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<strong>Ausgabe</strong> 128 (<strong>02</strong>/20<strong>24</strong>)<br />

€ 7,50 (DE) • € 8,00 (EU)<br />

ISSN 1619-9421<br />

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EINE DEUTSCH-DEUTSCHE GESCHICHTE<br />

DAS MUSICAL VON RALPH SIEGEL<br />

STAR-BESETZUNG<br />

HEINZ HOENIG<br />

TIM WILHELM<br />

SIMONE BALLACK<br />

JENNIFER SIEMANN<br />

DAN LUCAS<br />

SONIA FARKE<br />

MUSIK: RALPH SIEGEL – BUCH: RONALD KRUSCHAK<br />

TEXTE: MICHAEL KUNZE, BERND MEINUNGER, RONALD KRUSCHAK<br />

08.- 19.05.<strong>24</strong><br />

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Das Deutsche Theater München präsentiert eine Veranstaltung der<br />

Pirol Productions Company in Zusammenarbeit mit dem Festspielhaus Neuschwanstein.<br />

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LA CAGE<br />

REGIE Andreas Gergen<br />

MUSIKAL. LTG Günter Wallner<br />

ALBIN Mathias Schlung<br />

GEORGES Tim Grobe<br />

AUX FOLLES<br />

EIN KÄFIG VOLLER NARREN<br />

Musik und Gesangstexte von Jerry Herman<br />

Buch von Harvey Fierstein<br />

Nach dem Stück Ein Käfig voller Narren von Jean Poiret<br />

Deutsch von Erika Gesell und Christian Severin<br />

25.04. bis 14.06.20<strong>24</strong><br />

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Das Phantom der Oper<br />

Zurück im Wiener Raimund Theater<br />

SIX – The Musical Berlin<br />

Die Königinnen Linz<br />

Der große Gatsby Göttingen<br />

Hanf. Ein berauschender Abend Schwedt<br />

Pretty Woman London<br />

West Side Story Wien<br />

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Inhalt<br />

Inhalt<br />

<strong>Ausgabe</strong> 128, Nr. <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

