bleibt<br />
zu hoffen, dass nun die Theater dieses wundervolle<br />
Potenzial auch nutzen werden, damit diese Talente<br />
auch wirklich erfolgreiche Musical-Karrieren beschreiten<br />
können, alles andere wäre fahrlässige Verschwendung<br />
von Ressourcen!<br />
Stephan Drewianka<br />
Abb. von oben:<br />
1. ›Cell Block Tango‹ mit den Herren<br />
aus Osnabrück<br />
2. Die Teilnehmer der Musik und<br />
Kunst Privatuniversität der Stadt Wien<br />
3. Das Frauenensemble des Instituts<br />
für Musik der Hochschule Osnabrück<br />
4. Die Absolventen der Universität<br />
der Künste Berlin<br />
5. Die Theaterakademie August<br />
Everding aus München präsentiert<br />
sechs Darsteller<br />
Fotos (5): Stephan Drewianka<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
27
Musicals in Deutschland<br />
Brücken der Kulturen<br />
»China Girl – Liebe ist stärker als Blut« im F1rst Stage Theater Hamburg<br />
Das Musical »China Girl – Liebe ist stärker als Blut«<br />
transferiert die Romeo-und-Julia-Story als<br />
Acrobatical nach New York und erzählt die zeitlose<br />
Geschichte von Liebe und Verbot aus einer<br />
neuen Perspektive. Die Bühnenadaption, die von<br />
der klassischen Tragödie inspiriert ist, spielt im pulsierenden<br />
Herz von New York, wo die Dynamik der<br />
Gegensätze und die Konflikte zwischen den Bewohnern<br />
von Chinatown und denen aus Little Italy thematisiert<br />
werden. Mit der Story möchte Regisseur Raoul Schoregge,<br />
der auch noch als sehr bekannter Clown in der<br />
Produktion zu bestaunen ist, Brücken zwischen den<br />
Kulturen bauen und Steine aus dem Weg schaffen. Die<br />
Liebesgeschichte zwischen dem chinesischen Mädchen<br />
(Ziyan Shi) und dem Italo-Lover (Norbert Bunker-<br />
Whitney) wird umspannt von artistischen Nummern.<br />
Diese sind in die dünne Handlung, die von der Offstimme<br />
(Inga Dietrich) erzählt wird, eingebunden.<br />
Anfänglich muss man sich stark an die langweilige<br />
Erzählweise und die nicht immer dazu passenden<br />
Videoprojektionen gewöhnen, aber durch die Künstler<br />
auf der Bühne, die mit den einzelnen fulminanten<br />
Nummern immer wieder stimmlich wie auch artistisch<br />
begeistern, wird man aus dem Einschlafmodus<br />
immer wieder geweckt. Der Aufbau der Show erinnert<br />
stark an Kreuzfahrtschiff-Shows, wo in der Stilistik<br />
oft auf einen Erzähler zurückgegriffen wird, um die<br />
Handlung voranzutreiben und so kurze Shows zu<br />
produzieren, anstatt sie durch das Geschehen auf der<br />
Bühne im Flow und mit Tiefgang zu erzählen. Hier<br />
wären bessere Anschlüsse und ein insgesamt besseres<br />
Buch gewünscht. Die Musik reicht über Songs von<br />
David Bowie und chinesischen traditionellen Klängen<br />
bis zu Adriano Celentano und Auszügen aus der »West<br />
Side Story«. Die Titel werden von einer kleinen, aber<br />
flott aufspielenden Band unter der Leitung von Adrian<br />
Werum dargeboten. Die chinesische Geige mag dabei<br />
für das eine oder andere europäische Ohr gewöhnungsbedürftig<br />
sein, wird dieses Instrument hier doch stark<br />
in den Vordergrund gestellt. Die Choreographien von<br />
Sun Qing Qing & Julia Eseeva sind stimmig und platzieren<br />
die Cast dort, wo sie sein soll, überraschen aber<br />
auch nicht mit wirklich innovativen Gruppenmomenten.<br />
Hierbei lag die Schwierigkeit sicher auch darin,<br />
die Akrobaten, die keine Tänzer sind, zu integrieren.<br />
Die Kostüme von Nadine und Fee Schoregge schauen<br />
schön aus und lassen die Darsteller in ihren jeweiligen<br />
»New York«-Styles glänzen.<br />
Highlights der Produktion sind klar die Clowns<br />
und die artistischen Darbietungen, die von der Schlangen-<br />
und Magier-Frau über diverse Balancier-, Jonglierund<br />
Hutnummern hin zum Showstopper des Abends,<br />
einer »Jonglier-Strip-Show« zweier Italiener, reichen,<br />
die mit Flaschen werfen und dabei ihre Anzüge tauschen.<br />
Auch die Bodyakrobatik ist grandios! Das<br />
Gesangsensemble aus der Kooperation mit der Stage<br />
School Hamburg unterstützt die einzelnen Nummern<br />
stimmlich gut und lässt hier und da aufhorchen (z.B.<br />
Birgit Widmann).<br />
Die Premiere begeisterte die Zuschauer:innen und<br />
schaffte es, Brücken zwischen Ost und West zu bauen,<br />
appelliert an den Willen zu Frieden und Verbindung<br />
zwischen Menschen und entließ die Zuschauer:innen<br />
am Ende beeindruckt, was diese mit Standing Ovations<br />
zum Ausdruck brachten. Wer Lust bekommen hat, sich<br />
die Story über Liebe, Sehnsucht und Hass gepaart mit<br />
Akrobatik, Gesang, Musik und Tanz anzuschauen, hat<br />
noch bis in den April 20<strong>24</strong> hinein Gelegenheit dazu.<br />
Stefan Schön<br />
Abb. oben:<br />
Artistenfigur zum Abschluss –<br />
Messoudi-Brüder, Joanes Diakoyannis,<br />
Norbert Bunker-Whitney,<br />
Qing Qing Sun, Arisa Meguro und<br />
Xiangyang Wang<br />
Foto: Dennis Mundkowski<br />
Chinagirl –<br />
Liebe ist stärker als Blut<br />
Diverse / David Bowie /<br />
Chinesischer Nationalzirkus<br />
Chinesischer Nationalzirkus &<br />
Stage School Hamburg<br />
F1rst Stage Theater<br />
Premiere: 26. Januar 20<strong>24</strong><br />
Regie......................... Raoul Schoregge<br />
Musikalische Leitung..... Adrian Werum<br />
Choreographie .....................................<br />
.............. Sun Qing Qing & Julia Eseeva<br />
Bühnenbild ........... Günther Schoregge<br />
Kostüme ............... Nadine Schoregge /<br />
Fee Schoregge<br />
Licht / Bühne .... F1rst Stage Theaterteam<br />
Sound .... Technik Team F1rst Stage Theater<br />
Ensemble:<br />
Fiorina Bogatu, Norbert Bunker-Whitney,<br />
Theresia Busch, Ciao Hua Chang,<br />
Kandara Diabata, Joanes Diacoyannis,<br />
Tabitha Eugling, Xiaolin Gong,<br />
Martin Holtgreve, Dongsheng Li,<br />
Arisa Meguro, Karim Messoudi,<br />
Soffien Messoudi, Yassin Messoudi,<br />
Yurie Nishi, Marina Ortmann,<br />
Nathalie Schöning, Ziyan Shi,<br />
Qing Qing Sun, Deborah Vilchez,<br />
Hao Wang, Xiangyang Wang,<br />
Birgit Widmann<br />
Stimme aus dem Off ....... Inga Dietrich<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
19
Musicals in Deutschland<br />
Außergewöhnlich prickelnd<br />
»Broadway Danny Rose« am Schlosstheater Celle<br />
Abb. oben:<br />
Zu Thanksgiving ist alles wieder in<br />
Ordnung. Das Ensemble v.l.: Lisa<br />
Mader (Tina), Philipp Keßel (Danny<br />
Rose), Dirk Böther, Jamila Boukhers,<br />
Lars Fabian, Tanja Kübler (Theresa),<br />
Philip Leenders (Lou Canova,<br />
i.d.bes.Vorst.: Dimitri Breuer),<br />
Thomas Wenzel<br />
Abb. unten:<br />
Tina (Lisa Mader) macht ihrem Lover<br />
Lou eine Eifersuchtsszene am Telefon.<br />
Danny (Philipp Keßel) versucht sie zu<br />
beruhigen<br />
Fotos (2): Marie Liebig<br />
Überdreht, verrückt, ein kriminalistischer Ausflug<br />
in die Welt des Showbiz’ ist der in<br />
Schwarz-Weiß gedrehte Film von Woody Allen aus<br />
dem Jahr 1984, der, 2-fach für den Oscar nominiert,<br />
zum Kultfilm wurde. Es ist Allens zwölfter<br />
Film als Regisseur. Außerdem spielt er die Titelrolle,<br />
den erfolglosen Künstler-Agenten Danny,<br />
der den erfolglosen Schlagersänger Lou Canova<br />
managt. Der Darsteller des Lou, der bis dahin<br />
unbekannte Nick Apollo Forte, war im wirklichen<br />
Leben Nachtclubsänger, der wie Lou durch eine<br />
Nostalgiewelle plötzlich zum Comeback gelangte.<br />
Im Zentrum steht außerdem Mia Farrow als Tina<br />
Vitale.<br />
Lou ist in sie verliebt und kann nur singen, wenn<br />
sie im Zuschauerraum ist. Heikel ist jedoch, dass<br />
er verheiratet ist. Damit seine eifersüchtige Ehefrau<br />
Theresa nichts merkt, soll Danny als Strohmann<br />
herhalten und Tina als ihr Lover begleiten. Brisant<br />
ist jedoch, dass Tinas Ex, Johnny, zur Mafia<br />
gehört und spitzbekommen hat, dass ihr ein<br />
geheimnisvoller Liebhaber täglich eine weiße Rose<br />
schickt – welcher natürlich niemand anderer ist als<br />
der unglücklich verliebte Lou Canova. Für seinen<br />
Schützling macht sich Danny auf die Suche nach<br />
Tina. Wütend schimpft sie am Telefon mit Lou,<br />
sie glaubt, dass er sie mit einer blonden Schlampe<br />
betrogen hat. Mit Mühe kann Danny ihr diesen<br />
Verdacht ausreden. Abergläubisch befragt sie ihre<br />
Wahrsagerin Angelina, die ihr rät, mit ihrem<br />
Johnny, dem Gangster, Schluss zu machen. Doch<br />
auf einer Mafia-Party wird Danny als ihr Geliebter<br />
»enttarnt« und beide müssen vor der »Vendetta«<br />
fliehen. Sie werden in New York – nach einer Flucht<br />
durch eine Sumpflandschaft – gekidnappt. Da<br />
behauptet Danny, dass der stotternde Bauchredner<br />
Barney Dunn der Liebhaber von Tina ist – denn<br />
Barney wurde von ihm fernab auf eine Kreuzfahrt<br />
vermittelt ...<br />
Wie ein Paket aneinander gefesselt bleiben<br />
Danny und Tina zurück, wieder hat Danny eine<br />
zündende Idee: In seinem Pool war einmal ein<br />
indischer Entfesselungskünstler, und durch seinen<br />
Trick lösen sich die Fesseln. Endlich im Waldorf<br />
Astoria hat Lou sich inzwischen aus Angst und<br />
Verzweiflung betrunken. Auch da hat Danny die<br />
Lösung – sein Wundertrank macht Lou plötzlich<br />
nüchtern und er kann mit seinem Song ›My Bambina‹<br />
brillieren. Dem Comeback steht somit nichts<br />
im Wege, wäre da nicht der Künstler-Agent Sid<br />
Bacherach, der ihn sofort nach L.A. vermittelt …<br />
Da ändert Lou nun sein Leben – bzw. den Agenten<br />
–, und Danny bleibt allein mit seinen nicht<br />
vermittelbaren Künstlern zurück. In diese triste<br />
Stimmung hinein klingelt es an der Tür – Tina hat<br />
Lou verlassen! Und so sieht es so aus, als ob aus dem<br />
»Sad End« ein märchenhaftes »Happy End« wird.<br />
Genau dieser Filmhandlung folgt auch die<br />
20<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Bühnenfassung von Gil Mehmert und Jens Raschke,<br />
die am 16. Dezember 2000 in der Regie von Gil<br />
Mehmert am Theater Kiel zur Uraufführung kam<br />
und inzwischen u. a. auch am Theater Neue Bühne<br />
Darmstadt und am Saarländischen Staatstheater<br />
Saarbrücken gespielt wurde. Es ist erstaunlich, dass<br />
sich jetzt ein so kleines Theater wie das Schlosstheater<br />
Celle an diesen Stoff wagt. Aus dem Barocktheater<br />
von 1675, dem ältesten noch bespielten<br />
Theaterbau Europas, wird eine Showbühne. Aus<br />
dem Schnellimbiss, dem »Diner« im Film, wird<br />
in Celle der Theaterraum zum Varieté, wo sich<br />
vier Entertainer an den Künstler-Agenten Danny<br />
Rose in Rückblenden erinnern, und vor allem an<br />
seine beste Story, die von Lou Canova. Rote Rosen<br />
schweben als Beleuchtungskörper aus dem Schnürboden<br />
herab, eine Live-Band auf der Hinterbühne,<br />
auf einem Podest erhöht, begleitet mit Saxophon,<br />
Posaune, Klavier, Bass und Drums die Show – und<br />
da mischen sich Gesang und Schauspiel wie in<br />
einem Musical Play, mit überraschenden, witzigen<br />
Song-Zitaten, situationsbezogenen neuen Texten<br />
und Underscoring, die die Handlung kommentieren,<br />
und machen »Danny Rose« zu einem prickelnden<br />
Theaterabend. Die Darsteller lassen mit schauspielerischer<br />
Qualität und musikalischem Können<br />
die Story von Danny, Lou und Tina, der Mafia und<br />
den hoffnungslos erfolglosen Künstlern lebendig<br />
werden, die Story ist exakt gleich wie im Film, aber<br />
durch das Medium Theater vollkommen anders.<br />
So kann man in der eigenen Celler Fassung diese<br />
überdrehte Woody-Allen-Komödie mit gefühlt 30<br />
Songs und Musiktiteln durchaus als Musical Play<br />
bezeichnen. Die acht Darsteller lassen manchen Musical-Profi<br />
erblassen. Der der Situation entsprechende<br />
witzige Strauß von Musical-Hits, mit Songs und Titeln<br />
von Quincy Jones, Cole Porter, Frank Loesser und Leonard<br />
Cohen kann das Publikum verblüffen – auch so<br />
geht Musical, wenn auch nicht im klassischen Sinn.<br />
Im Bühnenbild von Martin Käser werden<br />
einzelne Spielorte durch fahrbare halbrunde Segmente<br />
angedeutet. Die Verwandlungs-Deko und<br />
ständigen Rollen- und Szenenwechsel sind zwar<br />
eine Herausforderung für das Regie-Team und das<br />
Ensemble, erschaffen aber gleichermaßen in theatraler<br />
Spielweise mit treffenden genau gezeichneten<br />
Kostümen (ebenfalls Martin Käser) einen Theaterabend,<br />
der nicht in das Schema gängiger Musicals<br />
passt.<br />
Hausherr Andreas Döring als Regisseur und<br />
sein musikalischer Leiter Moritz Aring schaffen<br />
eine Liebeserklärung ans Varieté, eine Reflexion<br />
über die Welt des Showbiz’ und des Theaters und<br />
den Wankelmut des Erfolgs. Durch das vielseitige<br />
Ensemble wird jede Figur markant, jede Szene<br />
auf den Punkt ein Highlight, jede Pointe gekonnt<br />
gesetzt. Die Rahmenhandlung spielt nicht wie im<br />
Film am Stammtisch eines »Diners«, sondern im<br />
Varieté. Vier Entertainer, wie das berühmte »Rat-<br />
Pack« (Thomas Wenzel, Dirk Böther, Lars Fabian,<br />
Jamila Boukhers), sprechen von alten Zeiten, werfen<br />
sich die Bälle zu, kokettieren mit dem Publikum<br />
und schlüpfen in zwanzig einzelne Rollen. Da bleiben<br />
Onkel Rocco, der in Zement macht, Johnny,<br />
der dichtende Gangster und Ex von Tina, Barney<br />
Dunn, der stotternde Bauchredner, und die nach<br />
Vendetta rufende »Mafia-Mama« Mrs Rispoli in<br />
Erinnerung. Die Vier erzählen uns von Danny<br />
Rose, der selbst mal auf der Bühne stand – und der,<br />
als der Erfolg ausblieb, beschloss, andere erfolglose<br />
Künstler als Künstleragent zu vermitteln, der fest an<br />
seine Schützlinge glaubte und fest davon überzeugt<br />
war, dass auch seine Kleinkünstler eines Tages zu<br />
Stars des Broadways werden würden, so wie jetzt im<br />
Stück für Lou die Gunst der Stunde winkt.<br />
Tanja Kübler ist Lous temperamentvoll-schlampige<br />
Frau Theresa und u. a. auch die mysteriöse<br />
Wahrsagerin Angelina, die Tina rät, ihr Leben in<br />
Ordnung zu bringen.<br />
Philipp Keßel IST Danny Rose – und man<br />
Broadway Danny Rose<br />
Diverse / Woody Allen<br />
Deutsch von Jens Raschke & Gil Mehmert<br />
Schlosstheater Celle<br />
Premiere: <strong>24</strong>. November 2<strong>02</strong>3<br />
Regie ......................... Andreas Döring<br />
Musikalische Leitung ...... Moritz Aring<br />
Ausstattung ..................... Martin Käser<br />
Danny Rose ................... Philipp Keßel<br />
Lou Canova .............. Philip Leenders /<br />
Dimitri Breuer<br />
Tina Vitale ......................... Lisa Mader<br />
In weiteren Rollen:<br />
Moritz Aring, Jamila Boukhers,<br />
Dirk Böther, Dimitri Breuer,<br />
Marco Djurdjević, Lars Fabian,<br />
Tanja Kübler, Marcus Lewyn,<br />
Erik Mrotzek, Jan Frederik Schmidt,<br />
Thomas Wenzel<br />
Abb. unten:<br />
Lou Canova (Philip Leenders,<br />
i.d.bes.Vorst. Dimitri Breuer, 2.v.r.)<br />
versucht, seiner eifersüchtigen<br />
Ehefrau Theresa (Tanja Kübler)<br />
weiszumachen, seine Geliebte Tina<br />
sei in Wahrheit die Freundin von<br />
Danny Rose (Philipp Keßel, l.)<br />
Foto: Marie Liebig<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
21
Musicals in Deutschland<br />
Abb. von oben links:<br />
1. Tinas (Lisa Mader) Ex und seine<br />
Mafia-Freunde lassen sie und Danny<br />
(Philipp Keßel) gefesselt zurück<br />
2. Die Mafia jagt Tina, weil ihr<br />
Mafioso-Ex auf ihren neuen Liebhaber<br />
eifersüchtig ist (v.l.: Lars Fabian,<br />
Thomas Wenzel, Dirk Böther)<br />
3. Danny (Philipp Keßel, 3.v.r.)<br />
erklärt den Mafiosi, Tinas (Lisa<br />
Mader, 2.v.l.) Verehrer sei ein<br />
Bauchredner, der auf einem<br />
Kreuzfahrtschiff arbeite<br />
4. Danny (Philipp Keßel, r.) redet<br />
dem betrunkenen Lou Canova<br />
(Philip Leenders, i.d.bes.Vorst.<br />
Dimitri Breuer) ins Gewissen<br />
5. Tina (Lisa Mader, Mitte) will<br />
mit ihrem Ex Johnny und dessen<br />
Mafia-Freunden nichts mehr zu<br />
tun haben<br />
6. Schauplatz der Rahmenhandlung<br />
ist ein Varieté (v.l.: Lars Fabian,<br />
Jamila Boukhers, Dirk Böther,<br />
Thomas Wenzel)<br />
Fotos (6): Marie Liebig<br />
meint, Woody Allen auf der Bühne zu sehen.<br />
Er rückt die Brille zurecht, ist schmal, nervös,<br />
mit dem typischen schüchternen und linkischen<br />
Auftreten, dem schnellen Sprachrhythmus und den<br />
Pointen, der ewige Loser, die Kunstfigur »Woody«<br />
mit ihrem unverwechselbaren Stil. Großartig, wie<br />
Philipp Keßel das macht. Und fraglos ist er ein<br />
Leuchtfeuer der Hoffnung in der Wüste des Showbiz’<br />
und des Theaters.<br />
Dimitri Breuer ist großartig (als Einspringer für<br />
den erkrankten Philip Leenders) als Lou Canova,<br />
man merkt kaum, dass er immer wieder das Textbuch<br />
in der Hand hat – er weiß, wie die Show geht,<br />
und spielt perfekt den altmodischen Schlagersänger,<br />
dessen Songs mit Gefühl aus der Mode waren und<br />
jetzt wieder in sind – und der wehleidig ohne Tina<br />
nicht singen kann. Lisa Mader ist Tina Vitale, voll<br />
vital, mit hervorragender Stimme, im Mia-Farrow-<br />
Look – blond mit Sonnenbrille – temperamentvoll,<br />
dann voll Kalkül und wird ganz wuschig, wenn<br />
Lou von »Amore« singt. Sie begeistert im Duett mit<br />
Danny: »That’s Why the Lady Is a Tramp.«<br />
Surreal, voller Stilbrüche – Lachsalven erschüttern<br />
das wunderschöne historische Schlosstheater<br />
in Celle! Aus der Perspektive des kleinen, ewigen<br />
Verlierers Danny Rose erleben wir die fragile Welt<br />
des Showbiz’. Der bittersüße Ausflug hat manchem<br />
Zuschauer die Augen geöffnet, ihn lächeln, mitleiden,<br />
lachen und nachdenken lassen, und zu guter<br />
Letzt kommen wir wieder zurück in die reale Welt.<br />
Hartmut Holm Forche<br />
22<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Bäuerin in Nöten<br />
»Käthe holt die Kuh vom Eis« im Kammertheater Karlsruhe<br />
Das Kammertheater Karlsruhe ist bekannt für<br />
kleine, aber feine Musicals. So hat der neue Intendant,<br />
William Danne, der im Stück selbst die Hauptrolle<br />
der Käthe Bauer spielt und auch Regie führt, mit<br />
»Käthe holt die Kuh vom Eis« ein durch und durch<br />
spaßiges MUHsical nach Karlsruhe geholt. Denn<br />
»Käthe« lief bereits über 200 Mal quer durch die ganze<br />
Republik.<br />
Lustig war bereits der Vorraum zum Theater mit<br />
diversen Requisiten dekoriert und – (wohl aber nicht<br />
immer) – es gab an der Garderobe ein Schnäpschen<br />
zum Einstimmen, denn der Korn spielt im Stück auch<br />
eine Rolle, heizt Käthe damit doch nicht nur sich, sondern<br />
auch das Publikum an.<br />
Und dann ging es auch schon los, durch den noch<br />
geschlossenen Vorhang gackerten drei Hühner zur Belustigung<br />
der Zuschauer. Wie der Titel unschwer vermuten<br />
lässt: Das Stück spielt auf einem Bauernhof. Die Show<br />
begann mit dem ersten bekannten, umgetexteten Lied,<br />
denn statt ›Old MacDonald‹ hat hier Käthe Bauer eine<br />
Farm. Käthe, rüstig, robust und kein bisschen zimperlich,<br />
lebt allein mit ihren Tieren dort. Um die drohende<br />
Insolvenz abzuwenden, gibt sie eine Anzeige auf, in der sie<br />
stressgeplagten Großstädtern einen erholsamen Urlaub auf<br />
dem Bauernhof anbietet.<br />
Als erstes landet Rascal auf dem Bauernhof, der von<br />
seinem Vater hierher geschickt wurde, damit er endlich<br />
arbeiten lernt, da er sein Studium schon mehrere Male<br />
abgebrochen hat. Nachdem Käthe ihn aus seiner Designerjeans<br />
rausgeholt und in eine Latzhose hineingesteckt hat,<br />
soll er den Schweinestall ausmisten.<br />
Als nächstes erscheint Leonie, die Teilzeit-Aussteigerin,<br />
die sich freut, Natur pur zu erleben. Leonie hält sich für<br />
›Heidi‹ ‒ und das ist dann auch gleich ihr Auftrittslied.<br />
Das Publikum begrüßt sie als Schafe und bittet darum,<br />
dass alle »Mäh« machen. Tatsächlich ist Leonie jedoch aus<br />
Frankfurt und arbeitete in einer Kita als Erzieherin, wo<br />
aber einiges schief gelaufen ist. Jetzt möchte sie auf Käthes<br />
Bauernhof mal nichts tun. Doch dann kommt Rascal,<br />
umgezogen und bereit, den Schweinestall auszumisten,<br />
und sofort funkt es zwischen Leonie und ihm.<br />
Dritter im Bunde ist Jürgen, der mit seinem Porsche<br />
nicht die Auffahrt hinunterkommt und sofort von Käthe<br />
zum Grasmähen verdonnert wird.<br />
Inzwischen hat Leonie zufällig den Brief vom Finanzamt<br />
gefunden, in dem Käthe aufgefordert wird, 500.000<br />
Euro zu zahlen, oder der Hof wird gepfändet.<br />
Um Käthe zu retten, beschließen ihre »Gäste«, ein<br />
Video für YouTube zu drehen und allen zu zeigen, wie<br />
schön das Landleben ist. Mitten im Dreh taucht dann<br />
eine weitere Person auf, von der alle annehmen, sie sei<br />
ein weiterer Gast. Sofort wird auch sie in das Video eingebunden.<br />
Doch es stellt sich heraus, die Dame ist die<br />
Gerichtsvollzieherin.<br />
Doch wie sollte es bei solch einem fröhlichen Boulevardstück,<br />
bei dem das Publikum oft zum Mitmachen aufgefordert<br />
wird, anders sein: Natürlich gibt es ein Happy End,<br />
Käthe und ihr Bauernhof werden gerettet und alle sind<br />
glücklich.<br />
Neben den fünf Darstellern spielen auch jede Menge<br />
Tiere, meist in Form von Handpuppen, aber auch im Kostüm,<br />
mit. Das Bühnenbild (Heiko de Boer), das aus einem<br />
gemalten Vorhang als blauem Himmel, einigen Heuballen<br />
und zwei Häuschen besteht, ist zwar nicht sehr aufwendig,<br />
erfüllt aber voll und ganz seinen Zweck.<br />
Man würde eigentlich sagen, es könnte auch gut ein<br />
Stück für Kinder sein, doch dafür sind Käthe und Co.<br />
eindeutig zu zweideutig, es gibt viele zotige Sprüche und<br />
Jürgen in einem goldenen String ist auch ziemlich mutig.<br />
Dass er dazu ›I am Too Sexy‹ singt, passt prima.<br />
»Käthe holt die Kuh vom Eis« ist ein fröhliches Musical,<br />
denn es wird nebenbei auch noch viel gesungen, auch<br />
wenn die Musik vom Band (Musikalische Leitung: Markus<br />
Kapp) kommt. Wer einen Abend verbringen will, an dem<br />
viel gelacht wird, man sich aber nicht viele Gedanken über<br />
die Handlung machen muss, der ist hier genau richtig.<br />
Ingrid Kernbach<br />
Abb. oben:<br />
(v.l.): Jürgen Pimperbeidel (Johann<br />
Anzenberger), Leonie Klappstock<br />
(Dorothée Kahler), Dr. Vivienne Rechtsprecher<br />
(Sandra Maria Germann),<br />
Rascal Petzow (Marius Schneider),<br />
Käthe Bauer (William Danne)<br />
Foto: Markus Breig<br />
Käthe holt die Kuh vom Eis<br />
Diverse / William Danne<br />
Kammertheater Karlsruhe – K1<br />
Premiere: 16. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie .......................... William Danne<br />
Musikalische Leitung ...... Markus Kapp<br />
Choreographie .... Sandra Maria Germann<br />
Bühnenbild .................. Heiko de Boer<br />
Käthe Bauer .................. William Danne<br />
Leonie Klappstock ...... Dorothée Kahler<br />
Dr. Vivienne Rechtsprecher ....................<br />
......................... Sandra Maria Germann<br />
Rascal Petzow ........... Marius Schneider<br />
Jürgen Pimperbeidel ..............................<br />
.............................. Johann Anzenberger<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
23
Musicals in Deutschland<br />
Wahrheit – Schönheit – Freiheit – Liebe<br />
»Der große Gatsby« uraufgeführt am Deutschen Theater Göttingen<br />
Abb. oben:<br />
Im Hotel schlägt für alle Liebenden<br />
die Stunde der Wahrheit (v.l.): Tom<br />
Buchanan (Christoph Türkay), Nick<br />
Carraway (Moritz Schulze), Daisy<br />
(Gaia Vogel), Jordan Baker (Nathalie<br />
Thiede), Jay Gatsby (Daniel Mühe)<br />
Foto: Thomas M. Jauk<br />
Der große Gatsby<br />
Diverse / F. Scott Fitzgerald<br />
Deutsches Theater Göttingen<br />
Uraufführung: 27. Januar 20<strong>24</strong><br />
Regie ...................... Katharina Ramser<br />
Musik. Leitung ............ Michael Freitag<br />
Choreographie .... Valentí Rocamora i Torà<br />
Bühnenbild ........................ Ute Radler<br />
Kostüme .................. Myriam Casanova<br />
Video ....................... Thomas Bernhard<br />
Jay Gatsby ........................ Daniel Mühe<br />
George Wilson .......... Roman Majewski<br />
Nick Carraway .............. Moritz Schulze<br />
Jordan Baker ................ Nathalie Thiede<br />
Tom Buchanan ........... Christoph Türkay<br />
Daisy ................................... Gaia Vogel<br />
Myrtle ....................... Tara Helena Weiß<br />
In weiteren Rollen:<br />
Volker Muthmann, Katharina Pittelkow<br />
Baz Luhrmann verfilmte 12 Jahre nach seinem<br />
Kinohit »Moulin Rouge« den Roman<br />
von F. Scott Fitzgerald »Der große Gatsby« mit<br />
Leonardo DiCaprio in der Titelrolle als bildgewaltige,<br />
tragische Love-Story. Roman und Film<br />
inspirierten bereits mehrfach kreative Köpfe zu<br />
Umsetzungen des Stoffs für die Theaterbühne.<br />
So schrieb Claus Martin bereits 2012 ein Musical<br />
für die Freilichtbühne Coesfeld, und 20<strong>24</strong> zeigt<br />
das Deutsche Theater München eine Tanzshow<br />
von Enrique Gasa Valga. Das Deutsche Theater<br />
Göttingen nimmt sich des Stoffs in der Übersetzung<br />
von Hans-Christian Oeser unter der Regie<br />
von Katharina Ramser als »Vaudeville-Show« an<br />
und präsentiert einen Schauspiel-Abend mit 19<br />
Songs, passend zur Zeit der goldenen 20er Jahre<br />
des letzten Jahrhunderts, gespielt von der 10-köpfigen<br />
»Alexander´s Ragtime Band« unter der<br />
musikalischen Leitung von Michael Frei.<br />
Nick Carraway (Moritz Schulze) erzählt den<br />
Zuschauern, wie er als erfolgloser Autor 1922<br />
nach New York kommt, um an der Börse als Broker<br />
zu arbeiten. Er mietet ein schäbiges Häuschen<br />
in Long Island, direkt neben einer glamourösen<br />
Villa, in der sein Nachbar, ein gewisser Jay Gatsby<br />
(Daniel Mühe), ausschweifende Partys feiert. Kein<br />
Gast kennt den mysteriösen Gatsby persönlich,<br />
doch Nick gibt er sich zu erkennen. Denn Gatsby<br />
hat ein Anliegen: Er möchte Nicks Cousine Daisy<br />
(Gaia Vogel) wiedersehen, mit der er vor dem Ersten<br />
Weltkrieg eine Liebesbeziehung hatte. Daisy<br />
hat jedoch in der Zwischenzeit den reichen Ex-<br />
Polospieler Tom Buchanan (Christoph Türkay)<br />
geheiratet, dessen Anwesen direkt gegenüber<br />
Gatsbys Schloss auf dem »West-Egg« liegt. Nick<br />
weiß, dass Lebemann Tom eine Affäre mit Myrtle<br />
(Tara Helena Weiß) hat, der Frau des Autohändlers<br />
George Wilson (Roman Majewski) im schäbigen<br />
»Tal der Asche«, einem heruntergekommenen<br />
Vorort New Yorks, und kommt deshalb Gatsbys<br />
Bitte nach, Daisy einzuladen. Obwohl Daisy<br />
bereits eine Tochter hat, ist sie unglücklich in<br />
ihrer Ehe und die alte Liebe zu Gatsby flammt<br />
wieder auf. Nach einer Party in New York, bei der<br />
Nick mit Daisys Freundin Jordan Baker (Nathalie<br />
Thiede) verkuppelt wird, kommt es im Hotel<br />
zur Konfrontation zwischen Tom und Gatsby, bei<br />
der sich Daisy nicht eindeutig für ein Leben mit<br />
Gatsby entscheiden kann. Völlig aufgelöst verlassen<br />
Gatsby und Daisy das Hotel und verursachen<br />
auf der Rückfahrt einen folgenschweren, tödlichen<br />
Autounfall, der weitreichende Folgen hat.<br />
Obwohl es nicht im Programmheft vermerkt<br />
ist, hat der Baz-Luhrmann-Film einen prägenden<br />
Einfluss auf die Theaterinszenierung gehabt, werden<br />
doch größtenteils identische Dialogsequenzen<br />
aus Fitzgeralds Roman zitiert. Obwohl die Bühne<br />
von Ute Radler bei weitem nicht an die opulenten<br />
Bilder der Verfilmung herankommt, da sie nur auf<br />
eine Drehbühne und multifunktionale Wände und<br />
Requisiten (Sabine Jahn) setzt, die in einer Szene<br />
luxuriöse Sitzkissen darstellen und in der nächsten<br />
wie Autoreifen durch eine fiktive Werkstatt gerollt<br />
werden, gibt es auch hier deutliche Parallelen zum<br />
Film. Wenn Gatsby Daisy durch sein Haus führt<br />
und sie unter seinen bunten Luxushemden begräbt,<br />
wird diese Szene als eingespielte Videosequenz mit<br />
den Göttinger Schauspielern überdimensional auf<br />
die Wände projiziert. Auch wenn Glanz und Glamour<br />
von Gatsbys Villa eher in den Köpfen der<br />
Zuschauer entstehen, wo »Kronleuchter« aus verschlungenen<br />
Lichtbändern dargestellt sind, lassen<br />
<strong>24</strong><br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
die authentischen Kostüme in Weiß und braunen<br />
Herbsttönen (Myriam Casanova) die Charleston-<br />
Ära visuell aufleben. Schön, dass auch die Band im<br />
Orchestergraben diese Illusion mit ihren Outfits<br />
über den Bühnenrand hinaus weiterführt.<br />
Schauspielerisch bewegt sich das Drama auf<br />
höchstem Niveau und jede Textzeile wird klar<br />
verständlich vorgetragen. Doch diese Produktion<br />
ist eben viel mehr als reines Schauspiel. Durch<br />
eine passende Songauswahl von Michael Frei, die<br />
fulminant von den Darstellern vorgetragen wird,<br />
wird die Handlung zwar nicht unbedingt weitererzählt,<br />
jedoch unterstreichen die jazzigen Songs<br />
in zudem frischen Arrangements an den richtigen<br />
Stellen die Gefühle und Emotionen der handelnden<br />
Personen.<br />
Gleich zu Beginn entführt Gershwins ›Rhapsody<br />
in Blue‹ als Ouvertüre den Zuschauer in eine<br />
»Ein Amerikaner in Paris« - Musicalstimmung.<br />
›Alexander’s Ragtime Band‹ von Irving Berlin<br />
spiegelt die Kriegsstimmung wider, während Peggy<br />
Lees ›Ain’t We Got Fun‹ als pfiffiges Duett die beiden<br />
weiblichen Hauptcharaktere als gelangweilte<br />
Snobs einführt und der Folksong ›Man of Constant<br />
Sorrow‹ als Referenz für die armseligen Lebensumstände<br />
im »Tal der Asche« steht. Bei ›I Want to Be<br />
Bad‹ (Original von Helen Kane 1929) zeigt Myrtle,<br />
dass sie einer außerehelichen Beziehung nicht<br />
abgeneigt ist. Andere Songs unterstreichen mit<br />
der energiegeladenen Choreographie von Valenti<br />
Rocamora i Torà und den grandiosen Tänzern<br />
Germán Hipolito Farías, Pawel Malicki, Mar Sanchez<br />
Cisneros und Michael Tucker – allesamt auf<br />
High Heels »Cabaret«-tauglich, androgyn-weiblich<br />
gestylt – den exzessiv-erotischen Lebensstil der<br />
goldenen 20er Jahre. Zu ›Puttin’ on the Ritz‹<br />
oder ›Man With the Hex‹ wird gemeinsam mit<br />
dem gesamten Schauspiel-Ensemble in bester<br />
Fred-Astaire-Manier gesteppt. Weitere Songs sind<br />
›Gloomy Sunday‹ (Billie Holiday), ›Hi-De-Hi-<br />
De-Ho‹, ›Minnie the Moocher‹ und ›St. James<br />
Infirmary‹ von Cab Calloway, Gershwins ›Strike<br />
up the Band‹, ›They Can’t Take That Away From<br />
Me‹ und ›It Ain’t Necessarily So‹, das Frank Sinatra<br />
/ Sammy Davis Jr.-Duett ›Me and My Shadow‹,<br />
›Love Is Just Around the Corner‹ (u. a. Bing<br />
Crosby), ›The Love Nest‹ (John Steel), ›I’m Sitting<br />
on Top of the World‹, ›Better Luck Next Time‹<br />
und Kurt Weills ›Lost in the Stars‹.<br />
Trotz dieser geballten Ladung an Jazz, Blues<br />
und traditionellem Folksong, kombiniert mit<br />
einer sehenswerten Choreographie, sieht sich »Der<br />
große Gatsby« am Deutschen Theater Göttingen<br />
nicht als Musical, und das ist es irgendwie auch<br />
nicht. Trotzdem sollten sich Musicalfans diese<br />
Produktion nicht entgehen lassen, zumal eine<br />
Prise Baz Luhrmann der tragischen Romanvorlage<br />
auch in dieser Bühnenfassung einen sehenswerten<br />
Extra-Kick gibt, der einen unterhaltsamen<br />
Schauspielabend garantiert. Publikum und Presse<br />
sind zu Recht begeistert vom Göttinger »Gatsby«<br />
und bescheren dem Deutschen Theater mit seinen<br />
rund 500 Plätzen ausverkaufte Vorstellungen.<br />
Stephan Drewianka<br />
Abb. unten von links:<br />
1. ›Puttin‘ on the Ritz‹ – Es darf<br />
gesteppt werden (Ensemble)<br />
2. Nick Carraway (Moritz Schulze,<br />
3.v.l.) beginnt, Gatsbys (Daniel<br />
Mühe, r.) Lebensstil zu mögen (v.l.:<br />
Germán Hipolito Farías, Paweł<br />
Malicki, Michael Tucker, Mar<br />
Sanchez Cisneros)<br />
3. Trotz gesellschaftlicher Unterschiede<br />
werden Millionär (Daniel<br />
Mühe) und erfolgloser Autor (Moritz<br />
Schulze) als ungleiche Nachbarn<br />
beste Freunde<br />
4. Im Theater auch mal Film: Daisy<br />
(Gaia Vogel) verliebt sich erneut in<br />
Gatsby (Daniel Mühe)<br />
Fotos (4): Thomas M. Jauk<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
25
Musicals in Deutschland<br />
Glitter, Glamour, Flitter, ohne Männer wird es bitter!<br />
8 Jahre F1rst Stage Theater Hamburg – Die große Jubiläumsgala<br />
Fotos (11): Dennis Mundkowski<br />
Die große Jubiläumsgala<br />
F1rst Stage Theater Hamburg<br />
Premiere: 26. Februar 20<strong>24</strong><br />
Künstlerische Leitung .... Dennis Schulze<br />
Musikalische Leitung &<br />
Klavier .............. Marina Komissartchik<br />
Choreographie ......... Adam M. Cooper<br />
Bühnenbild ............. Felix Wienbürger /<br />
Tobias Mancinella<br />
Maske ........................ Carina Campell<br />
Lichtdesign ............... Felix Wienbürger<br />
Sounddesign ................ Sebastian Rieß<br />
Mit:<br />
Ann-Kathrin Amborn, Dominique Amport,<br />
Charlotte Beba, Elisabeth Bengs,<br />
Svenja Bertschi, Pauline Bienert,<br />
Luisa Bosselmann, Annika Böbel,<br />
Sarina Böker, Johanna Brödner,<br />
Sophia Brommund, Emily Creter,<br />
Naomi Diebel, Philine Ehrich,<br />
Moritz Ende, Mercedes Felling,<br />
Victoria Flecke, Ameline Funke,<br />
Maya Gaudino, Lilly Geis, Pascal Giebel,<br />
Jule Marie Gilster, Celia Gleiter,<br />
Chiara Goetschi, Pia Hartwig,<br />
Melina Hendel, Jule Herrmann,<br />
Max Kikken, Nadja Kilchherr,<br />
Phillip Oliver Kuhn, Selina Kullmann,<br />
Katharine Lindhorst,<br />
Babak Malekzadeh, Alina Martin,<br />
Cäsaria Mayer, Annika Müller,<br />
Aminata Ndaw, Luisa Neumann,<br />
Marlene Niemeyer, Dennis Petersen,<br />
Svea Pöhner, Britani Pouradbi,<br />
Philip Rakoczy, Jana Rimmele,<br />
Noelle Ruoss, Lina Sbaita,<br />
Laura Schäfer, Zoe Zabrina Schuhmacher,<br />
Emil Schuler, Rebecca Schuster,<br />
Jessica Schwarz, Ruby Smeets,<br />
Rebecca Spalt, Timo Stark,<br />
Melina Stauffer, Marietta Steinhausen,<br />
Lia Sussenbach, Linda Tauber,<br />
Gina Tuveri, Theolina Ulke,<br />
Lea Vowinkel, Monique Weißflog,<br />
Duygu Yüzbasioglu<br />
Am 26. Februar war es soweit und 63 talentierte<br />
Nachwuchskünstlerinnen und -künstler der Hamburger<br />
Stage School rockten zum 8-jährigen Jubiläum<br />
des F1rst Stage Theaters die Bühne. Die riesige Cast,<br />
bestehend aus den drei aktuellen Studienjahrgängen,<br />
präsentierte ihre aktuellen Highlights. Die Beiträge<br />
stammen dabei aus berühmten Musical- und Theaterstücken<br />
sowie Filmen (u. a. »The Greatest Showman«,<br />
»Cabaret«, »Hinterm Horizont«, »Finding Neverland«,<br />
»Kein Pardon«, »Monty Python’s Spamalot«, »Priscilla<br />
– Queen of the Desert« u.v.a.). Diese Gala kam mit<br />
stark unausgewogenem und auffallend unterschiedlichem<br />
Geschlechterverhältnis daher: 9 Männer und 54<br />
Frauen – klingt erst einmal wie: »Zu schön, um wahr<br />
zu sein« – oder wie eine große Ladies Night zu Gunsten<br />
einer Stiftung. Aber dies ist kein Regiestreich. Von<br />
den 9 Männern singt, spielt und tanzt auch nur einer<br />
auffallend oft und die anderen Männer haben zwar<br />
gute Momente, werden aber eher unauffällig platziert.<br />
Daher muss nun also in diesem Artikel einmal kurz<br />
eine Lanze für unsere männlichen Nachwuchs-Musicaldarsteller<br />
gebrochen werden – auch wenn natürlich<br />
die Damen der Show und diese junge Cast so oder so<br />
großen Spaß machen.<br />
Wo seid Ihr Männer? Wo sind die großen männlichen<br />
Stimmen geblieben? Stimmen, bei denen die<br />
Damen im Zuschauerraum raunen und tuscheln und<br />
eine Gänsehaut bekommen? Ist diese heute doch etwas<br />
vermisste Gattung eine Art aussterbender Typ? Muss<br />
in Zeiten von künstlicher Intelligenz und bei oft gegen<br />
den Typ besetzten Rollenprofilen der »männliche<br />
Mann« endgültig weichen?<br />
Daher die Bitte: Wenn Sie jetzt unser Magazin in<br />
den Händen halten und denken: »Ja, eigentlich kann<br />
ich besonders kraftvoll und schön singen und männlich<br />
bin ich auch, aber ich trau mich irgendwie nicht« – folgen<br />
Sie Ihrem Herzen und Talent! Die Welt braucht<br />
Frauen und Männer, die das künstlerische Licht und<br />
den Bühnenzauber mit Herz in die Welt tragen. Das<br />
Handwerkszeug dazu wird an einer Bühnenschule, wie<br />
der Stage School, oder einem anderen Institut gelehrt<br />
und führt dann zu so einem vielseitigen Abend wie dem<br />
hier.<br />
Der sonst gewohnte rote Faden (wie z.B. bei Kira<br />
Hehlemanns großartigen Regiearbeiten der »Weihnachtsshow«<br />
oder der letzten »Monday Night«) lässt sich<br />
an diesem Abend nicht klar erkennen und die Nummern<br />
wechseln einander zwischen Tanz und Gesang<br />
ab, ohne dass es eine kleine Geschichte oder wenigstens<br />
ein Motto gibt. Dennis Schulze (künstlerische Leitung)<br />
hat zusammen mit Choreograph Adam M. Cooper<br />
(interessante Choreos beim Opening und Finale!) aber<br />
einen flotten Abend in Studioatmosphäre geschaffen,<br />
der dennoch gut unterhält. Runde Kameralampen aus<br />
goldenen Lampenschirmen kreieren dabei ein schön<br />
anzusehendes Bühnenbild (Felix Wienbürger & Tobias<br />
Mancinella), das technisch in Premiummanier von<br />
Felix Wienbürger eingeleuchtet wird. Marina Kommissartchik<br />
(musikalische Leitung) haut in die Tasten des<br />
Klaviers und wechselt sich mit der eingespielten Musik<br />
ab. Diesen Spagat meistert das Soundteam (Sebastian<br />
Rieß) auf sehr hohem Niveau und unterstützt die<br />
Darsteller:innen auf der Bühne mit sehr gutem Ton.<br />
Highlights des Abends waren das von Pauline Bienert<br />
und Marlene Niemeyer gesungene ›Nimmerland‹ aus<br />
»Finding Neverland« sowie ›Du und die Nacht‹ von<br />
Anna Depenbusch, interpretiert von Sarina Böker und<br />
Max Kikken, der nebenbei auch mit seinem Schauspiel<br />
für spannende Momente sorgte. Natürlich begeisterten<br />
besonders das große Opening und das Finale, neben<br />
den vielen kleinen schönen Momenten. Als nächste<br />
Produktion feiert »A Chorus Line« im F1rst Stage Theater<br />
Premiere, mit der Jubiläumsgala wurde im Hinblick<br />
darauf bereits glitzernd und schillernd eingestimmt.<br />
Stefan Schön<br />
28<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
29
Einblick<br />
Für mich erfüllt sich ein Traum<br />
Ralph Siegels »Ein bisschen Frieden« kommt ins Deutsche Theater München<br />
Foto: Goran Nitschke<br />
Foto: Goran Nitschke<br />
Foto: Wolfgang Klauke<br />
Foto: Michael Böhmländer<br />
Wenn in wenigen Wochen »Ein bisschen<br />
Frieden« auf die Bühne des Deutschen<br />
Theaters München kommt, geht ein Traum von<br />
Ralph Siegel in Erfüllung: »In diesem Musical<br />
habe ich so viele private, vor allem aber auch<br />
musikalische Ereignisse und Erfahrungen verarbeitet,<br />
die ich in den sechs Jahrzehnten meines<br />
Wirkens erleben durfte. Jetzt darf ich das Musical<br />
endlich in meiner Geburtsstadt München<br />
auf die Bühne bringen. Ich freue mich sehr!«<br />
Der Komponist, der für zahlreiche Hits verantwortlich<br />
ist, betont, dass es absolut kein Musical<br />
über Nicole ist, die jeder mit dem namensgebenden<br />
Song verbindet. Dies sei im vergangenen<br />
Jahr von vielen missverstanden worden, so Siegel<br />
– dabei habe das Stück so viel zu bieten, insbesondere<br />
rund um die Teilung Deutschlands.<br />
Das Musical, welches die Geschichte von Rock-<br />
Musiker Ricky und Hippie-Mädchen Elisabeth<br />
erzählt und in den Kontext des Mauerbaus<br />
setzt, ist eine Geschichte, wie sie damals vielen<br />
Liebenden, Familien und Freunden passierte.<br />
Eine Geschichte, die vielleicht fiktional ist, aber<br />
im Grunde auf Begebenheiten und Erlebnissen<br />
beruht, die abertausende Menschen vereinen.<br />
Siegel kombiniert hierfür seine Songs, die sowohl<br />
im Country-, Rock- als auch Pop-Stil zuhause<br />
sind, und schafft damit ein vielseitiges Hörerlebnis.<br />
»Ich habe in den vielen Jahren meiner<br />
Karriere mit herausragenden Persönlichkeiten<br />
gearbeitet und es war immer eine Bereicherung.<br />
Jetzt in diesem Fall so ein wunderbares Ensemble<br />
und so namhafte Darsteller auf der Bühne<br />
sehen zu dürfen, in dem Stück, welches mir so<br />
viel bedeutet, ist für mich etwas Besonderes.«<br />
Teil des 30-köpfigen Ensembles sind Tim Wilhelm<br />
(Leadsänger der »Münchener Freiheit«),<br />
Heinz Hoenig, Simone Ballack und viele Musical-<br />
und Fernsehstars wie Alexander Kerbst<br />
(»Falco«), Jennifer Siemann (»Sturm der Liebe«),<br />
Madeleine Haipt (»Zeppelin«, »Die Schöne und<br />
das Biest«), Dan Lucas (»Jack the Ripper«) und<br />
Sonia Farke (TV-Serie »Hinter Gittern« und div.<br />
Musicals).<br />
»Ich bin dem Festspielhaus Füssen sehr dankbar,<br />
dass sie mein Musical im vergangenen Jahr auf<br />
die Bühne gebracht haben – es gab so viele wunderschöne<br />
Shows und Abend für Abend konnten<br />
wir beobachten, wie gerührt die Menschen im<br />
Publikum saßen. Dass ich jetzt das Stück in<br />
München auf dieser Bühne zeigen darf, rührt<br />
mich. Damit erfüllt sich tatsächlich ein Traum<br />
von mir und ich möchte mich bei allen bedanken,<br />
die diesen wahr werden lassen. Vor, hinter<br />
und auf der Bühne.«<br />
Foto: Goran Nitschke<br />
Sabine Haydn<br />
30<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
Ich glaube, die Art, Musiktheater zu spielen, hat<br />
sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert<br />
Anton Zetterholm über den Mann hinter der Maske<br />
blickpunkt musical: Sie hatten Ihren großen<br />
Durchbruch 2008 bei der TV-Castingshow »Ich<br />
Tarzan, Du Jane«, dank derer Sie Ihre erste große<br />
Rolle auf der Bühne ergatterten. Hätten Sie<br />
damals gedacht, heute auf den großen Bühnen<br />
Europas zu stehen oder gar einmal das »Phantom<br />
der Oper« zu verkörpern? Wie blicken Sie heute<br />
auf die Zeit zurück?<br />
Anton Zetterholm: Ich bin »Tarzan«, Disney,<br />
Stage Entertainment und SAT.1 sehr dankbar.<br />
Allerdings kann ich heute sagen, dass ich<br />
damals zu jung für eine so große Rolle war. Es<br />
war ein großer Druck und der Einstieg in die<br />
Musicalwelt war mit dieser Rolle fast zu groß.<br />
Es war auch danach schwierig, von der Titelrolle<br />
in kleinere Rollen zu wechseln, und ich musste<br />
dann erst einmal Abstand vom Musical-Business<br />
nehmen. Nach 10 Jahren kehrte ich dann zu Tarzan<br />
zurück und es war wirklich schön, die Rolle<br />
mit mehr Bühnenerfahrung zu spielen. Ich hätte<br />
nie gedacht, dass ich noch eine Titelrolle spielen<br />
darf, und schätze mich sehr glücklich. Ich hätte<br />
auch nicht gedacht, dass ich das Phantom so früh<br />
spielen würde, aber in dieser neuen Produktion<br />
ist es auch jünger besetzt.<br />
<strong>blimu</strong>: Betrachtet man Ihre lange Karriere, fällt<br />
vor allem Ihre Vielseitigkeit auf, was verschiedene<br />
Länder und Sprachen betrifft. Sie kommen<br />
selbst aus Schweden und sind dort auch schon<br />
aufgetreten, waren aber auch in großen deutschund<br />
englischsprachigen Produktionen vertreten.<br />
Was liegt Ihnen sprachlich am meisten und<br />
welche Vergleiche können Sie etwa zwischen<br />
den deutschen und österreichischen Bühnen<br />
und dem West End ziehen? Gibt es womöglich<br />
noch ein Land oder eine Sprache, die Sie reizen<br />
würden? Und wie sehen Sie die Musical-Szene in<br />
Ihrer Heimat?<br />
AZ: Ich mag es sehr, auf Deutsch zu singen,<br />
und irgendwie passt diese Sprache am besten<br />
zu meiner Stimme. Schweden ist klein und<br />
London ist ein hartes Pflaster. Ich bin sehr<br />
stolz, dass ich es geschafft habe, dort zu spielen,<br />
möchte aber eigentlich nicht zurück. Vielleicht<br />
kehren wir zurück, wenn meine Söhne Gavroche<br />
(Anm.d.Red.: in »Les Misérables«) spielen<br />
können.<br />
Foto: Jessylee Photography<br />
<strong>blimu</strong>: Abgesehen von der Bühne: Nicht selten<br />
klagen Musicaldarsteller darüber, nirgends<br />
wirklich zuhause zu sein. Wo fühlen Sie sich privat<br />
zuhause? Wie geht es Ihnen mit dem Reisen,<br />
vor allem jetzt, da Sie Vater zweier Söhne sind?<br />
Wie lässt sich das mit dem Alltag vereinbaren?<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 31
Einblick<br />
AZ: Seit meine Söhne auf der Welt sind, habe ich<br />
keine Long-Run-Produktion mehr gespielt. Wir<br />
haben auch in Schweden gewohnt, das ist auch<br />
unser Zuhause. Aktuell weiß ich aber nicht, ob<br />
wir wieder zurückziehen werden. Ich bin zwei<br />
Jahre von Schweden aus zu meinen Engagements<br />
gependelt und das war hart. Jetzt freue ich mich<br />
darauf, in Wien ein Zuhause aufzubauen und<br />
Routinen zu kreieren.<br />
<strong>blimu</strong>: Ihre Partnerin, Harriet Jones, ist selbst ein<br />
gefeierter Star am Londoner West End und verkörperte<br />
bereits viele Male die Rolle der Christine.<br />
Sie bezeichnen sich als »Phantom-Familie«.<br />
Was bedeutet Ihnen allen das Stück, kennen es<br />
die Kinder auch schon und wie fühlt es sich an,<br />
nun in »vertauschten Rollen« zu sein? (Ihre Frau<br />
im Publikum, Sie als Phantom).<br />
AZ: Ja, klar sind wir eine Phantom-Familie. Die<br />
Show bedeutet meiner Frau Harriet Jones sehr<br />
viel und die Kinder singen schon die Melodien.<br />
Harriets Vater ist vor 5 Jahren gestorben und jetzt<br />
bedeutet das Stück sogar noch mehr, Christine<br />
singt ja ›Könntest du doch wieder bei mir sein‹ zu<br />
ihrem verstorbenen Vater. Aktuell ist sie wieder<br />
als Christine Daaé in der World Tour Version zu<br />
sehen, gerade eben ist sie in Dubai.<br />
<strong>blimu</strong>: Ihre Kinder wachsen logischerweise mit<br />
dem Beruf der Eltern, in der Theaterwelt, auf.<br />
Wie wichtig ist es Ihnen, dass Musik eine Rolle<br />
in ihrem Leben spielt? Würden Sie Ihren Söhnen<br />
einen Bühnenberuf wünschen oder sogar davon<br />
abraten (bzw. aus welchen Gründen)? Kann man<br />
vielleicht schon erkennen, dass sie Talent von<br />
ihren Eltern geerbt haben?<br />
AZ: Das kann man wirklich deutlich erkennen.<br />
Im Kindergarten sagen sie auch immer, dass die<br />
beiden Musik lieben, und das ist natürlich schön<br />
zu hören.<br />
<strong>blimu</strong>: Zurück zu Ihrer Karriere: Von »Tarzan«<br />
über »Tanz der Vampire«, »Wicked« und »Les<br />
Misérables« bis hin zu »Elisabeth« und nun<br />
sowohl »Das Phantom der Oper« als auch »West<br />
Side Story«: Ist es Zufall, dass Sie sich stets für<br />
sogenannte Klassiker der Musicalwelt entschieden<br />
haben oder haben Sie einen Faible dafür?<br />
Welche Stücke oder Momente in Ihrer Karriere<br />
sind Ihnen besonders positiv (oder auch negativ)<br />
in Erinnerung geblieben?<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben nicht nur an vielen verschiedenen<br />
Bühnen gespielt, sondern auch mit vielen<br />
Stars der Musicalszene – von Willemijn Verkaik<br />
bis zu Carrie Hope Fletcher. Haben Sie persönlich<br />
Vorbilder, von wem konnten Sie am meisten<br />
lernen, wer hat Ihnen vielleicht etwas mit auf den<br />
Weg gegeben, das geblieben ist?<br />
AZ: Ich hatte Glück, mit sehr vielen talentierten<br />
Menschen arbeiten zu dürfen. Was man aber<br />
immer merkt, ist, dass jene, die viel Erfolg haben,<br />
auch sehr hart dafür arbeiten. Es geht auch um<br />
Glück, aber um in den »Top« zu bleiben, braucht<br />
es viel Zeit, Kraft und Arbeit.<br />
<strong>blimu</strong>: Mit einer Rolle wie dem Phantom, das<br />
viele Darsteller vor Ihnen bereits verkörpert<br />
haben und von dem viele Zuseher bereits eine<br />
feste Meinung/Vorstellung haben, ist es gar nicht<br />
so einfach zu überzeugen. Haben Sie Sorge im<br />
Hinblick auf Kritiken, wie gehen Sie damit um?<br />
AZ: Ich glaube, es ist schwierig, mit dem Phantom<br />
zu »gewinnen«. Jeder hat eine Meinung und<br />
eine Vorstellung zu dieser Rolle oder weiß, wie es<br />
damals war. Jetzt ist es eine neue Produktion und<br />
vieles wurde geändert und moderner gemacht.<br />
Ich freue mich vor allem darauf, das junge Publikum<br />
zu begrüßen, das »Das Phantom der Oper«<br />
vielleicht noch nie gesehen hat. Klar ist es hart,<br />
Kritik zu bekommen, manchmal wird vergessen,<br />
dass Darsteller die Vorstellungen von Regisseur<br />
und Produzent umsetzen. Trotzdem ist es nie<br />
schön, wenn etwas Negatives geschrieben wird.<br />
Man bekommt es immer irgendwie mit. Auch<br />
wenn es dem Großteil der Besucher:innen gefällt,<br />
bleiben leider auch die negativen Bemerkungen<br />
hängen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben bereits mehrmals erwähnt, dass<br />
es sich bei dieser Inszenierung um ein »neues«<br />
Phantom handeln soll, dass jünger gecastet<br />
wurde, und Sie haben auch die »Me too«-Debatte<br />
erwähnt. Wie legen Sie es denn an, wie machen<br />
Sie es zu Ihrem Phantom?<br />
AZ: Ich versuche, den Menschen hinter der Maske<br />
zu spielen. Mein Ziel ist es, dass das Publikum am<br />
Ende der Show mit meinem Phantom mitfühlt.<br />
Das ist gar nicht so einfach, da das Phantom auch<br />
für den Tod von zwei Personen verantwortlich<br />
ist. Ich glaube, die Art, Musiktheater zu spielen,<br />
hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert,<br />
und die »Me Too«-Debatte spiegelt sich auch im<br />
Castingprozess wider. »Das Phantom der Oper«<br />
ist letztendlich eine Liebesgeschichte und diese<br />
muss ja auch glaubwürdig sein.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie unterscheiden sich die Eindrücke des<br />
Stücks für Sie als Darsteller: Würden Sie jetzt<br />
im Publikum sitzen, was sind die markantesten<br />
Unterschiede, die Sie ausmachen können?<br />
AZ: Ich kenne die Show sehr gut, weil ich in<br />
der Original-Produktion den Raoul gespielt<br />
habe und meine Frau als Christine Daeé besetzt<br />
wurde. Ich kann ehrlich sagen, dass diese Version<br />
sehr neu und frisch ist. Ich bin sehr beeindruckt<br />
davon. Ich finde, das Phantom wird in dieser<br />
Produktion menschlicher dargestellt als in der<br />
Originalfassung.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Proben sind bereits weit fortgeschritten.<br />
Wie läuft es bisher, wie ist die Zusammenarbeit<br />
mit dem Rest der Cast und dem Leading<br />
Team?<br />
AZ: Die Cast ist super und wirklich top besetzt.<br />
Es macht sehr viel Freude, mit so vielen talentierten<br />
Künstler:innen und Kreativen zusammenzuarbeiten.<br />
Wir freuen uns riesig darauf, vor<br />
Publikum spielen zu dürfen.<br />
<strong>blimu</strong>: Es ist wie bereits erwähnt nicht Ihr<br />
erster Kontakt mit dem Stoff, in Schweden<br />
verkörperten Sie bereits 2016 Raoul. Inwiefern<br />
unterschied sich die damalige »neue schwedische<br />
Inszenierung« von der jetzigen? Und erzählen<br />
Sie uns, wie es nun zum Engagement in Wien<br />
kam: Wurden Sie angefragt, gab es klassische<br />
Auditions?<br />
AZ: »Tarzan« bedeutet viel für mich, das habe<br />
ich vor allem 2017 gemerkt, als ich nach fast 10<br />
Jahren zurückkam, um die Rolle erneut zu spielen.<br />
Es war auch fantastisch, in der wunderbaren<br />
Originalproduktion von »Les Misérables« spielen<br />
zu dürfen, die es jetzt leider nicht mehr gibt. Ich<br />
würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass<br />
ich nur Klassiker spiele. »Tarzan«, »Paramour«,<br />
»Wicked« und »Lady Bess« sind ein paar von den<br />
moderneren Stücken, die waren alle schön.<br />
Anton Zetterholm als Tony in der »West Side Story«, zusammen mit Oliver Liebl (Riff)<br />
Foto: Marco Sommer/Volksoper Wien<br />
32<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
AZ: Ich wurde tatsächlich gefragt, ob ich Lust<br />
hätte, an den Auditions teilzunehmen. Erst<br />
dachte ich, es handele sich wieder um die Rolle<br />
des Raoul, und ich sah mich erst nicht als Phantom,<br />
da ich die Original-Produktion im Kopf<br />
hatte. Ich habe dann für die Rolle des Phantoms<br />
die Audition für Cameron Mackintosh, die<br />
VBW und Andrew Lloyd Webber gemacht.<br />
<strong>blimu</strong>: Was macht für Sie das Phantom aus,<br />
was ist er für ein Mensch und was muss ein<br />
Darsteller mitbringen, um diese vielschichtige<br />
Figur authentisch zu vermitteln? Wo liegen<br />
darstellerisch und gesanglich die größten<br />
Herausforderungen?<br />
AZ: Das Phantom ist ein sehr einsamer Mann,<br />
der wegen seines entstellten Gesichts ganz alleine<br />
im Dunkeln lebt. Es ist eine Herausforderung,<br />
sich in dieses Leben hineinzuversetzen und seine<br />
Gefühlswelt nachzuempfinden. Ich glaube,<br />
ich werde, solange ich die Rolle spielen werde,<br />
laufend weitere Facetten des Phantoms entdecken.<br />
Gesanglich ist der Part für einen Tenor<br />
tief und für einen Bariton hoch. Es ist eine sehr<br />
anspruchsvolle Rolle, es sind sehr viele Emotionen<br />
im Spiel und es wird auch viel geschrien.<br />
<strong>blimu</strong>: Gibt es Szenen, Momente, die Sie im<br />
Stück besonders berühren oder auf die Sie sich<br />
besonders freuen? Gibt es auch Szenen, vor<br />
denen Sie als Darsteller Respekt haben?<br />
AZ: Das Ende ist echt krass und hat uns in den<br />
Proben alle berührt. Es ist jeden Abend eine sehr<br />
lange Reise für das Phantom, aber ich bin bereit<br />
für diese große Herausforderung.<br />
<strong>blimu</strong>: »Das Phantom der Oper« wurde 1986<br />
uraufgeführt. Warum ist die Geschichte immer<br />
noch aktuell, welchen Bezug kann man zur<br />
heutigen Zeit herstellen und was kann man als<br />
Zuschauer mitnehmen? Wie kann man auch die<br />
junge Generation dafür begeistern?<br />
AZ: Natürlich ist es zuerst die Musik, aber ich<br />
glaube, dass wir Menschen irgendwie eine Faszination<br />
für diese Übermenschlichkeit und das<br />
Gefährliche haben, sei es nun bei Vampiren oder<br />
dem Phantom. Ich glaube, die junge Generation<br />
wird diese neue Produktion auch mögen.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Entscheidung für die Rolle bringt<br />
auch eine Entscheidung für ein Jahr in Wien<br />
mit sich. Wie leicht oder schwer ist Ihnen und<br />
Ihrer Familie diese Entscheidung gefallen? Was<br />
verbinden Sie (auch abgesehen von Ihren Engagements)<br />
mit der Stadt? Worauf freuen Sie sich<br />
abseits vom Theater am meisten?<br />
AZ: Als ich die Zusage bekommen habe, hat<br />
meine Frau sofort »Ja« gesagt und das hat die<br />
Entscheidung, nach Wien zu gehen, natürlich<br />
leichter gemacht. Wien ist wirklich eine Kultur-<br />
Hauptstadt und sie fühlt sich als ausgebildete<br />
Opernsängerin sehr wohl hier. Die Stadt ist auch<br />
wirklich großartig für Kinder. Das Raimund<br />
Theater ist ein toller Arbeitsplatz und es ist ein<br />
Traum, in dieses tolle Haus zurückzukehren.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie sind gleichzeitig auch an der<br />
Volksoper als Tony in der »West Side Story«<br />
zu sehen – bereits zum fünften Mal in Ihrer<br />
Karriere. Wie leicht oder schwer fällt Ihnen der<br />
Wechsel zwischen diesen so unterschiedlichen<br />
Stücken? Und ist es ein »Zufall«, dass Sie es<br />
bereits so oft gespielt haben, oder ist diese Rolle<br />
für Sie etwas Besonderes?<br />
AZ: Es ist auf jeden Fall etwas Besonderes,<br />
Tony in einem Wiener Opernhaus zu spielen<br />
und mit so einem fantastischen Orchester zu<br />
arbeiten. Es sind zwei sehr unterschiedliche<br />
Rollen, und es ist ein Traum für einen Schauspieler,<br />
sie gleichzeitig spielen zu können.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben sich aufgrund eines Burnouts<br />
im Vorjahr komplett von der Bühne zurückgezogen.<br />
Wie war diese Zeit für Sie, wodurch<br />
haben Sie Kraft geschöpft und was haben Sie<br />
auch gelernt / was werden Sie künftig anders<br />
machen, um sich und Ihren Körper zu schützen?<br />
AZ: Es war die Hölle und hat mich sehr verändert.<br />
Ich habe nach wie vor Symptome, die vielleicht<br />
nie ganz weggehen werden, aber ich lerne<br />
gerade, wie ich gut damit umgehen kann. Ich<br />
hatte keine Ahnung oder Respekt für das, was<br />
mir passiert ist, und ganz ehrlich hat es mich fast<br />
mein Leben gekostet. Ich bin sehr dankbar für<br />
den Support meiner Familie und für das schwedische<br />
Gesundheitssystem, ohne diese beiden<br />
wäre ich heute nicht hier.<br />
<strong>blimu</strong>: Ein Blick in die Zukunft: Was wird man<br />
künftig noch von Anton Zetterholm sehen?<br />
Welche Karrierewünsche haben Sie noch?<br />
AZ: Ich hoffe erstmal, dass ich »Das Phantom<br />
der Oper« und »West Side Story« eine Weile<br />
spielen darf. Eigentlich hätte ich mit meiner<br />
Frau »Sweeney Todd« in Dortmund spielen sollen,<br />
dann kam aber erst Corona und dann das<br />
Engagement als Phantom. Sie wird es nach dem<br />
Sommer ohne mich in Dortmund spielen und<br />
es wird bestimmt eine tolle Erfahrung für sie.<br />
Vielleicht stehen wir irgendwann gemeinsam<br />
auf der Bühne, das wäre natürlich ein Traum.<br />
Das Interview führte Yvonne Mresch<br />
Das Phantom (Anton Zetterholm) lässt Christine (Lisanne Clémence Veeneman) näher an den Mann hinter der Maske herankommen<br />
Foto: Renate Schwarzmüller<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 33
Einblick<br />
Niemand soll jemanden kopieren<br />
Regisseur Seth Sklar-Heyn über seine Arbeitsweise an »Das Phantom der Oper« Wien<br />
Regisseur Seth Sklar-Heyn (l.) mit Produzent Cameron Mackintosh (Mitte) und Intendant Christian Struppeck (r.)<br />
Foto: Katharina Schiffl<br />
blickpunkt musical: »Das Phantom der Oper« –<br />
was für ein großer Name, was für eine große<br />
Produktion. Gab es an irgendeinem Punkt einen<br />
Moment, an dem Sie die Größe des Projekts<br />
erschreckt hat?<br />
Seth Sklar-Heyn: Nein. Ehrlich gesagt kenne<br />
ich nichts so gut wie das »Phantom«. Und ich<br />
weiß nicht einmal, warum dieses Stück so gut<br />
funktioniert. Viele einzelnen Sachen kommen<br />
hier zusammen, die Musik, die Szenen, die Story,<br />
der Gesang, die Kostüme, die Charaktere, aber<br />
ganz ehrlich – ich habe trotz allem keine Ahnung,<br />
warum die Leute hiervon sooo begeistert sind.<br />
Dabei bin ich die Person, die den Darstellern<br />
tatsächlich zeigt, wie man das Phantom ist. Das<br />
hier in Wien wieder zu machen ist tatsächlich für<br />
mich noch einmal eine ganz neue, aufregende<br />
Arbeit, weil ich in einer anderen Sprache arbeiten<br />
muss. Ich muss die Wörter alle neu verstehen, und<br />
wie die Übersetzung mit der Inszenierung funktioniert.<br />
Das macht es täglich zu einem neuen<br />
Erlebnis für mich. Und wenn es für mich ein<br />
neues Erlebnis ist, kann ich diese Energie auch in<br />
die neue Produktion überschwappen lassen. Eine<br />
Handvoll Leute dieser Produktion haben schon<br />
einmal in einer »Phantom«-Inszenierung mitgearbeitet,<br />
aber fast immer in anderen Rollen. Das<br />
heißt, der Zauber des ganz Neuen ist hier für alle<br />
da. Nach vielen Jahren in einer Produktion ist das<br />
oft anders, da gehen Darsteller und es kommen<br />
neue, es entsteht eine Art Patchwork-Inszenierung.<br />
In Wien haben wir wirklich die seltene<br />
Gelegenheit, dass alle ganz von vorn beginnen.<br />
Das führt dazu, dass wirklich ein Gefühl von<br />
»Wir haben es gemeinsam kreiert« entsteht. Es<br />
soll keine Kopie sein von einer Produktion, die<br />
schon an vielen anderen Orten lief. Jeder, der hier<br />
mitmacht, hat das Stück wirklich mitentwickelt.<br />
Und das alles mit dem Segen von all denen, die<br />
im Ursprung für das Stück verantwortlich sind.<br />
Andrew (Lloyd Webber) zum Beispiel, der einfach<br />
möchte, dass sich das Stück weiterentwickelt<br />
und nicht wie ein Museumsstück verstaubt.<br />
Dafür müssen sich Charaktere verändern, die<br />
Tonalitäten müssen sich verändern, all das. Der<br />
große Luxus mit den VBW und der Zusammenarbeit<br />
mit Cameron Macintosh ist, dass in diese<br />
Produktion wirklich viel investiert wird, damit es<br />
sich ganz neu anfühlt.<br />
<strong>blimu</strong>: »Das Phantom der Oper« lief in Wien ja<br />
schon einmal mit sehr großem Zuschauerzuspruch,<br />
wie sehr setzt Sie das jetzt unter Druck?<br />
S.S-H: In Wien fühlt man, wie sehr die Leute<br />
noch mit der bekannten Version verbunden sind.<br />
Alle kommen ins Theater und möchten ihre persönlichen<br />
Erinnerungen an das Stück bestätigt<br />
sehen. Ich hoffe so sehr, dass wir es schaffen, dass<br />
wir über diesen Punkt hinauskommen, dass wir<br />
die Erwartungen erfüllen, sie mit neuen Sachen<br />
verblüffen und ihre alten Erinnerungen idealerweise<br />
neu erschaffen und es somit alles noch<br />
stärker machen können.<br />
<strong>blimu</strong>: Alle Darsteller haben mir gesagt, dass Sie<br />
sehr offen für Gespräche über die Charaktere<br />
sind.<br />
S.S-H: Ich liebe es einfach, über die Charaktere<br />
zu reden. Das Phantom ist das Phantom. Christine<br />
ist Christine. Raoul ist Raoul. Jeder hat seine<br />
Kostüme, jeder, der ins Theater kommt, hat eine<br />
genaue Vorstellung von der Figur, die er da auf<br />
der Bühne sehen wird. Also komme ich zu den<br />
34<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
Proben und das erste, was ich sage, ist, dass niemand<br />
einen Charakter spielen soll. Bitte nicht!<br />
Du bekommst von uns alles in die Hand gelegt,<br />
um die Rolle zu spielen, aber bitte sei trotzdem<br />
genau die Person, die du bei der Audition in<br />
Jeans und T-Shirt warst. Denn als diese Person<br />
haben wir dich gecastet, für das, was wir in dir<br />
gesehen haben. Wenn Anton das Phantom spielt,<br />
ist er natürlich nicht wie ein anderes Phantom.<br />
Niemand soll jemanden kopieren. Damit die<br />
Geschichte glaubhaft wird, für jeden im Publikum,<br />
muss die Person auf der Bühne glaubhaft<br />
sein. Und das geht nur, wenn jeder er selbst<br />
ist. Darum liebe ich es, mit den Darstellern so<br />
viel zu reden. Niemand, der etwas sagt, was er<br />
nicht wirklich glaubt, wird es überzeugend sagen<br />
können.<br />
<strong>blimu</strong>: Jeder war bisher von diesem Ansatz wirklich<br />
begeistert. Hatten Sie schon Überraschungsmomente<br />
bei der Entwicklung eines Charakters?<br />
S.S-H: Nein, nicht wirklich. Ich habe die Darsteller<br />
beim Casting ja sehr genau gesehen und<br />
beobachtet, wir haben sie ja bewusst für die<br />
Rollen engagiert, weil wir etwas Bestimmtes in<br />
ihnen gesehen haben. Als wir Thomas (Sigwald)<br />
und Rob (Pelzer) als Operndirektoren zusammen<br />
gesehen haben, wusste ich genau, wie die<br />
Partnerschaft der beiden funktionieren wird.<br />
Natürlich nicht, wie sich das bis ins kleinste<br />
Detail entwickeln wird, aber die Grunddynamik<br />
zwischen ihnen war klar. Was mich vielleicht<br />
eher überrascht, ist, wie willig alle sind. (lacht)<br />
Es gibt einen gewissen Style, den ich mitbringe in<br />
die Arbeit, ein gewisses Gefühl für Drama, was<br />
ich umgesetzt haben möchte. Ich möchte ganz<br />
oft, dass sie sich mehr zurücknehmen, nicht zu<br />
viel schauspielern, dass sie viel passieren lassen<br />
im Miteinander. Und nicht nur, dass sie dafür<br />
offen sind, sondern auch voll mitgehen. Darum<br />
hoffe ich, dass, wenn ich nach der Premiere die<br />
Stadt verlasse, hier eine Gruppe von Menschen<br />
steht, die auf der Bühne etwas wirklich Reales<br />
entstehen lassen. So real es nun mal sein kann,<br />
mit all den Kostümen, dem Bühnenbild und dem<br />
Mann mit der Maske. Und ich hoffe sehr, dass die<br />
Darsteller dies dann beibehalten, weil ich genau<br />
weiß, wie schwierig es ist, nach all dem, was an<br />
Reaktionen auf sie zukommen wird, nicht zu viel<br />
in die Schauspielerei zurückzufallen. Sondern<br />
dass sie erkennen, dass sie so eine ganz andere<br />
Form des »Phantoms« zu den Zuschauern bringen<br />
können – und nicht einfach nur ein Musical<br />
auf die Bühne bringen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben während der Presseprobe<br />
erzählt, dass Sie ein bisschen an der Sichtweise<br />
des Phantoms gearbeitet haben, an der Art, wie<br />
er und Christine miteinander umgehen. Könnten<br />
Sie darauf noch einmal eingehen?<br />
S.S-H: Wir leben heute in einer anderen Welt.<br />
Vor vielen Jahren, bzw. Jahrzehnten, war es total<br />
ok, dass sie eine Frau war, die manipuliert, fast<br />
hypnotisiert wurde. Das wurde so hingenommen:<br />
Sie hatte keine Kontrolle über das, was ihr<br />
alles passiert. Wir arbeiten jetzt daran, dass sie<br />
ganz bewusst wahrnimmt, was geschieht und sie<br />
diejenige ist, die klar Entscheidungen trifft. Sie<br />
ist die, die durch den Spiegel steigen will. Es ist<br />
ihre Entscheidung, sich für den Mann hinter der<br />
Maske zu interessieren. Für das Phantom ist es<br />
wichtig, zu zeigen, dass wir es mit einem Mann<br />
zu tun haben, der ein unglaubliches Gehirn hat,<br />
welches so viele außergewöhnliche Sachen hervorbringt.<br />
Er schafft Musik, er kreiert Erfindungen,<br />
er vollbringt so viele Leistungen. Diese Dynamik<br />
kam auch im Originalbuch schon vor, wir haben<br />
die Aspekte jetzt nur noch mehr verstärkt. Er<br />
ist ein Genie, er hat ein Gehirn, das bei weitem<br />
nicht so ist wie bei jedermann. Und genau da<br />
liegt das Problem. Es ist nicht nur sein Äußeres,<br />
was ihn von allen anderen unterscheidet, nein, es<br />
sind auch seine Emotionen. Sein Bedürfnis nach<br />
Christine ist nicht rein sexuell. Nein, er möchte,<br />
dass seine Intelligenz und seine Intentionen tatsächlich<br />
gesehen und verstanden werden. Und<br />
natürlich kommen dann die männlichen Bedürfnisse<br />
ins Spiel, alles andere wäre gelogen. Aber sie<br />
sind nicht ursächlich für sein Verhalten, sondern<br />
sie sind das Resultat aus Christines Verhalten.<br />
Durch ihr Verhalten zeigt sie ihm, was Nähe ist.<br />
Sie macht seinen Schmerz im Kopf erträglich,<br />
lässt ihn vergehen. Als er sieht, dass sie sich auf<br />
ihn als Menschen eingelassen hat, dass sie auch<br />
Seth Sklar-Heyn<br />
Foto: Matthew Murphy<br />
nach Abnahme der Augenbinde nicht vor ihm<br />
wegläuft, sondern hinter der Maske sein Herz und<br />
Hirn gesehen hat, dass sie wirklich versucht, eine<br />
Verbindung zu ihm als Menschen aufzubauen –<br />
erst da, an dem Punkt, entdeckt er wirklich die<br />
Liebe zu ihr. Das war nichts, was geplant war. Es<br />
war nicht einmal etwas, was er bis dahin kannte.<br />
Aber dann ist es etwas, was er nie wieder loslassen<br />
will. Das ist der Moment, wo die Obsession<br />
beginnt. Das ist unser Unterschied zu der älteren<br />
Version, an der ich ja auch mitgearbeitet habe.<br />
Das heißt, ich weiß genau, wo die Unterschiede<br />
liegen. Aber umso mehr schätze ich diese jetzt.<br />
<strong>blimu</strong>: Zwischen dem »alten« und dem »neuen«<br />
Phantom lag mit »Love Never Dies« die Fortsetzung<br />
des Stoffs. Ist das etwas, was Sie im Kopf<br />
haben bei der Arbeit?<br />
S.S-H: Nein, im Gegenteil. Wenn überhaupt,<br />
dann lachen wir darüber. Nicht falsch verstehen,<br />
Andrew Lloyd Webber hat auch da einen<br />
unglaublich guten Score geschrieben, man kann<br />
sich davor nur verneigen. Er hat es in allen Shows<br />
geschafft, aber hier wirklich in Perfektion. Aber<br />
das Stück selbst, bzw. die Geschichte, die darin<br />
erzählt wird, hat nichts mit dem zu tun, was wir<br />
auf die Bühne bringen.<br />
Das Interview führte Sabine Haydn<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 35
Einblick<br />
Ich wage es, mich dem Geist Mozarts zu nähern<br />
Interview mit Frank Nimsgern, Komponist, Arrangeur & Musikalischer Leiter<br />
des Musicals »Zauberflöte«<br />
zu nähern und ein Fantasiekino über das Erwachsenwerden<br />
und die Auseinandersetzung zwischen<br />
dem scheinbar Guten und dem scheinbar Bösen<br />
wie einen Sonnenkreis des Yin und Yang zu kreieren.<br />
Basis ist das Original, daraus entwickelt<br />
sich mein filmisches, kaleidoskopartig erweitertes<br />
Kopfkino. Jeder Szene meiner Komposition habe<br />
ich eine eigene musikalische Farbe, ein eigenes<br />
musikalisches Spektrum und eigene Harmonien<br />
gegeben. Und wenn ich das eine oder andere Mal<br />
Mozart zitiere, geschieht es mit einer tiefen Verneigung<br />
und der Hoffnung, auch die einen oder<br />
anderen großen Augen verursachen zu können,<br />
wie sie Ingmar Bergman so strahlend in seinem<br />
Film eingefangen hat.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie sah ihr Bild von einem Musical<br />
»Zauberflöte« dann aus?<br />
FN: Im Mittelpunkt sollte unbedingt die<br />
Geschichte stehen. Auf keinen Fall wollte ich<br />
versuchen, Mozarts Musik zu verbessern oder zu<br />
modernisieren. Das würde nicht funktionieren.<br />
Die Musik von Mozart ist genial. Da geht man<br />
nicht ran. Was nicht heißt, dass manche Hit-<br />
Motive von Mozart nicht neu von mir verarbeitet<br />
worden sind. Darum ist die Musik zu 95 Prozent<br />
neu, aber die Story ist die gleiche, nur modern<br />
interpretiert.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie groß war die Hemmschwelle, sich mit<br />
einer Mozart-Oper zu messen?<br />
Foto: F. Hofmann<br />
blickpunkt musical: Herr Nimsgern, fangen wir mit<br />
einer wenig originellen Frage an: Wie kam Ihnen<br />
die Idee zum Musical »Zauberflöte«?<br />
Frank Nimsgern: Das ist ganz einfach: Es war<br />
die Idee von Theaterdirektor Benjamin Sahler.<br />
Dieses Musical war sein großer Traum. Er ist<br />
immer auf der Suche nach Ideen und Inspirationen,<br />
welchen Stoff die Menschen eventuell gerne<br />
sehen möchten. Das Werk ist optimal, es ist ja auf<br />
gewisse Weise eine Revue und konzipiert als ein<br />
fantastisches Märchen. Unvergessen sind meine<br />
Erinnerungen an meinen ersten Besuch der Oper<br />
von Mozart: »Die Zauberflöte«. Die fantasiereiche,<br />
lustige, tragische, kosmische, geheimnisvolle<br />
Geschichte ließ mich mit weit aufgerissenen<br />
Augen der Handlung folgen. Die Musik gab mir<br />
den Eindruck, schon vor den gesprochenen oder<br />
gesungenen Worten Stimmungen, Charaktere<br />
und Situationen zu erkennen. Diese Oper empfand<br />
ich wie einen Film! – dessen Aussage und<br />
musikalische Substanz sich mir bis heute immer<br />
wieder neu und von Mal zu Mal vielfältiger<br />
erschließen. Diese Inspirationen haben – unbewusst<br />
– mein Leben beeinflusst: Die Dimension<br />
»Musik« eröffnet mir immer wieder neue Welten<br />
und Möglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit<br />
dem Thema »Zauberflöte« habe ich seit langem<br />
im Kopf und wage es, mich mit dem »Sound<br />
meiner musikalischen Welt« dem Geist Mozarts<br />
FN: Ich habe mich sehr lange gewehrt, diesen<br />
Erkenntnis-Ertrag von Benjamin Sahler anzunehmen,<br />
weil es so eine enorme Bürde ist. Man<br />
kann und sollte ein Stück, das solch einen Namen<br />
hat, nicht verbessern wollen. Und schon gar nicht<br />
sollte man Mozart light machen. Somit habe ich<br />
erst einmal drei Songs entwickelt und kam dann<br />
schnell zur schwierigsten Prüfung: Die Königin<br />
der Nacht – und der Frage: Was mache ich damit?<br />
›Der Hölle Rache‹ ist die einzige Arie, die ich fast<br />
eins zu eins übernommen habe – natürlich in<br />
meinem Arrangement und mit neukomponierten<br />
Parts. Irgendwann habe ich dann für mich einen<br />
Weg gefunden, wie ich dieses Bild malen kann,<br />
welche Farben ich verwenden möchte. Ansonsten<br />
hätte ich diesen Werkauftrag nicht angenommen.<br />
<strong>blimu</strong>: Wenn man in die Musik hineinhört, klingt<br />
es nach sehr viel Arbeit – und obwohl es schon<br />
so klingt, kann sich vermutlich absolut niemand<br />
vorstellen, wie viel Arbeit dort wirklich dahintersteckt.<br />
Können Sie uns zeigen, wie so ein Song<br />
dann wirklich entsteht? Dass er in Ihrem Kopf<br />
ist, ist ja nur ein »kleiner« Teil, damit er dann<br />
36<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
so klingt, wie er später auf CD klingen wird,<br />
kommen noch unglaublich viele Gedanken- und<br />
Arbeitsschritte.<br />
FN: Ich glaube, man hat nur ein Leben, um es<br />
richtig zu machen. Ich mag nichts Lauwarmes,<br />
entweder heiß oder kalt. Leider ist es sehr arbeitsintensiv.<br />
Ich habe bei uns zu Hause zwei Räumlichkeiten:<br />
Einen analogen Raum, wo ich ganz<br />
klassisch mit Flügel, Bleistift und Papier arbeite,<br />
und dann geht es ab einem gewissen Zeitpunkt<br />
in die <strong>digitale</strong> Räumlichkeit. Ich glaube, dies hört<br />
man auch in der Musik, dass ich sehr viel Wert lege<br />
auf Details, Orchestration und Arrangement. Ich<br />
habe in den letzten 25 Jahren mit so unterschiedlichen<br />
Klangkörpern arbeiten dürfen, dass ich mir<br />
vorab sehr genau überlege, in welche Richtung<br />
die Instrumentation gehen muss und soll. Beim<br />
›Vogelfänger‹ arbeite ich z.B. mit ethnischen Chören<br />
und Industrial Percussion. Bei der Konzeption<br />
unserer »Zauberflöte« war es mir wichtig, jedem<br />
Charakter, wie zum Beispiel der Königin der Nacht<br />
oder Sarastro, eine ganz eigene stilistische Heimat<br />
zu geben, um sie identifizierbar zu machen. Bei der<br />
Königin ist die Mischung aus Hard Rock, Gesang<br />
und Koloratur nur eines der Stilmittel. Bei Sarastro<br />
ist es der teilweise bombastische und fast schon<br />
Big-Band-artige James-Bond-Sound.<br />
<strong>blimu</strong>: Es laufen bereits die ersten Previews, Sie<br />
sind mit der Musik fertig. Wenn Sie auf Ihr<br />
Werk schauen, was ist dann Ihr musikalischer<br />
Lieblingsmoment?<br />
FN: ›Brot und Spiele‹ und ›Lebenszeichen‹ weil es<br />
doch harmonisch sehr anspruchsvolle Musik ist,<br />
die nichts kopiert, sondern Verschiedenes dieser<br />
Elemente zusammenbringt und zu einem neuen<br />
Ganzen erschafft. Somit gibt es bei uns genauso<br />
Koloratur-Gesänge. Und es gibt auch die Energie<br />
des Rocks in Kombination mit dem fantastischen<br />
neuen Ensemble des Festspielhauses. Daraus ergibt<br />
sich eine neue musikalische Energie, die ich beim<br />
Schreiben so nicht erwartet hätte, muss ich ganz<br />
ehrlich sagen.<br />
<strong>blimu</strong>: Ist bei ihrer Musical-Interpretation überhaupt<br />
noch etwas von Mozarts klassischer Musik<br />
übriggeblieben?<br />
FN: Wie gesagt, unsere »Zauberflöte« ist kein<br />
Mozart light. Aber ich habe als Hommage und als<br />
Verbeugung diverse Mozart-Motive und musikalische<br />
Zitate eingebaut, die die Menschen weltweit<br />
kennen und die viele, die in das Musical gehen,<br />
sicher auch erwarten werden. »Die Zauberflöte«<br />
ist ja eine Oper voller Hits: ›Der Vogelfänger bin<br />
ich ja‹, ›Der Hölle Rache‹, ›Ein Mädchen oder<br />
Weibchen‹. Das sind richtige Schlager geworden.<br />
Ich habe diese Motive in verschiedenen Instrumentengruppen<br />
wieder aufblitzen lassen. Das<br />
fängt dann manchmal klassisch an und geht<br />
komplett anders weiter. Es ist eine neue, eigene<br />
Musik – inspiriert von Mozart. Letztlich geht es<br />
aber um eine märchenhafte Geschichte über das<br />
Erwachsenwerden.<br />
<strong>blimu</strong>: Welches sind denn ihre persönlichen Lieblingsfiguren<br />
in der »Zauberflöte«?<br />
FN: Die Königin der Nacht ist eine Figur, die<br />
meiner Meinung nach bei Mozart zu kurz kommt.<br />
Diese Persönlichkeit haben wir etwas ausgebaut,<br />
um andere Facetten der Gestalt zu zeigen. Also<br />
nicht nur die Rache-Queen. Der Held Tamino ist<br />
hingegen eher etwas old school. Ganz im Gegensatz<br />
zum Vogelfänger, diesem Anarcho. Das wird<br />
man im Stück dann auch sehen – er bekommt eine<br />
viel größere Bedeutung.<br />
<strong>blimu</strong>: Haben sie Bedenken, mit diesen Neuinterpretationen<br />
anzuecken?<br />
FN: Na ja, wir sind Musical. Wir spielen nicht<br />
primär für ein Publikum, das bereits zwanzig oder<br />
mehr Inszenierungen von »Die Zauberflöte« angeschaut<br />
hat. Aber wir haben mal in München und<br />
Füssen kleine Umfragen gemacht und Menschen<br />
gefragt: »Sagen Sie mal, worum geht es eigentlich<br />
in »Die Zauberflöte«?« Nur wenigen ist es gelungen,<br />
die Handlung wiederzugeben. Genau deshalb<br />
reizt mich der Stoff: Ja, Pamina ist entführt worden<br />
und es gibt eine zornige Königin der Nacht. Aber<br />
wer ist das eigentlich, warum und wieso handeln<br />
»Jack the Ripper« in Hof 2<strong>02</strong>2<br />
Foto: H. Dietz Fotodesign Hof<br />
die Figuren auf diese Weise? Das weiß kaum<br />
jemand. Und das wollen wir leisten. Wir wollen<br />
zurück zur Basis und nicht pseudo-intellektuelle<br />
Fragen beantworten, sondern die essenziellen.<br />
<strong>blimu</strong>: Haben Sie dabei auch ein bisschen den<br />
Anspruch oder die Hoffnung, dass Menschen nach<br />
dem Musical-Besuch eventuell den Wunsch verspüren,<br />
auch mal in die Original-Oper zu gehen?<br />
FN: Sicher, ich habe ja auch beispielsweise »Der<br />
Ring« geschrieben, damit sich Menschen wieder<br />
für dieses geniale Werk von Richard Wagner<br />
interessieren. Mein »Ring«-Musical war auch<br />
keine Simplifizierung des Werks, sondern eine Art<br />
Zusammenfassung für ein jüngeres Publikum.<br />
Ich habe bei meinen Werken ganz bewusst ein<br />
Publikum im Auge, das normalerweise nicht in<br />
die Oper »Tosca« geht. Bei der »Zauberflöte« ist<br />
es so: Wir transferieren die Geschichte in eine<br />
andere Zeit und versuchen, die Charaktere der<br />
Mozart-Oper neu zu interpretieren. Die Königin<br />
der Nacht ist dann eine Hard-Rock-Sängerin und<br />
Papageno habe ich eine Irish-Folk-Ausrichtung<br />
gegeben. Ich habe also versucht, die Charaktere<br />
mit heutigen Musikfarben zu versehen.<br />
<strong>blimu</strong>: Opernfans werden Sie wahrscheinlich<br />
kritisieren…<br />
FN: Ja, dabei ist das nichts Neues. Wenn man sich<br />
beispielsweise das Musical »Rent« anschaut, das ist<br />
»La Bohème«. Ein anderes Beispiel ist »Aida« von<br />
Elton John beziehungsweise eben auch von Verdi.<br />
Die »West Side Story« ist »Romeo und Julia«. Also<br />
bevor sich Opernfans jetzt aufregen, einfach mal<br />
den Ball flach halten. Selbst Bernstein hat Stoffe<br />
genommen, den es von anderen Komponisten<br />
schon gab. Ein weiteres Beispiel ist »Miss Saigon«<br />
(»Madame Butterfly«) etc. etc.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Fans und Zuschauer dürfen sich auch<br />
auf die CD zum Musical freuen, allerdings wurde<br />
diese nicht ausschließlich von denen eingesungen,<br />
die jetzt auf der Bühne zu sehen sein werden, wie<br />
kam es dazu?<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 37
Einblick<br />
FN: Das ist nicht ganz richtig. Zu 95 % sind alle<br />
Original-Castmitglieder auch auf der CD. Nur bei<br />
Doppelbesetzungen ist es nicht immer möglich,<br />
weil wir ja über eine Zeitspanne von fünf Monaten<br />
spielen. Aber ich bin froh, als Tamino zum<br />
Beispiel Riccardo Greco bekommen zu haben.<br />
Anna Maria Kaufmann, Christian Schöne, Chris<br />
Murray, Misha Kovar, Tim Wilhelm, Katja Berg,<br />
Stefanie Gröning etc. sind ja alle an Bord. Aber<br />
man kann es nie allen recht machen. Da wir aber<br />
bei einer CD auf 74 Minuten begrenzt sind, fehlen<br />
circa 25 Minuten Musik. Eventuell werden wir<br />
auf den Streaming-Plattformen in den nächsten<br />
Monaten noch weitere Songs und Instrumentals<br />
veröffentlichen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben – familiär bedingt – einen klassischen<br />
Hintergrund, Ihr Vater war ein bekannter<br />
Opernsänger. Jetzt haben Sie sich erst des »Rings«,<br />
dann der »Zauberflöte« angenommen. Wird das<br />
bei Ihnen zuhause diskutiert? Bekommen Sie dazu<br />
Input von Ihrem Vater?<br />
FN: Ich bin jahrelang mit dem Konflikt (selbsternannter)<br />
Hochkultur gegen »Unterhaltung« aufgewachsen.<br />
Für mich gibt es keine Klassifizierungen<br />
und Schubladen. Für mich gibt es einfach nur gute<br />
und schlechte Musik. Ich bin großer Verehrer von<br />
Beethoven, Wagner, Mozart etc., aber genauso<br />
verehre ich Pat Metheny, Peter Gabriel, The Who,<br />
Sting, Zimmer oder Toto. Unser »Ring«-Musical<br />
damals (2012) an der Oper Bonn war fast schon<br />
ein Skandal, da mein Vater ja dort auch, wie in<br />
Bayreuth unter Solti, den Wotan gesungen hatte.<br />
Heute wird ja auch unser Werk nachgespielt und<br />
es zeigt sich, dass es dafür ein Publikum gibt, das<br />
sich mit dem Stoff und der magischen Leitmotivik<br />
auseinandersetzen will, aber nicht für 6 Stunden<br />
am Abend. Natürlich gab es Auseinandersetzungen<br />
mit meinem Vater, aber es entscheidet dann<br />
doch die musikalische Qualität und ich glaube,<br />
heute ist er heimlich ein kleiner Verehrer geworden.<br />
Aber glauben Sie mir, es ist generell schwer,<br />
wirklich seriöse Akzeptanz und feuilletonistische<br />