… kurz vorweg<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

liebe Abonnentinnen und Abonnenten,<br />

das Jahr schreitet voran und wir sind<br />

sehr dankbar für die vielen positiven<br />

Resonanzen auf die vergangenen Wochen.<br />

Viele Veränderungen kommen gut<br />

voran und wir freuen uns besonders,<br />

Ihnen als Abonnent:innen unsere Jokertickets<br />

anbieten zu können. Wir<br />

sind weiterhin mit mehreren Theatern<br />

im Gespräch, einige werden erst mit<br />

kommenden Veranstaltungen bei uns<br />

in den Verkauf einsteigen, das heißt,<br />

dass da gerade ganz viel passiert, und<br />

obwohl wir, mit dieser <strong>Ausgabe</strong> beginnend,<br />

auch immer eine Seite für unsere<br />

Jokertickets bereithalten, empfiehlt<br />

es sich doch, regelmäßig auf die Webseite<br />

zu schauen oder unseren Newsletter<br />

zu abonnieren.<br />

Wir haben außerdem »Backstage« als<br />

Rubrik hinzugefügt, hier gehen wir intensiver<br />

auf Teile einer Produktion ein.<br />

Der Start macht die Probenzeit von<br />

»Dear Evan Hansen« in Gmunden, mit<br />

tollen Bildern und kurzen Interviews<br />

können wir da die vergangenen Monate,<br />

bis es nun auf die Bühne kommt,<br />

darstellen.<br />

Ansonsten ist es eine Freude zu sehen,<br />

wie viele große und großartige Produktionen<br />

unsere Redakteur:innen in<br />

den vergangenen Wochen sehen durften,<br />

um für Sie darüber zu berichten<br />

und wie viele für die kommenden Wochen<br />

auf dem Redaktionsplan stehen!<br />

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen<br />

viel Freude beim Lesen unserer neuesten<br />

<strong>Ausgabe</strong>,<br />

Herzliche Grüße,<br />

Sabine Haydn<br />

Chefredaktion der blickpunkt musical<br />

Topthema<br />

4 Das Phantom der Oper Raimund Theater Wien<br />

Musicals in Deutschland<br />

26 Absolventenpräsentation 20<strong>24</strong> Essen<br />

12 UA Bittersüße Zitronen Ohnsorg<br />

Theater Hamburg<br />

20 Broadway Danny Rose Schlosstheater Celle<br />

19 China Girl – Liebe ist stärker als Blut<br />

F1rst Stage Theater Hamburg<br />

<strong>24</strong> UA Der große Gatsby Deutsches Theater<br />

Göttingen<br />

14 Hello, Dolly! Musiktheater im Revier<br />

Gelsenkirchen<br />

16 UA Hanf. Ein berauschender Abend<br />

Uckermärkische Bühnen Schwedt<br />

28 Jubiläumsshow F1rst Stage Theater Hamburg<br />

23 UA Käthe holt die Kuh vom Eis<br />

Kammertheater Karlsruhe<br />

8 SIX – The Musical (Tour) Admiralspalast Berlin<br />

Musicals in Österreich<br />

56 Candide Theater an der Wien, Wien<br />

49 UA Die Königinnen Landestheater Linz<br />

62 Footloose (Tour) Wiener Stadthalle<br />

54 UA Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin<br />

Rabenhof Theater Wien<br />

58 Titanic Bühne Baden<br />

60 UA Twist! Metropol Theater Wien<br />

52 West Side Story Volksoper Wien<br />

Musicals in Europa<br />

66 La Cage aux Folles Bühnen Bern<br />

64 Rent Theater St. Gallen<br />

Musicals in Großbritannien<br />

72 Pretty Woman (Tour) New Wimbledon<br />

Theatre London<br />

Musicals in den USA<br />

70 Merrily We Roll Along Hudson Theatre<br />

New York<br />

Einblick<br />

46 Alfons Haider über »My Fair Lady« Mörbisch<br />

36 Frank Nimsgern über »Zauberflöte« Füssen /<br />

München<br />

34 Seth Sklar-Heyn über »Das Phantom der<br />

Oper« Wien<br />

31 Anton Zetterholm über »Das Phantom der<br />

Oper« Wien<br />

30 Ein bisschen Frieden Deutsches Theater München<br />

Filme & Serien<br />

67 Die Farbe Lila im Kino<br />

Rubriken<br />

40 Backstage bei »Dear Evan Hansen« Musical<br />

Frühling in Gmunden<br />

76 Abgeschminkt – Peter Scholz über seine<br />

sozialen Engagements<br />

74 Das war anno … 1974<br />

78 Einspielungen<br />

81 Abonnenten-Info<br />

82 Impressum & Ausblick<br />

Abb. von oben:<br />

1. »Der große Gatsby« Göttingen<br />

Foto: Thomas M. Jauk<br />

2. »Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« Wien<br />

Foto: Rita Newman / Rabenhof Theater<br />

3. »La Cage aux Folles« Bern<br />

Foto: Rob Lewis<br />

4. »Pretty Woman« London<br />

Foto: Marc Brenner<br />

Titelfoto:<br />

»Das Phantom der Oper Wien«<br />

Foto: VBW / Deen van Meer<br />

<strong>24</strong><br />

54<br />

66<br />

72<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/<strong>24</strong><br />