Wertschätzung für das Genre Musical als solches<br />
zu bekommen, besonders in Deutschland.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie machen immer Ausflüge in alle Genres,<br />
gefühlt würde ich Sie aber am meisten im Musical<br />
verankert sehen. Sehen Sie das auch so? Was sind<br />
die Vor- / Nachteile, oder vielleicht vor allem auch<br />
die Reize für Sie in den anderen Genres?<br />
FN: Ich habe neulich gelesen über mich: »der<br />
Quentin Tarantino des Musicals«, da musste ich<br />
lachen – aber ich verstand, was man meinte, weil<br />
ich viele Genres gelernt und praktiziert habe und<br />
sie gerne auch integriere. Sie sehen es auch bei<br />
der »Zauberflöte« – da trifft sich dann das Cembalo<br />
mit Prog Rock und dann geht es wieder in<br />
ein Big-Band-Arrangement und wird dann mit<br />
einem Glockenspiel à la Mozart beendet. Ich sehe<br />
auch einen Kompositionsauftrag wie eine große<br />
Schauspielrolle. Ich bereite mich darauf vor und<br />
versuche, mich komplett auf den Stoff einzulassen.<br />
Bei »Jack the Ripper« habe ich mich ausgiebig mit<br />
Straßenmusik der damaligen Zeit auseinandergesetzt.<br />
Bei der »Zauberflöte« gibt es ganz andere Prämissen,<br />
die ich versucht habe so umzusetzen, dass<br />
man nicht austauschbar ist. Am Ende ist es aber<br />
so: Ich möchte mich und unser Publikum nicht<br />
langweilen, sondern immer mit etwas überraschen.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Zauberflöte wird in Füssen und München<br />
uraufgeführt. Welche Erwartungen haben Sie<br />
und gegebenenfalls welche Befürchtungen?<br />
FN: Wie gesagt, es ist komplett neue Musik mit<br />
Zitaten von Mozart – und Mozart ist ein Heiligtum.<br />
Gerade »Die Zauberflöte« ist nicht nur bei<br />
Freimaurern ein unantastbarer Heiliger Gral. Ich<br />
bin mir darum sicher, dass wir von einer Seite<br />
verrissen werden, nach dem Motto: Das darf man<br />
nicht und das geht so nicht. Und dass wir das<br />
Werk simplifizieren und die große Botschaft zerstören.<br />
Ich sage dazu nur eins: Mozart musste mit<br />
»Don Giovanni« Geld verdienen. »Don Giovanni«<br />
war in Prag als Dramma Giocoso angesetzt und<br />
nicht als ernste Oper. »Les Contes d’Hoffmann«,<br />
»Hoffmanns Erzählungen« von Jacques Offenbach,<br />
ist eine Musikrevue mit den bekanntesten<br />
Hits von Offenbach. »Carmen« von Georges<br />
Bizet war ein großer Flop bei der Uraufführung<br />
und ist heute eine der meistgespielten Opern der<br />
Welt. Diese ganzen Werke hatten es nicht leicht.<br />
Ich will mich damit aber gar nicht vergleichen.<br />
Ich sage einfach, wir versuchen hier ein neues<br />
Musiktheater für eine neue Generation zu machen.<br />
Wir sind nicht perfekt und wir können für nichts<br />
garantieren. Aber bevor jemand einen Graben zwischen<br />
E-Musik und U-Musik aushebt, bitte daran<br />
denken: Auch Mozart musste unterhalten – und er<br />
würde heute wahrscheinlich auch anders komponieren<br />
als zu seiner Zeit.<br />
<strong>blimu</strong>: E- und U-Musik wird in Deutschland noch<br />
immer unterschieden – für jemanden, der so crossover<br />
unterwegs ist wie Sie, müssen die Unterschiede<br />
auch in der Wahrnehmung ja eklatant sichtbar<br />
sein. Warum glauben Sie, dass sich spezifisch die<br />
Deutschen so schwer damit tun, dass beides seine<br />
Gleichberechtigung hat und dass es keine Frage des<br />
Niveaus oder des vermeintlichen Bildungsbürgertums<br />
ist, sondern in beiden Genres gleichermaßen<br />
harte, wertvolle Arbeit geleistet wird?<br />
FN: Ich glaube, es bröckelt, weil es einfach<br />
immer weniger Menschen gibt, die sich eine<br />
Regietheater-Operninszenierung von einem<br />
Stoff ansehen, manchmal mehrere Stunden im<br />
Neonlicht mit Aktentaschen und Alditüten, um<br />
dann frustriert oder gelangweilt aus dem Theater<br />
zu gehen. Gerade die jüngere Generation,<br />
die gar kein Bildungsbürgertum-Wissen mehr<br />
mitbekommen hat – die Schulen und das Bildungssystem<br />
sind ja nicht mehr so wie vor 30<br />
Jahren. Teilweise hat man den Eindruck, dass<br />
die großartige Musik, gerade z.B. bei Wagner<br />
oder Mozart, wirklich nur als Tonspur mitläuft<br />
»Der Ring« in Hof 2016<br />
Foto: H. Dietz Fotodesign Hof<br />
38<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
und die Regie gar nicht mehr mit der Metaphorik<br />
der Komposition korrespondiert, was ich<br />
sehr schade finde. Ich glaube, wir sind an den<br />
Punkt gekommen, wo wir wieder narratives<br />
Theater machen müssen, denn sonst verlieren<br />
wir die komplette neue Theatergeneration.<br />
Das größte Problem ist aber, dass wir Musicalschaffenden<br />
in Deutschland unter so einem<br />
kommerziellen Druck stehen, immer Publikum<br />
zu generieren, dass wir auch wenig Risikobereitschaft<br />
haben dürfen, wenn es um große Produktionen<br />
geht, wie ich sie zum Beispiel mache und<br />
gemacht habe, beispielsweise jetzt im Deutschen<br />
Theater in München oder im Festspielhaus in<br />
Füssen oder damals im Friedrichstadt-Palast<br />
Berlin mit über 1.400 Plätzen. Wenn sie da nur<br />
50% der Plätze verkaufen, gelten Sie sofort als<br />
Flop. Andere Theater wären froh, würden sie<br />
500 Leute im Publikum haben. Das Verhältnis<br />
stimmt nicht. Das engt natürlich die künstlerische<br />
Entwicklung und Freiheit komplett ein.<br />
Aber machen wir uns nichts vor. Auch Mozart<br />
bekam Aufträge, um überleben zu können,<br />
dass sie heute als genial gelten und große Wertschätzung<br />
erlangt haben, war zu seiner Zeit<br />
nicht immer so. Meines Erachtens sollte das<br />
Genre Musical ‒ was auch immer das bedeutet,<br />
denn für mich ist es nur neues zeitgenössisches<br />
Musiktheater ‒ ebenfalls einen besseren subventionierten<br />
Schutzschirm bekommen, um neues,<br />
modernes Musiktheater zu schaffen.<br />
<strong>blimu</strong>: Was würden Sie sich für die Theaterlandschaft<br />
der Zukunft wünschen?<br />
FN: Ach, es gibt ja auch wirklich positive<br />
Entwicklungen, wie man sieht. Ich bin ja<br />
auch unglaublich dankbar für Häuser wie das<br />
Festspielhaus Neuschwanstein, das Theater<br />
Hof, die Luisenburg-Festspiele, das Staatstheater<br />
Saarbrücken, das Deutsche Theater München,<br />
das Theater Pforzheim, die Oper Bonn,<br />
Merzig etc. etc., die wirklich den Gedanken<br />
unterstützen, neues Musiktheater zu schaffen.<br />
Ich glaube, das Zauberwort liegt in der Kooperation<br />
untereinander und dass einfach mehr deutsche<br />
bzw. neue Werke nachgespielt werden sollten.<br />
Was bringen die ganzen Uraufführungen, wenn<br />
die Stücke nicht weiterentwickelt und gespielt werden.<br />
Oder glauben Sie wirklich, dass »Hoffmanns<br />
Erzählungen« oder »Carmen« bei ihrer Uraufführung<br />
so ein Erfolg waren? Die Stücke wurden über<br />
Jahre weiterentwickelt, um heute dort zu sein, wo<br />
sie sind.<br />
<strong>blimu</strong>: Damit zu meiner letzten Frage: Wenn Sie<br />
Wolfgang Amadeus Mozart vor der Premiere eine<br />
kurze Sprachnachricht senden könnten, was würden<br />
Sie ihm mitteilen wollen?<br />
FN: »Danke für diese unfassbare Inspiration« – um<br />
sein Werk und seine Kunst zu ehren und irgendwie<br />
weiterzuführen in unserer heutigen Zeit. Aber<br />
nochmals, ich vergleiche mich nicht mit Mozart.<br />
Das, was wir machen, ist eine Verbeugung. Beethoven,<br />
Bach, Wagner, Mozart waren Genies. Die<br />
haben aus dem Nichts etwas geschaffen. Das<br />
machen wir nicht. Tut mir leid. Ich bin aber sehr<br />
dankbar, dass ich dieses Musiktheater machen<br />
darf, dass ich von meiner Kunst und meinen<br />
Kompositionen leben kann. Das nehme ich nicht<br />
für selbstverständlich. Dafür danke ich allen, die<br />
mich darin unterstützen und vor allem dem Publikum,<br />
das sich die Stücke dann anschaut.<br />
<strong>blimu</strong>: Dann habe ich doch noch eine Frage: Nach<br />
»Der Ring«, »Jack the Rippe«r und der »Zauberflöte«,<br />
was kann denn da noch kommen?<br />
FN: Oh, da habe ich gerade den nächsten Vertrag<br />
für eine sehr große bayerische Bühne unterschrieben<br />
– für 2<strong>02</strong>5. Aber dazu darf ich momentan<br />
noch nicht mehr verraten. Es wird aber auf jeden<br />
Fall wieder ein großer Stoff. Aber jetzt liegt mein<br />
Fokus erst einmal auf der »Zauberflöte«. Wir sind<br />
ja nicht besonders hoch staatlich subventioniert.<br />
Wenn das Werk überleben soll, sind wir also darauf<br />
angewiesen, dass das Publikum das sehen<br />
will.<br />
Das Interview führte Sabine Haydn<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 39
Backstage<br />
Yngve Gasoy Romdal - Larry Murphy<br />
blickpunkt musical: Sie sind ein steter Teil des Musical Frühlings in Gmunden,<br />
von daher sind Sie es schon »gewohnt«, Stücke mit starkem, wichtigem<br />
Inhalt zu spielen, die jenseits der reinen Unterhaltungskultur liegen. Was<br />
macht für Sie jetzt »Dear Evan Hansen« noch einmal zu etwas ganz Anderem /<br />
Besonderem?<br />
Yngve Gasoy Romdal: Das Stück ist so roh und pur. Wie ein Bagger ohne<br />
Bremse geht man durch das Stück und lernt die Charaktere ohne Sentimentalität<br />
und Schnick-Schnack kennen. Ich bewundere die Autoren und Musical<br />
Frühling in Gmunden mit Markus und Elisabeth, dass sie sich trauen, so ein<br />
Thema zu zeigen. Alleinsein, Angst, Mobbing, Selbstmord, Trauer, psychische<br />
Störungen, Soziale Medien usw. Die Sprache ist sehr modern, schnell und<br />
zugänglich, auch für ein jüngeres Publikum. Und es ist sehr schön, so viele<br />
junge, sehr begabte Darsteller:innen kennenzulernen und zu sehen, dass das<br />
Genre Musical eine schöne Zukunft hat.<br />
Foto: Rudi Gigler<br />
Annemieke van Dam – Cynthia Murphy<br />
<strong>blimu</strong>: Sie spielen Connors Mutter, wie würden Sie sie charakterisieren?<br />
Annemieke van Dam: Cynthia Murphy ist eine »Stay at home mum«, die so gut<br />
wie möglich ihre Kinder erzogen hat, während ihr Mann gearbeitet hat. In dieser<br />
Familie gibt es keine Geldprobleme, sondern eher psychische Herausforderungen.<br />
Cynthia kämpft schon länger mit Depressionen und Ängsten. Sie sucht immer<br />
neue Herausforderungen und Hobbys, um inspiriert zu bleiben, aber die scheinen<br />
eigentlich nur eine Ablenkung zu sein von einer endlosen Leere, die sie spürt. Als<br />
klar wird, dass ihr Sohn Connor auch unter Depressionen leidet, versucht sie alles<br />
zu tun, was in ihrer Macht liegt, um ihm zu helfen. Ihm die Hilfe zu geben, die sie<br />
vielleicht nie bekommen hat. Es muss schrecklich sein, zusehen zu müssen, wie<br />
dein Kind dir entgleitet, egal wie viel Mühe du dir gibst, um ihm zu helfen. Die<br />
Liebe zu deinem Kind ist endlos und Loslassen ist manchmal schwierig. Du kannst<br />
die Kinder begleiten, aber entscheiden über ihren Weg müssen sie schlussendlich<br />
selbst.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie spielen Connors Vater, einen vielbeschäftigten Mann. Durch die<br />
ständige Nähe zum Handy ist emotionale Nähe für ihn schwierig. Das ist ein<br />
sehr klassisches Bild von einem Vater, da spielen die Karriere und das Geld<br />
eine größere Rolle als das interne Familienleben. Als Künstlerfamilie führen<br />
Sie sicherlich ohnehin schon ein Leben fernab der Norm, aber wie sind Sie<br />
als Vater? Sie haben bereits eine erwachsene Tochter und nun eine kleine,<br />
wie nah wollten und wollen Sie immer an den beiden und ihren Leben dran<br />
sein?<br />
YGR: Ich wurde sehr früh Vater und war voller Stolz und Glück. Leider wurde<br />
es schwierig, als ich für »Sunset Boulevard« nach Deutschland umgezogen<br />
bin. Meine kleine Tochter kam mich aber sehr oft besuchen in den ersten<br />
Jahren hier auf dem Kontinent. Dann kam die Schule und sie wurde langsam<br />
erwachsen und wir sahen uns weniger. Jetzt habe ich einen neuen Versuch<br />
und die Möglichkeit bekommen, ein Vater zu sein. Es ist ein Geschenk, dass<br />
Leah und ich unsere Lilya Aurora bekommen haben. Wie ich jetzt als Vater<br />
bin, wird sich ja im Laufe der Zeit zeigen, aber ich versuche, ein guter Vater<br />
zu sein, und ich genieße es sehr, in meinem Alter eine Tochter zu haben, und<br />
es hält frisch. (grinst)<br />
<strong>blimu</strong>: Macht die Thematik des Stücks über den langen Probenzeitraum<br />
auch etwas mit Ihnen? Gehen Sie jetzt anders an Menschen heran, konnten<br />
Sie neue Denkansätze finden?<br />
YGR: Ich versuche immer, offen für Menschen zu sein, ein kleines Lächeln<br />
zu schenken, eine Hand auszustrecken, wenn ich sehe, dass jemand Hilfe<br />
braucht. Wenn man versucht, ein bisschen Empathie zu zeigen statt nur<br />
skeptisch zu sein und Misstrauen Fremden gegenüber zu zeigen, bekommt<br />
man fast immer nur schöne menschliche Begegnungen, die beide Seiten<br />
bereichern.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie ist es Ihnen in der Probenzeit ergangen? Sie werden in der Rolle mit<br />
der Trauer um Ihren Sohn konfrontiert, das ist kein einfaches Thema.<br />
AvD: Obwohl wir viel geweint haben in der Probenzeit, konnten wir Gott sei Dank<br />
zwischendurch auch immer wieder lachen. Diese Show hat ein sehr hartes Thema,<br />
das leider eine Realität für viele Familien ist.<br />
Wir haben aber ein unglaublich liebes Team und irgendwie gab es von Anfang an<br />
viel Vertrauen, wodurch ich mich beschützt genug gefühlt habe, um mich zu öffnen.<br />
Ich habe sehr viel von meinen Kollegen lernen können und habe diesen Prozess<br />
sehr genossen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie sind selbst Mutter, allerdings sind Sie von der Teenie-Phase doch noch<br />
eine ganze Zeit entfernt. Gibt Ihnen das Stück neue Denkansätze, wie Sie das<br />
Heranwachsen Ihrer Kinder begleiten wollen?<br />
AvD: Als Elternteil realisiert man schon sehr früh, dass man sein Kind relativ früh<br />
loslassen muss. Diese Kinder waren erst eine Zelle in meinem Körper und mein<br />
Körper hat sie gefüttert und wachsen lassen, bis zwei unglaublich tolle Babys<br />
daraus wurden. Da sind sie noch »Deins« und sie brauchen dich. Du fütterst sie, du<br />
kuschelst mit ihnen und küsst sie und lehrst die Kinder, selbstständiger zu werden,<br />
mit den allerbesten Intentionen. Du möchtest den Kindern die Geborgenheit geben,<br />
die du selbst vielleicht empfunden hast, aber auch die Fehler von deinen Eltern<br />
»ausbessern«, nur kommt jedes Kind mit seinem eigenen Charakter auf die Welt,<br />
und wir Erwachsenen müssen auch jonglieren zwischen Erziehung, Beziehung,<br />
Arbeit, sozialem Umfeld, Familie, Bildung, Sport, Haushalt etc.<br />
Da wirst du nie alles in der Hand haben können. Du wirst Fehler machen und das<br />
Einzige, was ich möchte, ist, dass meine Kinder wissen, dass sie bedingungslos<br />
geliebt werden. Egal, was passiert, sie können immer zu uns kommen.<br />
Leider gibt es Faktoren, die wir als Eltern nicht beeinflussen können. Wenn die<br />
Kinder entscheiden, ihr Innenleben nicht mit uns zu teilen, bewusst oder unbewusst.<br />
Es muss schrecklich sein zu sehen, wie dieses kleine Kind sich in einen<br />
unglücklichen Teenager verwandelt, in den du nie komplett hineinschauen kannst.<br />
Eltern fühlen sich so oft schuldig. Wir wollen das Allerbeste, aber wir werden unsere<br />
Kinder nicht immer beschützen können vor der Welt. Also, wie man hört, ich<br />
war damit konfrontiert, mich mit der Vorstellung auseinandersetzen zu müssen,<br />
dass eines meiner Kinder mir vielleicht entflieht und ich irgendwann Abschied<br />
nehmen muss. Ich kann nur hoffen, dass das nicht passiert.<br />
Foto: Rudi Gigler<br />
40<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Backstage<br />
Vanessa Heinz – Alana Beck<br />
<strong>blimu</strong>: Alana ist im Grunde die beste Freundin von Evan, es kommt dann<br />
aber zu einem Bruch. Was genau verletzt Alana da so sehr?<br />
Vanessa Heinz: Alana gehört in der Schule eher zu den Außenseitern.<br />
So wie Evan fühlt sie sich einsam und von den Leuten nicht gesehen. Sie<br />
versucht mit ihrer übermotivierten Art immer wieder vergeblich, Freundschaften<br />
zu schließen. Erst als Connor gestorben ist, freunden Alana und<br />
Evan sich an. Sie fühlt sich das erste Mal in ihrem Leben verstanden und<br />
denkt, dass sie endlich jemanden gefunden hat, der ihr in dunklen Zeiten<br />
den Rücken stärkt. Denn das würde Alana auch für ihn tun. Aber als sie<br />
merkt, dass es eventuell doch nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denkt sie<br />
wieder, dass der einzige Mensch, auf den sie sich verlassen kann, sie selbst<br />
ist.<br />
<strong>blimu</strong>: Wo finden Sie sich selbst in der Rolle wieder, bzw. wo weichen Sie<br />
völlig von dem Charakter ab?<br />
Foto: Rudi Gigler<br />
VH: Ich und Alana reden beide unglaublich gerne und viel. Besonders über<br />
Dinge, für die wir uns leidenschaftlich interessieren. Allerdings verliert<br />
sich Alana manchmal zu sehr in ihren Ambitionen und merkt dabei nicht,<br />
dass sie die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreitet. Ich glaube, in dieser<br />
Hinsicht bin ich etwas aufmerksamer und reflektierter.<br />
DEUTSCH<br />
SPRACHIGE<br />
ERSTAUF-<br />
FÜHRUNG<br />
<strong>blimu</strong>: Was macht für Sie den Reiz des Stücks aus, was glauben Sie, warum<br />
es so gut funktioniert?<br />
VH: Es zeigt auf eine sehr pure Art und Weise, zu was Frust und Einsamkeit<br />
einen Menschen führen können. Jeder geht mit Trauer anders um. Man<br />
trifft vielleicht falsche Entscheidungen und hat Angst, sich diese einzugestehen,<br />
und kann sich dann bis zum Schluss der Wahrheit nicht stellen. So<br />
wie im echten Leben zeigt das, dass wir menschlich sind.<br />
Savio Byrczak – Jared Kleinman<br />
<strong>blimu</strong>: Jared ist das, was für Evan einem Freund eigentlich am nächsten kommt. Wie<br />
charakterisieren Sie ihn und seine Beziehung zu Evan?<br />
Savio Byrczak: Ich glaube, Evan ist für Jared mehr Freund, als er es selber zugeben möchte,<br />
bzw. er überspielt es, um ein bisschen cooler zu wirken. Beide kennen sich ziemlich<br />
lange. Die Familien sind ja auch schon ewig befreundet, wie es scheint. Jared weiß zum<br />
Beispiel auch, wie er Evan beruhigen kann, wenn es kritisch wird.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie erwähnen in einem Interview, dass Sie selbst auch mit Problemen konfrontiert<br />
waren, u. a. aufgrund Ihrer Hautfarbe. Was hat das mit Ihnen gemacht, hatten Sie, anders<br />
als Evan, wirklich, wirklich gute Freunde an Ihrer Seite, die Ihnen da auch entsprechend<br />
Halt gegeben haben, oder mussten Sie Ihren Weg mit der Tatsache, dass manchmal einfache<br />
Äußerlichkeiten den Weg erschweren, ganz alleine finden?<br />
SB: Als PoC-Person in einer Kleinstadt aufzuwachsen, in der prädominant alle weiß sind,<br />
kann mitunter »schwierig« sein. Ich muss allerdings wirklich sagen, ich konnte mich<br />
stets auf meine Freund:innen verlassen, dass sie für mich da waren und mir den Rücken<br />
gestärkt haben. Trotz allem gab und gibt es noch immer Situationen, in denen meinen<br />
weißen Freund:innen bewusst wird, dass Rassismus immer noch alltäglich ist.<br />
<strong>blimu</strong>: Wenn Sie Wünsche frei hätten, wie das Publikum am Ende des Abends aus dem<br />
Theater hinausgehen soll, dann würden Sie sich wünschen, dass sie welche neuen Gedanken<br />
mit nach Hause nehmen in Bezug auf den Umgang<br />
- mit sich selbst?<br />
- mit ihrem besten Freund / ihrer besten Freundin?<br />
SB: Ich würde mir wünschen, dass das Publikum mit diesen Gedanken hinausgeht:<br />
- Habe ich mich jemals vielleicht doch nicht richtig gegenüber einer Person mit<br />
Depressionen/Angststörungen verhalten?<br />
- Bin ich mir meiner gesellschaftlichen und systemischen Privilegien bewusst?<br />
- Habe ich meiner/m besten Freund/in oft genug gesagt, dass ich sie/ihn lieb habe?<br />
Foto: Konstantin Zander<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
41
Backstage<br />
Jelle Wijgergangs – Connor Murphy<br />
<strong>blimu</strong>: Connor ist zwar ausschlaggebend für alles, was das Stück dann aufbaut,<br />
aber im Grunde hat er zwar intensive, aber doch kurze Zeiten auf der<br />
Bühne. Wie sind Sie an die Entwicklung dieser Rolle herangegangen?<br />
Foto: Konstantin Zander<br />
Jelle Wijgergangs: Ich persönlich denke, dass die ersten Eindrücke von<br />
Connor besonders wichtig sind, um ein Bild davon zu bekommen, wie er sich<br />
mit seinen Mitmenschen fühlt und in bestimmten Situationen reagiert. Nach<br />
Connors Tod erscheint er nur noch als Teil von Evans Gedanken. Das heißt,<br />
dass ich nicht nur Connors Gedankenwelt kennen muss, sondern auch die<br />
von Evan.<br />
<strong>blimu</strong>: Wo gab es in der Probenzeit die größten Herausforderungen für Sie?<br />
Ist Connor ein Charakter, der Ihnen eher ähnelt, oder einer, dem Sie mit sehr<br />
viel persönlichem Abstand begegnen?<br />
JW: Am Anfang habe ich hauptsächlich den Text gelernt und mich auf die<br />
einzelnen Situationen konzentriert, aber je mehr ich darüber nachgedacht<br />
habe, desto komplizierter wurde es, da ich zwei verschiedene Versionen von<br />
Connor spielen muss. In beiden Versionen gibt es Charakterzüge, in denen<br />
ich mich wiedererkenne. Die kann ich ganz gut in mein Spiel einbauen, aber<br />
es gibt natürlich auch Eigenschaften, die viel weiter von mir entfernt sind.<br />
Für die musste ich etwas mehr Arbeit hineinstecken, um einen Zugang zu<br />
ihnen zu finden. Aber es hat sich gelohnt. Jetzt habe ich »meinen« Connor<br />
gefunden.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie erwähnen in einem Interview, dass Sie es toll finden, dass in<br />
dem Stück so viel aus dem Text herauskommt. Sie erwähnen aber ebenso,<br />
dass gerade die Sprache für Sie noch schwierig ist. Wie haben sich Ihre<br />
Deutschkenntnisse verändert in der Probenzeit, wie war Ihr Zugang, diesen<br />
so intensiven Text dann für sich so zu verinnerlichen, dass das, was Sie auf<br />
der Bühne sagen, wirklich aus Ihnen herauskommt?<br />
JW: In der Zwischenzeit habe ich viel Zeit damit verbracht, meine Aussprache<br />
zu verbessern. Ich habe mit Duolingo gearbeitet, und was mir besonders<br />
geholfen hat, war, Filme und Serien auf Deutsch zu schauen. Der Text bietet<br />
viele Möglichkeiten, ihn möglichst realistisch zu halten, da er sehr pur ist<br />
und so bereits viel Emotion liefert. Das hilft sehr bei der Verinnerlichung der<br />
Dialoge.<br />
Foto: Konstantin Zander<br />
Dear Evan Hansen<br />
22. März - 21. April 20<strong>24</strong> Musical Frühling in Gmunden (AT)<br />
11. - 20. Oktober 20<strong>24</strong> Stadttheater Fürth (DE)<br />
Interviews: Sabine Haydn<br />
42<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Backstage<br />
Michaela Thurner – Zoe Murphy<br />
Foto: Konstantin Zander<br />
<strong>blimu</strong>: Sie sind noch sehr jung, sind diese Thematiken, die hier im Stück<br />
vorkommen, auch Themen, die in Ihrem Leben bei Ihnen / Ihren Freunden<br />
vorkommen?<br />
Michaela Thurner: Ich denke, dass gerade das Thema mentale Gesundheit<br />
kein Alter kennt und schon von Kind an eine Art psychosozialer<br />
Hygiene angelernt bzw. präventiv durchgeführt werden sollte. Mich<br />
persönlich begleiten depressive Episoden seit meiner Jugend und auch bei<br />
meinen ehemaligen Schulkolleg:innen waren psychische Probleme und<br />
Krankheiten kein Einzelfall. Wir lernen, das Thema zu tabuisieren, was<br />
letztendlich zu noch mehr Problemen führt. Dabei ist es doch so, dass ich<br />
mit körperlichen Beschwerden auch zur Ärztin gehe, wieso dann nicht mit<br />
psychischen? Mein jetziges Umfeld besteht aus Menschen, mit denen ich<br />
mich offen und viel über mentale Herausforderungen und Befindlichkeiten<br />
austausche. Insbesondere als junge Person sollte man mit diesen Themen<br />
nicht allein bleiben müssen. Es gibt zum Glück mittlerweile Anlaufstellen<br />
für Jugendliche, denen es nicht gut geht, wobei die eigentliche Hürde darin<br />
besteht, das Problem als solches zu erkennen, zu verstehen und tatsächlich<br />
Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich kann als Betroffene im Nachhinein nur<br />
sagen, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen, und es immer eine Lösung<br />
gibt, auch wenn es im Moment hoffnungslos erscheint.<br />
Foto: Rudi Gigler<br />
Anna Thorén – Heidi Hansen<br />
<strong>blimu</strong>: Sie haben die Rolle von Evans Mutter frisch übernommen, wie ist das für<br />
Sie?<br />
Anna Thorén: Evans Mama zu sein ist absolut nicht einfach, und als Schauspielerin<br />
muss ich mir erlauben, mich emotional in alle Richtungen zu bewegen. Ein<br />
Teenager im Haus ist schwierig.<br />
Das ist der normale Fall. Addiere dazu, dass Evan psychische Schwierigkeiten<br />
hat und dass sie alleinerziehend ist . . .<br />
Während der Proben haben wir sehr viel geweint, aber auch gelacht, und ich<br />
glaube, es ist so wichtig, das alles zu erlauben. Die Kollegen haben sehr viel<br />
Gefühl dafür und sind sehr empathisch. Sie merken, wenn ich Zeit für mich<br />
brauche, um mich für eine Schweige-Szene vorzubereiten. Aber auch, wenn ich<br />
eine Hand auf der Schulter brauche oder wenn ich es brauche, albern zu sein,<br />
um zu lachen.<br />
Markus (Olzinger, der Regisseur, Anm.d.Red.) ist darin auch sehr gut. Er kreiert<br />
einen sehr sicheren Ort bei den Proben, wo wir uns wirklich trauen können, alle<br />
Gefühle zu erlauben.<br />
<strong>blimu</strong>: Vor der Umbesetzung spielten Sie die Schwester von Connor – dies ist<br />
keine einfache Rolle, denn auf der einen Seite hatte sie die Beziehung zu Connor,<br />
auf der anderen die zu Evan. Wie war es für Sie, in der Probenzeit den Zugang zu<br />
dieser Rolle zu finden?<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
AT: Ich habe bisher zum Glück noch kein so enges Familienmitglied verloren,<br />
so wie Zoe ihren Bruder verloren hat, aber das Thema Verlust im Allgemeinen<br />
ist mir bekannt. Zoe hatte nicht die beste Beziehung zu ihrem Bruder, aber<br />
trotzdem bleibt er ja ihr Bruder. Die Situation ist nicht schwarz und weiß,<br />
sondern wie im echten Leben kompliziert, was die Rolle meiner Meinung nach<br />
nachvollziehbar und interessant macht. Auch durch den Austausch mit meinen<br />
Kolleg:innen wurde Zoe mir immer noch verständlicher und greifbarer. Die<br />
Beziehung zu Evan – das Gefühl, sich jemandem öffnen zu können, sich fallen<br />
lassen zu können, ist mir sehr vertraut. Besonders schön daran ist, sich an<br />
das erste Verliebtsein zurückzuerinnern 43 und altbekannte Situationen wieder<br />
aufleben zu lassen.
Backstage<br />
Foto: Konstantin Zander<br />
Denis Riffel – Evan Hansen<br />
Foto: Rudi Gigler<br />
<strong>blimu</strong>: Evan Hansen ist eine DER Rollen, die ein Mann spielen kann, zudem ist es hier die deutschsprachige<br />
Erstaufführung und bekommt sehr viel Aufmerksamkeit – wie geht es Ihnen so kurz vor der Premiere?<br />
Denis Riffel: Das fühlt sich noch alles ganz ruhig an, unaufgeregt. Wir sind direkt nach meiner Premiere<br />
in Nürnberg mit »Jesus Christ Superstar« wieder in die Endproben gesprungen, und das war erst einmal<br />
sehr verwirrend, da habe ich mich schon gefragt, ob ich das in so kurzer Zeit hinbekomme. Aber wir<br />
haben dann am 2. Tag einen Arbeitsdurchlauf gemacht und ich habe festgestellt – es ist alles da. Jetzt in<br />
Stress zu verfallen würde auch nicht helfen. Ich kann die Außenwelt nicht immer ignorieren, aber einen<br />
wirklichen Einfluss auf das, was wir da in unserem kleinen Probenraum machen – und zwar spielen wie<br />
Kinder mit dem Bewusstsein von Erwachsenen – hat diese Aufmerksamkeit nicht. Das ist unser Ding –<br />
beurteilen können die Menschen dann später.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie sind Sie an das Stück und an die Entwicklung der Rolle herangegangen?<br />
DR: Ich habe mir bewusst nichts vom Broadway und auch nicht den Film angesehen, ebenso nicht das<br />
Buch zum Stück gelesen. Mich hat nur interessiert: Was steht im Text? Wo sind die Widerstände von Evan,<br />
warum hat er Angst und wovor, wie geht er, wie denkt er, wie fühlt er sich, also ganz alltägliche Schauspielarbeit.<br />
Wir haben schnell festgestellt, dass es besonders bei diesem Stück unabdingbar ist, aus einer<br />
Entspannung heraus zu proben – damit unser Unterbewusstsein auch reagieren kann auf das, was da<br />
passiert. Und da habe ich so großartige Spielpartner:innen, das hilft mir wirklich sehr, mich aufzuraffen,<br />
um meinen Körper darauf vorzubereiten, wieder in diese Tiefe zu gehen – auch wenn ich einen Tag habe,<br />
an dem mein Körper sehr müde ist. Sie motivieren mich auch. Wir haben natürlich viel geredet, »Markus,<br />
wir müssen reden, das stimmt noch nicht«, dieser Satz ist sehr oft gefallen. Und dann haben wir geredet<br />
und danach probiert. Der Bogen ergibt sich dann.<br />
<strong>blimu</strong>: War die sehr starke Partitur für Sie gesanglich eine Herausforderung?<br />
DR: Ja – sehr. Und das ist gut so, daran konnte ich nur wachsen und es hat mir viel Vertrauen in und<br />
Verständnis für meine Stimme gegeben. Theo Rüster, mittlerweile mehr Mentor als nur Gesanglehrer, hat<br />
mich sehr unterstützt. Er ist ein großartiger Lehrer, der diesem Begriff auch gerecht wird. Und ein noch<br />
besserer Mensch.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Musik des Stücks ist unglaublich stark, der Text sehr mitnehmend – was macht es mit einem<br />
Schauspieler, sich über den langen Zeitraum der Proben immer wieder und wieder mit diesen Thematiken<br />
auseinandersetzen zu müssen?<br />
DR: Es ist wie das Stimmen eines Instruments. Jeden Tag gibt es Neues zu entdecken, und wenn sich<br />
mein Körper mal sträubt vor diesen starken Emotionen, vor Evans Abgründen, die enorm sind – und das<br />
ist öfter passiert –, dann gehe ich mittlerweile sanfter mit mir um. Ich entspanne mich, auch mit aktiven<br />
Übungen, und lasse zu, was heute da ist. Und dann kommt immer trotzdem etwas und ich denke: »Ah!<br />
Schau mal, da gibt es ja heute doch etwas zu entdecken!« Ich merke schon, dass ich viel mehr Vertrauen<br />
zu meinem Unterbewusstsein bekommen habe. Am Anfang hat mich das noch wahnsinnig müde gemacht,<br />
so müde, dass ich einfach nur 12 Stunden schlafen wollte nach der Probe. Mittlerweile ist es immer noch<br />
sehr anstrengend – aber es ist erträglich geworden. Und auch versöhnend, weil wir endlich das Ende des<br />
Stücks dazugenommen haben. Diese Bandbreite an tiefen Gefühlen erleben zu können und das auch in<br />
den Augen meiner Spielpartner:innen zu sehen – es gibt nichts Schöneres. Dafür lebe ich. Das ist Leben.<br />
Theater ist Leben.<br />
<strong>blimu</strong>: In einem Interview erwähnen Sie, dass es darum geht, auch Schwäche zuzulassen, den Mut zu<br />
bekommen, einfach einmal zuzuhören, ohne direkt darüber nachzudenken, wie man antwortet, was man<br />
gleich sagt. Hat dieses Stück, die intensive Auseinandersetzung damit, etwas mit Ihnen ganz persönlich<br />
gemacht, etwas in Ihnen verändert?<br />
DR: Es hat mich wieder ein Stück mehr ermutigt, meine Scham fallen zu lassen. Meine Scham davor, Gefühle<br />
zu zeigen, einem Männerbild nicht gerecht zu werden. Mehr zu sein als zu behaupten, auch privat.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie äußern ebenso den Wunsch nach mehr Ehrlichkeit, die man zulässt, wenn man das Stück<br />
einmal gesehen, an sich herangelassen hat. Denken Sie, dass Sie dies auch langfristig selbst umsetzen<br />
können? Es kann ja durchaus schmerzhaft sein, für einen selbst, aber auch für die Umwelt.<br />
DR: Ich glaube, dass Theater-Schauen sehr inspirierend, heilend sein kann. Theater-Machen möchte ich<br />
so nicht sehen, es ist ein Handwerk, ein wunderschönes, vielseitiges – aber ich möchte es niemals als Therapie<br />
missbrauchen. Natürlich hat es einen großen Einfluss auf mich, wenn ich mich jeden Tag mit so viel<br />
Schmerz und sozialen Beziehungen beschäftige. Ich glaube nicht, dass mein Gehirn versteht, dass diese<br />
Emotionen und Gedanken, denen ich jeden Tag nachgehe, Teil eines Theaterstücks sind. Also ja, es wird<br />
mich begleiten, es wird mein Denken langfristig ändern. Und trotzdem ist es wichtig, sich danach immer<br />
wieder zu regulieren mit einem Leben außerhalb des Theaters.<br />
44<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Backstage<br />
Elisabeth Sikora – Intendantin / Kostümbild<br />
<strong>blimu</strong>: Sie spielen die Mutter von Evan. Jedes Elternteil von bereits älteren Kindern weiß, mit wie vielen<br />
Herausforderungen das verbunden ist. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie sich ständig auf der Bühne,<br />
in den Proben, mit den nicht einfachen Themen konfrontiert fühlen?<br />
Elisabeth Sikora: Es war eine tolle Erfahrung, Heidi Hansen kennenzulernen, eine Version von ihr<br />
zu kreieren. Der Respekt vor alleinerziehenden Müttern, die mitunter mit sozialen Ängsten bei ihren<br />
Kindern konfrontiert sind, ist dadurch nochmal stark gewachsen und ich habe die Musik und meine<br />
Mitspielenden, besonders natürlich meinen Bühnensohn, sehr ins Herz geschlossen. Aber jetzt ist etwas<br />
Neues, sehr Schönes in unser Leben getreten, auf das ich mich nun konzentrieren möchte, und so<br />
haben wir uns für eine Umbesetzung der Rolle entschieden: Anna Thorén wird nun die Erstbesetzung<br />
von Heidi Hansen übernehmen und sie macht das großartig! Ich werde der Produktion als Kostümbildnerin<br />
und Co-Intendantin erhalten bleiben.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie sind nicht nur Schauspielerin, sondern auch Intendantin, Initiatorin für die Stückauswahl.<br />
Wieso fiel die Wahl genau auf diesen Stoff?<br />
ES: Wir versuchen immer, Stücke mit sinnhaften und aktuellen Themen zu finden, die uns und unser<br />
Publikum zum Nachdenken bringen, anspruchsvollen Unterhaltungswert haben, gepaart mit hochwertiger<br />
Musik. »Dear Evan Hansen«, wo Angstzustände und Depression bei Jugendlichen zum Thema<br />
gemacht werden, mit Musik der Oscarpreisträger Pasek & Paul und als deutschsprachige Erstaufführung<br />
– das passte einfach sehr gut in unser Profil. Noch dazu gibt es einen enormen Hype um das Stück<br />
in der Szene, und man wartete schon länger, dass das Stück endlich in den deutschsprachigen Raum<br />
kommt. Das waren also nur positive Punkte auf der Liste, die uns die Entscheidung dafür sehr leicht<br />
gemacht haben.<br />
<strong>blimu</strong>: Es ist nicht die erste deutschsprachige Erstaufführung, die Sie als Intendanten nach Gmunden<br />
holen, aber es ist sicherlich die mit der größten Aufmerksamkeit, da das Stück schon so viel an Ehrungen<br />
und großflächigem Interesse mit sich bringt. Spüren Sie Unterschiede zu den Produktionen in den<br />
vergangenen Jahren, rein was das Interesse von außen betrifft?<br />
ES: Bei unserer ersten DSE von »Jane Eyre« spürten wir auch, dass die Aufmerksamkeit in der Szene<br />
uns gegenüber wächst, und mit der ersten CD-Aufnahme gab es hier großen Fan-Zustrom, aber bei<br />
»Dear Evan Hansen« ist das schon nochmal um einiges mehr, ja. Zuerst die Rückmeldungen und auch<br />
Gratulationen auf unsere Ankündigung, dass die DSE von »Dear Even Hansen« beim Musical Frühling<br />
in Gmunden stattfinden wird, dann die Vielzahl an Bewerbungen, teilweise Liebesbekundungen<br />
dem Stück gegenüber, die unser Postfach überlaufen ließen, dann merken wir es natürlich anhand<br />
der Social-Media-Insights, dass sich die Reichweite um ein Vielfaches gesteigert hat. Die Zahl der<br />
Follower:innen mehrt sich, aber auch mehr Theaterintendant:innen melden Interesse an und kommen<br />
zum ersten Mal nach Gmunden.<br />
<strong>blimu</strong>: Wenn Ihre Proben als Darstellerin beendet sind, beginnt der Alltag als Intendantin. Wie schaffen<br />
Sie es, beides so gut unter einen Hut zu bekommen – und obendrein auch noch die emotionalen<br />
Punkte, die das Stück mit sich bringt, zu verarbeiten?<br />
ES: Während der Vor-Proben im Oktober/November ging ich fast täglich ins Fitnesscenter nach<br />
den Proben, um die Emotionen »rauszuradeln« und »-zurudern«. (grinst) Danach habe ich mich mit<br />
meinem Mann zusammengesetzt und die organisatorischen Dinge besprochen und abgearbeitet. An<br />
manchen Tagen klappt das gut, manchmal müssen wir uns aber auch zwingen, die Müdigkeit und<br />
auch den kreativen Prozess hintenanzustellen und Zahlen und Fakten zu wälzen, oder was gerade so<br />
ansteht. Diese Phasen sind wir aber mittlerweile gewohnt und wir kommen da auch ganz gut durch,<br />
bestimmt auch mit dem Wissen und der Erfahrung, dass nach den Entbehrungen auch bald wieder<br />
mehr Privat-Zeit ansteht.<br />
Markus Olzinger – Intendant / Regisseur / Bühnenbild<br />
<strong>blimu</strong>: Auch Sie haben, einmal mehr, nicht nur eine Funktion, sondern sind Intendant und Regisseur (und vieles mehr) gleichzeitig. Wie lange ist »Dear Evan Hansen«<br />
schon in Ihrem Kopf? Bis es zu der tatsächlichen Entscheidung von allen Seiten kam, brauchte es ja bereits viel Vorlauf.<br />
Markus Olzinger: Das Stück ist mir länger schon bekannt und der Hype darum war nicht zu übersehen, aber ich gehörte nicht zu jenen, die dachten, dieses Stück unbedingt<br />
machen zu müssen. Erst als es wirklich ein Thema für uns wurde und wir begannen, uns intensiv mit der inhaltlichen und musikalischen Struktur zu beschäftigen,<br />
hat es mich wirklich gekriegt.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie fühlte es sich an, als sich die Amerikaner dann tatsächlich für Sie als Ort für die deutschsprachige Erstaufführung entschieden haben? Dies ist ja durchaus<br />
auch eine Belohnung für die vielen, vielen Jahre, in denen Sie jetzt schon so hochwertiges Theater mit so spannenden Themen machen.<br />
MO: Ja ehrlich, es fühlt sich gut an, vor allem weil es vermutlich kaum Theater gibt, die diese DSE nicht gerne gehabt hätten. Wir haben zur richtigen Zeit erfahren, dass<br />
die Rechte für eine Neuproduktion langsam frei werden würden, und haben dann hart darum gekämpft. Über ein Jahr ging es zwischen New York und uns hin und her,<br />
wir mussten dann all unsere bisherigen Kritiken und Trailer schicken, uns als Team absegnen lassen und letztendlich auch Kostüm- und Bühnenbild- Entwürfe einsenden.<br />
Es hat geklappt! Wir freuen uns auf die Produktion, das wird schön.<br />
<strong>blimu</strong>: Was genau begeistert Sie so sehr an diesem Stück?<br />
MO: Es fordert eine ernsthafte Auseinandersetzung und erlaubt bei allen Showeffekten auch eine tiefgreifende Schauspielarbeit. Die Figur des Evan glaubhaft zu<br />
verkörpern ist eine Aufgabe für Darsteller und Regisseur. Man merkt, dass das Stück in den USA kreiert wurde; eine europäische oder österreichische Erzählweise wäre<br />
vermutlich eine andere, vielleicht weniger showbetont. Dies zu verbinden sehe ich als meine Aufgabe.<br />
<strong>blimu</strong>: Niemand muss besser alle Rollen kennen als ein Regisseur. Was macht dies mit Ihnen, Sie sind so intensiv in all den verschiedenen Positionen, die aber, jede für<br />
sich, ihr Päckchen zu tragen haben. Hat man da immer Abstand oder spüren Sie auch, dass es emotional an manchen Tagen einfach viel (vielleicht zu viel?) ist?<br />
MO: Ich lasse in den Proben alles nah an mich heran, verbinde mich mit den Figuren, nur so kann ich versuchen, diesen gerecht zu werden, ich muss sie spüren, sie verstehen.<br />
Aber ganz ehrlich, bei aller Tragik, das Stück hat so viel Positives in sich, dazu eine so fantastische Cast, da bin ich täglich voller Glück aus den Proben gegangen.<br />
Wo ich etwas gekämpft habe, war »Briefe von Ruth« letztes Jahr, diese wahre Geschichte lässt mich bis heute nicht wirklich los und ich habe jeden Abend am Ende der<br />
Vorstellung geweint. Ob das bei »Dear Evan Hansen« so sein wird, da werde ich mich noch überraschen lassen, aber das Publikum wird es sicher tun.<br />
<strong>blimu</strong>: Ihr Publikum geht in den Abend hinein – und kommt rund 2,5 Stunden später aus einem so intensiven Stück wieder heraus. Was sind Ihre persönlichen Wünsche,<br />
was die Menschen aus diesem Abend mitnehmen sollen?<br />
blickpunkt MO: Sie sollen musical die verhandelten <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> Themen weiter besprechen und vielleicht ihren Blick auf Menschen, die manchmal eigenwillig, seltsam 45 oder zurückgezogen wirken,<br />
ändern.
Einblick<br />
Ich mag es nicht, wenn man ein Stück<br />
brutal umdreht<br />
Alfons Haider über »My Fair Lady« bei den Seefestspielen in Mörbisch<br />
Foto: Andreas Hochgerner<br />
blickpunkt musical: Herr Haider, Sie sind seit vielen<br />
Jahren als Schauspieler, Sänger, Moderator, Entertainer<br />
und eben auch als Intendant aktiv. Woher nehmen<br />
Sie die Kraft und Energie für all diese Aufgaben?<br />
Alfons Haider: Im Augenblick ist es, ganz ehrlich,<br />
der Verlust meiner Mutter. Sie ist verstorben und das<br />
hat mich in eine Wüste geschickt und mich so aus der<br />
Bahn geworfen, dass ich drei Monate fast bewegungsunfähig<br />
war und vieles liegengelassen habe. Es war<br />
furchtbar. Nun muss alles aufgearbeitet werden und<br />
ich habe mich deshalb Hals über Kopf in die Arbeit<br />
gestürzt. Jetzt bin ich gerade auf dem Höhepunkt<br />
dieser Arbeit, wir sind im internationalen Geschäft<br />
mit dabei. Ich war immer ein Arbeitstier und konnte<br />
besser mit Niederlagen als mit großen Erfolgen<br />
umgehen. Ich ziehe mich bei Zweiterem eher zurück,<br />
bin kein großer Feierer, sondern dankbar, dass es gut<br />
gegangen ist.<br />
<strong>blimu</strong>: Das bedeutet, die Arbeit ist für Sie eine Art<br />
Flucht?<br />
AH: Das ist sie und ich weiß, es geht nicht ewig<br />
so dahin. Ich habe mir in meinem Leben schon<br />
oft gedacht, was noch kommen soll. Ich war<br />
in großen Fernsehserien, habe den Opernball<br />
moderiert, Hamlet gespielt. Als ich gemerkt<br />
habe, dass der ORF mich langsam abbaut, ist<br />
Mörbisch gekommen. Ich mag solche Sprüche<br />
eigentlich nicht, aber dieser stimmt: Wenn eine<br />
Tür zufällt, gehen zwei andere auf. Und auch<br />
wenn man mir vorwirft, ich sei eingebildet<br />
oder arrogant, ist es mir egal. Das gehört zu<br />
dem Geschäft dazu. Ich merke aber, dass mein<br />
Publikum mich nach wie vor schätzt und zu<br />
mir hält. Das habe ich auch gemerkt, als ich<br />
den Opernball verloren habe. Ich habe nicht<br />
gedacht, dass ich noch einmal so viele Sympathiebezeugungen<br />
bekomme ‒ dann muss man<br />
wohl ein paar Dinge im Leben richtig gemacht<br />
haben. Denn wäre ich den Leuten egal, würden<br />
sie nicht so reagieren. Aber ich bin nicht auf die<br />
Welt gekommen, um allen zu gefallen. In meinen<br />
Entscheidungen wurde ich bisher bestätigt:<br />
Ich hatte immer einen Riecher dafür, was das<br />
Publikum eigentlich möchte, vertrete aber nur<br />
Sachen, hinter denen ich selbst stehe. Für mich<br />
ist wichtig, dass Menschen mit einem Gefühl<br />
nach Hause gehen.<br />
<strong>blimu</strong>: Gehen wir ein Stück zurück: Wie hat die<br />
Liebe zur Bühne bei Ihnen begonnen?<br />
AH: Im Kindergartenalter wurde ich von einem<br />
Fotografen »entdeckt«. Er hat gefragt, »ob der<br />
Kleine nicht spielen mag«. Ich habe nur »spielen«<br />
verstanden und war schon auf einer Bühne<br />
– damals als Prinz in Dornröschen. Das war<br />
bestimmend für mein Leben. Etwas anderes<br />
als die Bühne gab es für mich nie, sie ist mein<br />
Leben. Ich habe den Austausch mit dem Publikum<br />
sofort geliebt und das ist mir geblieben.<br />
<strong>blimu</strong>: Was würden Sie heute rückblickend jungen<br />
Menschen raten, die einen Beruf im Theater /<br />
im Showbusiness anstreben?<br />
46<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einblick<br />
AH: Unbedingt machen, aber darauf achten,<br />
dass man so viel wie möglich lernen kann. Heute<br />
musst du tanzen, singen, spielen können, diszipliniert<br />
sein, quasi alles können. Die Anforderungen<br />
an Künstler sind stark gestiegen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sie selbst haben mit 17 Jahren bereits<br />
in Mörbisch in »Der Zigeunerbaron« auf der<br />
Bühne gestanden. Was bedeuten Ihnen diese<br />
Bühne und dieser Ort?<br />
AH: Am Tag des Begräbnisses meines Vaters bin<br />
ich dort in einer Statistenrolle aufgetreten. Ein<br />
Kollege ist bei der Generalprobe gestürzt. Der<br />
Intendant kam zu mir, um mich abzulenken – er<br />
wusste, dass ich etwas angeschlagen war – und<br />
fragte mich, ob ich die Rolle des Kollegen übernehmen<br />
möchte, er hatte einen Satz zu sprechen.<br />
Ich stand dort in viel zu großen Stiefeln und rief<br />
meinen Satz: »Sie kommen, sie kommen«, die<br />
Leute haben applaudiert. Danach gab es Lob<br />
und der Intendant versprach mir für das Folgejahr<br />
eine kleine Rolle. Ich habe damals gesagt:<br />
»Seien Sie mir nicht böse, das ist vermessen, aber<br />
wenn ich wiederkomme, möchte ich in der ersten<br />
Reihe stehen« – als Darsteller natürlich. Ich war<br />
danach mindestens 40 Jahre lang immer wieder<br />
in Mörbisch und habe mir alles angesehen, war<br />
immer verliebt in diesen Platz. Vor acht Jahren<br />
habe ich mich das erste Mal für die Intendanz<br />
beworben. Schon damals war es mein Plan, auf<br />
Musical umzusteigen. Nicht, weil ich Operette<br />
nicht mag, sondern weil ich gemerkt habe, dass<br />
vieles schon abgespielt war, und ich dachte, wir<br />
brauchen auch jüngeres Publikum. Der Platz<br />
schreit nach Musical und er kann etwas, das<br />
andere Orte nicht können. Bei »The King and I«<br />
haben wir Siam nachgestellt, bei »Mamma<br />
Mia!« eine griechische Insel mit Wasser. Die<br />
Zuschauer:innen sitzen oft eine Stunde vorher<br />
dort und sehen sich die Details an. Aber natürlich<br />
gibt es auch einen kaufmännischen Grund:<br />
Die Zahlen bei der Operette sind zurückgegangen.<br />
Nun sehen wir, dass wir entgegen<br />
allen Prophezeiungen keine Zuschauer verloren<br />
haben. Wir wissen, dass im Vorjahr etwa<br />
60 Prozent der altgewohnten Besucher wieder<br />
da waren. Gleichzeitig hatten wir aber etwa<br />
10.000 unter 20-Jährige im Publikum und das<br />
ist so wichtig.<br />
<strong>blimu</strong>: Es ist dennoch ein großer Sprung von<br />
»Mamma Mia!« zu »My Fair Lady«. Man könnte<br />
meinen, diese Entscheidung ist eine Art »Wiedergutmachung«<br />
für die Operettenfans?<br />
AH: Absolut nicht. »My Fair Lady« ist zwar die<br />
Antwort der Amerikaner auf die Operette, aber<br />
eben schon Musical.<br />
<strong>blimu</strong>: Man könnte dennoch behaupten, dass ein<br />
Stück wie »My Fair Lady« eher das Operettenpublikum<br />
anzieht als beispielsweise »Mamma<br />
Mia!«, oder nicht?<br />
AH: Nein, das glaube ich nicht. Wir haben<br />
dafür gesorgt, dass wir mit dem Hinweis im<br />
Titel »2<strong>02</strong>0« die jungen Zuschauer ansprechen,<br />
und wir merken auch, dass sie reagieren. Es ist<br />
nun einmal nicht London 1850. Autor Johannes<br />
Glück, der die Modernisierung vornimmt,<br />
achtet gemeinsam mit unserem Arrangeur, dem<br />
Dirigenten und musikalischem Leiter zahlreicher<br />
Produktionen, Christian Frank, mit dem<br />
größten Respekt darauf, dass wir diesen leichten<br />
heutigen Touch bekommen, ohne die Figuren<br />
und die Geschichte zu ändern. Was ich nicht<br />
mag, ist, wenn man ein Stück brutal umdreht.<br />
Ich werde wahnsinnig, wenn zum Beispiel die<br />
weibliche Hauptdarstellerin plötzlich ein Mann<br />
ist.<br />
<strong>blimu</strong>: Was genau wird denn neu sein, worauf<br />
sollte sich das Publikum einstellen?<br />
AH: Noch heute leben unzählige Menschen auf<br />
dieser Welt, die keinen Job bekommen, weil sie<br />
nicht schreiben oder lesen können oder die Sprache<br />
einfach nicht beherrschen. Egal aus welchen<br />
Gründen – weil sie in einem fremden Land sind<br />
oder ausbildungsmäßig in ihrer Heimat nicht<br />
dazu angehalten wurden. Für diese Menschen<br />
ist das eine Katastrophe und es ist egal, ob das<br />
vor 200 Jahren war oder heute ist – es ist ein irrsinniges<br />
Problem. Die Geschichte von »My Fair<br />
Lady« bleibt im Grunde so, wie sie ist, aber wir<br />
nehmen Anpassungen vor. So kann etwa Eliza<br />
heute keine Veilchen mehr verkaufen, weil es sie<br />
nicht mehr massenhaft gibt. Also verkauft sie<br />
Rosen. Ebenso ist der Vater kein Mistkutscher<br />
mehr, sondern ein Taxifahrer. Herbert Steinböck<br />
(Darsteller, Anm.d.Red.) war begeistert davon.<br />
Die Figuren sind moderner, aber die Aristokratie<br />
ist noch genauso wie vor 100 Jahren, vom Outfit<br />
und der Bewegung. Eliza ist bei uns nicht verdreckt<br />
und schwarz. So wird sie oft gezeigt und<br />
ich habe das immer als furchtbar empfunden.<br />
Ein Mensch, der keine Arbeit hat, muss nicht<br />
automatisch ungepflegt sein. Fällt einem nichts<br />
anderes mehr ein als ein schwarzer Fleck auf der<br />
Nase, ist es traurig. Eliza wird gepflegt sein, nur<br />
etwas lustiger angezogen und mit einer anderen<br />
Haarfarbe als Perücke. Freddy wird ein moderner<br />
Bonvivant des heutigen Lebens sein, ein<br />
Student, aber am Charakter wird nichts verändert.<br />
Es gibt alles, was es damals eben auch gab:<br />
Polizisten, Menschen mit anderer Haar- und<br />
Hautfarbe, Vertreter aus Indien, China, Afrika,<br />
Adlige... Die Umbauten sind durch die Größe<br />
der Bühne natürlich anders als im Theater,<br />
hier gibt es musikalische Verlängerungen von<br />
Szenen. Die Ballszene, die in manchen Inszenierungen<br />
nur erzählt wird, wird bei uns übrigens<br />
gezeigt. »My Fair Lady« war mir außerdem oft<br />
zu dunkel und düster gestaltet, auch was das<br />
Bühnenbild betrifft. In Higgins’ Arbeitszimmer<br />
gab es 2.000 staubige Bücher, das erdrückt den<br />
Zuschauer. Er wird als düsterer Wissenschaftler<br />
dargestellt, aber das ist er nicht. Er ist unfassbar<br />
schnell und er lebt gern. Das kommt natürlich<br />
auch auf den Schauspieler an – manche interpretieren<br />
ihn als eleganten Lebemann, andere als<br />
schrulligen Typen.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie sieht es sprachlich aus, welchen Dialekt<br />
wird Eliza Doolittle haben? In der Badener<br />
Inszenierung etwa entschied man sich für das<br />
Steirische...<br />
AH: Die Geschichte spielt bei uns in London,<br />
sie nach Wien zu setzen finde ich nicht sinnvoll,<br />
denn die Handlungsstränge mit der royalen<br />
Familie und Ascot müssen weiterhin so stimmen.<br />
Die Sprache muss aber natürlich unsere<br />
Muttersprache sein. Es ist also das tiefe Wienerisch<br />
bei Eliza und das gehobene österreichische<br />
Hochdeutsch bei Higgins.<br />
<strong>blimu</strong>: Gibt es auch Änderungen in Bezug auf<br />
die ganzen Diversitätsdebatten?<br />
AH: Es wird sehr divers sein. Oberst Pickering<br />
wird von einem PoC verkörpert. Ich finde es toll,<br />
dass ein Dunkelhäutiger einem Weißen erklärt,<br />
wie man Frauen zu behandeln hat. Auch der<br />
Regisseur Simon Eichenberger war begeistert<br />
von dieser Idee. Der »wahre Gentleman« ist bei<br />
uns also mit einem PoC besetzt. Zudem wollte<br />
ich nicht, dass die Mutter von Henry Higgins<br />
derart verhaucht als Lady gezeigt wird. Unsere<br />
Mutter ist direkter, sagt ihrem Sohn: »Henry,<br />
wie kannst du nur?« Das ist aber keine Veränderung<br />
der Figur.<br />
<strong>blimu</strong>: Die Dynamik zwischen Eliza und Henry<br />
bleibt gleich?<br />
AH: Die Dialoge müssen natürlich etwas verändert<br />
werden, weil uralte Worte darin vorkommen.<br />
Es gibt Begriffe, die der junge Zuschauer<br />
nicht mehr kennt. Aber am Inhalt wird nichts<br />
geändert. Es wird ein offenes Ende geben, wie<br />
bei so vielen Inszenierungen. Eliza wird zeigen,<br />
dass sie sich als Frau durchsetzt. Als ich Anna<br />
Rosa Döller im Vorjahr gesehen habe, wusste<br />
ich: Das ist meine Eliza! In der Geschichte hatten<br />
wir immer tolle (Kammer-)Schauspieler, die<br />
meist 55 oder 60 Jahre alt waren und Higgins<br />
verkörperten. Die Eliza-Darstellerinnen waren<br />
meist um die 40. So stimmt die Geschichte<br />
nicht, denn eine 40-jährige Frau verhält sich<br />
anders, ist nicht so leicht verletzt, hätte sich<br />
nicht alles gefallen lassen. Ich habe immer<br />
gelitten, wenn ich das gesehen habe. Anna Rosa<br />
Döller hat eine Verletzlichkeit, wird Higgins<br />
aber auch ordentlich Zunder geben. Sie provoziert<br />
ihn wirklich, führt ihn vor, das arbeiten<br />
wir heraus. Wenn ein Stück mit Respekt vor<br />
der Geschichte, der Handlung und der Aussage<br />
modernisiert wird, ist das völlig in Ordnung.<br />
Ich glaube, die Zuschauer haben nach einer halben<br />
Stunde völlig vergessen, dass sie im London<br />
der 2<strong>02</strong>0er sitzen.<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 47
Einblick<br />
<strong>blimu</strong>: Auch das Bühnenbild spiegelt das London<br />
im Jahr 2<strong>02</strong>0 wider, nehme ich an?<br />
AH: Wir zeigen ein pulsierendes London, stellen<br />
einen 22 Meter hohen Big Ben auf, hinter dem<br />
sich der Mond zeigen wird. Außerdem werden<br />
wir erstmals eine Art Vorhang auf der Bühne<br />
haben, eine zwölf Meter hohe U-Bahn, vor der<br />
die erste Szene spielt. Der Vorhang wird das<br />
Bühnenbild verstecken, den Big Ben sieht man<br />
am Anfang erst ab der 30. Reihe.<br />
<strong>blimu</strong>: Welche Veränderungen sind auf musikalischer<br />
Ebene geplant? Wird es Kürzungen<br />
geben, um sich dem veränderten Sehverhalten<br />
der Zuschauer anzupassen?<br />
AH: Viele Stellen im Stück sind doppelt und<br />
dreifach wiederholt. Da gibt es Möglichkeiten,<br />
dem Verlag Kürzungsvorschläge zu machen und<br />
dieser trifft die Entscheidung. Das wünschen<br />
wir uns für dieses Stück.<br />
<strong>blimu</strong>: Angenommen, man inszeniert das Stück<br />
genauso wie früher, würde es überhaupt noch<br />
funktionieren?<br />
AH: Nein, weil heute jedes junge Mädchen<br />
sagen würde: »Sind die wahnsinnig, die lässt sich<br />
das gefallen? Die schmeißt ihm nicht sofort die<br />
Pantoffeln an den Schädel?« Die Autoren haben<br />
das so aufgezeigt – was nicht heißt, dass wir<br />
nicht mit einem Augenzwinkern zeigen können,<br />
dass sie zu verstehen gibt: »Professor Higgins,<br />
so nicht!« Das kann man herausarbeiten, ohne<br />
die Geschichte zu verändern. Am Ende planen<br />
wir noch eine Überraschung. Sagen wir so:<br />
Die Frauen werden beglückt hinausgehen. Wir<br />
sehen, dass sie im Endeffekt die Siegerin der<br />
Geschichte ist. Ich habe immer gelitten, wenn<br />
Eliza sich am Ende hinkniet und Higgins quasi<br />
in die Pantoffeln hilft. Das kann man auch<br />
umspielen und anders machen.<br />
<strong>blimu</strong>: Sprechen wir noch kurz über Ihren Higgins,<br />
Mark Seibert. Warum fiel die Entscheidung auf<br />
ihn?<br />
AH: Ich bin ein treuer Mensch. Ich war 15 Jahre<br />
Intendant der Sommerfestspiele Stockerau, zu<br />
dieser Zeit habe ich Mark Seibert kennengelernt.<br />
Er war der jugendliche Hauptdarsteller<br />
von »Time Out!«. In »A Chorus Line« habe<br />
ich die damals noch nicht so bekannten Ines<br />
Hengl-Pirker und Bettina Mönch eingesetzt.<br />
Jetzt, viele Jahre später, bin ich Chef in Mörbisch<br />
und hole sie alle wieder. Von Mark Seibert<br />
war ich zu 1.000 Prozent überzeugt, als ich<br />
ihn in »Rebecca« am Wiener Raimund Theater<br />
gesehen habe. Er hat sich stark entwickelt, der<br />
Traum aller Frauen wurde plötzlich zum Mörder.<br />
Higgins muss jemand sein, der nicht nur<br />
bissig ist, sondern er muss auch glaubwürdig<br />
zeigen, warum er das tut. Es ist eine wahnsinnig<br />
schwierige Schauspielarbeit, deshalb hieß es bei<br />
»My Fair Lady« immer: »Hauptsache, die Männer<br />
können schauspielern.« Aber wie schön ist<br />
es, dass Mark auch noch eine Traumstimme hat.<br />
Als ich ihm den Higgins vorgeschlagen habe,<br />
hat er geantwortet: »Egal wo, wie, wann, ich<br />
bin dabei!« Wir haben uns umarmt, geweint vor<br />
Freude und waren glücklich. Er wollte immer<br />
in Mörbisch auftreten und immer diese Rolle<br />
verkörpern.<br />
<strong>blimu</strong>: »My Fair Lady« wurde bereits vielfach in<br />
unterschiedlichen Inszenierungen aufgeführt.<br />
Haben Sie auch den berühmten Film gesehen?<br />
AH: Natürlich, das war ein Jahrtausendereignis.<br />
Und man hat sich etwas getraut, denn im Film<br />
hat Eliza den Professor schon sehr abgestraft.<br />
Und Audrey Hepburn kann natürlich alles spielen.<br />
Anna Rosa Döller wurde schon gefragt, ob<br />
Hepburn ihr Vorbild sei, und sie hat geantwortet:<br />
»Wenn das mein Vorbild wäre, bräuchte ich<br />
gar nicht hinzugehen.« Audrey Hepburn gibt es<br />
nur einmal – aber Anna auch.<br />
<strong>blimu</strong>: Wie sieht es eigentlich mit Ihnen aus,<br />
wird man Sie auch wieder auf der Bühne sehen?<br />
Trotz Ihrer fordernden Arbeit als Intendant in<br />
Mörbisch?<br />
AH: Was mir ganz wichtig ist, da es oft vergessen<br />
wird: Ich habe seit drei Jahren auch noch die<br />
Intendanz auf Schloss Tabor im Südburgenland.<br />
Zuvor wurde dort Oper gespielt, ich habe es<br />
zum Operettenhaus gemacht. Hier betreue ich<br />
100 Mitarbeiter, in Mörbisch sind es knapp<br />
250. Das zu führen ist so schwer und kostet<br />
so viel Energie, dass ich eine große Rolle im<br />
Moment gar nicht spielen könnte. Man ist als<br />
Intendant Vater und Mutter des Teams, man<br />
ist die erste Anlaufstelle. Ich nehme diesen Job<br />
ernst und hätte die Kraft gerade nicht. Bei »The<br />
King and I« war meine Mama so verletzt, dass<br />
ich nicht mitgespielt habe. Schließlich hatte ich<br />
den König schon 700 Mal gespielt. Aber als ich<br />
gesehen habe, wie mein Baby zur Welt kommt,<br />
war ich gerührt und dann war die Freude da.<br />
So wollte ich es immer haben. Vom Alter her<br />
könnte ich jetzt sehr gut die Zaza in »La Cage<br />
aux Folles« spielen. Damals war ich einfach zu<br />
jung, das wirkte lächerlich. Auch den Higgins<br />
habe ich nie gespielt, bin drei Mal knapp an der<br />
Rolle des Freddy »vorbeigeschrammt«. Ich bin<br />
überzeugt, dass die Intendanz nicht der letzte<br />
Job meines Lebens ist. Es gab bereits ein paar<br />
Schauspielanfragen, aber es muss einfach passen.<br />
Alfons Haider vor der Seebühne Mörbisch<br />
Foto: Jerzy Bin<br />
Das Interview führte Yvonne Mresch<br />
48<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Düsterer Fast-Krimi<br />
»Die Königinnen« feiern Uraufführung im Musiktheater Linz<br />
Es ist ein eingespieltes Team, welches da die neueste<br />
Uraufführung auf die Bühne des Musiktheaters<br />
Linz gebracht hat. Henry Mason (Libretto) und Thomas<br />
Zaufke (Musik) haben, neben einigen anderen<br />
gemeinsamen Werken, bereits mit »Der Hase mit den<br />
Bernsteinaugen« in Linz für große Aufmerksamkeit<br />
gesorgt und mit eben diesem Stück 2019 beim Deutschen<br />
Musical Theater Preis in mehreren Kategorien<br />
gewonnen.<br />
Die Geschichte, die sie hier auf die Bühne bringen,<br />
ist zum einen tatsächlich im wahrsten Sinne des<br />
Wortes Geschichte, zum anderen aber vor allem auch<br />
verwoben, kompliziert und vielschichtig. Der Kampf<br />
zwischen Maria Stuart und Elisabeth I. ist nicht nur<br />
ein Kampf zwischen zwei Frauen, die beide aus dynastischen<br />
Gründen Anspruch auf den Thron erhoben, es<br />
ist auch ein Kampf zwischen Protestanten und Katholiken,<br />
es ist ein Kampf der Geschlechter, der die beiden<br />
Königinnen noch zusätzlich unter Druck setzt, und<br />
es ist ein steter Kampf mit sich selbst auf dem Weg,<br />
diejenige zu sein, die am meisten Stärke zeigt.<br />
Das Stück beginnt mit dem Moment, in dem Elisabeth<br />
I. das Todesurteil von Maria Stuart unterschreibt.<br />
Innerhalb von Sekunden wird dann ein sehr kluger<br />
Schachzug des Autorenteams etabliert: Obwohl sich<br />
die beiden Damen im wahren Leben nie begegnet sind,<br />
führen sie auf der Bühne Dialoge miteinander. Das<br />
lässt eine Tiefe zu, die allein mit der Darstellung der<br />
Geschichte nicht hätte erreicht werden können, denn<br />
hier kommen fast tagebuchartige Gedanken zum Tragen,<br />
die zum Teil in spitzfindigen Auseinandersetzungen<br />
gipfeln. Nachdem das Todesurteil unterschrieben<br />
ist, findet ein Zeitsprung von gut 40 Jahren zurück<br />
statt – Maria, deren Vater James V., König von<br />
Schottland, plötzlich stirbt, wird noch als Baby zur<br />
Thronerbin. Ihre Mutter übernimmt die Regentschaft<br />
stellvertretend an ihrer Stelle und stellt erfolgreich die<br />
Verbindung mit dem französischen Königshaus her.<br />
Als Teenager heiraten Maria und der französische Dauphin<br />
François, was Maria dann, recht plötzlich sogar<br />
durch den Tod des französischen Königs Heinrichs<br />
II., nicht nur zur Königin von Schottland, sondern<br />
auch zu der von Frankreich macht. Der Weg ist allerdings<br />
nicht einfach – Elisabeth I. ist inzwischen an die<br />
Macht in England gekommen, in Schottland beginnt<br />
die protestantische Revolution und Ziel von Elisabeths<br />
Parlament ist es, dass Maria auf ihren Anspruch auf die<br />
englische Krone verzichtet. Dann stirbt in Frankreich<br />
ihr Mann und somit verliert sie dort die Krone. Da sie<br />
das Gefühl, Königin zu sein, nicht aufgeben möchte,<br />
reist sie im Anschluss nach Schottland und ist dort trotz<br />
allen Widerstands nicht bereit, auf die Krone zu verzichten,<br />
geschweige denn, ihren Anspruch auf die englische<br />
Krone aufzugeben.<br />
Maria heiratet nach einigem Hin und Her Lord<br />
Darnley. Die Ehe erweist sich durch seine Machtbesessenheit<br />
wie durch seine Untreue allerdings als sehr<br />
schwierig. Immerhin bekommt Maria aber durch ihn<br />
ihren Sohn James, welcher in Elisabeth, die Kinder<br />
und Ehe verweigert, fast mütterliche Gefühle aufkommen<br />
lässt. Sie wird Patentante von James und Maria<br />
lässt sich auf den Deal ein, dass, wenn Elisabeth James<br />
als Thronfolger benennt, sie selbst auf die englische<br />
Krone verzichten wird. Darnley indes kommt bei<br />
Abb. oben:<br />
Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />
Alexandrova) und Elisabeth I.<br />
(Daniela Dett) trafen sich im wahren<br />
Leben nie, waren aber dennoch<br />
immer eng verbunden<br />
Abb. unten:<br />
Die noch junge Elisabeth I. (Daniela<br />
Dett) besingt ihren Patensohn James<br />
Fotos (2): Barbara Pálffy<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
49
Musicals in Deutschland<br />
Die Königinnen<br />
Thomas Zaufke / Henry Mason<br />
Landestheater Linz<br />
Musiktheater am Volksgarten –<br />
Großer Saal<br />
Uraufführung: 10. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie & Choreographie ........................<br />
............................ Simon Eichenberger<br />
Musikalische Leitung .... Tom Bitterlich<br />
Leitung Extrachor .................................<br />
.................... David Alexander Barnard<br />
Orchestrierung ........... Markus Syperek<br />
Bühnenbild ................. Stephan Prattes<br />
Kostüme ........................ Conny Lüders<br />
Lichtdesign ............ Michael Grundner<br />
Maria Stuart .........................................<br />
............ Alexandra-Yoana Alexandrova<br />
Elisabeth I. ...................... Daniela Dett<br />
William Cecil .......... Christian Fröhlich<br />
Henri II. / Earl of Moray .... Gernot Romic<br />
Erzbischof / James V. /<br />
Papst Pius V. ............... Max Niemeyer<br />
Marie de Guise /<br />
Kat Astley...................... Sanne Mieloo<br />
Caterina de Medici .... Ariane Swoboda<br />
François II., Dauphin /<br />
David Rizzio............. Lukas Sandmann<br />
Lord Darnley ................. Lucius Wolter<br />
Heinrich VIII. /<br />
Earl of Bothwell ........... Karsten Kenzel<br />
Kleine Maria /<br />
Kleiner James ................ Rosa Gruber /<br />
Leonie Cydlik<br />
Junger James ........... Raphael Naveau /<br />
Max Nimführ<br />
In weiteren Rollen:<br />
Kevin Arand, Ulrike Figgener,<br />
Maximilian Klakow, Valerie Luksch,<br />
Joel Parnis, Gabriela Ryffel,<br />
Stefan Gregor Schmitz, Lynsey Thurgar,<br />
Enrico Treuse, Matteo Vigna,<br />
Livia Wrede, Sarah Zippusch<br />
Extrachor des Landestheaters Linz<br />
einem Attentat ums Leben. Da Maria rechtzeitig entkommen<br />
konnte, verbreiten sich Vermutungen, dass sie<br />
ihre Hände im Spiel hatte und ihren Mann bewusst<br />
ermorden ließ. Dass ihr Halbbruder James, Earl von<br />
Moray, dieses Attentat veranlasst hat, erfährt nur der<br />
Zuschauer, Maria selbst wird zur Sonderkommission,<br />
die Elisabeth einberufen hat, gar nicht vorgeladen<br />
und kann entsprechend auch nicht Stellung beziehen.<br />
Moray verkauft sich so gut, dass die Sonderkommission<br />
dazu neigt, seiner Version zu folgen. Elisabeth<br />
ist hiervon nicht überzeugt, Maria aber weigert sich<br />
in ihrer Sturheit, doch noch vor der Kommission zu<br />
erscheinen. Dieses führt dazu, dass ihr Sohn weiterhin<br />
von Moray aufgezogen wird, während Maria sechzehn<br />
Jahre Haft absitzen muss. Selbst als ihr Sohn dann<br />
rechtmäßig zum König von Schottland erklärt wird,<br />
erfährt sie keine Begnadigung. Die politische Brisanz<br />
rund um Elisabeth wird immer größer, so dass sie nach<br />
einigem Ringen mit sich selbst auf ihre Gefolgschaft<br />
hört und das Todesurteil von Maria unterschreibt.<br />
Maria nutzt die Hinrichtung für einen letzten großen<br />
Auftritt.<br />
Dies ist nur ein Bruchteil dessen, was tatsächlich auf<br />
der Bühne gezeigt wird. Das Stück ist voll mit Action<br />
und funktioniert über weite Teile tatsächlich wie ein<br />
Krimi, durch den man als Zuschauer geführt wird.<br />
Filmisch sind die Übergänge, es gibt immer etwas zu<br />
sehen und im Zusammenhang mit den Kampf- und<br />
auch Tanzszenen hat Simon Eichenberger hier ein sehr<br />
rundes Gesamtbild geschaffen. Gerade in den großen<br />
Zeitsprüngen liegen ja immer wieder Herausforderungen,<br />
aber er hat den Charakteren auch eine körperliche<br />
Entwicklung mitgegeben. Unterstützt wird das durch<br />
die großartigen Kostüme von Conny Lüders, die sich<br />
durchaus an der Zeit der Geschehnisse orientiert, aber<br />
dank der Verbindung mit Lack, Leder und Sexappeal<br />
für absolute Raffinesse sorgt. Einzig und allein die<br />
Entscheidung, Maria auf einmal mehrere Szenen lang<br />
mit bloßen Beinen auf der Bühne zu lassen, erscheint<br />
merkwürdig. Dies macht im Zuge der Vergewaltigung<br />
Sinn, erschließt sich dann im weiteren Verlauf allerdings<br />
nicht. Und auch wenn das rote Abendkleid zur<br />
Hinrichtung durchaus Aufmerksamkeit bündelt, war<br />
das Lackkleid zuvor doch fast das beeindruckendere.<br />
Aber das ist Kritik auf höchstem Niveau und ist wie<br />
alles im Leben Geschmackssache. Was bleibt, ist wieder<br />
einmal mehr die Tatsache, dass hier den Augen jede<br />
Menge Ausgeklügeltes und gleichermaßen Attraktives<br />
geboten wird.<br />
Das Bühnenbild von Stephan Prattes wird insbesondere<br />
von dem Lichtdesign von Michael Grundner<br />
getragen. Im Großen und Ganzen werden hier dunkel<br />
gehaltene Blöcke auf der Bühne so in Szene gesetzt,<br />
dass sie immer wieder Neues ergeben – sei es das<br />
Gefängnis, eine Burg oder – ein ganz wunderbarer<br />
Effekt – ein Schiff, welches Maria von Frankreich<br />
nach Schottland bringt. So beeindruckend es immer<br />
wieder ist, mit welch vermeintlich einfachen Mitteln<br />
hier neue Welten entstehen, so bleibt es über die Länge<br />
des Stückes doch sehr düster, und die wenigen farbigen<br />
Momente, die vor allem Maria noch zu Beginn<br />
des Stückes gehören, erweisen sich als echte Akzente,<br />
die nach über drei Stunden Länge durchaus häufiger<br />
hätten gesetzt werden können.<br />
Das Ensemble wird hier natürlich von den beiden<br />
Königinnen angeführt: Daniela Dett als Elisabeth I.<br />
besticht durch schauspielerische Feinheit, sie legt sehr<br />
viel in ihre Haltung und lässt ihre Gesichtszüge Bände<br />
sprechen. Gesanglich überzeugt sie vor allem bei dem<br />
Lied anlässlich der Geburt von James. Als Maria<br />
Stuart schmettert Alexandra-Yoana Alexandrova ihre<br />
Stimmungen gesanglich hervorragend umgesetzt auf<br />
die Bühne. Ihre Maria ist in der Naivität gefangen,<br />
ihr grundsätzlich lebensfroher Charakter macht aber<br />
Freude. Bei den Männern sind vor allem zwei hervorzuheben<br />
– Gernot Romic hat als Earl von Moray den<br />
besten Moment des gesamten Stücks, seine Darbietung<br />
der Geschehnisse vor der Sonderkommission macht<br />
unglaublich viel Freude; er kann dort seine ganze<br />
Vielseitigkeit ausspielen. Als Berater von Elisabeth ist<br />
Abb. von links:<br />
1. Walsingham, Elisabeths<br />
Geheimdienstchef (Enrico Treuse),<br />
und William Cecil, ihr Staatssekretär<br />
(Christian Fröhlich), drängen die<br />
Königin (Daniela Dett) zu einer<br />
Entscheidung<br />
2. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />
Alexandrova, Mitte mit Ensemble)<br />
auf dem Weg zurück in ihre Heimat<br />
Fotos (2): Barbara Pálffy<br />
50<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Deutschland<br />
Christian Fröhlich als William Cecil stets an ihrer<br />
Seite, gesanglich hat er mehrere Momente, welche Lust<br />
auf mehr gemacht hätten. Schauspielerisch schafft er<br />
den Bogen vom jungen Mann zum älteren Herrn sehr<br />
gut. Beim starken Ensemble spielen viele Darsteller<br />
mehrere Rollen, um den Zeitsprüngen, Ortswechseln<br />
und den dichten Geschehnissen gerecht werden<br />
zu können. Darum sei an dieser Stelle einmal mehr<br />
erwähnt, wie hoch die Qualität der einzelnen Ensemblemitglieder<br />
ist, etwas, was in Linz jedes Mal gleichermaßen<br />
ins Auge wie ins Ohr sticht.<br />
Eine Uraufführung auf die Bühne zu bringen ist nie<br />
ein einfaches Unterfangen, und während im angloamerikanischen<br />
Raum Tryouts helfen, den Stoff vor dem<br />
großen Abend entsprechend zu verfeinern, zu bearbeiten,<br />
zu verdichten, schlicht zu optimieren, wird diese<br />
Phase hierzulande leider immer wieder ausgelassen.<br />
Dies ist im Fall von so einem Stück tatsächlich schade,<br />
denn hier liegt ganz viel Potenzial. Der eine oder andere<br />
Song würde auch etwas gekürzt noch genauso gut ausdrücken,<br />
was er ausdrücken muss. Viel wichtiger aber<br />
wäre es, noch einmal Arbeit in die Entwicklung der<br />
beiden Damen zu stecken. Die Naivität von Maria ist<br />
im ersten Akt noch durchaus liebenswert, der ständige<br />
Kampf von Elisabeth, als Frau die notwendige Härte<br />
zu zeigen, reicht für ein oder zwei Lieder. Aber insbesondere<br />
im zweiten Akt hat man dann das Gefühl, dass<br />
es kein Vorwärts gibt und die beiden Charaktere keine<br />
weitere Entwicklung erfahren. Und obwohl das Stück<br />
so viel bietet, optisch und inhaltlich, hinterlässt das<br />
leider einen Hauch Wehmut.<br />
Musikalisch holt Zaufke die großen Bögen hervor,<br />
das Stück ist klassisch durchkomponiert und bietet<br />
wunderschöne Momente. Im Formen der großen<br />
Bögen liegt allerdings auch immer wieder die »Gefahr«,<br />
dass das Publikum weit weniger Applaus spenden darf,<br />
als es eigentlich will, was spezifisch bei dem hohen<br />
gesanglichen sowie schauspielerischen Niveau immer<br />
wieder ein Drang gewesen wäre.<br />
Das Premierenpublikum entlud sich dann am Ende<br />
des Abends entsprechend und dankte die viele Arbeit,<br />
die hinter der Entstehung des Stückes steckt, mit sehr<br />
lautem Applaus und langen Standing Ovations. Und<br />
auch wenn hier der eine oder andere Kritikpunkt<br />
erwähnt wird, so sei doch noch einmal sehr bewusst<br />
niedergeschrieben, dass hier alles auf sehr hohem<br />
Niveau geschieht. Ein paar wenige Handgriffe und<br />
der Krimi rund um »Die Königinnen« wäre uneingeschränkt<br />
empfehlenswert – aber auch so sei jedem<br />
geschichtlich-interessierten Musicalliebhaber der Weg<br />
nach Linz ans Herz gelegt.<br />
Sabine Haydn<br />
Abb. unten von oben links:<br />
1. Elisabeth I. (Daniela Dett) und Maria<br />
Stuart (Alexandra-Yoana Alexandrova)<br />
am Tag der Hinrichtung<br />
2. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />
Alexandrova) findet vor ihrem Tod Halt<br />
im Glauben<br />
3. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />
Alexandrova) wird vom Earl of<br />
Bothwell (Karsten Kenzel) zur Ehe<br />
gezwungen<br />
4. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />
Alexandrova, Mitte) heiratet den<br />
Dauphin (Lukas Sandmann, r.)<br />
Fotos (4): Barbara Pálffy<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
51
Musicals in Österreich<br />
Die Umsetzung ist gelungen<br />
»West Side Story« in der Volksoper Wien<br />
Sie stammen aus zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Maria (Jaye<br />
Simmons) und Tony (Anton Zetterholm) kämpfen dennoch um ihre Liebe<br />
Foto: Marco Sommer / Volksoper Wien<br />
West Side Story<br />
Leonard Bernstein / Stephen Sondheim /<br />
Arthur Laurents / Jerome Robbins<br />
Songs in englischer Sprache<br />
Deutsche Dialoge von Marcel Prawy<br />
Volksoper Wien<br />
Premiere: 27. Januar 20<strong>24</strong><br />
Regie ............................. Lotte de Beer<br />
Musikalische Leitung .... Ben Glassberg<br />
Choreographie .................. Bryan Arias<br />
Bühnenbild ................. Christof Hetzer<br />
Kostüme ...................... Jorine van Beek<br />
Licht ..................................... Alex Brok<br />
Sounddesign ............... Martin Lukesch<br />
Maria ..... Jaye Simmons / Juliette Khalil<br />
Tony ........................ Anton Zetterholm<br />
Riff .............. Oliver Liebl / Peter Lesiak<br />
Bernardo ............. Lionel von Lawrence<br />
Chino .................................. James Park<br />
Anita ........................ Myrthes Monteiro<br />
Doc .................................. Axel Herrig<br />
Detective Schrank ........ Nicolaus Hagg<br />
Officer Krupke .................. Tobias Voigt<br />
Anybodys ..................... Melanie Böhm<br />
In weiteren Rollen:<br />
Malick Afocozi, Emilio Moreno Arias,<br />
Claudia Artner, Kilian Berger,<br />
William Briscoe-Peake,<br />
Anneke Brunekreeft, Elies de Vries,<br />
David Eisinger, Philippa Eisinger,<br />
Oliver Floris, Sophia Gorgi,<br />
Fin Holzwart, Teresa Jentsch,<br />
Wei Ken Liao, Hannah Lehner,<br />
Bernadette Leitner, Roberta Monção,<br />
Kevin O’Dwyer, Maura Oricchio,<br />
Bianca Pizzagalli, Michael Postmann,<br />
Tara Randell, Jaime Lee Rodney,<br />
Rico Salathé, Dario Scaturro,<br />
Ilvy Schultschik, Jessica Scorpio,<br />
Danai Simantiri, Alex Snova,<br />
Liam Solbjerg, Josefine Tyler,<br />
Georg Wacks, Emilija Williams,<br />
Eva Zamostny<br />
Verfeindete Gangs in den Straßen New Yorks<br />
und eine Liebesgeschichte, deren tragisches<br />
Ende sich früh abzeichnet: Mit dem Musical-Klassiker<br />
»West Side Story« schuf Leonard Bernstein<br />
nach dem Buch von Arthur Laurents ein modernes<br />
»Romeo und Julia«, welches nun in der Wiener<br />
Volksoper zu erleben ist.<br />
Es scheint das Jahr des begnadeten amerikanischen<br />
Komponisten zu sein: Mit »Maestro« geht<br />
ein Film über Leonard Bernstein gleich mit sieben<br />
Nominierungen ins Oscar-Rennen, seine Operette<br />
»Candide« ist in einer Inszenierung von Lydia<br />
Steier im MusikTheater an der Wien zu sehen und<br />
nun zog auch sein wohl bekanntestes Werk, 67<br />
Jahre nach der Uraufführung 1957 am Broadway,<br />
in die österreichische Hauptstadt ein.<br />
Schauplatz des Geschehens ist die Upper West<br />
Side im New York der 1950er Jahre. Ein Ort, an<br />
dem Rassismus und Bandenkriminalität unter<br />
Jugendlichen den Alltag bestimmen. Der Konflikt<br />
zwischen den amerikanischen Jets und den<br />
puerto-ricanischen Sharks um eine Straße droht<br />
zu eskalieren, die Polizei muss laufend eingreifen.<br />
Inmitten aller Dramatik verlieben sich Maria<br />
(Jaye Simmons), Schwester des Sharks-Anführers<br />
Bernardo (Lionel von Lawrence), und Jets-<br />
Gründungsmitglied Tony (Anton Zetterholm)<br />
unsterblich ineinander – und das Drama nimmt<br />
seinen Lauf. In einem Kampf tötet Marias Bruder<br />
Bernardo Jets-Anführer Riff (Oliver Liebl). Tony<br />
gerät dazwischen und tötet schließlich den Bruder<br />
seiner Geliebten. Maria kann ihm verzeihen, doch<br />
es ist zu spät: Noch während er in ihre Arme läuft,<br />
trifft Tony ein Schuss von hinten. Er stammt von<br />
Sharks-Mitglied Chino (James Park) und führt zu<br />
Tonys tragischem Tod.<br />
Das Leading Team der Inszenierung an der<br />
Volksoper kann sich sehen lassen: Die Direktorin<br />
selbst, Lotte de Beer, führt Regie und bringt eine<br />
entstaubte Fassung auf die Bühne, die dennoch<br />
nichts an Flair von damals einbüßt und nahe am<br />
Original ist. Sie legt den Fokus auf die Tragik der<br />
Geschichte, auf das Wesentliche, und tut dies auf<br />
schonungslose Art und Weise. Das Bühnenbild<br />
(Christof Hetzer) ist dementsprechend reduziert,<br />
das Zentrum bildet eine schwarze Trennwand, welche<br />
die Drehbühne in zwei Flächen teilt und sich je<br />
nach Bedarf in Marias Zimmer, Docs Laden oder<br />
die Straßen der West Side verwandelt. Die Stimmung<br />
ist düster, der Geschichte nach trostlos, mit<br />
Lichtblicken, die lediglich in den Szenen des Liebespaares<br />
zu finden sind. Auch die komödiantisch<br />
angelegte Nummer ›Officer Krupke‹ bekommt in<br />
dieser Inszenierung einen dramatischen Touch,<br />
die Jets tanzen blutverschmiert und üben sich<br />
in Zynismus. Genau das tut der Szene aber auch<br />
gut – es handelt sich nun mal um einen tragischen<br />
Moment. Die grau-schwarze Melancholie wird ein<br />
einziges Mal zur Gänze unterbrochen: Beim Song<br />
›Somewhere‹, in dem Tony und Maria von einem<br />
besseren Leben träumen, entschied sich de Beer<br />
für die farbenfrohe Darstellung eines klassischamerikanischen<br />
Einfamilienhauses – der »American<br />
Dream«, der schließlich in den amerikanischen<br />
Alptraum und damit wieder die Realität mündet.<br />
Gesprochen wird übrigens deutsch, in einer Übersetzung<br />
von Marcel Prawy, die Songs wurden im<br />
englischen Original (Texte von niemand geringerem<br />
als Stephen Sondheim) mit deutschen Übertiteln<br />
belassen. Eine gute Entscheidung, die Texte<br />
harmonieren optimal mit den Melodien.<br />
Die musikalische Leitung übernimmt Ben<br />
52<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
Glassberg, neuer Musikdirektor des Hauses, der<br />
Bernsteins beinahe sinfonische und teils auch<br />
opernhafte Melodien, die sich mit Jazz und lateinamerikanischen<br />