3


Musicals Topthema in Deutschland<br />

Lang ersehnte Rückkehr im neuen Look<br />

»Das Phantom der Oper« am Wiener Raimund Theater<br />

Abb. oben:<br />

Als Christine (Lisanne Clémence<br />

Veeneman) das Phantom (Anton<br />

Zetterholm) ohne Maske sieht, kann<br />

dieser seine Wut nicht mehr bändigen<br />

Abb. unten:<br />

Eine Erinnerung aus Kindheitstagen:<br />

Raoul (Roy Goldman) überreicht<br />

seiner angebeteten Christine (Lisanne<br />

Clémence Veeneman) eine rote Rose<br />

Fotos (2): VBW / Deen van Meer<br />

Zugegeben, ganz neu ist sie nicht, die als »spektakuläre<br />

Neuinszenierung« angekündigte Produktion<br />

von »Das Phantom der Oper«. Bereits 2011, zum<br />

25-jährigen Jubiläum des Andrew Lloyd Webber-Klassikers,<br />

verpasste niemand geringerer als Musicalproduzent<br />

Cameron Mackintosh dem Stück einen neuen<br />

Look – und das mit Erfolg. In den USA, Großbritannien<br />

und Australien kam das neue »Phantom« gut an,<br />

nun holte es Christian Struppeck, Musical-Intendant<br />

der Vereinigten Bühnen Wien, fast 40 Jahre nach der<br />

deutschsprachigen Erstaufführung in diesem Look<br />

in die österreichische Hauptstadt. Bereits im Vorfeld<br />

wurde heiß diskutiert: Während sich unter hart gesottenen<br />

Fans der Originalinszenierung Unmut breit<br />

machte, forderten andere wiederum Offenheit für eine<br />

neue, entstaubte Fassung.<br />

Die Geschichte rund um die Geschehnisse an der<br />

Pariser Oper, in der ein Mann mit entstelltem Gesicht<br />

in den Katakomben haust, Opern komponiert und<br />

sich in die junge Sängerin Christine Daaé verliebt, ist<br />

hinlänglich bekannt. Sie entstammt einem Roman von<br />

Gaston Leroux aus dem frühen 20. Jahrhundert und<br />

begeistert seit Jahrzehnten Fans auf der ganzen Welt.<br />

Rund 160 Millionen Besucher sahen die Originalproduktion<br />

bisher, die Uraufführung fand 1986 am Londoner<br />

West End statt, von wo es bis heute nicht wegzudenken<br />

ist. Mit sieben Tony Awards und zahlreichen<br />

weiteren Theaterpreisen gilt das »Phantom« heute als<br />

das erfolgreichste Musical aller Zeiten. Die Neuinszenierung<br />

ist nun erstmals im deutschsprachigen Raum<br />

zu sehen, Regie führt Seth Sklar-Heyn basierend auf<br />

dem Staging von Laurence Connor.<br />

Am 15. März fand die mit Spannung erwartete<br />

Premiere am Wiener Raimund Theater statt. Bereits<br />

beim Betreten des Saales steht – zur Erleichterung<br />

vieler – fest: Der Kronleuchter als heimlicher Protagonist<br />

steht auch diesmal wieder im Fokus. Zu Beginn<br />

noch verhüllt, soll er später Funken sprühen und auf<br />

das Publikum zurasen. Gleich vorweg: Weder die<br />

Geschichte selbst noch die berühmten Songs wurden<br />

verändert. Lediglich an der deutschen Fassung wurde<br />

gekonnt etwas gefeilt. Wo »Phantom« drauf steht, ist<br />

also »Phantom« drin, wenn auch etwas anders verpackt.<br />

So beginnt auch diese Inszenierung wie gewohnt mit<br />

einer Auktion an der Pariser Oper. Ein alternder Raoul<br />

ersteigert eine Spieluhr und erinnert sich folglich an<br />

die Ereignisse von damals zurück. Auftritt für den<br />

Kronleuchter, der vom verstaubten Requisit zur schillernden<br />

Figur der Oper wird, die nach und nach unter<br />

den durch Mark und Bein gehenden Melodien aus dem<br />

28-köpfigen VBW-Orchester unter der Leitung von<br />

Carsten Paap zum Leben erwacht – ein Gänsehautmoment,<br />

nicht nur für Fans.<br />

Das im Vergleich zur Originalproduktion reduzierte,<br />

man könnte boshaft sagen »abgespeckte« Bühnenbild<br />

(Paul Brown), ermöglicht rasche Szenenwechsel<br />

sowie Wechsel der Schauplätze. Eine Drehbühne<br />

tut hier ihr Übriges. Im Zentrum steht eine halbrunde<br />

Wand, die sich immer wieder öffnet und verändert,<br />

was zahlreiche Möglichkeiten bietet, die Bühne aber<br />

gleichzeitig auch gedrungener und enger wirken lässt.<br />

Auf die pompöse Treppe beim ›Maskenball‹ wartet<br />

man ebenso vergeblich wie auf die Kerzenpracht während<br />

der (in Wien übrigens äußerst kurz ausfallenden)<br />

Bootsfahrt in den Katakomben. Anstatt auf einer<br />

Orgel spielt das Phantom seine Melodien auf einem<br />

Requisit, das eher einem Keyboard ähnelt. Auch die<br />

beinah im Übermaß eingesetzte Pyrotechnik kann<br />

die fehlenden Details nicht wettmachen und scheint<br />

in manchen Szenen gar nicht von Nöten. Eine gute<br />

4<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals Topthema in Deutschland<br />

Idee sind hingegen im »Harry Potter«-Stil ausfahrende<br />

Treppen, die den Weg zum Verlies freimachen und<br />

spektakulär wirken. Bei den gelungenen Kostümen<br />

(Maria Björnson®, Überarbeitung von Jill Parker) setzt<br />

man in dieser Neuinszenierung auf Altbewährtes.<br />

All jene, die das Stück in- und auswendig kennen,<br />

dürften sich über so manche kleine Änderung von Szenen<br />

wundern. So nimmt etwa nicht Christine selbst<br />

dem Phantom im Verlies die Maske ab. Vielmehr nutzt<br />

er die Zeit, in der sie schläft, um sein Gesicht zu reinigen.<br />

Sie erwacht, sieht sein Gesicht und erschrickt, das<br />

Unglück nimmt seinen Lauf... Im Finale gibt Christine<br />

dem Phantom bekanntlich seinen Ring zurück, er<br />

gesteht ihr seine Liebe. In dieser Inszenierung wird auf<br />

ein neuerliches Treffen und den damit einhergehenden<br />

Blickkontakt verzichtet. Das Phantom kniet am<br />

Boden, spricht die Worte: »Christine, ich liebe dich«<br />

scheinbar mehr zu sich selbst, die Angesprochene legt<br />

den Ring im Hintergrund auf den Tisch und zieht sich<br />

zurück.<br />

Generell ist ein neuer Ansatz in der Interpretation<br />

der Figuren ersichtlich. Wirkte die Protagonistin<br />

Christine Daaé bislang eher passiv und schüchtern,<br />

nimmt sie in dieser Produktion eine emanzipiertere<br />

Rolle ein. Besonders stark tritt dies etwa im Duett mit<br />

Raoul (›Mehr will ich nicht von dir‹) zum Vorschein.<br />

So ist es weniger ein Flehen als ein Fordern, das hier<br />

von der Sängerin ausgeht. Grundsätzlich scheint es, als<br />

wolle man den Fokus diesmal weniger auf das Bühnenbild<br />

und mehr auf die Personen in der Geschichte<br />

lenken. Vor allem das Phantom solle menschlicher<br />

und jünger wirken, hieß es schon im Vorhinein. Überraschend<br />

für viele war die Wahl des schwedischen<br />

Musicalstars Anton Zetterholm, der bislang häufig<br />

in klassischen Prince-Charming-Rollen zu sehen war,<br />

für die Titelrolle. Doch der Plan geht auf: Zetterholm<br />

kann vor allem stimmlich in Höhen und Tiefen begeistern<br />

und weiß auch mit seiner Stimme zu spielen. Er<br />

macht das Phantom nahbar. Dadurch verliert die Figur<br />

zwar etwas an Mystik und Gruselfaktor, wirkt aber<br />

menschlicher. Was der Zuschauer / die Zuschauerin<br />

bevorzugt, ist natürlich subjektiv. Besonders überzeugend<br />

ist Zetterholm in der finalen Szene, in der er<br />

zwischen Liebe und Hass schwankt und seine Gefühle<br />

nicht mehr bändigen kann. Die junge Niederländerin<br />

Lisanne Clémence Veeneman ist eine Entdeckung und<br />

sorgt mit ihrer Darstellung der Christine für Gänsehaut.<br />

Ausdrucksstark im Schauspiel und mit einem<br />

traumhaften Sopran weiß sie die ambivalenten Gefühle<br />

der jungen Sängerin gekonnt zu vermitteln – Chapeau!<br />

Im Zusammenspiel mit Landsmann Roy Goldman als<br />

Raoul harmoniert sie wunderbar. Goldman schafft es,<br />

neben seinem angenehmen Timbre, vor allem durch<br />

seine Darstellung zu überzeugen. Der sonst oft etwas<br />

farblose Raoul bekommt durch ihn Charakter. Man<br />

darf demnach gespannt auf seine Interpretation der<br />

Titelrolle sein.<br />

Die fabelhafte Wiener Cast ist bis in die kleinsten<br />

Rollen außerordentlich stark besetzt. Als bissige<br />

Operndiva Carlotta überzeugt Milica Jovanović,<br />

die in Wien bereits als Christine in der »Phantom«-<br />