Rhythmen vermischen, eindrucksvoll<br />
umsetzt und sie durch Mark und Bein gehen<br />
lässt. Für die Choreographien wurde Bryan Arias<br />
engagiert, der in Puerto Rico geboren wurde und<br />
in New York aufwuchs und damit lateinamerikanische<br />
Stile mit zeitgenössischem Tanz zu verbinden<br />
weiß. Mambo trifft auf Swing, Jazz auf lateinamerikanische<br />
Melodien. Die Umsetzung ist gelungen,<br />
die Choreographien sind energiegeladen, dynamisch<br />
und entwickeln sich, charakteristisch für die<br />
»West Side Story«, organisch aus einfachen Bewegungen<br />
heraus. Lediglich bei Hits wie ›America‹<br />
fehlt stellenweise der von anderen Inszenierungen<br />
gewohnte »Drive« in der Umsetzung. Bei den Kostümen<br />
(Jorine van Beek, klassisch: Haartolle und<br />
Petticoat) bleibt man dem Original treu.<br />
Überzeugen kann an der Volksoper auch die<br />
durchweg starke Cast: Jaye Simmons, die Mitglied<br />
des Opernstudios ist und Rollen wie die Papagena<br />
in Mozarts »Die Zauberflöte« zu ihrem Lebenslauf<br />
zählen darf, ist eine vokal fantastische Maria, die<br />
mit ihrer opernhaften Stimme für Gänsehaut sorgt.<br />
Im Gegensatz zu vielen vorangegangenen Darbietungen<br />
legt sie die Rolle stärker und emanzipierter<br />
an – sie weiß, was sie will, und zeigt das auch. Eine<br />
starke Performance, die lediglich im Setting von<br />
›I Feel Pretty‹ nicht funktioniert. Anton Zetterholm,<br />
der ab März die Titelrolle in »Das Phantom<br />
der Oper« am Wiener Raimund Theater verkörpern<br />
wird, schlüpft hier in einen gänzlich anderen<br />
Charakter. Neben einer vor allem in den Höhen<br />
tadellosen Stimme kann Zetterholm insbesondere<br />
im Schauspiel überzeugen. Er macht die Rolle zu<br />
der Seinen, gibt Tony Stärke und Neugier, lässt ihn<br />
eine Bandbreite an Gefühlen zeigen und begeistert<br />
nicht zuletzt im finalen Showdown in seiner Verzweiflung,<br />
als er glaubt, Maria verloren zu haben.<br />
Lionel von Lawrence zeigt eine solide Leistung<br />
als Sharks-Anführer Bernardo, bleibt jedoch trotz<br />
einer eigentlich präsenten Rolle weitgehend im<br />
Hintergrund. Myrthes Monteiro ist eine Anita, wie<br />
sie im Buche steht, Oliver Liebl ebenso stark als<br />
Jets-Anführer Riff. Hervorzuheben ist abermals die<br />
hervorstechende Leistung des gesamten Ensembles,<br />
schließlich lebt die »West Side Story« gerade in den<br />
dynamischen Szenen genau davon.<br />
Durch die Kombination einer bis heute relevanten<br />
Gesellschaftskritik, interpretiert von starken<br />
Schauspielern gepaart mit wunderschönen Orchesterklängen,<br />
zieht das Stück in der Inszenierung an<br />
der Wiener Volksoper auch lange Zeit nach seiner<br />
Uraufführung das Publikum in seinen Bann. Die<br />
Resonanz ist gut, minutenlanger Applaus und Standing<br />
Ovations bei der Premiere sprechen Bände.<br />
Yvonne Mresch<br />
Abb. unten von oben links:<br />
1. Immer wieder kommt es zu dramatischen<br />
Auseinandersetzungen<br />
zwischen Jets und Sharks (Ensemble)<br />
– hier treten die Anführer Riff<br />
(Oliver Liebl, Mitte) und Bernardo<br />
(Lionel von Lawrence, 2.v.r.)<br />
gegeneinander an<br />
2. ›I Feel Pretty‹ – Maria (Jaye<br />
Simmons) fantasiert vom großen<br />
Auftritt in ihrem Traumkleid<br />
3. Es war Liebe auf den ersten Blick:<br />
Tony (Anton Zetterholm) träumt von<br />
Maria<br />
4. Im Kultsong ›America‹ (Myrthes<br />
Monteiro als Anita, Mitte)<br />
überzeugen die Darsteller mit<br />
einer abwechslungsreichen und<br />
dynamischen Choreographie<br />
Fotos (4): Marco Sommer / Volksoper Wien<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
53
Musicals in Österreich<br />
Vom ESC zur großen Bühne<br />
»Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« am Wiener Rabenhof uraufgeführt<br />
›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹: Luziwuzi (Tom Neuwirth, r.) und sein Liebhaber (Sebastian Wendelin, l.)<br />
Foto: Rita Newman / Rabenhof Theater<br />
54<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
Das Wiener Rabenhof Theater im 3. Bezirk sorgt<br />
immer wieder für Überraschungen. Mit der neuesten<br />
Inszenierung des Duos Ruth Brauer-Kvam (Regie,<br />
sowie Co-Autorin gemeinsam mit Fabian Pfleger) und<br />
Kyrre Kvam (Musik) konnte kein geringerer als Tom<br />
Neuwirth aka Conchita Wurst sein Theaterdebüt feiern.<br />
Neben Neuwirth stehen die Schauspieler Florian<br />
Carove, Gerhard Kasal und Sebastian Wendelin, die<br />
in verschiedenen Rollen zu sehen sind, auf der Bühne.<br />
Im Stück »Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« wird<br />
die Geschichte von Erzherzog Ludwig Viktor, dem<br />
jüngeren Bruder von Kaiser Franz Josef, erzählt, der<br />
auch unter dem Spitznamen Luziwuzi bekannt war.<br />
Das exzentrische Leben des jüngsten Erzherzogs wird<br />
hier als schräge Albtraum-Revue erzählt. Zu Beginn<br />
sieht man im Prolog, dass sich Luziwuzi in einer Irrenanstalt<br />
befindet und von einem Arzt (Florian Carove)<br />
behandelt wird. In der ersten Szene sieht man Luziwuzi<br />
noch als Kind mit seiner Mutter Erzherzogin Sophie<br />
(besonders humorvoll: Florian Carove). Einige Jahre<br />
später – Luziwuzi und seine Brüder sind erwachsen –<br />
beginnt er, sich für Männer zu interessieren, die ihn<br />
heimlich besuchen. Das Stück endet mit einem Epilog,<br />
einer Auktion, bei der sein Nachlass versteigert wird.<br />
Tom Neuwirth zeigt sich in seinem Theaterdebüt<br />
feinfühlig, mit starker Bühnenpräsenz und kann zudem<br />
gesanglich punkten. Auch seine Kollegen überzeugen<br />
in ihren verschiedensten Rollen, allen voran Florian<br />
Carove, der nicht nur als Erzherzogin Sophie, sondern<br />
auch als Kaiserin Elisabeth sein komödiantisches Talent<br />
unter Beweis stellt. Außerdem ist die Chemie zwischen<br />
Carove und Neuwirth sehr stark, auch wenn vieles hier<br />
eher humorvoll inszeniert wird.<br />
Unter der musikalischen Leitung von Kyrre Kvam<br />
wird das Stück mit melancholisch-elektrischen Klängen<br />
untermalt, die eine ganz besondere Atmosphäre<br />
schaffen. Außerdem sind im Stück einige bekannte<br />
Musiknummern zu finden, darunter die Vertonung<br />
eines Songs mit einem Text von Heinrich Heine, der<br />
von Tom Neuwirth gefühlsvoll dargeboten wird, oder<br />
aber ›Dieser Anstand, so manierlich‹ aus der Operette<br />
»Die Fledermaus«, bei der Neuwirth als Rosalinde und<br />
Sebastian Wendelin als Eisenstein zu sehen sind und<br />
diesen bekannten Titel als Disconummer humorvoll<br />
interpretieren. Besonders gelungen ist außerdem Luziwuzis<br />
Darbietung von ›Dies Bildnis ist bezaubernd<br />
schön‹ aus »Die Zauberflöte«. Die berührende Arie wird<br />
zwar nicht in voller Länge gesungen, aber dennoch brilliert<br />
Tom Neuwirth hier.<br />
Die Choreographien von Lukas Strasser passen sich<br />
generell gut an die Musik an, aber besonders gelungen<br />
sind die Solonummern mit Luziwuzi allein, denn diese<br />
verhelfen ihm zu einer starken Bühnenpräsenz.<br />
Das Bühnenbild von Michaela Mandel besteht aus<br />
glitzernden Vorhängen und dekorierten Tapeten. Die<br />
Kostüme von Alfred Mayerhofer sind sehr gemischt,<br />
aber das ist auch gut so. So erinnern die schwarz-weißen<br />
Kostüme der Hofdamen (Wendelin und Kasal) ein<br />
wenig an den Kit Kat Club, aber das weiße Sakko der<br />
Titelfigur wirkt sehr elegant und glamourös.<br />
Ruth Brauer-Kvam und Kyrre Kvam haben die<br />
Geschichte von Luziwuzi mit Melancholie, Glamour<br />
und guten Geschichtskenntnissen erzählt. Die Story<br />
wird vielleicht ein wenig zu schnell erzählt, aber durch<br />
die Musik wirkt alles nicht nur wie eine Alptraum-<br />
Revue, sondern auch wie eine glamouröse Party: Eine<br />
Party als Basis, um die tragische Geschichte einer<br />
exzentrischen, vielleicht vielen eher unbekannten Person<br />
zu erzählen. Schade, dass es nicht mehr Lieder im<br />
Stück gibt, eine große Ballade hätte dem Stück eventuell<br />
gutgetan, aber dennoch ist es ein berührender und<br />
melancholischer Abend.<br />
Ludovico Lucchesi Palli<br />
Luziwuzi –<br />
Ich bin die Kaiserin<br />
Kyrre Kvam / Ruth Brauer-Kvam /<br />
Fabian Pfleger<br />
Rabenhof Theater Wien<br />
Uraufführung: 15. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie ...................... Ruth Brauer-Kvam<br />
Musikalische Leitung ......... Kyrre Kvam<br />
Choreographie .............. Lukas Strasser<br />
Bühnenbild .............. Michaela Mandel<br />
Kostüme .................. Alfred Mayerhofer<br />
Luziwuzi ....................... Tom Neuwirth<br />
In weiteren Rollen:<br />
Florian Carove, Gerhard Kasal,<br />
Sebastian Wendelin<br />
Abb. unten von links:<br />
1. Luziwuzi (Tom Neuwirth)<br />
mit seinen Brüdern Maximilian<br />
(Gerhard Kasal, l.) und Karl Ludwig<br />
(Sebastian Wendelin, r.)<br />
2. Luziwuzi (Tom Neuwirth)<br />
versucht seine Mutter (Florian<br />
Carove, vorne) zu beeindrucken<br />
Fotos (2): Rita Newman / Rabenhof Theater<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
55
Musicals in Österreich<br />
Mit Optimismus gegen den Rest der Welt<br />
»Candide« mit dem Ensemble des Theaters an der Wien<br />
Abb. oben:<br />
Lehrer Dr. Pangloss (Ben McAteer)<br />
vermittelt seinen Schülern (v.l.)<br />
Maximilian (James Newby),<br />
Cunegonde (Nikola Hillebrand),<br />
Candide (Matthew Newlin) und<br />
Paquette (Tatiana Kuryatnikova) in<br />
Westphalia ein heiles Weltbild<br />
Abb. unten:<br />
Der Governor von Buenos Aires<br />
(Mark Milhofer, hinten) hält<br />
Cunegonde (Nikola Hillebrand,<br />
r.) und die Old Lady (Helene<br />
Schneiderman, l., und Ensemble)<br />
zwar bei sich fest, hält aber sein<br />
Versprechen, Cunegonde zu<br />
heiraten, nicht ein<br />
Fotos (2): Werner Kmetitsch<br />
Das Theater an der Wien wird derzeit generalsaniert<br />
und daher ist Leonard Bernsteins »Candide« in<br />
der früheren kaiserlichen Winterreitschule, der heutigen<br />
Halle E des Museumsquartiers, zu sehen. Am<br />
17. Januar 20<strong>24</strong> feierte die Inszenierung der Comic<br />
Operetta Premiere in englischer Sprache.<br />
»Candide« erinnert an das Märchen »Hans im<br />
Glück«, denn der Held Candide (Matthew Newlin) ist<br />
der uneheliche Sohn eines Barons, wird aber nach einer<br />
Affäre mit der adligen Tochter des Hausherrn verstoßen.<br />
Damit beginnt – kurz gesagt – eine ereignisreiche<br />
Weltreise, bei der dem jungen Mann eine Katastrophe<br />
nach der anderen widerfährt. Er erlebt die Doppelmoral<br />
der Kirche sowie die korrupte Politik und muss in<br />
die Abgründe der Menschheit blicken. Und dennoch<br />
verliert er seinen schier unzerstörbaren Optimismus<br />
dabei nicht, denn ein Erdbeben – dessen Zeuge er<br />
wird – kann Häuser und Menschen erschüttern, aber<br />
scheinbar nicht seinen Glauben an das Gute. Er hat<br />
von seinem Professor Dr. Pangloss (Ben McAteer) die<br />
philosophische Lehre vermittelt bekommen, dass er in<br />
der besten aller möglichen Welten lebt.<br />
Auch Komponist Leonard Bernstein hat mit dem<br />
Stück eine wechselvolle Reise durchgemacht. Es<br />
beginnt damit, dass es sich einer klaren Einordnung<br />
verweigert, bewegt sich doch die Adaption der satirischen<br />
Novelle »Candide oder der Optimismus«<br />
von Voltaire zwischen Oper, Operette und Musical.<br />
Anfangs, nach der Uraufführung am 1. Dezember<br />
1956 im New Yorker Martin Beck Theatre, bestand nur<br />
wenig Interesse an den insgesamt 73 Aufführungen.<br />
Mehrmals wurde »Candide« in den folgenden Jahren<br />
umgearbeitet, bevor das Stück sein Glück fand, auch<br />
wenn es sich nicht so häufig auf den Spielplänen der<br />
Theater und Opernhäuser findet, und wenn, dann oft<br />
in voneinander abweichenden Fassungen. Besondere<br />
Bekanntheit hingegen genießen die ›Overture‹, die<br />
inzwischen oft an Konzertabenden als Einzelnummer<br />
gespielt wird, sowie die Koloraturarie ›Glitter and be<br />
Gay‹, die zum Kernrepertoire jeder Koloratursopranistin<br />
gehört.<br />
In Wien wird das Stück auf einer großen Revuetreppe<br />
inszeniert, die von mehreren großen Rahmen<br />
mit Lampen in verschiedene Ebenen unterteilt wird.<br />
Schnell zugezogene Vorhänge ermöglichen rasante<br />
Szenenwechsel, denn Bernstein hat dafür wenig Zeit<br />
gelassen. Zwar reist Candide in der Welt herum (insgesamt<br />
17 Orte werden in den fast drei Stunden Spielzeit<br />
besucht), doch unnötige Feinheiten werden von vornherein<br />
weggelassen. Warum Candide von einem Ort<br />
zum anderen fährt, wie das genau vor sich geht und was<br />
auf dieser Reise passiert – meist unwichtige Details,<br />
denn die nächste Katastrophe ruft. Anfangs ist noch<br />
unklar, warum Candide gerade das Schiff nimmt, um<br />
von Westfalen nach Lissabon zu kommen, später wird<br />
es zum Running-Gag, ist doch das Boot scheinbar sein<br />
liebstes Fortbewegungsmittel. So erlebt er das Erdbeben<br />
und die Inquisition in Lissabon mit, ist mit Syphilis-Kranken<br />
konfrontiert, fährt nach Buenos Aires im<br />
südamerikanischen Argentinien, kommt selbst in das<br />
sagenumwobene, goldene Eldorado, bis er schließlich<br />
nach einem Schiffbruch im verruchten Venedig<br />
ankommt. Für den besonderen Witz sorgt Schauspieler<br />
Vincent Glander, der als Erzähler mit Fliege und im<br />
dreiteiligen Nadelstreifenanzug mit einem deutlichen<br />
Hauch von britischem Establishment für einen Kontrapunkt<br />
zur teils grotesken Handlung sorgt, bei der man<br />
in kaum einer Szene ohne Sexspielzeug oder andere<br />
schlüpfrige Provokationen auskommt. Auch der Rest<br />
der Cast besticht durch hervorragende Qualität, allen<br />
voran Candides Geliebte Cunegonde (Nikola Hillebrand)<br />
hat mit ihrem Sopran einen beeindruckenden<br />
56<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
und glasklaren Klang, den sie zur Gänze präsentieren<br />
und ausspielen kann. Hauptdarsteller Matthew Newlin<br />
gibt sein Debüt am Theater an der Wien. Dabei<br />
singt der Tenor seine Lieder zart und fein, passend zu<br />
seiner naiven, leichtgläubigen Rolle.<br />
Eine wahre Schlacht mit 350 farbenfrohen und<br />
detailverliebten Kostümen und Accessoires bestreitet<br />
die Ausstattungsabteilung (Kostüme: Ursula Kudrna).<br />
Fantasievoll werden neue Welten geschaffen, von der<br />
Spielhölle in Venedig bis zum Bordellzimmer in Paris<br />
(Bühnenbild und Videos: Momme Hinrichs). Zur<br />
vollen Geltung kommt diese Sinnes-Explosion bei<br />
den großen Ensemble-Nummern mit mitreißenden<br />
Tanzeinlagen (Choreographien: Tabatha McFadyen).<br />
Der heimliche Star der Inszenierung ist jedoch das<br />
wunderbare Orchester unter der Leitung der US-amerikanischen<br />
Bernstein-Jüngerin und Dirigentin des ORF<br />
Radio-Symphonieorchesters, Marin Alsop. Sie ist es auch,<br />
die beim Schlussapplaus die Standing Ovations vom Publikum<br />
bekommt.<br />
Irgendwann im Verlauf des Abends führt die Reizüberflutung<br />
und die komplizierte Geschichte mit den<br />
anspruchsvollen englischen Texten leider dazu, dass<br />
man sich nicht mehr uneingeschränkt auf die fantastische,<br />
im krassen Gegensatz zur teilweise ernsten und<br />
dramatischen Handlung recht fröhlich anmutende<br />
Musik, in der Leonard Bernstein zahlreiche Anspielungen<br />
auf andere europäische Musiktheaterstücke<br />
aus dem 19. Jahrhundert versteckt hat, konzentrieren<br />
kann. Bernstein schuf »Candide« parallel zur wesentlich<br />
populäreren »West Side Story«. Mehrmals wurden,<br />
wie der Textdichter Stephen Sondheim berichtet,<br />
einzelne Musikstücke zwischen den zwei Werken hin<br />
und her verschoben. Das Orchester schafft es in großer<br />
Besetzung, die Wucht der Partitur in ein Klangerlebnis<br />
umzusetzen. Das Leading Team um Lydia Steier<br />
(Inszenierung) verzichtet weitgehend auf direkte<br />
Anknüpfungspunkte zur modernen Realität. Nur<br />
Donald Trump treibt, gefesselt von einem Rettungsring<br />
wie in einer Zwangsjacke zur Untätigkeit verdammt<br />
mit anderen Diktatoren nach dem Schiffbruch<br />
gackernd im Meer. Und so kann sich der Zuschauer<br />
jenen Aspekt herausziehen, der für ihn am passendsten<br />
erscheint. Am Ende des Stücks erkennt Candide die<br />
Illusion, die er die ganze Zeit gejagt hat. Seine große<br />
Liebe Cunegonde hat andere Vorlieben, interessiert<br />
sich mehr für Gold, Juwelen und das leichte Leben als<br />
für ihn. Es erinnert ein wenig an eine Coming-of-Age-<br />
Geschichte, wie bei »Mozart!«, bei der der Zuschauer<br />
im Verlauf des Stücks die Transition der Hauptfigur<br />
vom naiven Kind zum Erwachsenen miterlebt. Es bleibt<br />
zum Schluss eine ernüchternde, fast stoische Moral:<br />
Die Welt ist, wie sie ist, weder gut noch böse. Die Aufgabe<br />
der Menschen besteht darin, in ihr zu leben und<br />
ihren Garten zu bestellen, und so macht sich Candide<br />
ans Werk. In ein kleines Häufchen Erde pflanzt ein<br />
kleines Häufchen Elend, an das Candide nach fast drei<br />
Stunden schließlich erinnert, einen Samen. Und wie<br />
die keimende Hoffnung, die scheinbar noch nicht ganz<br />
verloschen ist, wächst daraus eine neue Pflanze, denn<br />
am Ende wird wohl alles gut, und wenn es noch nicht<br />
gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. In Wien siegt<br />
unter begeistertem Applaus also doch der Optimismus.<br />
Mina Piston<br />
Candide<br />
Leonard Bernstein / Richard Wilbur /<br />
John Latouche / Dorothy Parker /<br />
Stephen Sondheim / Lillian Hellman /<br />
Erik Haagensen<br />
In englischer Sprache mit deutschen<br />
Übertiteln<br />
Theater an der Wien Wien<br />
Museumsquartier – Halle E<br />
Premiere: 17. Januar 20<strong>24</strong><br />
Regie ................................ Lydia Steier<br />
Musikalische Leitung ........ Marin Alsop<br />
Choreinstudierung ...............................<br />
................................ Viktor Mitrevski &<br />
Juan Sebastian Acosta<br />
Choreographie ....... Tabatha McFadyen<br />
Bühnenbild & Video .............................<br />
................................. Momme Hinrichs<br />
Kostüme ....................... Ursula Kudrna<br />
Lichtdesign .................... Elana Siberski<br />
Erzähler ..................... Vincent Glander<br />
Candide .................... Matthew Newlin<br />
Cunegonde ............. Nikola Hillebrand<br />
Maximilian / Tsar Ivan .... James Newby<br />
Dr. Pangloss / Martin ...... Ben McAteer<br />
Old Lady ........... Helene Schneiderman<br />
Grand Inquisitor / Captain ....................<br />
...................................... Mark Milhofer<br />
Paquette .............. Tatiana Kuryatnikova<br />
Cacambo ......................... Lina Lottes /<br />
Maya Villarreal Danzinger<br />
In weiteren Rollen:<br />
Arvid Assarsson, Alessio Borsari,<br />
Pablo Delgado, Jörg Espenkot,<br />
Zacharias Galaviz-Guerra,<br />
Benjamin Heil, Karl Kachouh,<br />
Takanobu Kawazoe, Paul Knights,<br />
Thomas Kufta, Benjamin Savoie<br />
Arnold Schoenberg Chor<br />
Abb. oben links:<br />
1. Nach dem Erdbeben wird Dr.<br />
Pangloss (Ben McAteer) gehängt,<br />
Candide (Matthew Newlin) entkommt<br />
knapp der Inquisition<br />
2. In Paris muss sich Cunegonde<br />
(Nikola Hillebrand, r.) im Bordell für<br />
die Old Lady (Helene Schneiderman, l.)<br />
prostituieren<br />
3. Nach dem Schiffbruch treiben<br />
(v.l.) Charles (Paul Knights), Stanislaus<br />
(Benjamin Heil), Hermann (Arvid<br />
Assarsson), Tsar Ivan (James Newby)<br />
und der Sultan (Benjamin Savoie) auf<br />
dem Meer<br />
4. Im verruchten Venedig kommen<br />
lauter Schurken (Ensemble) auf einer<br />
wilden Party zusammen<br />
Fotos (4): Werner Kmetitsch<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
57
Musicals in Österreich<br />
Titanic geht Baden<br />
»Titanic« an der Bühne Baden<br />
Abb. oben:<br />
Die Passagiere der zweiten Klasse<br />
gehen an Bord (Beppo Binder, 2.v.l.;<br />
Verena Barth-Jurca, 3.v.l.; Matthias<br />
Trattner, 2.v.r.; Anetta Szabó, r.;<br />
Ensemble)<br />
Abb. unten:<br />
›Zu allen Zeiten‹ – Schiffskonstrukteur<br />
und Erbauer Thomas Andrews<br />
(Martin Berger) entwirft das größte<br />
Schiff seiner Zeit<br />
Fotos (2): Christian Husar<br />
Der US-Autor Morgan Robertson setzt sich am<br />
Ende des 19. Jahrhunderts an seinen Schreibtisch.<br />
In mühsamer Kleinarbeit entsteht ein neues<br />
Buch. Darin geht es um den Passagierdampfer<br />
Titan, der bei der Atlantiküberquerung einen Eisberg<br />
rammt und sinkt. Doch die Mühe scheint sich<br />
nicht bezahlt zu machen, denn sein neuer Roman<br />
»Futility«, der 1898 erscheint, ist ein Ladenhüter.<br />
Das Buch wäre wohl in Vergessenheit geraten,<br />
wäre 14 Jahre später dem Luxusliner Titanic nicht<br />
ein ähnliches Schicksal beschieden gewesen. Das<br />
damals schon legendäre Schiff, das von der Presse<br />
als unsinkbar gefeiert wurde, sank auf seiner Jungfernfahrt<br />
nach einer Kollision mit einem Eisberg in<br />
die Tiefen des kalten Ozeans. Der Roman wirkte<br />
nun wie eine Prophezeiung.<br />
Sofort berichten Medien ausführlich von der<br />
Katastrophe; Passagiere und Seeleute lassen in<br />
Memoiren die Nacht Revue passieren. Mehrmals<br />
wird der Stoff verfilmt. Jahrelang wurde nach dem<br />
Schiff gesucht und es wurden Pläne geschmiedet,<br />
die Titanic zu heben. Mitte der 1980er Jahre<br />
wurde das Wrack dann endlich in mehr als 3.800<br />
Metern Tiefe gefunden, was neuerlich zu einem<br />
Hype führte. Am bekanntesten ist wohl die Kino-<br />
Adaption aus dem Jahr 1997 von Regisseur James<br />
Cameron. Im New Yorker Lunt-Fontanne Theatre<br />
feierte einige Monate davor das Musical am 23.<br />
April 1997 seine Uraufführung und war danach<br />
unter anderem in den Niederlanden und Belgien<br />
zu sehen. Die deutschsprachige Erstaufführung<br />
fand am 7. Dezember 20<strong>02</strong> im Theater Neue Flora<br />
in Hamburg unter der Regie von Eddy Habbema<br />
statt. Nun hat sich die Bühne Baden in Österreich<br />
des Stücks angenommen – am <strong>24</strong>. Februar war<br />
Premiere.<br />
Die Geschichte des US-Drehbuchautors Peter<br />
Stone zeichnet zwar die historischen Persönlichkeiten,<br />
wie Kapitän Smith (Artur Ortens) und<br />
Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (Martin<br />
Berger) sowie zahlreiche prominente Passagiere,<br />
detailliert nach, verpasst es aber, eine größere, darüberhinausgehende<br />
Handlung einzuflechten, die den<br />
Zuschauer noch mehr fesseln könnte. Gerade für<br />
»Titanic«-Filmkenner kann das Stück daher langatmig<br />
wirken. Detailliert lernt man die einzelnen Passagiere<br />
kennen, ihre Geschichte, was sie an Bord der<br />
Titanic brachte und was sie sich für eine Zukunft<br />
in Amerika erhoffen. Das Musical ist eine Zeitreise<br />
und zeichnet sich durch einen Querschnitt einer<br />
interessanten Gesellschaft aus. Doch dabei bleibt<br />
es manchmal schablonenhaft. So muss Reinwald<br />
Kranner fast mantraartig als ein sehr eindimensionaler<br />
Schiffseigner Bruce Ismay in Baden wieder<br />
und wieder auf die Erhöhung der Geschwindigkeit<br />
drängen. Doch dieses Klischee ist nicht das einzige,<br />
das bedient wird: Regelmäßig wird beispielsweise<br />
betont, dass in Amerika ein neues Leben wartet,<br />
und natürlich warnt der Funker Bride (Sebastian<br />
Brummer) mehr als einmal vor dem Eis.<br />
Fast beliebig, oft gehört und letztendlich austauschbar,<br />
wirken die detailliert vorgetragenen Einzelschicksale<br />
der Passagiere, wie zum Beispiel vom<br />
Heizer Frederick Barrett (Robert David Marx), der<br />
heimlich zum Telegrafen-Raum schleicht, um seiner<br />
Geliebten in der Heimat eine Nachricht zukommen<br />
zu lassen. Marx legt all seine Gefühle in diesen Song<br />
und verleiht der Sehnsucht mit seiner Stimme wunderbar<br />
Nachdruck. Als ein emotionales Gesangs-<br />
Highlight ist das Liebesduett von Kate McGowan<br />
und Jim Farrell, ›Drei Tage‹, zu nennen, gesungen<br />
von Missy May und Stefan Bleiberschnig. Nur<br />
58<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
einige Darsteller der sonst von Regisseur Leonard<br />
Prinsloo mit einem großen Aufgebot an bekannten<br />
Namen besetzten Cast, die trotz der Lichtblicke<br />
keine Glanzleistungen oder Ohrwürmer präsentieren,<br />
und so wundert es auch nicht, dass die vom<br />
Tanz dominierte Nummer ›Beim Klang der Ragtime-Band‹<br />
den meisten Applaus bekommt. Stars<br />
wie Darius Merstein-MacLeod, dessen Leistungen<br />
in Baden in »Jekyll & Hyde« dem Publikum noch<br />
gut in Erinnerung sind, hier zu sehen als Isidor<br />
Straus, und seine Frau Ida, dargestellt von Wiens<br />
erster »Phantom«-Christine Luzia Nistler, dürfen in<br />
»Titanic« nicht ihr ganzes Können ausspielen. Als<br />
Institution an der Bühne Baden agiert René Rumpold<br />
und führt als Henry Etches, Chefsteward der<br />
Ersten Klasse, das Personal an.<br />
Der Text in der deutschen Übersetzung von<br />
Wolfgang Adenberg ist teilweise sperrig. Zu oft<br />
werden in Baden bereits bekannte Dinge Szene für<br />
Szene wiederholt. Zu sehr verliert man sich hier<br />
außerdem in Details, die die Handlung nicht vorantragen,<br />
z.B. was sich alles im Laderaum befindet<br />
und wie die Maße des Schiffes sind.<br />
Immer wieder werden Orts- und Zeitangaben<br />
mit Hilfe einer Projektion auf der Bühne eingeblendet.<br />
Was an Stummfilmzeiten erinnert, ist letztendlich<br />
unnötig, insbesondere wenn der Schiffssteward<br />
von der Empore ein anderes Datum verkündet,<br />
als es unter ihm an die Wand projiziert wird. Die<br />
Empore ist das dominante Bühnenelement (Bühnenbild:<br />
Carlos Santos) und dient meist dem<br />
Kapitän als Brücke. Darunter ist eine Spielfläche,<br />
die mit Tischen in den Speisesaal der Dritten oder<br />
der Ersten Klasse verwandelt wird. Durch herunterfahrbare<br />
Reling-Elemente wechselt die Szenerie<br />
binnen Sekunden zwischen dem Kessel- oder<br />
Maschinenraum zum Sonnendeck. Die Imposanz<br />
versucht man vor allem durch eine große Cast zu<br />
erzeugen. Oft singt diese zusammen mit dem Chor<br />
frontal in Richtung des Publikums.<br />
Die Musik von Maury Yeston ist lieblich-romantisch<br />
und operettenhaft, das Musical ist über weite<br />
Strecken durchkomponiert. Das große Orchester<br />
der Bühne Baden unter der musikalischen Leitung<br />
von Victor Petrov ist klanggewaltig. Besonders ist<br />
hier das dominante Schlagwerk hervorzuheben. In<br />
vielen Melodien findet sich ein schneller Triangel-<br />
Rhythmus, der an die Schiffsmaschinen erinnert.<br />
Insgesamt bleibt das Stück weit hinter seinen<br />
Möglichkeiten zurück – da hilft auch die aufwendige<br />
Kostümschlacht mit der hervorragenden<br />
Arbeit von Natascha Maraval nur bedingt. Die<br />
vielen Umzüge und Perückenwechsel, verursacht<br />
durch die Doppelrollen, gelingen jedoch reibungslos<br />
und helfen dabei, in jeder Szene viel Personal auf<br />
die Bühne zu bringen. So wird die vielschichtige,<br />
historische Gesellschaft an Bord des Schiffes greifbar,<br />
ihr Verhältnis zueinander – die vielen Menschen,<br />
die hier ihr Leben verloren, bekommen ein<br />
eindrückliches Gesicht. Das Ende ist traurig und<br />
wenig überraschend. Nach drei langen Stunden gab<br />
es jubelnden Applaus.<br />
Mina Piston<br />
Titanic<br />
Maury Yeston / Peter Stone<br />
Deutsch von Wolfgang Adenberg<br />
Bühne Baden<br />
Stadttheater<br />
Premiere: <strong>24</strong>. Februar 20<strong>24</strong><br />
Inszenierung &<br />
Choreographie ......... Leonard Prinsloo<br />
Musikalische Leitung ....... Victor Petrov<br />
Bühnenbild .................... Carlos Santos<br />
Kostüme ................. Natascha Maravali<br />
Kapitän E.J. Smith ............. Artur Ortens<br />
Thomas Andrews ........... Martin Berger<br />
Bruce Ismay ............ Reinwald Kranner<br />
Frederick Barrett, Heizer /<br />
Guggenheim ......... Robert David Marx<br />
Harold Bride, Funker /<br />
John Thayer ........... Sebastian Brummer<br />
Jim Farrell / Mr Bell /<br />
Latimer ............... Stefan Bleiberschnig<br />
Kate McGowan /<br />
Charlotte Drake Cordoza .... Missy May<br />
Alice Beane ........... Verena Barth-Jurca<br />
Edgar Beane................... Beppo Binder<br />
Isidor Straus ... Darius Merstein-MacLeod<br />
Ida Straus ........................ Luzia Nistler<br />
Henry Etches ................ René Rumpold<br />
Frederick Fleet, Ausguck /<br />
Stehgeiger ..................... Leon de Graaf<br />
Charles Clarke .......... Matthias Trattner<br />
Caroline Neville ............. Anetta Szabó<br />
William Murdoch /<br />
Kontrabassspieler ..... Florian Resetarits<br />
Charles Lightoller /<br />
J.J. Astor .................... Michael Konicek<br />
Kate Murphy /<br />
Mrs Widener ........ Rebecca Soumagné<br />
Kate Mullins /<br />
Madeleine Astor ........... Beate Korntner<br />
In weiteren Rollen:<br />
Branimir Agovi, Ardeshir Babak,<br />
Lucas Bonnet, Mario Fančovič,<br />
Tsveta Ferlin, Daniel Greabu,<br />
Erin Marks, Emily Nathan,<br />
Russi Nikoff, David Nikov,<br />
Vladimir Polovinchik, Jonas Peter Zeiler<br />
Chor und Ballett der Bühne Baden<br />
Abb. von oben links:<br />
1. Wenn der Servierwagen sich<br />
plötzlich von alleine bewegt, schauen<br />
die Passagiere ganz verwundert<br />
(Ensemble)<br />
2. Schiffsbesitzer Bruce Ismay (Reinwald<br />
Kranner, r.) versucht den Kapitän<br />
E. J. Smith (Artur Ortens, 2.v.r.) davon<br />
zu überzeugen, die Geschwindigkeit<br />
zu erhöhen (v.l.: Michael Konicek,<br />
Florian Resetarits, Branimir Agovi)<br />
3. Im Zwischendeck träumen die<br />
Passagiere der Dritten Klasse von<br />
Amerika (vorne ab Mitte v.l.: Beate<br />
Korntner, Missy May, Rebecca<br />
Soumagné, Ensemble)<br />
4. ›Barretts Lied‹ – Heizer Frederick<br />
Barrett (Robert David Marx, Mitte)<br />
klagt sein Leid, dass er zwar jetzt<br />
auf einem tollen Schiff arbeitet, aber<br />
trotzdem nie das Meer sieht (Jonas<br />
Peter Zeiler, l.; Leon de Graaf, r.)<br />
Fotos (4): Christian Husar<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
59
Musicals in Österreich<br />
Lassen Sie uns Tanzbein und<br />
Lachmuskeln schwingen<br />
Uraufführung von »Twist!« im Wiener Metropol<br />
Abb. oben:<br />
Tanzszene des ganzen Ensembles<br />
von »Twist!«<br />
Foto: Peter Burgstaller<br />
Twist!<br />
Diverse / Peter Hofbauer<br />
Wiener Metropol<br />
Uraufführung: 14. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie ......................... Peter Kratochvil<br />
Musikalische Leitung ... Valentin Oman<br />
Choreographie .......... Elisabeth Blutsch<br />
Ausstattung .................... Ilona Glöckel<br />
Lichtdesign .................... Hans Duchan<br />
Rita ........................... Elisabeth Blutsch<br />
Hugo .................... Martin Oberhauser<br />
Barbara ................... Dagmar Bernhard<br />
Boris ........................ Bernhard Viktorin<br />
Cindy ....................... Victoria Sedlacek<br />
Silvio ........................... Vincent Bueno<br />
Bertram / Mutter .......... Markus Richter<br />
Linda ....................... Denise Jastraunig<br />
Traditionell im Februar präsentiert das Metropol<br />
in Wien das neueste Stück aus der hauseigenen<br />
Musicalwerkstatt. Dieses Jahr entführt uns Intendant<br />
Peter Hofbauer in die Welt des Tanzes und lädt zum<br />
»Twist!«. Ein Abend rund um den Modetanz der frühen<br />
60er Jahre, bei dem die Tänzer sich nicht berühren<br />
und sich auf den Fußspitzen hin- und herdrehen.<br />
Die flotte Show glitzert in vielen Farben – angefangen<br />
bei den Kostümen über die Perücken, das vielseitige<br />
Bühnenbild bis zu den tollen Lichtspielen samt<br />
Discokugeln.<br />
Das Buch stammt von Peter Hofbauer, Regie<br />
führte Peter Kratochvil. Die Choreographie des flotten<br />
Tanzmusicals stammt von Elisabeth Blutsch, die<br />
auch die Rolle der Rita spielt.<br />
Alleine die Musik ist schon einen Besuch wert<br />
und zeigt den hohen Qualitätsstandard, der geboten<br />
wird: Live spielt sich die sechsköpfigen Band unter der<br />
Leitung von Valentin Oman gekonnt in die Ohren<br />
des Publikums. In der Playlist sind einige bekannte<br />
Sounds der 60er und frühen 70er Jahre; meist sind die<br />
Lieder aber mit einem neuen Text passend zum Stück<br />
versehen worden.<br />
Die eigentliche Story ist eher flach, sorgt aber für<br />
einen unterhaltsamen und humorvollen Abend für das<br />
Publikum: Die Redaktion der Tanzzeitschrift TWIST<br />
kämpft mit einer schwachen Auflage und sucht nach<br />
einer guten Idee, das Blatt und somit ihre Jobs zu retten.<br />
So weit, so gut. Denn hier beginnen nun die Verwicklungen:<br />
Der Herausgeber Hugo ist der »gerade<br />
noch Ehemann« der Chefredakteurin Barbara. Die<br />
Stimmung ist nicht herzlich, scheinbar hat Barbara<br />
auch eine allergische Reaktion auf Hugo: plötzlich<br />
auftretender Schluckauf, wenn nur die Rede von diesem<br />
ist. Hugos Bruder Boris ist für die Finanzen des<br />
ganzen Verlags, der mehrere verschiedene Magazine<br />
veröffentlicht, verantwortlich. Hugo möchte gerne die<br />
Tanzzeitschrift einstampfen, nicht zuletzt, um seiner<br />
»gerade noch Ehefrau« einen Denkzettel zu verpassen.<br />
Doch Boris steht heimlich auf Barbara, deswegen<br />
möchte er alles für sie tun und schafft es – mit nur<br />
teils legalen Tricks –, die Zeitung am Leben zu halten.<br />
Und so beginnt die erste verzwickte Lage, die den<br />
Zuschauer ein wenig an das Traumschiff erinnert –<br />
man weiß nach wenigen Minuten, wie die einzelnen<br />
Handlungsstränge laufen werden, welches Paar sich<br />
am Ende findet und dass am Schluss doch das Gute<br />
immer gewinnt. Jedoch gibt es einige Ereignisse in der<br />
Geschichte, die alles interessant machen, so hat z.B.<br />
Hugo eine neue Flamme: Cindy. Diese steckt er in<br />
die Redaktion von TWIST, was der Chefin Barbara<br />
freilich nicht recht ist. Doch Redakteur Silivio hat<br />
die rettende Idee: Er und Cindy machen bei einem<br />
internationalen Tanzwettbewerb mit, um dadurch an<br />
Insiderinformationen zu kommen, somit die neuesten<br />
News zu bringen und damit der Redaktion einen<br />
Mehrwert zu bieten. Doch auch hier sorgt die Liebe<br />
wieder für Verwirrung und das Tanzpaar verliebt sich<br />
ineinander… Dazwischen sorgt noch Bildredakteur<br />
Bertram mit derbem Wiener Humor für Trubel. Er<br />
erinnert ein wenig an Horst Schlämmer alias Hape<br />
Kerkeling. Bertram verputzt liebend gerne Punschkrapferl<br />
und heitert sich mit dem redaktionsinternen<br />
»Fencheltee« auf – der seltsamerweise immer aus<br />
Schnapsgläsern konsumiert wird. Die Redakteurinnen<br />
Rita und Linda mischen auch mit und so wird es<br />
alles andere als ruhig in der Redaktion. Nicht zu vergessen<br />
ist da noch die Mutti von Hugo und Boris – die<br />
erst nur telefonisch für Aufruhr sorgt und am Schluss<br />
des Stücks dann doch wahrhaftig auf der Bühne<br />
erscheint. Und erscheinen ist hier fast untertrieben…<br />
Am Ende des Abends ist eigentlich nicht klar, wer<br />
60<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
den Wettbewerb in New York gewonnen hat oder ob<br />
es ihn überhaupt je gegeben hat. Und so könnte alles<br />
weitergehen – vielleicht heißt es ja kommendes Jahr im<br />
Metropol »Let´s Twist Again!«?<br />
Das eher einfache, aber vielseitige Bühnenbild<br />
kann sich mit wenigen Handgriffen vom Redaktionsbüro<br />
in einen Tanzsaal verwandeln. Dafür zeichnet,<br />
ebenso wie für die farbenfrohen Kostüme, Ilona Glöckel<br />
verantwortlich. Die Perücken und Brillen haben<br />
sich sicher gefreut, wieder einmal einen Auftritt zu<br />
haben, sie stammen allesamt aus einer anderen Zeit.<br />
Das Ensemble hat deutlich Spaß an dem Stück<br />
und begeistert nicht nur durch starke Stimmen, das<br />
schwingende Tanzbein und das humorvolle Schauspiel:<br />
Wie blickpunkt musical erfahren hat, hatte das<br />
Ensemble bei dem Stück die Möglichkeit, viele eigene<br />
Ideen mit einzubringen – und so kann man hier mal<br />
sagen: Viele Köche machen einen guten Brei!<br />
Herausragend aus dem ganzen Ensemble sind vor<br />
allem Dagmar Bernhard und Markus Richter. Bernhard<br />
als Redaktionschefin Barbara hat eine klare kräftige<br />
Stimme und findet in jeder Wendung des Stücks<br />
die richtigen Ideen, um ihre Emotionen zu unterstreichen.<br />
Herausragend ist nicht nur der Schluckauf, den<br />
sie sogar ein ganzes Lied lang durchhält. Sie hat das<br />
große Talent, die Zuschauer mitzureißen. Markus<br />
Richter als Bertram schwankt mehr oder weniger<br />
durch die Kulissen und hat ein Gespür für den<br />
richtigen Moment. Er lässt kurze Pausen entstehen,<br />
in denen das Publikum kurz nachdenken kann, um<br />
dann souverän weiterzumachen. Und genau das macht<br />
es aus: Es ist kein Abspielen von Text und Choreographie,<br />
sondern ein Lebendig-Machen der Situation.<br />
Dieses Talent spürt man hier besonders. Und wenn er<br />
dann zum Schluss noch in die Rolle der Mutter von<br />
Hugo und Boris schlüpft, bleibt kein Auge mehr trocken.<br />
Mehr davon!<br />
Vincent Bueno spielt den Silvio. Durch seine ganz<br />
persönliche Art wirkt die Figur sehr authentisch und<br />
impulsiv – nicht zuletzt durch die perfekte tänzerische<br />
Darbietung, die ihn auch mal als Bruce Lee erscheinen<br />
lässt. Auch sein Spielen mit dem Publikum ist<br />
ein Pluspunkt, da er besonders die Seitenränge (im<br />
Metropol ist die Bühne von drei Seiten vom Publikum<br />
umzingelt) gut mit integriert. Zusammen mit Victoria<br />
Sedlacek als seiner Tanzpartnerin Cindy macht er die<br />
unterschiedlichen Handlungsstränge und Gefühlsschwankungen<br />
miterlebbar. Sedlacek hat ihr Talent<br />
hauptsächlich im tänzerischen Bereich.<br />
Martin Oberhauser als Hugo ist hier das Gegenteil,<br />
sein Schauspiel macht Freude und ist ausdrucksstark.<br />
Die Mimik spricht Bände und diese setzt er geschickt<br />
ein. Bernhard Viktorin beherrscht alle Teile eines Musicaldarstellers,<br />
besonders als schüchterner Boris, der im<br />
Hintergrund die Strippen zieht und sich erst langsam<br />
an seine Herzdame heranwagt. Letztlich nimmt er allen<br />
Mut zusammen und setzt sich gegen den großen Bruder<br />
durch. Er ist ein sehr wandlungsfähiger Darsteller<br />