Fortsetzung »Love Never Dies« auf der Bühne stand.<br />

Als skurrile Maestri der Pariser Oper sorgen Rob<br />

Pelzer und Thomas Sigwald für Lacher. Patricia Nessy<br />

gibt eine fantastische Madame Giry (genialer Einfall:<br />

Den Rückblick auf das Kennenlernen des Phantoms<br />

erzählt sie vor einer Schattenwand), Greg Castiglioni<br />

ist ein ausgezeichneter Piangi. Hochachtung gebührt<br />

Das Phantom der Oper<br />

Andrew Lloyd Webber / Charles Hart /<br />

Richard Stilgoe<br />

Deutsch von Michael Kunze<br />

Vereinigte Bühnen Wien &<br />

Cameron Mackintosh<br />

Raimund Theater<br />

Premiere: 15. März 20<strong>24</strong><br />

Regie ....................... Laurence Connor<br />

Associate Regie .......... Seth Sklar-Heyn<br />

Musikalische Leitung ..... Carsten Paap<br />

Musical Supervision .............................<br />

.......................... Alfonso Casado Trigo<br />

Orchestrierung ............... David Cullen<br />

Choreographie ............... Scott Ambler<br />

Associate Choreographie .....................<br />

..................................... Nina Goldman<br />

Bühnenbild ....................... Paul Brown<br />

Kostüme ................... Maria Björnson®<br />

Associate Kostüme ............... Jill Parker<br />

Perücken, Haar- &<br />

Make-up-Design ............ Stefan Musch<br />

Lichtdesign ................ Paule Constable<br />

Associate Lichtdesign ......... Rob Casey<br />

Projektionen ...................... Zakk Hein<br />

Sounddesign ..................... Mick Potter<br />

Associate Sounddesign ......... Nic Gray<br />

Das Phantom .......... Anton Zetterholm<br />

Christine Daaé .....................................<br />

............. Lisanne Clémence Veeneman<br />

Raoul, Vicomte de Chagny .....................<br />

...................................... Roy Goldman<br />

Monsieur André ................. Rob Pelzer<br />

Monsieur Firmin ....... Thomas Sigwald<br />

Carlotta Giudicelli .... Milica Jovanović<br />

Madame Giry ............... Patricia Nessy<br />

Ubaldo Piangi ............ Greg Castiglioni<br />

Meg Giry ........... Laura May Croucherf<br />

In weiteren Rollen:<br />

Fleur Alders, Birgit Arquin,<br />

Eva Maria Bender, Niels Bouwmeester,<br />

Silke Braas-Wolter, Dejan Brkic,<br />

Jev Davis, Brodie Donougher,<br />

Amal El-Shrafi, Florian Fetterle,<br />

Ema Beatriz Fróis do Amaral,<br />

Julia Hübner (Dance Captain),<br />

Leonie Kappmeyer, Aaron Lynch,<br />

Lillian Mandaag, Vasilios Manis,<br />

Richard McCowen, Emma McFarlane,<br />

Robert Meyer, Matthew Petty,<br />

Wolfgang Postlbauer,<br />

Danielle Shani Raffoul,<br />

Lilly Rottensteiner, Steven Ralph,<br />

Darcie Jo Raukura Ridder,<br />

Samantha Rodulfo, Lowri Shone,<br />

Marco Trespioli, Timo Verse,<br />

Dean Welterlen<br />

Abb. von oben:<br />

1. Die ausgelassene Stimmung beim<br />

›Maskenball‹ in der Oper hält nicht<br />

lange an. Das Phantom mischt sich<br />

unter die Gäste<br />

2. Ein Brief nach dem anderen: Die<br />

Direktoren der Oper, Monsieur<br />

Firmin (Thomas Sigwald, l.) und Monsieur<br />

André (Rob Pelzer) kämpfen mit<br />

den Forderungen des Phantoms<br />

3. ›Mehr will ich nicht von dir‹ – Auf<br />

dem Dach der Oper gestehen sich<br />

Christine (Lisanne Clémence Veeneman)<br />

und Raoul (Roy Goldman)<br />

ihre Liebe<br />

Fotos (3): VBW / Deen van Meer<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

5


Musicals Topthema in Deutschland<br />

Abb. unten von links:<br />

1. Zwischen Trauer und Hass:<br />

Das Phantom (Anton Zetterholm)<br />

sieht Christine und Raoul auf<br />

dem Friedhof und fasst in seiner<br />

Verzweiflung einen Plan<br />

2. Operndiva Carlotta Giudicelli<br />

(Milica Jovanović, vorne l.) fühlt<br />

sich um ihren Ruhm betrogen,<br />

neben ihr Ubaldo Piangi (Greg<br />

Castiglioni, vorne r. mit Ensemble)<br />

3. Das Phantom (Anton Zetterholm)<br />

entführt Christine Daaé (Lisanne<br />

Clémence Veeneman) in sein Reich<br />

tief unter der Pariser Oper<br />

4. Die Anziehung ist zu groß:<br />

Christine (Lisanne Clémence<br />

Veeneman) folgt dem Phantom<br />

(Anton Zetterholm) in seine Welt<br />

Fotos (4): VBW / Deen van Meer<br />

ebenso dem Rest des Ensembles sowie dem »Corps de<br />

Ballet«, die mit perfekt synchron dargebotenen Choreographien<br />

die Wirkung des Stückes noch einmal<br />

verstärken.<br />

An der Cast dürfte es wohl nicht liegen, dass an<br />

manchen Stellen Emotion und Chemie fehlen. In<br />

Szenen wie ›Mehr will ich nicht von dir‹ legen die<br />

Darsteller unnötige Meter auf der Bühne zurück,<br />

gehen gestresst von links nach rechts, während hier<br />

ein kurzer Moment des Innehaltens beziehungsweise<br />

des Blickkontaktes der Intensität sicher gutgetan hätte.<br />

Hier gilt: Weniger ist mehr. Auch ist nicht klar, warum<br />

Christine in privaten Momenten ähnlich wild gestikuliert<br />

wie auf der Bühne. Anstatt ›Könntest du doch<br />

wieder bei mir sein‹ mit ausufernden Armbewegungen<br />

in Richtung Publikum zu singen, wäre es sicher eher<br />

angebracht, vor dem Grab zu stehen und das Zwiegespräch<br />

mit ihrem Vater oder Gott zu suchen. So wirken<br />

die Szenen zeitweise zu »einstudiert« und wenig natürlich<br />

– was sich nach der Premieren-Aufregung und mit<br />

der Routine legen könnte, sofern es keine bewusste<br />

Regieanweisung war.<br />

Das Premierenpublikum honorierte die Neuinszenierung<br />

mit tosendem, Minuten anhaltendem Applaus<br />

und Standing Ovations – und das auch zurecht. Das<br />

neue »Phantom der Oper« kann sich zweifelsfrei sehen<br />

und hören (nirgendwo sonst gibt es ein Orchester in<br />

dieser Größenordnung) lassen. Wer mit der Erwartungshaltung<br />