und dies macht ihn in immer neuen Rollen interessant.<br />
Elisabeth Blutsch (Rita) und Denise Jastraunig<br />
(Linda) spielen als Redaktionsmitarbeiterinnen keine<br />
großen, aber wichtige Rollen: Sie sorgen für Klatsch<br />
& Tratsch, vermutlich auch für den Fenchelteenachschub,<br />
und glänzen besonders gemeinsam mit Richter<br />
als Bertram, als sie eine grandiose Choreographie mit<br />
bzw. auf den Bürosesseln bieten.<br />
Die Zeitreise in »Twist!« wirkt durch und durch<br />
authentisch und bringt das Publikum zum Tanzen,<br />
und das nicht erst beim gewaltigen Schlussapplaus.<br />
Zurecht wurde das Stück schon verlängert, die Tickets<br />
sind knapp! Gönnen sie sich einen Abend mit Twist!<br />
Steffen Wagner<br />
Abb. oben:<br />
Cindy (Victoria Sedlacek) im<br />
Twist-Fieber<br />
Foto: Peter Burgstaller<br />
Abb. unten von links:<br />
1. Chefredakteurin Barbara (Dagmar<br />
Bernhard) feiert, dass sie Hugo bald<br />
los ist<br />
2. Endlich finden Barbara (Dagmar<br />
Bernhard, r.) und Boris (Bernhard<br />
Viktorin, 2.v.r.) zusammen, zum<br />
Schock von Mama Berta (Markus<br />
Richter, l.) und Hugo (Martin<br />
Oberhauser, 2.v.l.)<br />
3. Die Mitglieder der Redaktion<br />
(v.l.: Elisabeth Blutsch, Markus<br />
Richter, Bernhard Viktorin, Denise<br />
Jastraunig) auf der Suche nach einer<br />
Idee, um die Zeitschrift TWIST zu<br />
retten<br />
Foto1: Peter Burgstaller<br />
Fotos 2+3: Wiener Metropol<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
61
Musicals in Österreich<br />
Ungebundenes Tanzfieber mit<br />
beeindruckender Cast auf Tour<br />
»Footloose« – Dancing Is Not a Crime!<br />
Abb. oben:<br />
Ren (Raphael Groß) und Ariel<br />
(Helena Lenn) lernen sich mit der<br />
Zeit besser kennen und lieben<br />
Foto: Nico Moser<br />
Footloose (Tour)<br />
Tom Snow / Dean Pitchford / Walter Bobbie<br />
Songs in englischer und deutscher Sprache<br />
Deutsch von Hauke Jensen<br />
Showslot<br />
Wiener Stadthalle Halle F Wien<br />
Premiere: 6. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie ......................... Manuel Schmitt<br />
Musik. Leitung ........ Hans Tilman Rose<br />
Choreographie & Co-Regie ..................<br />
....................................... Timo Radünz<br />
Bühnenbild ....... Mara Lena Schönborn<br />
Kostümdesign .... Lukas Pirmin Wassmann<br />
Lichtdesign ........................... Phil Kong<br />
Sounddesign .................. Dennis Heise<br />
Ren McCormack ........... Raphael Groß<br />
Ariel Moore .................... Helena Lenn<br />
Shaw Moore ................. Ethan Freeman<br />
Shaw Moore Walk-in Cover .................<br />
................................ Carl van Wegberg<br />
Vi Moore ......................... Kerstin Ibald<br />
Willard Hewitt .............. Martijn Smids<br />
Chuck Cranston / Cowboy Bob ............<br />
.......................... Alexander Findewirth<br />
Rusty ............................ Manar Elsayed<br />
Urleen ....................... Antonia Crames<br />
Wendy Jo ................... Ronja Geburzky<br />
In weiteren Rollen:<br />
Felicitas Bauer, Niklas Bauer,<br />
Nicole Eckenigk, Dominik Müller,<br />
Kevin Lisske, Elke Podhradsky,<br />
Lukas Poischbeg, Anja Rüger,<br />
Ilias Sidi-Yacoub, Janneke Thomassen,<br />
Anjuschka Uher, Pieter van der Vegte<br />
Vierzig Jahre nach dem Kultfilm erobert »Footloose«<br />
als Musical die Bühnen in Österreich,<br />
Deutschland und der Schweiz. Nach dem Tourauftakt<br />
Ende Januar in Bremen feierte die Cast die Österreichpremiere<br />
am 6. Februar 20<strong>24</strong> in der Wiener Stadthalle<br />
F. Die Show läuft noch bis in den Mai 20<strong>24</strong>.<br />
Die Story ist nicht sehr ergiebig, wie so oft bei<br />
bekannten Tanzfilmen bzw. Tanzmusicals der 70er<br />
und 80er Jahre, aber sie ist eigentlich auch nur nebensächlich,<br />
da es hier hauptsächlich nur um eines geht:<br />
Tanzen! Und da wird dem Publikum einiges geboten.<br />
Die Choreographien sind flott und abwechslungsreich<br />
und es gibt beeindruckende Ensemblenummern. Das<br />
Bühnenbild an sich ist eher spärlich, wie bei einer Tour<br />
üblich. Die sehr große Bühne in der Stadthalle wird<br />
von der Cast gut gefüllt und viele Stimmungen werden<br />
durch Drehen der Kulissen erzeugt, verbunden mit<br />
sehr gut abgestimmten Lichteffekten.<br />
Worum es in »Footloose« geht: Der Teenager<br />
Ren McCormack lebt mit seiner Familie in Chicago<br />
und genießt sein Leben mit Partys, Tanzen und<br />
seinen Freunden. Als sein Vater die Familie verlässt,<br />
entscheidet sich die Mutter, in die Kleinstadt<br />
Bomont zu ziehen, wo sie bei Verwandten unterkommen.<br />
Das Leben ändert sich sofort für Ren,<br />
denn hier herrschen andere Regeln: Rockmusik,<br />
Alkohol und Tanzen sind untersagt. Durchgesetzt<br />
hat das der Reverend der Stadt, Shaw Moore. Er<br />
zieht in der strenggläubigen Gemeinde die Fäden<br />
und bestimmt die Regeln nach seinen Vorstellungen.<br />
Doch Ren will und kann sich damit nicht abfinden,<br />
eckt immer wieder bei den Erwachsenen an, hat Probleme<br />
in der Schule und bei seinen Aushilfsjobs. Wie<br />
das Schicksal es will, trifft er rasch auf Ariel, die schöne<br />
Tochter des Reverends. Diese ist mit den Regeln<br />
ebenso unglücklich und ist mindestens so rebellisch<br />
wie Ren. Die Beiden finden zueinander, verlieben sich<br />
und kämpfen nun gemeinsam mit Ariels Girlstruppe<br />
und dem etwas seltsamen Einzelgänger Willard für<br />
ein freies und normales Teenagerleben. Hilfreich sind<br />
Rens Ausflüge mit Ariel und der ganzen Truppe nicht,<br />
um Reverend Moore von seiner Einstellung und den<br />
empfundenen Ungerechtigkeiten zu überzeugen. Ob es<br />
ihm dennoch gelingt, wird sich im Laufe des Abends<br />
erweisen…<br />
Die Leistung der Cast ist wirklich beeindruckend:<br />
Sie überzeugen nicht nur durch die perfekte Choreographie,<br />
sondern vor allem durch tolle darstellerische<br />
Leistungen und ausdruckstarke Stimmen.<br />
Jede noch so kleine Rolle ist stark besetzt und es<br />
macht Freude, ihnen zuzuschauen und zuzuhören.<br />
Was schon selten geworden ist: Durch die klare Verständlichkeit<br />
aller Darsteller können die eigentlich<br />
schwachen Dialoge stark gewinnen, so dass an diesem<br />
Abend einmal mehr der Wunsch übrigbleibt, dass man<br />
dies bitte bei allen deutschsprachigen Produktionen<br />
erleben möchte. Das Konzept der Show, nicht nur<br />
die Dialoge auf Deutsch (Hauke Jensen) zu sprechen,<br />
sondern auch die Lieder (mit Ausnahme der großen<br />
Hits wie ›Holding Out for a Hero‹, ›Almost Paradise‹,<br />
›Let’s Hear It for the Boy‹ und natürlich den Titelsong<br />
›Footloose‹) ebenfalls auf Deutsch zu singen, ist etwas<br />
irritierend, besonders, weil im Publikum die englischsprachigen<br />
Songs weitaus besser ankamen, wie deutlich<br />
am Beifall zu bemerken war.<br />
Die Hauptrollen sind besetzt mit Raphael Groß<br />
(Ren McCormack), Helena Lenn (Ariel Moore), Ethan<br />
Freeman (Reverend Shaw Moore) und Kerstin Ibald<br />
(Vi Moore).<br />
Raphael Groß spielt den rebellischen Ren authentisch<br />
und transportiert die vielen Gefühlslagen der<br />
Rolle gut durch seine Bühnenwirkung und Stimme,<br />
62<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Österreich<br />
sei es als unsicherer »Neuer« an der Schule, beim Eingehen<br />
auf seinen neuen Freund Willard oder in der<br />
langsam beginnenden Liebe zu Ariel. Besonders die<br />
Szene mit Reverend Moore nachts in der Küche, in der<br />
er schon aufgegeben hat, ist großes Kino. Man darf<br />
sich hoffentlich auf mehr große Rollen für ihn freuen.<br />
Helena Lenn trumpft in ihrer Rolle als Tochter des<br />
Reverends nicht nur durch ihre klare und kraftvolle<br />
Stimme auf, sondern auch durch lebendige und fröhliche<br />
Spielfreude. Beim ersten großen Song der Show,<br />
›Holding Out for a Hero‹, dreht sie so richtig auf und<br />
bringt mit der restlichen Cast das Publikum in Stimmung.<br />
Die Damen schauen dabei zwar ein wenig wie<br />
ein Kylie-Minogue-Lookalike in alten ABBA-Kostümen<br />
aus, haben aber eine irrsinnige Power, die man<br />
bei anderen Songs ein wenig vermisst. Lenn versteht es,<br />
die Jungs um den Finger zu wickeln, ohne dabei billig<br />
zu wirken, und man nimmt ihr die Rolle gerne ab und<br />
erfreut sich an der Vielfältigkeit im Umgang mit ihrem<br />
Vater, der Mutter und den Freunden.<br />
Ariels Eltern spiegeln souverän ein vom Leben<br />
gezeichnetes Ehepaar: Die Verbundenheit und das<br />
Auseinandergelebte, die perfekte Außenwirkung im<br />
Ort und das vom Schicksal gezeichnete Familienleben<br />
mit der rebellischen Tochter werden in den verschiedenen<br />
Szenen aufgezeigt und sehr gut umgesetzt.<br />
Ethan Freeman (Reverend Shaw Moore) ist eine tolle<br />
Besetzung. Die aufkommende Zerrissenheit erinnert<br />
ein wenig an seine Paraderolle als Jekyll / Hyde: die<br />
Überzeugung seiner Position auf der einen Seite<br />
und der langsam aufkommende Zweifel an seiner<br />
Meinung auf der anderen Seite. Und die letztliche<br />
(Achtung – Spoiler!) Kehrtwende unterstreicht er mit<br />
seiner bewusst gut eingesetzten Gestik und Mimik.<br />
Seine Gattin, Kerstin Ibald (Vi Moore), beeindruckt<br />
mit ihrer Ruhe und Sicherheit in der Stimme und dem<br />
Ausdruck ihrer Lieder. Als Ehefrau und Mutter muss<br />
sie stark sein, will sich aber auch nicht immer alles<br />
gefallen lassen und zeigt dies überzeugend auf.<br />
Aus der Cast sind noch besonders zu erwähnen:<br />
Martijn Smids (Willard Hewitt) mimt den auf der<br />
einen Seite schüchternen und dann doch selbstsicheren<br />
(dank der vielen guten Tipps seiner Mutter) Willard als<br />
eine Figur, die man einfach lieben muss. Ein Typ, der<br />
wie ein Außenseiter wirkt, aber vor den (vermeintlich?)<br />
starken Jungs kein Blatt vor den Mund nimmt. Er und<br />
Ren werden schnell zu einem guten Team und unterstützen<br />
sich gegenseitig. Rusty (Manar Elsayed) hat ihr<br />
Herz an Willard verloren und steht ihren Freundinnen<br />
immer zur Seite. Elsayeds Power in Ausdruck und<br />
Stimme machen Lust auf mehr! Gemeinsam mit Antonia<br />
Crames (Urleen) und Ronja Geburzky (Wendy Jo)<br />
gibt sie das Power-Trio an der Seite von Ariel. Alle drei<br />
jungen Darstellerinnen sind stimmlich stark und verbreiten<br />
gute Laune auf der Bühne. Ihre Lockerheit ist<br />
ein guter Gegenpart zur Schwere der Familie Moore.<br />
Sie haben mehrere Songs gemeinsam, neben ›Holding<br />
Out for a Hero‹ und ›Let’s Hear It for the Boy‹ haben<br />
sie auch ruhige Parts wie das immer wiederkehrende<br />
›Jemand schaut zu‹. Der Nachwuchs auf der Bühne<br />
scheint gerettet bei solch vielversprechenden jungen<br />
Talenten.<br />
Wer die Möglichkeit hat, sollte sich den Besuch bei<br />
»Footloose« nicht entgehen lassen. Wenn die eigentliche<br />
Story auch flach und alt ist, ist sie doch aktueller<br />
denn je: rebellische Frauen, die für ihre Rechte kämpfen<br />
und bereit sind, über Grenzen zu gehen. Dies alles<br />
gepaart mit jungen Talenten, rockiger Musik und viel<br />
Spielfreude bringt eine gute Unterhaltung.<br />
Steffen Wagner<br />
Abb. oben:<br />
Ren (Raphael Groß, vorne r.) und<br />
Willard Hewitt (Martijn Smids,<br />
vorne l.) freunden sich schnell an<br />
und halten zusammen<br />
Abb. unten von oben links:<br />
1. Reverend Shaw Moore (Ethan<br />
Freeman, vorne) predigt der<br />
Kirchengemeinde (Ensemble) und<br />
schwört alle auf das Tanzverbot ein<br />
2. Ren (Raphael Groß, vorne)<br />
versucht, die Mitglieder der<br />
Gemeindesitzung zu überzeugen,<br />
dass die Regeln aufgeweicht werden,<br />
alle Jugendlichen (Ensemble)<br />
unterstützen ihn<br />
3. Ariel (Helena Lenn, Mitte) ist mit<br />
ihren Eltern (Kerstin Ibald, l., Ethan<br />
Freeman, r.) im ständigen Streit, da<br />
sie sich auch nicht an die von ihrem<br />
Vater auferlegten Regeln halten will<br />
4. Das Bühnenbild ist eher schlicht,<br />
aber durch die Lichteffekte sehr<br />
eindrucksvoll<br />
Fotos (5): Nico Moser<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
63
Musicals in Europa<br />
Leben mit HIV<br />
»Rent« am Theater St. Gallen<br />
Abb. oben:<br />
›La Vie Bohème‹ – Mimi Marquez<br />
(Naomi Simmonds, 3.v.l.), Roger<br />
Davis (Dominik Hees, 4.v.l.), Mark<br />
Cohen (Thomas Hohler, Mitte),<br />
Angel Dumott Schunard (Gonzalo<br />
Campos López, 4.v.r), Tom Collins<br />
(Daniel Dodd-Ellis, 3.v.r.), Maureen<br />
Johnson (Jeannine Michèle<br />
Wacker, r.) und Ensemble<br />
Abb. unten:<br />
›Find ein Lied‹ – Roger Davis<br />
(Dominik Hees)<br />
Fotos (2): Edyta Dufaj<br />
Anfang der 1980er Jahre beobachten Ärzte in den<br />
USA die Ausbreitung einer seltenen Lungenentzündung,<br />
die von Pilzen ausgelöst wird, und des Kaposi-<br />
Sarkoms, einer aggressiven Hautkrebsart. Betroffen sind<br />
vor allem junge Männer, die zuvor gesund waren, was<br />
ungewöhnlich ist, da diese beiden schweren Krankheiten<br />
zuvor nur bei Schwerkranken mit geschwächtem<br />
Immunsystem auftraten. Der Name der neuen Infektionskrankheit<br />
ist AIDS, deren Ursache das 1983 entdeckte<br />
HI-Virus ist, das hauptsächlich durch Sperma<br />
bei ungeschütztem Sexualkontakt und Blut übertragen<br />
wird. Erst seit 1996 gibt es eine antiretrovirale Therapie,<br />
die lebenslang ist, da die HIV-Infektion nicht heilbar<br />
ist. Zuvor war AIDS weltweit die Haupttodesursache<br />
bei den 25- bis 44-Jährigen. Viele HIV-Infizierte werden<br />
bis heute im privaten und beruflichen Umfeld stigmatisiert,<br />
ausgegrenzt, obwohl Menschen mit HIV, die unter<br />
wirksamer Therapie sind und somit kein nachweisbares<br />
Virus im Blut haben, nicht ansteckend sind.<br />
Im 1996 in New York uraufgeführtem Musical<br />
»Rent« von Jonathan Larson (Buch, Musik, Liedtexte)<br />
wird der Alltag einer Gruppe verarmter Künstler:innen<br />
von HIV geprägt, ähnlich den Hauptfiguren in Puccinis<br />
»La Bohème«, die mit der damals unheilbaren Tuberkulose<br />
leben mussten. Jonathan Larson bezieht sich mit<br />
»Rent« auf diese Oper von Puccini, die 1896 in Turin<br />
uraufgeführt wurde.<br />
In der Mitte der dunklen Bühne im Theater St. Gallen<br />
steht ein Mikrofon, das von hellem Scheinwerferlicht<br />
beleuchtet wird. An dieses Mikrofon tritt Mark (Thomas<br />
Hohler), ein junger Filmemacher, mit einer Kamera<br />
in der Hand und erzählt, dass er in einer ärmlichen<br />
WG mit dem Ex-Junkie und Musiker Roger (Dominik<br />
Hees) lebt. Es ist Weihnachten, Mark filmt Roger beim<br />
Komponieren eines Songs, da er einen Dokumentarfilm<br />
über die Stadt drehen will. Zudem werden die Beiden<br />
von ihrem Ex-Mitbewohner Benny (Vikrant Subramanian),<br />
der dank seines Schwiegervaters zum Besitzer des<br />
Wohnblocks geworden ist, per Telefon ermahnt, die<br />
Miete zu zahlen, sonst droht der Rauswurf, da Benny<br />
plant, die Straße in ein Cyber-Kunststudio umzubauen.<br />
Jonathan Larson verortet den Spielort seines Musicals<br />
in die Gegend um den Tompkins Square Park, in der<br />
Alphabet City des East Village in Manhattan, einem<br />
schwul-lesbischen Szeneviertel mit Galerien und Clubs.<br />
Dieses Quartier wurde seit den 1980er Jahren gentrifiziert<br />
‒ ein Problem, das aktuell in vielen Städten zu<br />
erleben ist und zu Protesten der Betroffenen führt, wie<br />
der Regisseur Matthew Wild in seiner fesselnden Inszenierung<br />
klar aufzeigt.<br />
Zudem zeigt das wandelbare Bühnenbild von Paul<br />
Wills mal ein spärlich mit Möbeln vom Sperrmüll<br />
eingerichtetes Loft in einem heruntergekommenen<br />
Industrie-Betonbau, der ebenfalls in irgendeiner Stadt<br />
in Europa stehen könnte. Die Wände im Treppenhaus<br />
sind mit Graffitis verziert. Schnell kann das Bühnenbild<br />
zu einer Szenekneipe mit langen Tischen, Zelten eines<br />
Protestcamps oder einem Markt verändert werden.<br />
An der rechten und linken Bühnenseite entdeckt man<br />
Münztelefone, die das Publikum in eine Zeit ohne Handys<br />
entführen. Das originelle Kostümbild von Claudio<br />
Pohle weist die bunte Mode der 90er Jahre auf, die aktuell<br />
als Vintage Mode bei den jungen Leuten angesagt ist.<br />
Tom Collins (Daniel Dodd-Ellis) wird auf dem<br />
Weg in die WG überfallen, von der Dragqueen Angel<br />
(Gonzalo Campos López) gefunden und in die WG<br />
begleitet. Sie wissen beide, dass sie HIV-positiv sind, und<br />
verlieben sich ineinander. Sie zeigen ein harmonisches<br />
64<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Europa<br />
Liebespaar, das die gemeinsame Zeit genießt. Doch das<br />
Glück wird im Laufe des Jahres überschattet vom akuten<br />
Ausbruch der Krankheit bei Angel. In einer kurzen,<br />
stillen, intensiven Szene nehmen sich die Männer in den<br />
Arm, als Angel Tom die dunklen Flecken des Kaposi-<br />
Syndroms auf seiner Brust zeigt. Der Schreck über diese<br />
Diagnose ist im Theatersaal spürbar. Ebenso schmerzhaft<br />
ist das Sterben von Angel im Krankenhaus in einer<br />
späteren Szene. Tom begleitet seinen Lebenspartner<br />
beim Sterben, muss mit diesem schweren Verlust klarkommen.<br />
In einer bewegenden Trauerfeier versuchen<br />
die Freundinnen und Freunde einerseits, den Tod von<br />
Angel zu verarbeiten, andererseits konfrontiert Angels<br />
Tod die HIV-Infizierten mit der brutalen Realität der<br />
Krankheit AIDS.<br />
Dominik Hees überzeugt in der Rolle des Roger, der<br />
die Trauer über den Tod der Partnerin bewältigen muss,<br />
sich deshalb anfänglich gegen die Beziehung zu der drogenabhängigen<br />
Tänzerin Mimi wehrt, die ihn sehr direkt<br />
versucht anzumachen. Naomi Simmonds gestaltet glaubwürdig<br />
die Rolle der lebenshungrigen, zerbrechlichen<br />
Mimi, die Halt im Leben sucht. Die meist rockige Musik,<br />
von der »Rent«-Band unter der musikalischen Leitung<br />
von Christoph Bönecker hervorragend präsentiert, verleiht<br />
der Trauer, Wut, Liebe der jungen Künstler:innen<br />
fassbaren Ausdruck. Duette wechseln mit lebendigen<br />
Ensembleszenen, die mit facettenreichen Choreographien<br />
von Louisa Talbot das Publikum begeistern.<br />
Thomas Hohler überzeugt als Filmemacher Mark,<br />
der wie sein Freund Roger versucht, als Künstler Anerkennung<br />
zu finden, um vom Beruf leben zu können. In<br />
diesen Momenten trägt das Musical autobiographische<br />
Züge, da Jonathan Larson (4. Februar 1960 – 25. Januar<br />
1996) ebenfalls diese Ziele hatte. Leider konnte er den<br />
Erfolg von »Rent« nicht mehr miterleben, da er am Vorabend<br />
der Premiere des Werkes an einer Aortendissektion<br />
verstarb.<br />
Kerry Jean überzeugt in der Rolle der tatkräftigen,<br />
organisierten Anwältin Joanne Jefferson und begeistert<br />
das Publikum mit ihrer souligen Stimme. Ebenso<br />
überzeugt Jeannine Michèle Wacker in der Rolle der<br />
schrillen Maureen Johnson, die als Performance-Künstlerin<br />
in der Kunstszene bestehen möchte. Maureens<br />
Protestaktion findet immensen Anklang. Benny nimmt<br />
Abstand von seinen Umbauplänen und finanziert sogar<br />
die Entziehungskur von Mimi, die jetzt eine Beziehung<br />
mit ihm hat.<br />
Weihnachten ein Jahr später: Mark will seinen<br />
Freunden den vollendeten Dokumentarfilm vorführen.<br />
Wenige Szenen sind als Schwarz-Weiß-Videosequenzen<br />
auf der Bühnenrückwand zu sehen. Mimi hat die Entziehungskur<br />
abgebrochen und ist zur großen Sorge von<br />
Roger spurlos verschwunden. Maureen und Joanne<br />
finden sie bewusstlos und unterkühlt im Park, bringen<br />
sie in die WG. Umringt von ihren bestürzten Freunden<br />
scheint Mimi in den Armen des verzweifelten Roger zu<br />
sterben. Doch plötzlich erwacht sie und berichtet ihren<br />
erleichterten Freunden von ihren Nahtoderfahrungen.<br />
In der packenden, intensiven, emotionalen Inszenierung<br />
von Matthew Wild am Theater St. Gallen lässt die<br />
starke Cast das Premierenpublikum tief in das Leben<br />
der in prekären finanziellen Verhältnissen lebenden New<br />
Yorker Künstlerbohème eintauchen. Zudem müssen sie<br />
sich mit den Konsequenzen der HIV-Infektion auseinandersetzen,<br />
die ihre Lebenssituation zusätzlich belastet.<br />
Trotzdem verlieren sie nicht die Freude am Leben, sondern<br />
versuchen aktiv, sich ihre beruflichen und privaten<br />
Träume zu erfüllen.<br />
Da einige Hauptrollen doppelt besetzt sind, empfiehlt<br />
sich ein Blick in den Spielplan.<br />
Martina Friedrich<br />
Rent<br />
Jonathan Larson / Billy Aronson<br />
Deutsch von Wolfgang Adenberg<br />
Theater St. Gallen – Großes Haus<br />
Premiere: 17. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie ............................. Matthew Wild<br />
Musik. Leitung ....... Christoph Bönecker<br />
Arrangements .................. Steve Skinner<br />
Choreographie ................ Louisa Talbot<br />
Bühnenbild ........................... Paul Wills<br />
Kostüme ......................... Claudio Pohle<br />
Licht ................................. Tim Mitchell<br />
Video ................................. Reto Müller<br />
Ton ...................... Nicolai Gütter-Graf /<br />
Peter Szabo<br />
Mimi Marquez .......... Naomi Simmonds<br />
Roger Davis ................... Dominik Hees /<br />
Florian Minnerop<br />
Mark Cohen .................. Thomas Hohler<br />
Maureen Johnson ...................................<br />
....................... Jeannine Michèle Wacker<br />
Angel Dumott Schunard .........................<br />
......................... Gonzalo Campos López<br />
Tom Collins ................ Daniel Dodd-Ellis<br />
Joanne Jefferson ................... Kerry Jean /<br />
Dionne Wudu<br />
Benjamin »Benny« Coffin III ...................<br />
............................... Vikrant Subramanian<br />
Pastor ................................ Gerd Achilles<br />
Polizistin / Dance Captain .......................<br />
.......................................... Rachel Colley<br />
In weiteren Rollen:<br />
Lara de Toscano, Adrian Hochstrasser,<br />
Amaya Keller, Robert Lankester,<br />
Florian Minnerop, Jessica Rühle,<br />
Tobias Stemmer, Sander van Wissen,<br />
Tamara Wörner<br />
Abb. von links oben:<br />
1. ›Miete‹ – Mark Cohen (Thomas<br />
Hohler) und Roger Davis (Dominik<br />
Hees)<br />
2. Joanne Jefferson (Kerry Jean)<br />
telefoniert mit Maureen Johnson<br />
3. Maureen Johnsons (Jeannine<br />
Michèle Wacker) Performance<br />
Foto 1: Edyta Dufaj<br />
Fotos 2+3: Ludwig Olah<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
65
Musicals in Europa<br />
Kampf um gesellschaftliche Anerkennung<br />
»La Cage aux Folles« am Stadttheater Bern<br />
Abb. oben:<br />
»Les Cagelles« (Ensemble) erzählen<br />
in der Revue die Geschichte ihrer<br />
sexuellen und politischen Befreiung<br />
Abb. unten:<br />
›Ich bin, was ich bin‹ – Zaza<br />
(Christoph Marti)<br />
Fotos (2): Rob Lewis<br />
La Cage aux Folles<br />
Jerry Herman / Harvey Fierstein<br />
Deutsch von Erika Gesell und Christian Severin<br />
Bühnen Bern<br />
Stadttheater Bern<br />
Premiere: 9. März 20<strong>24</strong><br />
Regie ............................... Axel Ranisch<br />
Musik. Leitung ... Hans Christoph Bünger<br />
Choreographie ....................... Alex Frei<br />
Bühnenbild ....................... Falko Herold<br />
Kostüme ................................ Axel Aust<br />
Licht .................. Christian Aufderstroth<br />
Georges ............................. Tobias Bonn<br />
Albin/Zaza .................... Christoph Marti<br />
Jean-Michel ................... Wolfram Föppl<br />
Anne Dindon ................. Beatrice Reece<br />
In weiteren Rollen:<br />
Arne David, Arthur Büscher,<br />
Angela H. Fischer, Andreas Goebel,<br />
Sylvia Heckendorn, Sara Hidalgo,<br />
Fausto Israel, Silvia Maria Jung,<br />
Jan Henning Kraus, Denis Lakey,<br />
Laurent N’Diaye, Matthias Schuppli,<br />
Tom Zahner<br />
Statisterie der Bühnen Bern<br />
Unter der Regie von Axel Ranisch feierte das Musical<br />
»La Cage aux Folles« (Musik und Gesangstexte von<br />
Jerry Herman, Buch von Harvey Fierstein), ein popkultureller<br />
Meilenstein der queeren Bewegung, am 9. März<br />
20<strong>24</strong> am Stadttheater Bern Premiere. Der Handlungsort<br />
ist ein stillgelegtes Gefängnis in Frankreich, in dem<br />
Homosexuelle inhaftiert waren, als Homosexualität unter<br />
Strafe stand. Nun nutzen die ehemaligen Gefangenen,<br />
Aktivistinnen und Aktivisten der Lesben- und Schwulenbewegung,<br />
die sich teilweise im Rentenalter befinden,<br />
die Räume für ihre allabendliche Revue, in der die »Les<br />
Cagelles« die Geschichte ihrer sexuellen und politischen<br />
Befreiung zeigen. Leiter des Clubs ist der charmante Conférencier<br />
Georges (Tobias Bonn), Mann von Albin. Der<br />
exaltierte Albin ist als Travestiekünstlerin Zaza (Christoph<br />
Marti) der Star des Nachtclubs.<br />
In der Berner Inszenierung können die Darstellenden<br />
in den Haupt- und Nebenrollen ihren Figuren die nötige<br />
Tiefe geben. Dadurch erlebt das Publikum vielfältige,<br />
vom Leben gezeichnete Charaktere auf der Bühne. Hinter<br />
den Gittern einer düsteren Gefängniszelle stehen und<br />
sitzen die Gefangenen. Plötzlich belebt sich die Szenerie,<br />
als Georges, verkleidet als Gefängnisdirektor, die »Les<br />
Cagelles« vorstellt: Ordensschwester Angelique (Arthur<br />
Büscher), Chantal, das Singvögelchen aus Avignon (Denis<br />
Lakey), die bittersüße Clo-Clo (Andreas Goebel), Stage<br />
Manager Francis (Tom Zahner), Hanna aus Hamburg<br />
(Angela H. Fischer), Mercedes, der heimliche Star (Matthias<br />
Schuppli), Nicole, »Nikkli« das Pferdemädchen<br />
(Arne David), Phädra, das Mysterium (Sara Hidalgo). Sie<br />
unterhalten allabendlich mit ihrer Revue das Publikum,<br />
leben hinter der Bühne ihr Leben mit allen Höhen und<br />
Tiefen, ebenso wie Georges und Albin. Die Beziehung des<br />
Paares gerät in die Krise, als der gemeinsame Ziehsohn<br />
Jean-Michel (Wolfram Föppl) ausgerechnet Anne (Beatrice<br />
Reece), die Tochter des homophoben, rechten Politikers<br />
Edouard Dindon (Jan Henning Kraus), heiraten will.<br />
Die Drehbühne, die schnelle Szenenwechsel ermöglicht<br />
(Bühne: Falko Herold), zeigt mal das mit modernen<br />
Stilmöbeln eingerichtete Loft von Albin und Georges,<br />
den vom Vollmond beleuchteten Platz einer Stadt oder<br />
die glitzernde Showbühne. Im Orchestergraben begleiten<br />
die Musiker:innen der Big Band des Berner Symphonieorchesters<br />
unter der musikalischen Leitung von Hans Christoph<br />
Bünger mit ins Ohr gehendem Big-Band-Sound die<br />
Cast. Die bunten, mal eleganten, mal schrillen Kostüme<br />
mit viel Pailletten und Latex wurden von Axel Aust entworfen.<br />
Alex Frei erarbeitete die Choreographien. Diese<br />
unterstreichen nicht nur wirkungsvoll die Gesangsszenen<br />
der Revue, sondern erzählen auch von den Demonstrationen<br />
der Aktivistinnen und Aktivisten der Lesben- und<br />
Schwulenbewegung, die, obwohl sie von der Polizei mit<br />
Schlagstöcken zusammengetrieben und verletzt werden,<br />
trotzdem weiter für ihre Rechte kämpfen.<br />
Die verschiedenen Lebensentwürfe der Eltern werden<br />
in Frage gestellt, als Jean-Michel seinen leiblichen<br />
Vater Georges bittet, für den angekündigten Besuch der<br />
zukünftigen Schwiegereltern nur für einen Abend eine<br />
bürgerliche Existenz vorzugaukeln, Albin auszuladen und<br />
stattdessen seine Mutter, die sich nie um ihn gekümmert<br />
hat, einzuladen. Diese Bitte bringt Georges in einen tiefen<br />
Konflikt, da er einerseits seinen Mann Albin verleugnen<br />
soll, andererseits seinem Sohn helfen möchte. Glaubhaft<br />
zeigen Tobias Bonn und Christoph Marti die Verletzlichkeit<br />
sowie innere Stärke der Figuren Georges und<br />
Albin, die besonders in der Christoph Martis emotionaler<br />
Interpretation des Songs ›Ich bin, was ich bin‹ Ausdruck<br />
findet. Außerdem klären Jean-Michel und Anne mit ihren<br />
Eltern verdrängte Konflikte, da Jean-Michel aufgrund<br />
der unkonventionellen Lebensweise seiner Eltern in der<br />
Schule gemobbt wurde, Anne die ultrakonservativen<br />
Werte ihres Vaters Edouard Dindon ablehnt, sich dagegen<br />
in ihrer Schwiegerfamilie geliebt und toleriert fühlt.<br />
Die unterhaltsame, humorvolle, tiefgehende Inszenierung<br />
von Axel Ranisch sowie die großartigen schauspielerischen<br />
und gesanglichen Leistungen der Darsteller:innen<br />
begeistern das Premierenpublikum. Zugleich ist die<br />
Inszenierung ein Plädoyer für mehr Toleranz in der<br />
Gesellschaft und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe.<br />
Martina Friedrich<br />
66<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Filme & Serien<br />
Die Emanzipation der Frau mit Herz und Schmerz<br />
»Die Farbe Lila« im Kino<br />
Das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete, gleichnamige<br />
Buch von Alice Walker aus dem Jahr 1982<br />
verfilmte Steven Spielberg 1985 mit Whoopi Goldberg<br />
in der Rolle der Afroamerikanerin Celie, die von<br />
ihrem Stiefvater als Ehefrau an einen Farmer verkauft<br />
wird, von dem sie Unterdrückung, Misshandlung und<br />
Demütigung erfährt. »Die Farbe Lila« wurde zu einem<br />
Grundpfeiler der Kultur, insbesondere der Schwarzen.<br />
Brenda Russell, Allee Willis und Stephen Bray adaptierten<br />
den Roman sowie dessen Filmversion 2005 für<br />
die Bühne. Das für elf Tony Awards nominierte Bühnenstück<br />
lief u. a. mehrere Jahre am Broadway.<br />
Seit dem 8. Februar ist die von Oprah Winfrey,<br />
Steven Spielberg, Scott Sanders und Quincy Jones produzierte<br />
Neuinterpretation der klassischen Geschichte<br />
von Liebe und Widerstandskraft im Kino zu erleben.<br />
Im Jahr 1909 herrscht an der Georgia Coast friedliche<br />
Landidylle. Das Leben ist hart für die Bewohner<br />
der Kleinstadt, doch sind sie mit dem zufrieden, was<br />
sie haben. Auch die Schwestern Celie (Phylicia Pearl<br />
Mpasi) und Nettie (Halle Bailey) leben ein einfaches<br />
Leben unter der strengen Hand ihres Vaters Alfonso<br />
(Deon Cole), der nach dem Tod seiner Frau alleine für<br />
die Töchter verantwortlich ist. Trotz der Umstände<br />
bewahren sie sich ihre Lebensfreude: ›Huckleberry<br />
Pie‹. Die Jahre vergehen und Nettie träumt davon,<br />
Lehrerin zu werden. Celie hingegen, die zum zweiten<br />
Mal schwanger ist, darf als alleinstehende Frau in der<br />
Obhut ihres Vaters keine Ansprüche stellen. Während<br />
des Gottesdienstes soll sie Buße tun wie alle anderen:<br />
›Mysterious Ways‹. Doch insgeheim freut sie sich auf<br />
ihr Kind. Als ihr Sohn, den sie Adam tauft, wenig<br />
später geboren wird, hofft sie, ihn behalten zu dürfen.<br />
Doch ihr Vater bringt den Bastard zu Gott, wie bereits<br />
ihre Tochter, die sie auf die gleiche Weise verlor. Sie<br />
trauert ihren Kindern nach, besitzt jedoch das Gottvertrauen,<br />
eines Tages wieder mit ihnen vereint zu<br />
sein, während sie im Laden ihres Vaters schuftet. Ihre<br />
Hoffnung scheint sich zu bestätigen, als sie ein kleines<br />
Mädchen im Laden als ihres wiedererkennt: ›She Be<br />
Mine‹.<br />
Derweil wird Nettie auf ihrem Heimweg von der<br />
Schule von einem Mann begleitet, der ihr seine Aufwartung<br />
macht. Nettie wehrt die Werbung des um<br />
Jahre älteren Mannes, der von allen Mister genannt<br />
wird, ab. Doch Mister (Colman Domingo) hält dennoch<br />
bei Netties Vater um deren Hand an. Der Witwer<br />
sucht eine Frau, die seine Kinder aufzieht und den<br />
Haushalt führt, während er die Farm bewirtschaftet.<br />
Alfonso verweigert ihm Netties Hand, bietet ihm<br />
jedoch Celie an, die in seinen Augen zu hässlich ist,<br />
um sie gewinnbringend verheiraten zu können. Celie<br />
muss sich ihrem Schicksal fügen. Als Misters neue Frau<br />
muss sie das heruntergekommene Haus in Schuss halten,<br />
die drei Kinder aufziehen und den Beischlaf über<br />
sich ergehen lassen. Sie bemüht sich, Misters Anforderungen<br />
gerecht zu werden, trotzdem straft er sie täglich<br />
mit Schlägen und Tritten. Als Nettie eines Tages vor<br />
ihrer Tür steht und um Unterschlupf bittet, weil sie<br />
ihrem zornigen Vater alleine nicht mehr gewachsen ist,<br />
gewährt Mister ihr diesen. Glücklich sind die Schwestern<br />
wieder vereint: ›Keep It Movin‹. Sie teilen sich die<br />
Hausarbeit und verbringen ihre wenige Freizeit zusammen.<br />
Mister findet noch immer Gefallen an Nettie und<br />
versucht eines Nachts, ihre Dankbarkeit für die Unterkunft<br />
einzufordern. Als sie sich gegen seine Annäherung<br />
zur Wehr setzt, schmeißt er sie im strömenden<br />
Regen vor die Tür. Die Schwestern schwören sich,<br />
immer in Kontakt zu bleiben, bis Mister Celie wieder<br />
ins Haus ruft und seinen Frust an ihr auslässt: ›Lily of<br />
the Field.‹ Die Jahre vergehen und Celie (nun Fantasia<br />
Barrino) hofft auf ein Lebenszeichen ihrer Schwester,<br />
nicht ahnend, dass ihr Mann deren Briefe abfängt und<br />
vor ihr versteckt.<br />
Abb. oben:<br />
Celie (Fantasia Barrino)<br />
umschwärmt die erfolgreiche Shug<br />
Avery (Taraji P. Henson):<br />
›Dear God – Shug‹<br />
Foto: Warner Bros. Entertainment Inc.<br />
Die Farbe Lila<br />
The Color Purple<br />
Warner Bros.<br />
USA 2<strong>02</strong>3<br />
Release: 8. Februar 20<strong>24</strong><br />
FSK 12<br />
Länge: 141 min<br />
Regie .......................... Blitz Bazawule<br />
Drehbuch .................. Marcus Gardley<br />
Idee ................................ Alice Walker<br />
Stage Play ................. Marsha Norman<br />
Kamera .......................... Dan Laustsen<br />
Filmschnitt .............................. Jon Poll<br />
Score & Songs.............. Brenda Russell,<br />
Allee Willis, Stephen Bray<br />
Musik ............................... Kris Bowers<br />
Musik Supervision ....... Jordan Carroll,<br />
Morgan Rhodes<br />
Choreographie .......... Fatima Robinson<br />
Produktionsdesign ...............................<br />
............................. Paul D. Austerberry<br />
Kostüme ...............................................<br />
................. Francine Jamison-Tanchuck<br />
Produktion ............... Steven Spielberg,<br />
Oprah Winfrey, Scott Sanders<br />
Junge Celie ......... Phylicia Pearl Mpasi<br />
Celie .......................... Fantasia Barrino<br />
Junge Nettie ..................... Halle Bailey<br />
Nettie ......................................... Ciara<br />
Shug Avery ............... Taraji P. Henson<br />
Sofia .......................... Danielle Brooks<br />
Mister ..................... Colman Domingo<br />
Harpo ......................... Corey Hawkins<br />
Alfonso .............................. Deon Cole<br />
und weitere<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
67
Filme & Serien<br />
Abb. unten von links oben:<br />
1. Mister (Colman Domingo) hat das<br />
Sagen auf der Farm<br />
2. Celie (Phylicia Pearl Mpasi) und<br />
Nettie (Halle Bailey) sind wieder<br />
glücklich vereint<br />
3. Celie (Fantasia Barrino, Mitte) ist<br />
endlich angekommen in IHREM Leben;<br />
Shug Avery (Taraji P. Henson, r.) und<br />
Sofia (Danielle Brooks, l.) unterstützen<br />
sie in ihrem Geschäft: ›Miss<br />
Celie’s Pants‹<br />
4. Celie (Fantasia Barrino, l.) und Shug<br />
Avery (Taraji P. Henson , r.) werden<br />
enge Freundinnen: ›What About Love?‹<br />
Fotos (4): Warner Bros. Entertainment Inc.<br />
Die Kinder sind erwachsen geworden. Sohn Harpo<br />
(Corey Hawkins) hat sich in die resolute Sofia (Danielle<br />
Brooks) verliebt, die sich selbstbewusst Mister und<br />
Celie als ihre zukünftige Schwiegertochter vorstellt.<br />
Mister ist gegen die Beziehung mit der bereits Schwangeren.<br />
Er versucht Harpo zur Besinnung zu bringen.<br />
Doch Harpo will seinen eigenen Weg gehen und baut<br />
für sich und seine Liebste ein Haus: ›Workin‹. Sofia<br />
übernimmt das Ruder in der Ehe und gibt den Ton an,<br />
was Celie imponiert. Nachdem Sofia ihr Kind zur Welt<br />
gebracht hat, gibt sie dieses in Harpos Obhut, weil sie<br />
sich nicht als Mutter ans Haus binden will. Harpo<br />
hofft, dass er nach der Heirat das Sagen hat, doch<br />
Sofia stellt klar, dass sie sich ihr ganzes Leben gegen<br />
die Männer ihrer Familie zur Wehr setzen musste und<br />
selbst über ihr Dasein bestimmt: ›Hell No!‹<br />
Celie bewundert Sofias Mut, den sie selbst nicht<br />
aufbringen kann, um den Missbrauch durch ihren<br />
Mann zu beenden. Sie selbst gibt Harpo den Rat,<br />
Sofia zu schlagen, um sich Gehör zu verschaffen, als<br />
dieser von seinem Vater für seine widerspenstige Frau<br />
verhöhnt wird. Doch ist es Sofia, die die Rollen tauscht<br />
und Harpo gegenüber handgreiflich wird.<br />
Als die erfolgreiche Sängerin Shug Avery (Taraji<br />
P. Henson) 1922 einen Besuch in ihrer Heimatstadt<br />
ankündigt, herrscht große Aufregung: ›Shug Avery‹.<br />
Die Männer umschwärmen sie, während die Frauen<br />
sie als Vorbild verehren. Besonders Mister, der sie einst<br />
heiraten wollte, bevor sie die Stadt für ihre Karriere<br />
verließ, ist voller Vorfreude. Als sie eintrifft, trägt er<br />
sie auf Händen und lädt sie in sein Haus ein. Celie<br />
fügt sich den Wünschen ihres Mannes und umsorgt<br />
die Sängerin, die ihrer Alkoholsucht zu erliegen droht.<br />
Auch Celie fühlt sich in der Nähe von Shug betört<br />
(›Dear God – Shug‹). Während die Diva wieder zu<br />
Kräften kommt, erkennt sie, wie sehr Celie unter Mister<br />
zu leiden hat, und nimmt sich ihrer an.<br />
Derweil gehen Harpo und Sofia getrennte Wege.<br />
Während er mit seiner neuen Freundin einen Jazzclub<br />
eröffnet, hat Sofia einen neuen Mann an ihrer Seite.<br />
Die Eröffnung des Clubs ist dank Shugs Auftritt ein<br />
großer Erfolg: ›Push Da Button‹. Doch der Abend<br />
endet in einem Eifersuchtsdrama, als sich Harpo und<br />
Sofia auf der Tanzfläche wieder annähern.<br />
Shugs Rückkehr nach Memphis steht bevor und sie<br />
bietet Celie an, mit ihr zu gehen. Doch Celie hadert<br />
und bleibt aus Pflichtgefühl zurück. Als sie durch<br />
Zufall zusammen mit Shug die unterschlagenen Briefe<br />
ihrer Schwester entdeckt, erfährt sie endlich, dass ihre<br />
Schwester mit einem Pfarrerspaar auf Mission gegangen<br />
ist und sich um ganz besondere Kinder kümmern<br />
darf.<br />
Shug kehrt mit ihrem Ehemann in die Heimat<br />
zurück, was Mister schockiert. Als er sein wahres<br />
Gesicht zeigt und die Hand gegen Celie erhebt,<br />
setzt sich Shug für sie ein. Sie nimmt Celie mit nach<br />
Memphis, wo sie ein neues Leben beginnt. Erst der<br />
Tod ihres Vaters holt sie als gestärkte Frau zurück in<br />
die Heimatstadt. Sie erfährt das Geheimnis um ihre<br />
Familie und übernimmt als rechtmäßige Erbin den<br />
68<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Filme & Serien<br />
Laden. Zusammen mit Sofia und Shug gründet sie ein<br />
florierendes Geschäft: ›Miss Celie’s Pants‹. Das Glück<br />
ist fast perfekt (›I’m Here‹), nur ihre Schwester Nettie<br />
fehlt an ihrer Seite.<br />
Mister, der in der Einsamkeit Schicksalsschläge<br />
verkraften musste, ist zur Besinnung gekommen. Als<br />
er 1947 die Chance bekommt, einen Teil von dem, was<br />
er verschuldet hat, wieder gutzumachen, verkauft er<br />
sein Land und nutzt das Geld, um Nettie (jetzt Ciara)<br />
wieder in die Heimat zu holen. Endlich vereint, ist<br />
das Glück perfekt: ›Maybe God Is Tryin’ to Tell You<br />
Somethin‹/ ›The Color Purple‹.<br />
Blitz Bazawule, der als Co-Regisseur bei Beyoncés<br />
Musikfilm »Black Is King« mitwirkte, führt nach<br />
einem Drehbuch von Marcus Gardley (»The Maid«)<br />
Regie. Gardleys Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen<br />
Roman von Alice Walker sowie dem Musical<br />
und dem Buch des Broadwaystücks aus der Feder von<br />
Marsha Norman, mit Musik und Texten von Brenda<br />
Russell, Allee Willis und Stephan Bray. Produktionsdesigner<br />
Paul Denham Austerberry (»The Shape of Water« /<br />
»Das Flüstern des Wassers«) fängt das Mississippi im<br />
Zeitraum von 1909 bis 1947 authentisch ein. Auch<br />
die Kostüme von Francine Jamison-Tanchuck (»One<br />
Night in Miami«) wirken wie aus einem Guss und sind<br />
dem Lauf der Zeit angepasst. Von schlichten Arbeitskleidern<br />
auf der Farm bis hin zu Spitzenkleidern für<br />
den Gottesdienst und Celies modernen Hosenschnitten<br />
spiegeln sie die Emanzipation der Frau wider, stets<br />
auch untermalt von der einzigartigen Musik, kompo-<br />
niert von Kris Bowers (»Green Book«), der das Leid<br />
Celies trotz aller Dramatik immer mit einem Hauch<br />
von Hoffnung und Gottvertrauen anklingen lässt. Die<br />
Unterschiede zwischen Mann und Frau werden des<br />
Öfteren durch die Choreographie von Fatima Robinson<br />
(»Dreamgirls«) spürbar.<br />
Getragen wird der Film von Fantasia Barrino, die<br />
in ihrem Kinofilmdebüt ihre Rolle aus dem Broadway-Musical<br />
von 2005 verkörpert. Sie brilliert mit<br />
Stimmkraft und Schauspiel zwischen verängstigter,<br />
unterdrückter Frau sowie erfolgreicher Geschäftsfrau<br />
und liebender Christin, die im Gottvertrauen zu Hoffnung<br />
und Liebe im Stande ist, wobei sie diese selbst<br />
nicht erfahren hat. An ihrer Seite glänzt Danielle<br />
Brooks als emanzipierte Sofia, die für diese Rolle am<br />
Broadway für den Tony nominiert wurde. Mit Taraji<br />
P. Henson als Shug Avery, die zwischen den Welten<br />
der Kleinstadt und des Ruhms wandelt, ist das Trio<br />
komplettiert. Die Frauen bilden eine starke Einheit,<br />
deren Schauspiel harmoniert und deren Stimmen zu<br />
einer zusammenwachsen.<br />
»Die Farbe Lila« geht zu Herzen und berührt von<br />
der ersten bis zur letzten Minute. Der Zuschauer leidet<br />
mit Celie und wächst mit ihr über die Kräfte und den<br />
Glauben hinaus, um am Ende versöhnt zu werden für<br />
all den Schmerz, den sie ertragen musste. Ein wunderschöner,<br />
schauspielerisch meisterhafter und musikalisch<br />
einzigartiger Film, den man nach dem Abspann<br />
sofort noch einmal sehen möchte.<br />
Sandy Kolbuch<br />
Abb. unten von links oben:<br />
1. Celie (Fantasia Barrino, l.)<br />
bewundert Shug Avery (Taraji P.<br />
Henson, r.) für ihren Lebensstil<br />
2. Sofia (Danielle Brooks, Mitte)<br />
bringt den Frauen bei, sich nicht<br />
von den Männern unterdrücken zu<br />
lassen: ›Hell No!‹<br />
3. Mister (Colman Domingo) hofft,<br />
mit seinem Song Eindruck zu<br />
machen: ›Mister/Nettie‹<br />
4. Celie (Phylicia Pearl Mpasi) und<br />
Nettie (Halle Bailey) genießen ein<br />
glückliches Leben: ›Huckleberry Pie‹<br />
Fotos (4): Warner Bros. Entertainment Inc.<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
69
Musicals in den USA<br />
Im Rausch des Showbusiness’<br />
Revival von »Merrily We Roll Along« am Broadway<br />
(v.l.): Gussies Manager (Reg Rogers), Franklins erste Frau (Katie Rose Clarke), Franklin Shepard (Jonathan Groff),<br />
Charley Kringas (Daniel Radcliffe) und Mary Flynn (Lindsay Mendez) feiern ihren ersten Broadway-Hit: ›It’s a Hit‹<br />
Foto: Matthew Murphy<br />
Merrily We Roll Along<br />
Stephen Sondheim / George Furth<br />
Hudson Theatre New York<br />
Broadway-Revival: 9. Oktober 2<strong>02</strong>3<br />
Direction ................... Maria Friedman<br />
Music Direction ................... Joel Fram<br />
Orchestration ............. Jonathan Tunick<br />
Music Supervision ...... Catherine Jayes<br />
Choreography .................. Tim Jackson<br />
Scenic & Costume Design ....................<br />
.................................... Soutra Gilmour<br />
Hair & Wig Design ...... Cookie Jordan<br />
Lighting Design ....................................<br />
.......................... Amith Chandrashaker<br />
Sound Design ................... Kai Harada<br />
Charley Kringas .......... Daniel Radcliffe<br />
Franklin Shepard .......... Jonathan Groff<br />
Mary Flynn ............... Lindsay Mendez<br />
Gussie Carnegie ...... Krystal Joy Brown<br />
Beth Shepard .......... Katie Rose Clarke<br />
Joe Josephson ................... Reg Rogers<br />
Scotty / Mrs Spencer ..... Sherz Aletaha<br />
Mimi from Paramount ....... Maya Boyd<br />
Claudia / Newscaster ...........................<br />
........................ Leana Rae Concepcion<br />
Tyler ................................ Corey Mach<br />
Meg Kincaid .... Talia Simone Robinson<br />
In weiteren Rollen<br />
Morgan Kirner, Ken Krugman,<br />
Amanda Rose, Jamila Sabares-Klemm,<br />
Brian Sears, Evan Alexander Smith,<br />
Christian Strange, Koray Tarhan,<br />
Vishal Vaidya, Natalie Wachen,<br />
Jacob Keith Watson<br />
Vierzig Jahre nach seiner nicht so erfolgreichen<br />
(manche würden sagen desaströsen) Broadway-<br />
Premiere im Jahre 1981 – es schloss nach 44 Previews<br />
und 16 Vorstellungen – hat Stephen Sondheims »Merrily<br />
We Roll Along« mit seinem aktuellen Broadway-<br />
Revival jetzt seinen vollen dramatischen Ausdruck<br />
gefunden und bewegt sich vom reinen Kult-Status<br />
endlich zu seinem angestammten Platz im Kanon der<br />
Werke Sondheims. Der lange Weg der Show zurück<br />
zum Broadway war mit Umwegen verbunden; über<br />
Jahrzehnte wechselten sich verschiedene Konzertversionen,<br />
Off-Broadway- und regionale Produktionen<br />
darin ab, einen erzählerischen Sinn in eine Story zu<br />
bringen, die von hinten nach vorne die Geschichte<br />
von drei Freunden erzählt, die ihren Weg durch ihre<br />
Karrieren und konfliktbeladenen Beziehungen finden<br />
müssen.<br />
Dieses Revival nun hat seine Wurzeln in einer<br />
Produktion, die Maria Friedman 2012 an The Menier<br />
Chocolate Factory in London inszenierte. 2013 folgte<br />
der Transfer ans West End. Die Produktion lief später<br />
auch in Tokio und hatte dann eine begrenzte Spielzeit<br />
am Huntington Theatre in Boston. Schließlich landete<br />
die Show Ende 2<strong>02</strong>2 mit ihrer aktuellen – und<br />
besten – Besetzung in New York an einem der renommiertesten<br />
Off-Broadway-Theater, dem New York<br />
Theatre Workshop.<br />
Basierend auf einem Schauspiel aus dem Jahr 1934<br />
des Autorenteams George K. Kaufman und Moss Hart<br />
eröffnet Buchautor George Furth (der auch Sondheims<br />
»Company« geschrieben hat) »Merrily« anno 1976 mit<br />
einer eleganten Malibu Beach Cocktail Party, ausgerichtet<br />
von dem reichen und berühmten Liedermacher<br />
Franklin Shepherd (ultimativ gespielt von Theater-,<br />
Fernseh- und Filmstar Jonathan Groff), der inzwischen<br />
als Filmproduzent arbeitet. Sein Ego ist außer Kontrolle<br />
geraten, genauso wie die Ehe mit seiner zweiten Frau,<br />
dem früheren Broadway-Musical-Star Gussie Carnegie<br />
(Krystal Joy Brown). Ein Hausgast ist die älteste<br />
Freundin aus Franks frühen New Yorker Tagen, Mary<br />
Flynn (eine hervorragende Lyndsay Mendez), damals<br />
eine angehende Romanautorin, inzwischen Theaterkritikerin.<br />
Ihre vom Alkohol beflügelte heftige Abneigung<br />
gilt der Oberflächlichkeit von Franks Filmprojekten;<br />
seine Fassade bröckelt, als ein Gast erwähnt, dass sein<br />
früherer bester Freund und Arbeitspartner Charley<br />
Kingras (ein intonationssicherer Daniel Radcliffe), mit<br />
dem er sich entzweit hat, gerade einen Pulitzer-Preis<br />
gewonnen hat. Das Buch von Furth erzählt in der<br />
Rückschau von der Auflösung der gemeinsamen Werte<br />
von Frank, Charley und Mary, die sie hatten, als sie<br />
sich 1957 in New York als um Anerkennung ringende<br />
Autoren trafen.<br />
Der Schlüssel zum lange überfälligen Erfolg von<br />
»Merrily« ist zweifacher Art: unfehlbare Besetzung<br />
der Charaktere und präzises Verstehen der Charaktere<br />
auf Seiten der Regie. Beides ist miteinander verbunden.<br />
So wie sich die Geschichte in der Rückschau in<br />
den Händen von Regisseurin Friedman entfaltet, ist<br />
es offensichtlich, dass Frank, Mary und Charley ihre<br />
eigentlichen Persönlichkeiten nicht wirklich verändern.<br />
Stattdessen wird durch äußere Umstände und<br />
persönliche Entscheidungen bestimmt, welcher Teil<br />
ihrer Persönlichkeit sich durchsetzt; dieser Version<br />
gelingt es zum ersten Mal, jede bedeutsame Wendung<br />
in Furths originalem Buch klar herauszuarbeiten.<br />
Im Fall von Frank ist sein Ehrgeiz der dominierende<br />
Charakterzug. Sein Antrieb ist allgegenwärtig, selbst,<br />
als er noch ein naiver junger Mann ist, und die Entscheidungen,<br />
die er trifft – bei seiner Ehe und seiner<br />
70<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in den USA<br />
Scheidung, in seinem Verhältnis (oder Mangel eines<br />
solchen) zu Charley und Mary ‒, führen ihn zu kommerziellem<br />
Erfolg und persönlichem Versagen. Groff,<br />
mit seinem offenherzigen Gesichtsausdruck, verbirgt<br />
geschickt Franks Besessenheit von Erfolg um jeden<br />
Preis.<br />
In ähnlicher Weise macht Charley, charmant<br />
gespielt als zerstreuter Professor von Daniel Radcliffe,<br />
seine Entscheidungen deutlich: Er verlässt die künstlerische<br />
Partnerschaft mit Frank, weil seine Definition<br />
von Erfolg präziser ist. Er wird von tiefen intellektuellen<br />
Überzeugungen angetrieben und verliert zwar<br />
seinen besten Freund, aber er realisiert seinen Traum<br />
von künstlerischer Autorität und Unabhängigkeit.<br />
Was Mary betrifft, so trägt sie ihr ganzes Leben<br />
lang die Last ihrer unerwiderten Gefühle – eigentlich<br />
sogar Liebe – zu Frank. Ihre taffe, sarkastische Attitüde<br />
verbirgt eine verletzliche emotionale Seele. Sie versucht<br />
in dem Verhältnis von Frank und Charley zu vermitteln,<br />
aber am Ende bleibt sie allein zurück.<br />
Die weisen Regieentscheidungen von Regisseurin<br />
Friedman schließen den Verzicht auf den unbeholfenen<br />
Song des Schulklassentreffens ein, der bei der Originalversion<br />
am Anfang und Ende der Show stand (und<br />
der seitdem in den Folgeversionen bereits weggelassen<br />
wurde). Vom Showbusiness inspirierte Bühnenbilder<br />
und der Spielepoche angemessene Kostüme von Soutra<br />
Gilmour funktionieren hervorragend.<br />
Mit den wunderbaren Orchestrierungen des unvergleichlichen<br />
Jonathan Tunick, der schon das Original<br />
orchestrierte, klang Sondheims Partitur niemals besser.<br />
Genauso gut funktionieren die Liedtexte, um die<br />
Charaktere zu entwickeln. Die Ouvertüre, aufgeblasen<br />
und blechlastig, spielt auf den Rausch des Showbusiness’<br />
an, hat aber auch genügend Dissonanzen, um die<br />
dunkle Kehrseite einer Karriere im kreativen Bereich<br />
anzudeuten.<br />
Die flotte, fast fröhliche Nummer ›Old Friends‹ feiert<br />
nicht nur die ursprüngliche Freundschaft des Trios,<br />
sondern dient auch als Erinnerung an vergangene Tage.<br />
Charleys Song ›Franklin Shepard Inc.‹ – eine Tour de<br />
Force für jeden Darsteller – hebt die Differenzen zwischen<br />
Charley und Franklin besser hervor, als es jeder<br />
Dialog könnte. Die wehmütige Ballade ›Growing Up‹,<br />
von Sondheim Jahre später für eine regionale Produktion<br />
der Show hinzugefügt, die von Gussie gesungen<br />
wird (dem Broadway-Sternchen, für das Franklin seine<br />
Ehe verlässt), stellt die Werte, zwischen denen Franklin<br />
sich entscheidet, ironisch auf den Kopf.<br />
Sinnbildlich für das Thema von »Merrily« beginnt<br />
›Good Thing Going‹ als süßes kleines Duett, das<br />
Charleys und Franklins Salattage beschreibt, aber dann<br />
erlaubt Franklin, von Gussie verführt, dass es eine extravagante<br />
Shownummer in ihrem nächsten Broadwaystück<br />
wird. Marys ›Charley‹ ist ihre tief empfundene<br />
Klage um die Vergangenheit. Das schmerzliche<br />
›Not a Day Goes By‹ wird ironischerweise von Franklins<br />
erster Frau gesungen, obwohl es doch eigentlich<br />
Marys Liebeslied ist, für die Franklin als romantischer<br />
Partner immer außerhalb ihrer Reichweite lag.<br />
Das Finale, ›Our Time‹, sticht jedes Mal ins Herz.<br />
Das Trio trifft sich 1957 zum ersten Mal auf dem Dach<br />
ihrer Wohnung in Brooklyn. Mit großen erstaunten<br />
Augen sehen sie den Sputnik-Satelliten am Nachthimmel.<br />
Überzeugt, dass die Zukunft ihnen gehören wird,<br />
verkünden sie: »Wir sind die, die etwas bewegen und<br />
etwas formen. Wir sind die, deren Namen morgen in<br />
der Zeitung stehen werden. Es ist an uns, es ihnen zu<br />
zeigen.« Ihre Fröhlichkeit wird von den tatsächlichen<br />
Entscheidungen, die sie in der Zukunft treffen werden,<br />
nur zu bald widerlegt.<br />
Dan Dwyer<br />
Dt. v. Merit Murray<br />
Abb. unten von links oben:<br />
1. (v.l.): Mary Flynn (Lindsay Mendez),<br />
Franklin Shepard (Jonathan<br />
Groff) und Charley Kringas (Daniel<br />
Radcliffe) im Finale (zu der Zeit, als<br />
sie sich kennenlernten): ›Our Time‹<br />
2. (v.l.): Charley (Daniel Radcliffe)<br />
und Franklin (Jonathan Groff)<br />
geraten in einem Live-Fernsehinterview<br />
aneinander, wo Charley<br />
ihn als »Firma Franklin Shepard«<br />
abkanzelt, rechts Moderatorin KT<br />
(Natalie Wachen)<br />
3. (v.l.): Gussies Manager (Reg<br />
Rogers, 2.v.r.) und Gussie (Krystal<br />
Joy Brown, r.) überzeugen das<br />
Liedermacher-Team Charley<br />
(Daniel Radcliffe, l.) und Franklin<br />
(Jonathan Groff, 2.v.l.), ihre Musik<br />
zu kommerzialisieren<br />
4. Gussie Carnegie (Krystal<br />
Joy Brown, l.) verführt Franklin<br />
(Jonathan Groff, r.) dazu, seinem<br />
geschäftlichen Ehrgeiz zu folgen<br />
Fotos (4): Matthew Murphy<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
71
Musicals in Großbritannien<br />
Hollywoodmärchen neu aufgelegt<br />
»Pretty Woman: The Musical« (Tour) am Wimbledon Theatre<br />
Abb. oben:<br />
Happy End von Vivian (Amber Davies,<br />
Mitte l.) und Edward (Oliver Savile,<br />
Mitte r. mit Ensemble)<br />
Foto: Marc Brenner<br />
Pretty Woman:<br />
The Musical (UK-Tour)<br />
Bryan Adams / Jim Vallance /<br />
Garry Marshall / J.F. Lawton<br />
New Wimbledon Theatre London<br />
Premiere: 12. Februar 20<strong>24</strong><br />
Regie & Choreographie....Jerry Mitchell<br />
Musikalische Leitung,<br />
Arrangement &<br />
Orchestration ............... Will Van Dyke<br />
Bühnenbild.................. David Rockwell<br />
Kostüme .............................Tom Rogers<br />
Lichtdesign..................Kenneth Posner /<br />
Philip S. Rosenberg<br />
Sounddesign .....................John Shivers<br />
Vivian Ward ..................... Amber Davies<br />
Edward Lewis ..................... Oliver Savile<br />
Happy Man / Mr Thompson .... Ore Oduba<br />
Kit De Luca ........................ Natalie Paris<br />
Philip Stuckey ........................ Ben Darcy<br />
David Morse .................... Chomba Taulo<br />
Alfredo................... Josh Damer-Jennings<br />
Giulio .............................. Noah Harrison<br />
In weiteren Rollen:<br />
Becky Anderson, Rebekah Bryant,<br />
Andrew Davison, Lila Falce-Bass,<br />
Sydnie Hocknell, Elly Jay,<br />
Rachael Kendall Brown,<br />
Michael Kholwadia, Joshua Lear<br />
(Dance Captain), Stuart Maciver,<br />
Victoria Rachael McCabe,<br />
Eleanor Morrison-Halliday, LJ Neilson,<br />
Annell Odartey, Curtis Patrick,<br />
Elliot David Parkes, Toby Shellard<br />
Der Film »Pretty Woman« war 1990 ein Überraschungserfolg<br />
und die Schauspieler Julia Roberts<br />
und Richard Gere haben sich mit ihren Figuren in die<br />
Herzen der Zuschauer gespielt. Entsprechend sind die<br />
Erwartungen groß, dem auf der Musicalbühne gerecht<br />
zu werden. Was kann die Musik zusätzlich liefern? Was<br />
muss für die Bühne angepasst werden? Was liefert die<br />
Bühnenfassung Neues zu der Geschichte: Prostituierte<br />
trifft reichen Geschäftsmann, sie verlieben sich und es<br />
gibt ein Happy End.<br />
Der auf der Bühne entstehende Hollywood Boulevard<br />
wird zum Pflaster der Träume. Vergessene, in<br />
einer Ecke des Herzens längst verkümmerte Träume<br />
holt der Happy Man (Ore Oduba) mit dem rockigpoppigen<br />
›Welcome to Hollywood‹ wieder hervor.<br />
Gerade in dem von Kleinkriminalität durchzogenen<br />
Abschnitt des Hollywood Boulevards sind Träume ein<br />
Lebenselixier. So versammeln sich alle in dem Feel-<br />
Good-Musical auf der Straße, um in Jerry Mitchells<br />
energiegeladener Choreographie das Leben von seiner<br />
lebenswerten Seite zu zeigen.<br />
Die Musik von Bryan Adams und seinem langjährigen<br />
Arbeitspartner Jim Vallance gibt die Richtung<br />
vor: Rock und Pop dominieren, die Geschichte<br />
spielt immerhin 1990. Musikalisch kristallisiert sich<br />
schnell heraus, dass Vivians (Amber Davies) Träume<br />
daraus bestehen, aus ihrer Lage herauszukommen:<br />
Prostituierte zu sein entspricht ihr nicht. Sie ist auf der<br />
Suche nach einem Platz im Leben, der zu ihr passt. Ihr<br />
melancholisches ›Anywhere But Here‹ bringt dies zum<br />
Ausdruck. Ihre weiteren Songs sind Variationen dieses<br />
Themas, was die musikalische Behandlung ihrer Figur<br />
eher einseitig macht. Auch die Texte sind nicht sonderlich<br />
inspiriert: »I look around and what I see is that I<br />
don’t belong here. This isn’t me.«<br />
Dem Mieten-Eintreiber gerade mal entkommen<br />
stiefelt Vivian nun den Hollywood Boulevard entlang,<br />
wo der Geschäftsmann Edward (Oliver Savile) auf dem<br />
Weg zum noblen Regent Beverly Wilshire Hotel orientierungslos<br />
Halt macht, zumal er auch mit dem flotten<br />
Wagen seines Anwalts völlig überfordert ist. Vivian,<br />
geschäftstüchtig, schafft in beiden Angelegenheiten<br />
Abhilfe. Fasziniert von ihrem natürlichen, selbstbewussten<br />
und unprätentiösen Wesen entscheidet er sich<br />
spontan, sie für die Nacht zu »mieten«. Seine Ballade<br />
›Something About Her‹ gibt, verpackt in einfallslosen<br />
Worten, das wieder, was der Zuschauer längst weiß: Er<br />
ist von ihr angetan. Edwards musikalische Perspektive<br />
beschränkt sich primär darauf, dass er sich in sie<br />
verliebt. Das wird in ›You’re Beautiful‹ abermals aufgegriffen,<br />
was wenig überzeugt. Rückblick auf den Film:<br />
Waren dort Edwards Faszination mit Vivian und sein<br />
Handeln glaubwürdig? Der Film ist für Unausgesprochenes<br />
das dankbarere Medium. Es sind seine Blicke,<br />
die verraten, dass er neugierig auf sie ist – zumal er eh<br />
kein Mann vieler Worte ist. Außerdem: Vivian für eine<br />
ganze Woche zu engagieren, ist auch geschäftlich motiviert.<br />
Er hat in der Stadt etwas abzuwickeln und eine<br />
schöne Frau an seiner Seite könnte ihm dabei helfen.<br />
Etwas Abwechslung in den Klangfarben bietet<br />
›On a Night Like Tonight‹. Mit seinen lateinamerikanischen<br />
Rhythmen und seiner romantischen Stimmung<br />
rutscht man allerdings im Geiste durch den<br />
Musicaltunnel in ein anderes Stück, nämlich zu ›On<br />
This Night of a Thousand Stars‹ aus »Evita«. Dennoch<br />
gehört diese Nummer zu den Highlights der Show, da<br />
verschiedene Aspekte geschickt zusammenkommen.<br />
Vivian steht der erste Abend in feiner Gesellschaft<br />
bevor, an dem sie sich an Edwards Seite bewähren<br />
muss. Tanzen wird erwartet. Anders als im Film, wo sie<br />
sich durch allerlei Besteck für die verschiedenen Gänge<br />
navigieren muss, geht es hier darum, auf dem Parkett<br />
Haltung zu zeigen, das ist schließlich viel bühnenwirksamer.<br />
Das Besondere ist, dass Oduba, der zuvor den<br />
72<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Musicals in Großbritannien<br />
Happy Man verkörperte, nun auch den Hotelmanager<br />
Mr Thompson spielt und »zufällig« ein begnadeter<br />
Tänzer ist. Die Figur ist sehr viel besser herausgearbeitet<br />
als im Film und gibt Oduba die Chance, nicht nur<br />
mit seinem schauspielerischen Können zu brillieren,<br />
sondern auch mit seinem tänzerischen. Fans der Samstagabend-TV-Talent-Show<br />
»Strictly Come Dancing«<br />
kennen ihn bereits, da er dort als Gewinner hervorging.<br />
Seine Talente werden hier also bestens eingesetzt.<br />
Sein Spaß an der Sache verbreitet sich im ganzen Theater.<br />
Man sieht, wie sein Herz aufgeht, als er Vivian die<br />
korrekten Schritte zeigt. Zu Hilfe kommt ihm dabei<br />
der Hotelpage (Noah Harrison). So tanzen sie zeitweilig<br />
zu dritt, was eine liebenswerte Referenz an »Dirty<br />
Dancing« ist. Mitchells Choreographie anzuschauen ist<br />
eine Freude. Dem romantisch-musikalischen Ausflug<br />
nach Lateinamerika folgt ein Ausflug in die Swing-Ära.<br />
In dem Club, in dem Edward seinen Geschäftspartner<br />
trifft, fordert die Sängerin mitreißend zu ›Don’t Forget<br />
to Dance‹ auf. Bevor es auf die Tanzfläche geht,<br />
wird Edwards Geschäft eingeführt: der Kauf bzw. die<br />
Auflösung einer Werft. Das klingt langweilig und distanziert,<br />
so war es im Film. Doch die Autoren Garry<br />
Marshall, der damals beim Film Regie führte, und J.F.<br />
Lawton, der das Drehbuch dazu schrieb, bringen mit<br />
einem kleinen Zusatz Leben in die Angelegenheit: Es<br />
geht um eine Werft, die Kreuzfahrtschiffe herstellt, so<br />
wie das »Love Boat«, kommentiert Vivian. Das Schiff<br />
war in den 1970er-Jahren Spielort einer beliebten amerikanischen<br />
TV-Serie. Dies ist ein cleveres Detail, da<br />
es wieder um Träume und Liebe geht. Aus praktischer<br />
Sicht illustriert die Szene auch, wie leicht Vivian gute<br />
Beziehungen knüpfen kann und damit Wärme in<br />
heikle Geschäftssituationen bringt. Unter Mitchells<br />
Leitung – er führt auch Regie – bietet das Musical<br />
viele kleine inszenatorische, vor allem humorvolle<br />
Details, die die Produktion bereichern. Dazu gehört<br />
der Hotelpage, der am Morgen schnell reagieren muss,<br />
als Edwards Anwalt (Ben Darcy) in Edwards Suite hineinspaziert<br />
und unversehens sämtliche Spuren beseitigt<br />
werden müssen, die auf Vivian hinweisen. Hier sind<br />
die Beziehungen zwischen den Figuren, wie Vivian und<br />
Mr Thompson, der im Film eher kühl daherkommt,<br />
feiner ausgearbeitet. Die Neuinterpretation der Nebenfiguren<br />
kommt der Geschichte zugute. Vivians Freundin<br />
Kit (Natalie Paris), die sich ebenfalls auf der Straße<br />
verdingt, hat nun Ambitionen, eine Karriere bei der<br />
Polizei zu machen. Edwards Anwalt Philip ist jünger<br />
als im Film und damit ein ganz anderer unangenehmer<br />
Typ. Die Besetzung bricht auch Klischees auf: Nicht<br />
alle sind weiß. So ist es erfrischend, Chomba Taulo als<br />
Werft-Besitzer David Morse zu sehen, den Edward am<br />
Ende unterstützt.<br />
Zwar dreht sich die Story um Amber Davies als<br />
Vivian und Oliver Savile als Edward, aber zwischen<br />
ihnen fehlt die Spannung. Ihre zudem platten Songs<br />
und deren bekannte Geschichte lassen einen eher<br />
unberührt. Viel spannender ist Ore Oduba, der mit<br />
seinem Charme und verschiedenen Rollen immer wieder<br />
überrascht. Er bildet quasi die dritte Hauptfigur<br />
und macht den Reiz der Show aus. Eingebettet ist diese<br />
in die farbenfrohe und stilvolle Ausstattung von David<br />
Rockwell (Bühnenbild) und Tom Rogers (Kostüme)<br />
nach dem originalen Broadway-Design von Gregg<br />
Barnes.<br />
Insgesamt bietet die Show einen unterhaltsamen<br />
Musicalabend. Wer sich jedoch nach einer Romanze<br />
sehnt, sollte auf den Film zurückgreifen.<br />
Sabine Schereck<br />
Abb. oben:<br />
Der liebenswerte Page Giulio (Noah<br />
Harrison) im Beverly Wilshire Hotel<br />
Abb. unten von links:<br />
1. Vivian (Amber Davies) am<br />
Hollywood Boulevard auf der Suche<br />
nach Freiern<br />
2. Happy Man (Ore Oduba, mit<br />
Ensemble) sorgt am Hollywood<br />
Boulevard für gute Laune<br />
3. Mr Thompson (Ore Oduba mit<br />
Ensemble) in der Nummer ›On a<br />
Night Like Tonight‹<br />
Fotos (4): Marc Brenner<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
73
anno... 1974<br />
Was war anno… 1974<br />
Wir schauen zurück in die Musicalgeschichte<br />
»Mack & Mabel« im Majestic Theatre, 1974<br />
Foto: Glasshouse Images / Alamy Stock Photo<br />
Erstaunlich wenig große Musicals hat das Jahr 1974<br />
herausgebracht, nichtsdestotrotz hat sich der Blick in<br />
das Archiv einmal mehr gelohnt. Daher Ihnen viel<br />
Spaß mit dem Jahr 1974.<br />
Let My People Come<br />
8. Januar, The Village Gate Off-Broadway<br />
Ein Musical der besonderen Art wurde 1974 am<br />
Off-Broadway uraufgeführt, ging den Umweg<br />
über London, um schließlich 1976 an den Broadway<br />
zu kommen – dort durfte es allerdings nie<br />
offiziell öffnen, sämtliche 108 Vorstellungen<br />
wurden als Previews gespielt. Das Musical von<br />
Earl Wilson, Jr und Phil Oesterman bekam eine<br />
Nominierung bei den Grammy Awards für<br />
»Bestes Cast Album«. Das Stück enthält u. a.<br />
Songs mit den klangvollen Namen: ›Come in<br />
My Mouth‹, ›Fellatio 101‹ und ›The Cunnilingus<br />
Champion of Company C‹. Wilson hat sich von<br />
der Broadway-Show distanziert, nachdem sie ihm<br />
als zu vulgär erschien. An anderen Orten lief sie<br />
sehr erfolgreich, am längsten am Grendel´s Lair<br />
Cabaret Theatre in Philadelphia mit über zehn<br />
Jahren Spielzeit.<br />
Over Here!<br />
6. März, Shubert Theatre Broadway<br />
Das finanziell erfolgreichste Musical des Jahres<br />
1974 stammt von Richard M. und Robert B. Sherman,<br />
das Buch wurde von Will Holt geschrieben.<br />
Die Fortsetzung des Weltkriegsmusicals »Victory<br />
Canteen« wurde in Summe 354 Mal am Broadway<br />
aufgeführt und brachte viele spätere Stars<br />
hervor: u. a. The Andrews Sisters, John Travolta,<br />
Treat Williams, Samuel E. Wright und Ann<br />
Reinking. Dass die Produktion so abrupt endete,<br />
lag mitnichten an der Auslastung, vielmehr kam<br />
es zu Streitereien zwischen den Andrews Sisters<br />
und den Produzenten, die sich gegenseitig Geldgier<br />
vorwarfen. Trotz des großen Erfolges im<br />
Jahr 1974, den vier Tony Award-Nominierungen<br />
sowie einem gewonnen Tony Award konnte das<br />
Stück später keine erfolgreichen Spielzeiten mehr<br />
verzeichnen, erst 2<strong>02</strong>0 wurde eine Off-Broadway-<br />
Produktion mit vier Nominierungen bei den<br />
Broadway World Awards bedacht.<br />
Billy<br />
1. Mai, Theatre Royal Drury Lane<br />
Ein großer Erfolg für Michael Crawford war<br />
das Musical »Billy« von Dick Clement, Ian La<br />
Frenais, John Barry und Don Black. Das Stück<br />
spielte am Theatre Royal Drury Lane 904 Vorstellungen.<br />
Zur Cast gehörten auch Bryan Pringle,<br />
Billy Boyle und Elaine Paige.<br />
The Magic Show<br />
28. Mai, Cort Theatre New York<br />
Eins der ersten Musicals von Komponist Stephen<br />
Schwartz (Buch Bob Randall) kam 1974<br />
an den Broadway und es war sicherlich eins der<br />
ungewöhnlichsten, denn der Star der Show, Zauberer<br />
Doug Henning, konnte weder tanzen noch<br />
singen. Bereits im Vorjahr gab es das Stück in<br />
Toronto, allerdings mit einem völlig anderen Kreativteam.<br />
Produzent Ivan Reitman ließ für New<br />
York alles neu schreiben und erhielt als Dank für<br />
den mutigen Schritt die Belohnung in Form von<br />
zwei Tony-Award-Nominierungen sowie 1.920<br />
gespielten Vorstellungen.<br />
Mack & Mabel<br />
6. Oktober 1974, Majestic Theatre Broadway<br />
Bis zu seinem Lebensende galt »Mack & Mabel« als<br />
eines der Lieblingsstücke von Jerry Herman – und<br />
dies, obwohl er ganz sicherlich auch eine seiner größten<br />
Enttäuschungen damit verbinden musste: Nach<br />
der Uraufführung am 6. Oktober 1974 im Majestic<br />
Theatre am Broadway wurde das Stück nach gerade<br />
einmal 66 Vorstellungen (und 6 Previews) bereits<br />
wieder abgesetzt. Dennoch erhielt es acht Tony-<br />
Award-Nominierungen; während allerdings Autor<br />
Michael Stewart nominiert wurde, erhielt Herman<br />
selbst keine Nominierung. Am Broadway spielte<br />
die junge Bernadette Peters an der Seite von Robert<br />
Preston die Hauptrolle. Nach einer deutlichen<br />
Buchüberarbeitung, inklusive der Veränderung des<br />
Endes, konnte das Stück in England Fuß fassen, am<br />
West End lief es 1995 270 Mal.<br />
Das Jahr der Beatles<br />
Sowohl am Off-Broadway als auch in Liverpool<br />
gab es je ein Musical über The Beatles. Am Off-<br />
Broadway spielte »Sgt. Pepper´s Lonely Hearts<br />
Club Band on the Road« für 66 Vorstellungen ‒<br />
das Stück von Robin Wagner und Tom O‘Horgan<br />
hatte insbesondere den Segen von John Lennon, der<br />
mehrfach bei den Proben dabei war. Einige Jahre<br />
später war es Basis für die Entwicklung des Films<br />
»Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band«, in dem<br />
u. a. Peter Frampton, The Bee Gees, Steve Martin,<br />
Aerosmith, Alice Cooper und Earth, Wind & Fire<br />
sowie Billy Preston mitspielten.<br />
In Liverpool kam hingegen »John, Paul, George,<br />
Ringo … and Bert« zur Uraufführung. Es lief acht<br />
Wochen lang im Everyman Theatre, bevor es dann<br />
74<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
anno... 1974<br />
im Sommer nach London ins Lyric Theatre wechselte,<br />
dort über ein Jahr lief und sogar als »Bestes<br />
Musical« von 1974 ausgezeichnet wurde. Anders als<br />
Besuchern und Kritikern gefiel George Harrison das<br />
Stück hingegen gar nicht, er verließ die Londoner<br />
Premiere und entzog dem Stück sogar die Rechte<br />
an dem Song ›Here Comes the Sun‹, so dass dieser<br />
mit ›Good Day Sunshine‹ ersetzt werden musste.<br />
Auch Paul McCartney mochte das Stück nicht und<br />
verhinderte eine Verfilmung.<br />
Dear Worthy Editor<br />
New Rochelle, New York<br />
»Dear Worthy Editor« gilt mit als Alan Menkens<br />
erstes Stück und half ihm, sich das Studium am<br />
College in New York zu finanzieren. Das Buch,<br />
basierend auf einer jüdischen Kolumne einer<br />
Tageszeitung, wurde von Menkens Mutter Judy<br />
geschrieben.<br />
Spannende Ur- und Erstaufführungen im<br />
deutschsprachigen Raum:<br />
De schönste Mann von de Reeperbahn<br />
6. Januar, Ohnsorg-Theater Hamburg<br />
Charly Niessen (Musik)<br />
Heinz Wunderlich und Walter Rothenburg (Text)<br />
Eine umjubelte Uraufführung auf Plattdeutsch bot<br />
das Ohnsorg-Theater in Hamburg: Die damaligen<br />
Stars Jürgen Pooch, Edgar Bessen, Heidi Kabel und<br />
Heidi Mahler spielten und sangen sich in der Boulevardkomödie<br />
in die Herzen der Zuschauer.<br />
Fanny Hill<br />
25. Januar, Raimund Theater Wien<br />
Paul Kuhn (Musik)<br />
Günther Schwenn (Text)<br />
Pippin<br />
10. Februar, Theater an der Wien, Wien<br />
Stephen Schwartz (Musik und Texte)<br />
Roger O. Hirson (Buch)<br />
Das Stück von Stephen Schwartz und Roger O. Hirson<br />
erlebte in der deutschen Übersetzung von Robert<br />
Gilbert am 10. Februar 1974 in Wien die deutschsprachige<br />
Erstaufführung. Erst über 20 Jahre später<br />
fand das Stück, dank des Theaters Pforzheim, auch<br />
den Weg auf die deutschen Bühnen.<br />
Man liest kein fremdes Tagebuch<br />
19. April, Metropol-Theater Berlin<br />
Conny Odd (Musik)<br />
Maurycy Janowski (Text)<br />
Rendezvous in Theben<br />
21. April, Schleswig-Holsteinisches<br />
Landestheater Schleswig<br />
Immo Kroneberg (Musik & Liedtexte)<br />
Friedrich Bremer & Nanna Reiter (Buch)<br />
Candid<br />
<strong>02</strong>. Juni, Volkstheater Rostock<br />
Hermann Thieme (Musik)<br />
Marcel Valmy (Texte)<br />
Während Leonard Bernsteins »Candide« bereits<br />
Erfolge feierte, wurde in der DDR »Candid« mit<br />
Musik von Hermann Thieme am 2. Juni 1974 am<br />
Theater Rostock uraufgeführt. So wie das amerikanische<br />
Vorbild auch hielt sich das Stück mit den<br />
Texten von Marcel Valmy sehr eng an die Vorlage<br />
Voltaires.<br />
Die Prinzessin auf der Erbse<br />
13. Juni, Theater Greiz<br />
Joachim-Dietrich Link (Musik)<br />
Friedrich Schmidt-Behrens (Texte)<br />
Terzett<br />
15. Juni, Musikalische Komödie Leipzig<br />
Gerd Natschinski (Musik)<br />
Jürgen Degenhardt (Liedtexte)<br />
Helmut Bez und Jürgen Degenhardt (Buch)<br />
Poker mit Dame<br />
8. September, Kleine Komödie im<br />
Bayerischen Hof, München<br />
Charly Niessen (Musik & Liedtexte)<br />
Andreas Rosgony (Buch)<br />
Auf glattem Parkett<br />
27. September, Theater Plauen<br />
Manfred Nitschke (Musik)<br />
Heinz Hall (Text)<br />
Vor der Tür ein Auto<br />
3. Oktober, Elbe-Elster-Theater Wittenberg<br />
Klaus Hofmann (Musik)<br />
Günther Liebenberg (Text)<br />
Seidenstrümpfe<br />
5. Oktober, Landestheater, Linz<br />
Cole Porter (Musik & Liedtexte)<br />
George S. Kaufmann, Laureen MacGrath, Abe<br />
Burrows (Buch)<br />
Das Landestheater Linz machte bereits 1974 auf sich<br />
aufmerksam, indem es die deutschsprachige Erstaufführung<br />
des Broadwayerfolges »Silk Stockings«<br />
auf die Bühne brachte. Das Stück wurde von Wilfried<br />
Steiner übersetzt und dann, ein Jahr später, am<br />
Staatstheater Kassel auch erstmalig in Deutschland<br />
gespielt.<br />
Letzter Ausweg Heirat<br />
9. Oktober, Staatsoperette Dresden<br />
Hans Kunze (Musik)<br />
Ursula Damm-Wendler & Horst Ulrich Wendler<br />
(Buch)<br />
Moral<br />
26. Oktober, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen<br />
Franz Grothe (Musik)<br />
Günther Schwenn (Buch & Liedtexte)<br />
Ludwig Thomas Roman »Moral« wurde von Günther<br />
Schwenn und Franz Grothe zu einem Musical<br />
umgearbeitet und dieses durchaus erfolgreich. Nach<br />
der Uraufführung am 26. Oktober 1974 wurde es<br />
auch in der Schweiz in St. Gallen sowie in der DDR<br />
gespielt.<br />
Fiktiver Report über ein amerikanisches<br />
Pop-Festival<br />
6. Oktober, Friedrichstadt-Palast Berlin<br />
Gábor Presser (Musik)<br />
Anna Adamis (Liedtexte)<br />
Sándor Pós (Buch)<br />
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki<br />
Nachdichtung der Liedtexte von Wolfgang Tilgner<br />
Gigi<br />
<strong>24</strong>. Oktober, Theater an der Wien, Wien<br />
Frederick Loewe (Musik)<br />
Alan Jay Lerner (Buch & Liedtexte)<br />
Das Stück von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner<br />
feierte in der Übersetzung von Robert Gilbert 1974<br />
am Theater an der Wien seine deutschsprachige<br />
Erstaufführung. Auf der Bühne standen damals<br />
große Stars, allen voran Johannes Heesters und<br />
Christiane Rücker, die beide auch knapp zwei Jahre<br />
später am Theater des Westens in Berlin die deutsche<br />
Erstaufführung spielten.<br />
Karneval in San Catarina<br />
10. Dezember, Stadttheater Freiberg<br />
Alexej Fried (Musik)<br />
Tibor Sedin (Buch & Liedtexte)<br />
Frau Warrens Gewerbe<br />
23. Dezember, Theater am Dom, Köln<br />
Charles Kálmán (Musik & Liedtexte)<br />
Peter Goldbaum (Buch)<br />
nach dem Schauspiel »Mrs Warren’s Profession«<br />
von George Bernard Shaw<br />
Sabine Haydn<br />
Quellen: musicallexikon.eu / wikipedia.com / broadway.<br />
com / playbill.com<br />
Johannes Heesters spielte 1974 in der<br />
deutschsprachigen Erstaufführung von<br />
»Gigi« am Theater an der Wien<br />
Foto: United Archives GmbH / Alamy Stock Photo<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 75
Abgeschminkt<br />
Ich finde, es ist eine moralische Verpflichtung<br />
Peter Scholz über seine vielfältigen Charity-Aktionen<br />
der Show zu halten, ging es richtig los. Seit<br />
Corona übernimmt das Vorderhaus das<br />
Halten der Spendenboxen. Die Einnahmen<br />
pro Show sind aber gleichgeblieben.<br />
Tolle Sache. Pro Show über 1.000 Euro. Da<br />
kommt ganz schön was zusammen.<br />
<strong>blimu</strong>: Ein besonderes Highlight war auch<br />
›Der fünfte Stern‹-WM-Song, der Musicalfans<br />
mit der Fußballwelt verbunden hat und<br />
unglaublich viel Aufmerksamkeit bekommen<br />
hat. Wie kam es damals dazu und wie<br />
haben Sie die Zeit rundherum empfunden?<br />
PSCH: Das war ein Spaßprojekt, das leider<br />
wegen des sehr frühen Ausscheidens der<br />
deutschen Nationalmannschaft nicht wirklich<br />
eine lange Wirkungsdauer hatte. Aber<br />
immerhin durfte ich einen Playbackauftritt<br />
vor dem Brandenburger Tor hinlegen. Ein<br />
schöner Spaß zwischendurch.<br />
<strong>blimu</strong>: Woher nehmen Sie die Kraft und Energie<br />
für Ihren wirklich intensiven Arbeitsalltag<br />
und diese Projekte?<br />
PSCH: Manchmal fehlt die Kraft, aber die<br />
Projekte zwingen einen ja weiterzumachen.<br />
Wir haben ja Verantwortung für unsere<br />
Künstler. Wenn ich dann die strahlenden<br />
Gesichter im Foyer sehe, weiß ich immer,<br />
wofür wir das machen. Es bedeutet den Menschen<br />
sehr viel. Interessanterweise werde ich<br />
auch zunehmend im Foyer angesprochen und<br />
kann damit direkt erspüren, was unsere Arbeit<br />
in den Leuten auslöst. Eine tolle Energie.<br />
<strong>blimu</strong>: Was führt Sie zu der Entscheidung,<br />
ein Charity-Projekt zu unterstützen?<br />
Foto: Christian Tech<br />
blickpunkt musical: Lieber Herr Scholz, Sie<br />
sind ein sehr umtriebiger Mensch, neben<br />
dem Musicalsommer Fulda und all den<br />
organisatorischen Aufgaben dafür stehen<br />
Sie selbst regelmäßig als Musiker auf der<br />
Bühne, sind Familienvater und vor allem<br />
seit vielen Jahren häufig Organisator von<br />
verschiedenen Charity-Aktionen. Können<br />
Sie uns kurz einen Überblick geben, was es<br />
da in den letzten Jahren alles gab?<br />
Peter Scholz: Angefangen haben wir im<br />
Jahr 2007. Da spielten wir »Elisabeth – Die<br />
Legende einer Heiligen« in Eisenach und<br />
irgendwie dachte ich, wir stellen jetzt mal<br />
eine Spendenbox ins Foyer und machen<br />
nach der Show einen Spendenaufruf für<br />
die José-Carreras-Leukämie-Stiftung... Das<br />
hatte noch nicht so toll funktioniert, erst<br />
als sich dann Darsteller selber bereit erklärt<br />
hatten, im Kostüm die Spendenboxen nach<br />
PSCH: Es ist eigentlich eine moralische<br />
Verpflichtung, wie ich finde. Wer ins Theater<br />
gehen kann, ist außerordentlich privilegiert.<br />
Es gibt so viele Menschen, die das<br />
nicht können. Entweder weil sie krank, alt,<br />
alleinerziehend, kinderreich oder schlicht zu<br />
arm sind. Wer sonst sollte was für die Menschen<br />
abgeben, die nicht dabei sein können?<br />
Da die Künstler nach jeder Show in Fulda<br />
eine Durchsage machen und der Darsteller<br />
sich das auch alles merken muss, können wir<br />
nicht jeden Tag für etwas anderes sammeln.<br />
Wir machen das meistens wochenweise und<br />
ich entscheide dann vor der Spielzeit, wer<br />
dabei sein kann. Das ist am Ende eine subjektive<br />
Entscheidung. Meistens kenne ich<br />
die Leute von den Organisationen persönlich,<br />
das schafft natürlich Vertrauen. Bei der<br />
76<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Abgeschminkt<br />
José-Carreras-Gala sind wir zum Beispiel<br />
der größte Spender überhaupt. Das macht<br />
uns auch ein bisschen stolz. Unsere 100.000<br />
Euro-Spende an die Deutsche Palliativstiftung<br />
in Jahr 2011 hat deren Arbeit erst<br />
richtig angeschoben. Heute ist das Thema<br />
etabliert.<br />
<strong>blimu</strong>: In den vielen Jahren – was war der /<br />
waren die berührendste(n) Moment(e) für<br />
Sie im Rahmen dieser Charity-Aktionen?<br />
PSCH: Ich war sehr oft bei der Carreras-<br />
Gala als Gast. Dort die Geschichten<br />
der Betroffenen live zu erleben hat mich<br />
mehrfach zum Weinen gebracht. Es ist ein<br />
unfassbares Leid und es ist so entscheidend,<br />
dass über Stiftungen geholfen wird,<br />
da unser Gesundheitssystem, aus welchen<br />
Gründen auch immer, nicht immer alles<br />
tun kann, was getan werden könnte.<br />
<strong>blimu</strong>: Sind bereits in näherer oder weiterer<br />
Zukunft Projekte / Konzerte oder ähnliches<br />
geplant, die man sich im Terminkalender<br />
notieren sollte?<br />
PSCH: Nun ja, in Fulda sammeln wir ja in<br />
jeder Show fleißig weiter. Mein Ziel im Jahr<br />
2007 war, eine Million Euro einzusammeln.<br />
Jetzt knacken wir bald die 2 Millionen und<br />
es gibt eigentlich kein Ziel mehr, außer weiter<br />
zu sammeln. Mal sehen, wieviel es am<br />
Ende wird. Wenn wir richtig Glück haben,<br />
vielleicht 5 Millionen? Wer weiß!<br />
<strong>blimu</strong>: Wenn unsere Leser Sie jetzt unterstützen<br />
möchten, wie können sie dies am<br />
besten tun?<br />
PSCH: Das Beste ist, ins Schlosstheater zu<br />
kommen und danach etwas zu spenden.<br />
In Fulda sind die Tickets ja deutlich<br />
günstiger als anderswo und da sollte doch<br />
der eine oder andere Euro zum Spenden<br />
übrigbleiben.<br />
Das Interview führte Sabine Haydn<br />
Wie alles begann: Im Premierenjahr von<br />
»Elisabeth – Legende einer Heiligen« 2007 in<br />
Eisenach rief erstmals Jesse Garon (Walther<br />
von der Vogelweide) das Publikum nach<br />
der Show zu Spenden für die José-Carreras-<br />
Leukämie-Stiftung auf<br />
Foto: Merit Murray<br />
Fotos (6): spotlight musicals<br />
Übergabe an die Organisation von<br />
»Tour der Hoffnung« 2<strong>02</strong>3<br />
Scheckübergabe an das Hospiz des<br />
Malteser Hilfsdienstes 2<strong>02</strong>3<br />
Scheckübergabe an José Carreras<br />
für seine Stiftung 2009<br />
Übergabe an die Organisation von<br />
»Tour der Hoffnung« 2017<br />
Scheckübergabe mit Chris de<br />
Burgh (2.v.r.) für »Schule machen<br />
ohne Gewalt« 2<strong>02</strong>2<br />
Scheckübergabe an José Carreras<br />
für seine Stiftung 2016<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 77
Mit Unterstützung von sound of music<br />
Einspielungen<br />
Einspielungen<br />
zusammengestellt von Mario Stork<br />
Die Cast von »Harmony« v.l.n.r.: Blake Roman, Steven Telsey, Zal Owen, Danny Kornfeld, Eric Peters und Sean Bell<br />
Foto: Julieta Cervantes<br />
Harmony<br />
Original Broadway Cast 2<strong>02</strong>3<br />
Weit mehr als ein Vierteljahrhundert arbeiteten<br />
Barry Manilow (Musik) und Bruce Sussman<br />
(Buch und Songtexte) an ihrem (nach<br />
»Copacabana«) zweiten Musical. Seit der ersten<br />
Aufführung in San Diego 1997 erlebte die<br />
Show diverse Inkarnationen, bis sie 2<strong>02</strong>2 endlich<br />
New York erreichte. Die von Presse und<br />
Publikum gefeierte Inszenierung im Museum<br />
of Jewish Heritage wurde im Oktober 2<strong>02</strong>3<br />
an den Broadway transferiert, musste dort<br />
aber bereits Anfang Februar wieder schließen.<br />
Bedauerlich, denn kaum ein aktuelles Musical<br />
scheint so in diese Zeit zu passen…<br />
»Harmony« erzählt die wahre Geschichte<br />
der »Comedian Harmonists«. Im ersten<br />
Akt erleben wir die Gesangsgruppe auf dem<br />
Höhepunkt ihrer internationalen Karriere,<br />
beginnend mit ihrem USA-Debüt in der<br />
Carnegie Hall. Im zweiten Akt zerstören<br />
die Repressionen der nationalsozialistischen<br />
Regierung zunehmend das, was die sechs<br />
Musiker erreicht und aufgebaut haben, bis<br />
das Ensemble schließlich per Dekret von oben<br />
aufgelöst wird und den jüdischen Mitgliedern<br />
nur noch die Flucht bleibt…<br />
Im Gegensatz zu diversen auch hierzulande<br />
gespielten Theaterstücken, die dieselben<br />
historischen Fakten mit Originalliedern der<br />
»Comedian Harmonists« garnieren, schrieben<br />
Sussman und Manilow eine komplett<br />
eigenständige Partitur. Erwartungsgemäß<br />
gibt es natürlich ein paar wenige Nummern,<br />
die die Gruppe bei Auftritten zeigen und sich<br />
stilistisch an den Stil des Ensembles samt<br />
Close-Harmony-Gesang anlehnen wie z.B.<br />
›Harmony‹. Diese wirken aber eher wie ein<br />
weichgespülter Abglanz der Originale, ohne<br />
deren oft widerborstigen Charme zu erreichen.<br />
Zu großer Form laufen die Songwriter<br />
hingegen in den abseits der Konzertbühne<br />
spielenden Nummern auf. Barry Manilow<br />
demonstriert hier seine gesamte Bandbreite<br />
als Komponist. Zwar klingen gelegentlich<br />
die Soft-Pop-Sounds und Latin-Rhythmen<br />
durch, die man mit ihm assoziiert (›We’re<br />
Goin’ Loco!‹). Die wahre Stärke dieses Scores<br />
liegt aber in den Charaktersongs und handlungsgetriebenen<br />
Stücken, bei denen der<br />
Komponist immer wieder das »Golden Age«<br />
des Broadway-Musicals heraufbeschwört,<br />
jüdische Folklore, Märsche und Walzer<br />
ebenso einbindet wie Klassik-Zitate und sich<br />
auch nicht scheut, mit düster dräuenden Klängen<br />
die zunehmend dramatischer werdende<br />
Story zu illustrieren. Zu den vielen Highlights<br />
zählen Songs wie ›This Is Our Time‹,<br />
›The Wedding‹, ›Home/Threnody (Part 1)‹,<br />
›In This World‹ oder ›Stars in the Night‹.<br />
Als Bonustrack gibt es übrigens auch noch<br />
ein von Barry Manilow selbst eingesungenes<br />
Demo zum hübschen, aus der Show gestrichenen<br />
Song ›Where Does the Time Go?‹. Mit<br />
exzellent ausgeführtem Satzgesang und eindringlichen<br />
Charakterisierungen bestechen<br />
die Darsteller der »Comedian Harmonists«,<br />
allen voran Broadway-Legende Chip Zien, der<br />
als »Rabbi« Josef Roman Cycowski in Rückblenden<br />
durch die Handlung führt und mit<br />
›Threnody‹ einen der packendsten Songs auf<br />
dem Album gestaltet. Gemeinsam mit Danny<br />
Kornfeld (Young Rabbi), Sean Bell (Robert<br />
Biberti), Zal Owen (Harry Frommermann),<br />
Eric Peters (Erich Collin), Blake Roman<br />
(Erwin »Chopin« Bootz) und Steven Telsey<br />
(Ari Leshnikoff) erzählt er die Geschichte<br />
dieser durch rechtsradikale Ideologie zerstörten<br />
Karrieren und Leben. Sierra Boggess<br />
(Mary) und Julie Benko (Ruth) flankieren sie<br />
in den größeren weiblichen Rollen und teilen<br />
sich das traurige, aber wunderschöne Duett<br />
›Where You Go‹. John O’Neill dirigiert das<br />
33-köpfige (!) Orchester, das in der farbenreichen<br />
Orchestrierung von Doug Walter<br />
besonders durch seine große Streichergruppe<br />
besticht. »Harmony« präsentiert sich so als<br />
»klassisches« Musical mit nostalgischem<br />
Flair und einer zugleich brandaktuellen Botschaft.<br />
Hoffentlich steht ihm trotz des frühen<br />
Broadway-Aus eine Zukunft auf den Bühnen<br />
der Welt bevor – diese Geschichte und diese<br />
Lieder sollten gehört werden.<br />
Fazit: Ein brillantes, bewegendes neues<br />
Musical – unbedingt reinhören!<br />
17 Titel<br />
65 min<br />
Digipack mit 32-seitigem<br />
Booklet mit<br />
Credits, Liner Notes,<br />
Songtexten und Fotos<br />
Sondheim’s Old Friends<br />
Concert Cast 2<strong>02</strong>2<br />
»Side by Side by Sondheim«, »Putting It Together«,<br />
»Sondheim on Sondheim« – die Zahl von<br />
Revuen und Tribute-Programmen zu Stephen<br />
Sondheims Werk war schon zu dessen Lebzeiten<br />
stattlich. Am 3. Mai 2<strong>02</strong>2, rund ein halbes Jahr<br />
nach dem Tod des gefeierten Komponisten und<br />
78<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Einspielungen<br />
Texters, fand im Londoner Sondheim Theatre<br />
ein Galakonzert mit beeindruckender Starbesetzung<br />
statt. Namhafte Sondheim-Alumni wie<br />
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Michael<br />
Ball, Helena Bonham Carter, Judi Dench,<br />
Maria Friedman, Bernadette Peters, Imelda<br />
Staunton u.v.a. gaben sich mit aktuellen (und<br />
jüngeren) West-End-Profis das Mikro in die<br />
Hand, anmoderiert von niemand Geringerem<br />
als Impresario Cameron Mackintosh persönlich.<br />
Das als einmaliges Event geplante Konzert lief<br />
im Herbst 2<strong>02</strong>3 schließlich, mit verschlankter,<br />
aber nach wie vor illustrer Besetzung, 16<br />
Wochen lang im Gielgud Theatre. Der Livemitschnitt<br />
des ursprünglichen Galaabends bildet<br />
also nicht die spätere West-End-Produktion ab.<br />
Und das ist durchaus bedauerlich, denn mehrere<br />
aufgenommene Shows zur Auswahl oder die Sorgfalt<br />
einer Studioproduktion hätten dem Album<br />
gutgetan…<br />
Die Setlist des Konzerts besteht hauptsächlich<br />
aus nach Blöcken geordneten Highlights aus<br />
Sondheims bekanntesten Musicals (»Company«,<br />
»Into the Woods«, »A Little Night Music«,<br />
»Sweeney Todd« und »Follies«), ergänzt durch<br />
Titel aus weniger prominenten Shows, Auszüge<br />
aus Werken, für die Sondheim lediglich die Liedtexte<br />
schrieb (»West Side Story« und »Gypsy«)<br />
sowie die eine oder andere Rarität (›Live Alone<br />
and Like It‹ aus dem Film »Dick Tracy« etwa).<br />
Viele der Nummern sind, auch wenn sie nicht<br />
aus ein und demselben Musical stammen,<br />
nahtlos miteinander verbunden, wobei die<br />
Übergänge schon mal recht abrupt und holprig<br />
geraten (Arrangements: Stephen Metcalfe).<br />
Andererseits ist mit einer Tracklist in der Hand<br />
der Überraschungseffekt zugegebenermaßen<br />
nicht mehr so groß, als wenn man das Konzert<br />
live im Theater erlebt hätte, so dass man über<br />
diesen Kritikpunkt noch hinwegsehen kann.<br />
Gravierender ist, dass die Doppel-CD zwar mit<br />
einem ansprechenden Booklet daherkommt,<br />
aber nirgendwo die zahlreichen Interpret:innen<br />
den Songs zugeordnet werden. Hier helfen die<br />
Streamingdienste mit Informationen ab, aber<br />
der Sinn einer physischen Veröffentlichung<br />
kann es doch gerade nicht sein, am Ende doch<br />
auf Spotify & Co zurückgreifen zu müssen.<br />
Möchte man es boshaft formulieren, hätte<br />
man im Nachhinein allerdings auch so manche<br />
Besetzung nicht genau erkannt. Es war sicher<br />
für das Publikum im Saal (dessen frenetischer<br />
Applaus mehr als einmal den Hörfluss stört)<br />
ein Erlebnis, all diese Stars zusammen auf einer<br />
Bühne zu erleben. Doch nicht jede verdiente<br />
und einst gefeierte Stimme ist gut gealtert.<br />
Regelrecht erschreckend ist leider ausgerechnet<br />
der Auftritt von Bernadette Peters – ihre Darbietung<br />
des Rotkäppchens (!) aus »Into the Woods«<br />
sowie ihres früher so unvergleichlichen ›Children<br />
Will Listen‹ möchte man am liebsten gleich<br />
wieder vergessen, so sehr haben die gesangliche<br />
Leistung und die Artikulation gelitten. Viel<br />
besser gelingt Peters zum Glück ihr ›Losing<br />
My Mind‹ – da weiß man wieder, warum<br />
diese Künstlerin zu den größten Sondheim-<br />
Interpretinnen gezählt wird. Auch Michael Ball<br />
klingt bei seiner Darbietung des (hier in einer<br />
erweiterten Fassung gespielten) ›Loving You‹ aus<br />
»Passion« angestrengt und bemüht, so dass aus<br />
Foscas fragilem und gerade deshalb so tief bewegendem<br />
Liebeslied eine (pardon) geknödelte Arie<br />
wird. Besser macht Ball seine Sache im »Sweeney<br />
Todd«-Block; besonders im Zusammenspiel mit<br />
Maria Friedman (deren mittlerweile dunkleres,<br />
raueres Timbre gut zu Mrs Lovett passt) gelingen<br />
ihm gute Momente. Auf der Habenseite<br />
stehen u. a. ein tolles ›Send in the Clowns‹ von<br />
Judi Dench (deren brüchiger Gesang in diesem<br />
Fall die Interpretation noch tiefgründiger wirken<br />
lässt), ein charmantes ›I’m Still Here‹ von<br />
Petula Clark, Imelda Stauntons immer noch fulminantes<br />
›Everything’s Coming up Roses‹ oder<br />
grandiose Ensemblenummern wie ›Sunday‹ und<br />
›Being Alive‹. Auch das 25-köpfige Orchester<br />
unter Leitung von Alfonso Casado Trigo sorgt<br />
für einen akustischen Genuss. So halten sich<br />
Licht und Schatten auf dieser Doppel-CD die<br />
Waage. Eingefleischte Sondheim-Fans dürften<br />
wenig finden, das den Kauf zwingend erforderlich<br />
macht, für Einsteiger gibt es Sampler oder<br />
Aufnahmen ähnlicher Revuen mit teilweise besseren<br />
Interpretationen. Am besten nimmt man<br />
das Album als das, was es ist: Das Dokument<br />
eines hochemotionalen, im Theater sicherlich<br />
mitreißenden Abends, der Leben und Werk<br />
eines der wichtigsten Musicalkomponisten überhaupt<br />
feiert und würdigt.<br />
Fazit: Best of Sondheim mit vielen Stars, aber<br />
nicht durchgehend geglückten Darbietungen.<br />
41 Titel<br />
CD 1: 68 min<br />
CD 2: 62 min<br />
Doppel-Jewel-Case mit<br />
16-seitigem Booklet<br />
mit Credits, Liner<br />
Notes und Fotos<br />
Wonka<br />
Original Motion Picture Soundtrack 2<strong>02</strong>3<br />
Mit seinem kurz vor Weihnachten 2<strong>02</strong>3 angelaufenen<br />
Film präsentierte Regisseur und<br />
(gemeinsam mit Simon Farnaby) Co-Autor Paul<br />
King ein Prequel zu Roald Dahls mehrfach verfilmtem<br />
und für die Musicalbühne adaptierten<br />
Klassiker »Charlie und die Schokoladenfabrik«.<br />
Wir erfahren diesmal mehr über die Vorgeschichte<br />
Willy Wonkas, wie er, nach Jahren auf<br />
Weltreise, zum Hersteller besonderer Schokoladen<br />
avanciert und letztlich zu seiner Fabrik<br />
kommt, die dann den Schauplatz für Dahls<br />
Story bildet. Wie die bisherigen Adaptionen des<br />
Stoffes ist auch »Wonka« als Musical angelegt.<br />
Die Songs steuerte Neil Hannon bei, wobei die<br />
Hits ›Pure Imagination‹ und ›Oompa Loompa‹<br />
von Leslie Bricusse und Anthony Newley aus<br />
der 1971er Verfilmung natürlich nicht fehlen<br />
dürfen. Doch auch Hannons neue Lieder entwickeln<br />
einen ganz eigenen Charme und schaffen<br />
mit ihrer Mischung aus Showtunes, Vaudeville<br />
und Chanson, gewürzt hier und da mit einer<br />
Prise Jazz oder Latin, eine gleichermaßen nostalgische<br />
wie zeitlose Atmosphäre. Dabei erweisen<br />
sich vor allem Nummern wie ›A Hatful of<br />
Dreams‹, ›You’ve Never Had Chocolate Like<br />
This‹, ›For a Moment‹ oder ›A World of Your<br />
Own‹ als unterhaltsam und eingängig, setzen<br />
sich jedoch erst nach mehrfachem Hören im<br />
Ohr fest. Hauptdarsteller Timothée Chalamet,<br />
der die meisten Lieder interpretiert, beweist<br />
dabei ein natürliches Gesangstalent. Und sogar<br />
Hugh Grant, der einen Oompa-Loompa spielt,<br />
darf singen und schlägt sich wacker. Gelungen<br />
sind auch die Score-Kompositionen von Joby<br />
Talbot, die eine märchenhafte, oft auch leicht<br />
melancholische Stimmung evozieren und das<br />
musikalische Erlebnis schön abrunden. Ob<br />
»Wonka« und seine Songs einen ähnlichen<br />
Klassiker-Status erreichen werden wie der Original-Film<br />
mit den Bricusse/Newley-Hits, darf<br />
bezweifelt werden; gute Unterhaltung bietet der<br />
Soundtrack allemal.<br />
Fazit: Gelungene Filmmusik mit unterhaltsamen<br />
Songs als Ergänzung zum Original und<br />
zur Musicalversion.<br />
<strong>24</strong> Titel<br />
56 min<br />
Jewel-Case mit<br />
12-seitigem Booklet<br />
mit Credits und Fotos<br />
Waitress<br />
Blu-ray/DVD 2<strong>02</strong>3<br />
Als »Waitress« 2016 den Broadway erreichte,<br />
machte es Schlagzeilen als eine der ersten<br />
großen Produktionen, deren wichtigste<br />
Positionen im Kreativteam von Frauen<br />
besetzt waren. Neben Komponistin und<br />
Songtexterin Sara Bareilles und Buchautorin<br />
Jessie Nelson halfen u. a. Diane Paulus<br />
(Regie), Lorin Latarro (Choreographie)<br />
und Nadia DiGiallonardo (musikalische<br />
Leitung) dabei, die auf Adrienne Shellys<br />
gleichnamigem Film von 2007 basierende<br />
Geschichte der Kellnerin und leidenschaftlichen<br />
Bäckerin Jenna auf die Bühne zu bringen.<br />
Bei so viel Frauenpower kein Wunder,<br />
dass die Damen in dieser Show die stärksten<br />
Charaktere sind: Jenna ist unglücklich in<br />
ihrem Job bei Joe’s Diner und in ihrer Ehe<br />
mit Earl. Sie träumt davon, sich aus dieser<br />
toxischen Beziehung zu befreien und sich<br />
mit ihren allseits beliebten und gepriesenen<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
79
Mit Unterstützung von sound of music<br />
Einspielungen<br />
Kuchen selbstständig zu machen. Immer an<br />
ihrer Seite sind ihre Kolleginnen und besten<br />
Freundinnen Becky und Dawn. Als Jenna<br />
unverhofft schwanger wird, nimmt ihr<br />
Leben eine andere Richtung: Sie beginnt<br />
eine stürmische Affäre mit ihrem (verheirateten)<br />
Arzt und legt Geld zur Seite, um an<br />
einem Backwettbewerb teilzunehmen, bis<br />
Earl ihr auf die Schliche kommt…<br />
Über weite Strecken und obwohl immer<br />
wieder auch ernste Themen angeschnitten<br />
werden, kommt »Waitress« als Feelgood-<br />
Show mit köstlichem Humor, viel Tempo,<br />
eingängigen Pop-Songs und ein wenig<br />
Herz-Schmerz daher. Erfrischend ist, dass<br />
die Geschichte nicht endet wie die typische<br />
Romantikkomödie: Jenna steht ihre Frau,<br />
beendet das Verhältnis mit Dr. Pomatter,<br />
trennt sich von ihrem Gatten und zieht ihre<br />
Tochter Lulu alleine groß. Zugleich erbt sie<br />
das Diner von dessen Vorbesitzer und kann<br />
so auch ihre beruflichen Ambitionen erfüllen.<br />
Und für all das braucht sie eben nicht<br />
den männlichen Ritter auf dem weißen<br />
Pferd, mit dem sie in den allermeisten anderen<br />
Musicals zum Schluss glücklich liiert<br />
gewesen wäre. Die Show kehrte nach dem<br />
Covid-bedingten Aus der Originalproduktion<br />
als eines der ersten Broadway-Musicals<br />
im Herbst 2<strong>02</strong>1 zurück auf die Bühne und<br />
wurde während seiner limitierten Spielzeit<br />
live im New Yorker Ethel Barrymore Theatre<br />
gefilmt. Regisseur Brett Sullivan setzt<br />
Diane Paulus’ Inszenierung sensibel für den<br />
Bildschirm um, setzt wohldosiert filmische<br />
Tricks wie Zeitlupen ein, ist mit der Kamera<br />
immer nah an den Figuren, behält zugleich<br />
aber auch immer alle wichtigen Ereignisse<br />
auf der Bühne im Blick. Es entstand ein<br />
ausgesprochen gelungener Hybrid zwischen<br />
Film und Theateraufführung, dem man<br />
gern für knapp zweieinhalb Stunden folgt.<br />
Natürlich merkt man Sara Bareilles, die<br />
hier höchstpersönlich die Rolle der Jenna<br />
übernimmt, ihre enge Verbindung zum<br />
Material an. Sie spielt sympathisch und<br />
bringt eine schöne Balance aus Toughness<br />
und Verletzlichkeit ein. Ein wahres Energiebündel<br />
mit umwerfendem Witz ist Charity<br />
Angél Dawson als Becky, während Caitlin<br />
Houlahan ihre Dawn herrlich als nerdiges<br />
Mauerblümchen anlegt. Unter den Nebendarstellerinnen<br />
sticht besonders Anastacia<br />
McCleskey hervor, die aus jedem ihrer<br />
Auftritte als Arzthelferin mit knochentrockenen<br />
Sprüchen ein Glanzstück macht.<br />
Bei den Herren gefällt Drew Gehling als<br />
etwas unbeholfener, sich Hals über Kopf in<br />
Jenna (und ihre Kuchen) verliebender Dr.<br />
Pomatter. Joe Tippett spielt den Earl gerade<br />
unsympathsich genug, dass er glaubhaft<br />
bleibt. Als herrlich schräger Ogie glänzt<br />
Christopher Fitzgerald, Eric Anderson gibt<br />
den Restaurant-Betreiber Cal als harten<br />
Hund mit goldenem Herzen, und Dakin<br />
Matthews als alternder Diner-Inhaber Joe<br />
entpuppt sich hinter der unwirschen Fassade<br />
letztlich als männliche Version der guten<br />
Fee für Jenna. So bietet »Waitress« auf DVD<br />
bzw. Blu-ray beste Musical-Unterhaltung<br />
für zu Hause. Achtung ist allerdings vor<br />
dem Kauf geboten: Entgegen der ursprünglichen<br />
Ankündigung des Labels sind die<br />
Discs nicht code-frei, weshalb ein kompatibler<br />
Player für Regionalcode 1 (DVD)<br />
bzw. Region A (Blu-ray) benötigt wird.<br />
Fazit: Gelungener Mitschnitt eines herzerwärmenden<br />
Musicals fürs Heimkino.<br />
DVD: RC 1; Blu-ray<br />
Disc: Region A<br />
144 min.<br />
Sprache: Englisch<br />
Untertitel: Englisch<br />
Ton: Dolby Digital 5.1<br />
Special Features:<br />
2 Trailer<br />
• Premieren April / Mai<br />
<strong>02</strong>.04.20<strong>24</strong> Tell Me on a Sunday Kleines Theater Bad Godesberg<br />
05.04.20<strong>24</strong> Cats Bürgerhaus Mörfelden-Walldorf<br />
06.04.20<strong>24</strong> Pinkelstadt – ab in die Büsche! TfN – Theater für<br />
Niedersachsen Hildesheim<br />
06.04.20<strong>24</strong> Panikherz Theater am Puls Schwetzingen<br />
06.04.2<strong>02</strong>3 Spring Awakening – Frühlings Erwachen<br />
Theater Trier – Großes Haus<br />
07.04.20<strong>24</strong> Tschitti Tschitti Bäng Bäng Landestheater<br />
Detmold – Großes Haus<br />
12.04.20<strong>24</strong> Baby Talk – Das Kinder-Krieg-Musical Eduard-von-<br />
Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz<br />
12.04.20<strong>24</strong> La Cage aux Folles Theater Nordhausen<br />
12.04.20<strong>24</strong> Cabaret Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin<br />
13.04.20<strong>24</strong> Cabaret Landesbühnen Sachsen Radebeul<br />
13.04.20<strong>24</strong> Peter Pan Staatstheater Kassel – Schauspielhausl<br />
13.04.20<strong>24</strong> Cabaret Schlweswig-Holsteinisches Landestheater<br />
Flensburg<br />
13.04.20<strong>24</strong> Das Licht auf der Piazza Musiktheater Linz – BlackBox<br />
19.04.20<strong>24</strong> Hedwig and the Angry Inch Mittelsächsisches Theater<br />
Freiberg<br />
20.04.20<strong>24</strong> My Fair Lady Theater Hagen – Großes Haus<br />
20.04.20<strong>24</strong> The Rocky Horror Show Landestheater Coburg – Globe<br />
20.04.20<strong>24</strong> The Story of My Love MIR Musiktheater im Revier<br />
Gelsenkirchen<br />
20.04.20<strong>24</strong> Zorro Theater Hof – Großes Haus<br />
25.04.20<strong>24</strong> La Cage aux Folles Stadttheater Klagenfurt<br />
27.04.20<strong>24</strong> Im weißen Rössl Theater Rudolstadt – Meiniger Hof<br />
Saalfeld<br />
01.05.20<strong>24</strong> My Fair Lady Harztheater Halberstadt – Großes Haus<br />
03.05.20<strong>24</strong> Carrie Theater Lüneburg – Junge Bühne T.3<br />
80<br />
07.05.20<strong>24</strong> Ku´damm 59 Theater des Westens Berlin<br />
10.05.20<strong>24</strong> The Rocky Horror Show Mainfranken Theater<br />
Würzburg<br />
12.05.20<strong>24</strong> Little Miss Sunshine Theater Altenburg / Gera Altenburg<br />
15.05.20<strong>24</strong> Ich will keine Schokolade Contra-Kreis-Theater Bonn<br />
21.05.20<strong>24</strong> Pride and Prejudice (*sort of) Vienna´s English Theatre<br />
Wien<br />
25.05.20<strong>24</strong> Strike up the Band oder Der Käsekrieg Musiktheater<br />
Linz<br />
25.05.20<strong>24</strong> Anything Goes Gerhard-Hauptmann-Theater Görlitz<br />
• Kommende Neuererscheinungen<br />
CD EDITH PIAF, JE VOUS AIME – Original London Cast 1977<br />
22. März 20<strong>24</strong><br />
CD ZAUBERFLÖTE – DAS MUSICAL – Original Studio Cast 20<strong>24</strong><br />
28. März 20<strong>24</strong><br />
DVD / Blu-ray THE COLOR PURPLE<br />
8. April 20<strong>24</strong><br />
CD ÄNGLAGÅRD – Original Stockholm Cast 2<strong>02</strong>3<br />
12. April 20<strong>24</strong><br />
CD KU´DAMM 59 – DAS MUSICAL – Original Berlin Cast 20<strong>24</strong><br />
12. April 20<strong>24</strong><br />
CD THE SHINING – Original US Cast 2<strong>02</strong>3<br />
12. April 20<strong>24</strong><br />
CD HERCULES – Das heldenhafte Musical – Original Hamburg Cast 20<strong>24</strong><br />
31. Mai 20<strong>24</strong><br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
Abonnenten-Info<br />
Die Seite für unsere Abonnenten<br />
der blickpunkt musical!<br />
Wiederkehrende Infos sowie exklusive Angebote, Gewinnspiele und Umfragen<br />
Neu im neuen Jahr:<br />
News<br />
blickpunkt musical erscheint jetzt nicht in der UM Verlag GmbH, sondern<br />
wird von der JS Hauptstädter Wortspiele UG verlegt.<br />
Kontaktdaten<br />
Änderung oder Kündigung des Abos<br />
Per E-Mail an abo@blickpunktmusical.online oder per Post an:<br />
Gewinnspiel<br />
»A Chorus Line« Tickets<br />
Wir verlosen 3 x 2 Tickets für »A Chorus Line« am 23. Juni 20<strong>24</strong>, 14.30 Uhr<br />
im F1rst Stage Theater in Hamburg.<br />
blickpunkt musical<br />
JS Hauptstädter Wortspiele UG<br />
Graacher Straße 12<br />
12<strong>24</strong>7 Berlin<br />
Telefonische Nachfragen unter +49 (0)176 816 787 68<br />
Alles rund um Ihr Abo<br />
Teilnahmeberechtigt sind nur Abonnenten der .<br />
Die Teilnahme kann per E-Mail an abo@blickpunktmusical.online<br />
oder per Brief erfolgen. Bei mehr als 3 Teilnehmern entscheidet das<br />
Losverfahren.<br />
Einsendeschluss ist der 29. April 20<strong>24</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Muss ich bei einem Umzug meine Adressänderung mitteilen?<br />
JA! Wir werden vom Postservice weder informiert, noch werden die Hefte bei<br />
einem Postnachsendeantrag nachgesendet.<br />
Kann ich meine Adressenänderung im Webshop angeben?<br />
NEIN! Wir erhalten darüber keine Information.<br />
Ist es ratsam, bei Namensänderung den neuen Namen mitzuteilen?<br />
Ja, bei Heirat, Trennung oder Umbenennung sollte, besser muss der neue Name<br />
mitgeteilt werden.<br />
<strong>Ausgabe</strong> 127 (01/20<strong>24</strong>)<br />
€ 7,50 (DE) • € 8,00 (EU)<br />
ISSN 1619-9421<br />
www.blickpunktmusical.online<br />
Wenn ich umziehe und keine Adresse mitteile, endet dann mein Abo?<br />
NEIN! Ihr Abo besteht weiter.<br />
Mein Heft ist nicht angekommen oder wurde beschädigt. Was soll ich tun?<br />
Bitte senden Sie uns eine E-Mail oder rufen Sie an. Wir senden Ihnen eine<br />
Ersatzausgabe zu.<br />
Ich habe gekündigt und bislang keine Bestätigung erhalten.<br />
Was kann ich tun?<br />
Falls alle Rechnungen bezahlt sind, erhalten Sie keine weitere Bestätigung. Auf der<br />
jeweils letzten Rechnung ist dann die letzte <strong>Ausgabe</strong> Ihres Abos nachlesbar.<br />
Was ist die sicherste und was die günstigste Art einer Kündigung?<br />
Am sichersten ist ein Einwurfeinschreiben. Hier bestätigt<br />
der Briefträger den Einwurf beim Empfänger. Am günstigsten<br />
ist natürlich eine E-Mail. Hier trägt der Absendende die Verantwortung<br />
dafür, dass die E-Mail auch ankommt.<br />
Kasimir & Karoline<br />
Uraufführung an der Staatsoper Hannover<br />
Chicago Berlin<br />
Les Misérables St. Ga len<br />
Cinderella Wuppertal<br />
Sunset Boulevard London<br />
Lasst uns die Welt vergessen Wien<br />
Das Phantom der Oper<br />
Zurück im Wiener Raimund Theater<br />
<strong>Ausgabe</strong> 128 (<strong>02</strong>/20<strong>24</strong>)<br />
€ 7,50 (DE) • € 8,00 (EU)<br />
ISSN 1619-9421<br />
www.blickpunktmusical.online<br />
West Side Story Wien<br />
SIX The Musical Berlin<br />
Die Königinnen Linz<br />
Der Große Gatsby Göttingen<br />
Pretty Woman London<br />
Hanf. Ein berauschender Abend Schwedt<br />
Notre Dame de Paris Paris<br />
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www.blickpunktmusical.online<br />
blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />
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Ausblick blickpunkt musical <strong>Ausgabe</strong> 129<br />
Das spannende Musical-Frühjahr 20<strong>24</strong> geht weiter – die eine große<br />
Premiere liegt gerade hinter uns, weitere große und mit viel Freude<br />
erwartete Premieren und sogar Uraufführungen lagen leider nach<br />
unserem Redaktionsschluss, aber dafür können wir uns jetzt schon<br />
auch auf die nächste <strong>Ausgabe</strong> freuen!<br />
In Hamburg findet eine mit viel Spannung erwartete Disney-<br />
Uraufführung statt: »Hercules« wird die Neue Flora für sich beanspruchen.<br />
In München / Füssen hat ein deutscher Komponist ein<br />
berühmtes Mozart-Werk als Musical neu geschaffen: Frank Nimsgerns<br />
»Zauberflöte – Das Musical« wird uraufgeführt.<br />
Ebenfalls mit Spannung erwartet wird die Uraufführung von<br />
»Ku´damm 59 – Das Musical«, welches im Theater des Westens in<br />
Berlin hoffentlich an den großen Erfolg des Vorgängers »Ku´damm 56 –<br />
Das Musical« anknüpfen kann.<br />
Auch der Blick nach Österreich wird wieder spannend:<br />
Mit »Ein bisschen trallalala« zeigt die Volksoper Wien wieder eine<br />
Uraufführung, und in Gmunden hebt sich der Vorhang für die<br />
deutschsprachige Erstaufführung von »Dear Evan Hansen«.<br />
Wir haben auch schon spannende Interviewtermine vereinbart,<br />
neben Alan Menken und Thomas Schumacher durften wir auch<br />
Dennis Schulze zu ausführlichen Interviews in Hamburg treffen.<br />
Sie sehen – es bleibt aufregend, faszinierend und wunderschön in<br />
der deutschsprachigen Welt des Musicals!<br />
Impressum<br />
JS Hauptstädter Wortspiele UG<br />
Graacher Straße 12<br />
12<strong>24</strong>7 Berlin<br />
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Herausgeber und Verlag<br />
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Redaktion<br />
blickpunkt musical<br />
Graacher Straße 12<br />
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redaktion@blickpunktmusical.online<br />
Chefredaktion<br />
Sabine Haydn<br />
sabine.haydn@blickpunktmusical.online<br />
Bildredaktion<br />
Birgit Bernds<br />
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Mitarbeiterinnen<br />
Birgit Bernds<br />
Dr. Merit Murray<br />
Autorinnen und Autoren dieser <strong>Ausgabe</strong><br />
Dr. Stephan Drewianka<br />
Dan Dwyer<br />
Hartmut Forche<br />
Martina Friedrich<br />
Sabine Haydn<br />
Ingrid Kernbach<br />
Sandy Kolbuch<br />
Yvonne Mresch<br />
Dr. Merit Murray<br />
Ludovico Lucchesi Palli<br />
Mina Piston<br />
Sabine Schereck<br />
Stefan Schön<br />
Mario Stork<br />
Steffen Wagner<br />
Übersetzungen<br />
Dr. Merit Murray<br />
Layout<br />
Jürgen Kretten, Wien<br />
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Oliver Wünsch<br />
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Nr. 28 vom 1. März 20<strong>24</strong><br />
Abonnements-Bedingungen<br />
Preis der Zeitschrift im freien Verkauf:<br />
€ 7,50; Jahresabo: € 37,90. Abonnements können jederzeit<br />
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gekennzeichnete Artikel stellen nicht in jedem Fall die<br />
Meinung der Redaktion dar. Für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte und Fotos wird keine Haftung übernommen.<br />
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blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>
News<br />
04/20<strong>24</strong> – 05/20<strong>24</strong><br />
Bühnentalent 20<strong>24</strong> gesucht<br />
In einer bundesweiten Aktion geht das Schülerportal für Berufsorientierung<br />
stuzubi auch in diesem Jahr wieder auf Talentsuche.<br />
Die besten Bewerber:innen gewinnen nicht nur die Teilnahme<br />
an den bundesweit stattfindenden Intensiv-Workshops für Tanz,<br />
Gesang und Schauspiel, sondern erhalten auch die Chance auf<br />
eine Einladung zu der Stipendiumsprüfung der Stage School.<br />
stuzubi.de<br />
A Chorus Line - Das Musical<br />
Auch in diesem Sommer sorgt das First Stage Theater mal wieder für ein außergewöhnliches<br />
Highlight. Mit A Chorus Line hat Stage School Chef Dennis Schulze nicht nur eines der erfolgreichsten<br />
Broadway-Musicals überhaupt an die Elbe geholt, sondern lässt auch gleich<br />
eine neue Fassung des Klassikers auf die Bühne bringen: Die Inszenierung des Pulitzerpreisgekrönten<br />
Musicals im First Stage ist bundesweit die erste Produktion in dieser Spielzeit, für<br />
die eine neue deutsche Übersetzung von Robin Kulisch verwendet wird. Dem nicht genug:<br />
Regisseur und Choreograf Till Nau hat mit offizieller Genehmigung des Verlages eine eigene<br />
und somit einzigartige Choreografie entwickelt. A Chrous Line führt die Zuschauer:innen in<br />
die aufregende Welt einer Audition, bei der die hoffnungsvollen Bewerber:innen bis an ihre<br />
emotionalen Grenzen gehen müssen. Auch nach Jahrzehnten hat das weltbekannte Musical<br />
nichts von seiner mitreißenden Anziehungskraft eingebüßt. In diesem Sinne: Vorhang auf und<br />
Hut ab! firststagehamburg.de<br />
20<strong>24</strong><br />
Mit 9 Terminen in 7 Städten geht die Stage School in<br />
Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Casting Tour.<br />
Nach dem großen Erfolg der letzten Jahre freuen sich Casting-Direktorin<br />
Anja Launhardt und ihr Team mit zahlreichen<br />
Talenten in einem intensiven Einzeltraining zu arbeiten und<br />
die Aufnahmeprüfung für einen Ausbildungsstart ab August<br />
20<strong>24</strong> abzunehmen.<br />
Alle Infos und Anmeldung unter<br />
stageschool.de/ausbildung/casting-tour<br />
Foto: Dennis Mundkowski<br />
Intensiv<br />
Workshop<br />
Die Workshop-Saison 20<strong>24</strong><br />
läuft auf vollen Touren. Mit<br />
den bundesweit stattfindenden<br />
Intensiv-Workshops<br />
kann die Aufnahmeprüfung<br />
für die Profiausbildung ersetzt<br />
werden. Besonders<br />
begabte Teilnehmer:innen<br />
haben die Möglichkeit,<br />
über die Workshops zur<br />
Stipendiumsprüfung an die<br />
Stage School eingeladen<br />
zu werden.<br />
Infos und Anmeldung<br />
unter stageschool.de oder<br />
+49 40 355 407-43/-87<br />
Foto: Dennis Mundkowski<br />
Weiterbildung<br />
Masterclass-Highlights<br />
mit<br />
Christoph<br />
Trauth<br />
Audition Masterclass<br />
Um die begehrte Rolle in einem Musical zu bekommen,<br />
reicht es bei weitem nicht „nur“ künstlerisch zu glänzen. Wie in<br />
jedem Job kann man auch hier schon beim Auswahlverfahren<br />
scheitern. Wie sollte die Vita aufgebaut sein? Was<br />
sind absolute No Go`s bei einer Audtion und wie läuft diese<br />
überhaupt ab? Welchen Blickwinkel haben Caster und<br />
Agenturen, wenn Bewerbungen eingehen. Welche Anforderungen<br />
sollten Berwerbungsvideos und -fotos erfüllen?<br />
Wie nutze ich „CastApp“? Christoph Trauth, Castingprofi<br />
der Stage Entertainment, coacht die Schüler:innen des Abschlussjahrgangs,<br />
damit sie den Casting-Prozess mit Bravour<br />
meistern können. Für das umfangreiche Thema wurden gleich<br />
zwei aufeinander aufbauende Masterclasses angesetzt.<br />
Foto: L. Lothian<br />
mit<br />
Sharon<br />
Sexton<br />
Song Interpretation Masterclass<br />
Bevor sie ihre erfolgreiche Bühnenkarriere begann, absolvierte<br />
die ursprünglich aus Irland stammende Sharon Sexton ihre Ausbildung<br />
am „DIT Conservatory of Music and Drama“ in Dublin, wo<br />
sie Schauspiel und klassischen Gesang studierte. Darüber hinaus<br />
schloss sie ihr Masterstudium in Theaterregie am University College<br />
Dublin mit Auszeichnung ab. Jetzt gibt sie ihr Wissen an der Stage<br />
School weiter. In dieser Masterclass werden die Schüler:innen<br />
mit geschärftem Blick lernen, ein Audition-Skript zu untersuchen,<br />
grundlegende Aspekte der zeitgenössischen Gesangstechnik behandeln<br />
und Wege finden, um zu entdecken, wie sie sich optimal<br />
als Darsteller:innen in ihre Rolle einbringen können. Wer könnte das<br />
besser vermitteln, als eine vom Londoner West End preisgekrönte<br />
Musicaldarstellerin?<br />
20.03. bis 17.04.<br />
China Girl<br />
28.04. bis 05.05. 10.06. bis 12.10.<br />
Monday Night Mai<br />
A Chorus Line
Generalintendant<br />
Alfons Haider<br />
Jetzt Karten kaufen!<br />
www.seefestspiele.at<br />
Anna Rosa<br />
DÖLLER<br />
––––<br />
Mark<br />
SeIbErt<br />
DAS MUSICAL<br />
11. Juli bis 17. August 20<strong>24</strong><br />
Nach GEORGE BERNARD SHAWS „Pygmalion“ I Musik von FREDERICK LOEWE
22 APRIL-<br />
22 JUNE<br />
EUROPEAN PREMIERE<br />
LIZARD BOY<br />
A NEW MUSICAL BY JUSTIN HUERTAS<br />
DIRECTED BY PAUL GLASER<br />
THE ENGLISH THEATRE OF HAMBURG | LERCHENFELD 14 | HAMBURG<br />
U-BAHN STATION MUNDSBURG | TICKETS: (040) 227 70 89<br />
WWW.ENGLISHTHEATRE.DE
„FULMINANT, RASANT UND MITREISSEND“ Süddeutsche Zeitung<br />
JETZT IN FRANKFURT,<br />
BERLIN UND LINZ<br />
In Kooperation mit BB Promotion · Tickets nur unter eventim.de<br />
NEUINSZENIERUNG: GIL MEHMERT<br />
nach dem Weltbestseller von Donna W. Cross<br />
31. MAI - 4. AUGUST 20<strong>24</strong> SCHLOSSTHEATER FULDA<br />
DEUTSCHLANDS GRÖSSTES OPEN-AIR-MUSICAL<br />
MIT GROSSEM ORCHESTER UND SINFONISCHEM CHOR<br />
22. - 31. AUGUST 20<strong>24</strong> DOMPLATZ FULDA<br />
Tickets: 0661 2500 8090 www.spotlight-musicals.de