in die Show geht, das bekannte Original<br />

zu sehen, und durchweg Vergleiche zieht, wird vermutlich<br />

enttäuscht sein. In diesem Fall gilt es, sich auf<br />

etwas Neues einzulassen. Und das Neue ist zweifelsfrei<br />

gelungen – nicht zuletzt aufgrund der fantastischen<br />

Cast. Die Zahlen geben den Verantwortlichen übrigens<br />

recht: Bereits vor der Premiere wurde der Vorverkauf<br />

für die zweite Saison eröffnet. Sogar die übliche<br />

Sommerpause wurde verschoben. »Das Phantom der<br />

Oper«, es ist endlich wieder zurück – in einer Fassung,<br />

die überzeugt.<br />

Yvonne Mresch<br />

6<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


CAMERON MACKINTOSHS<br />

SPEKTAKULÄRE NEUPRODUKTION<br />

VON<br />

ANDREW LLOYD WEBBERS<br />

AUCH IM JULI LIVE ZU SEHEN!<br />

#WeAreMusical<br />

PHANTOM.MUSICALVIENNA.AT


Musicals in Deutschland<br />

Geschieden, geköpft – live!<br />

»SIX – The Musical« auf Deutschland-Tour im Berliner Admiralspalast<br />

Abb. oben:<br />

Die Königinnen haben sich zu<br />

einer neuen Sicht ihrer Identität<br />

durchgerungen, die sie unabhängig<br />

macht von ihrem (Ex-)Ehemann:<br />

(v.l.) Catherine of Aragon (Nicole<br />

Louise Lewis), Anne Boleyn (Izi<br />

Maxwell), Jane Seymour (Erin<br />

Caldwell), Anna of Cleves (Kenedy<br />

Small), Katherine Howard (Lou<br />

Henry) und Catherine Parr<br />

(Aiofe Haakenson)<br />

Foto: Pamela Raith Photography<br />

Das britische Musicalphänomen »SIX«, das sich in<br />

der Form eines Popkonzerts dem Leben und Leiden<br />

der sechs Ehefrauen König Heinrichs VIII. von<br />

England widmet, macht auf seiner Tournee durch Mitteleuropa<br />

als erste Station im Admiralspalast in Berlin<br />

halt (weitere Stationen werden München, Zürich und<br />

Triest sein, sowie die Niederlande im Herbst). Wenn<br />

man das notorisch schwierige Berliner Musicalpublikum<br />

kennt, standen einem so einige Überraschungen<br />

bevor. Als erstes: Es war Sonntagnachmittag und die<br />

Show war so gut wie ausverkauft – inklusive beider<br />

Ränge. Zweitens: In einer Art und Menge, wie man<br />

es sonst nur von »Tanz der Vampire« oder der »Rocky<br />

Horror Show« kennt, kamen viele, vor allem junge<br />

Frauen, kostümiert als eine der Königinnen. Drittens:<br />

Vom ersten Moment der Show an herrschte im Saal eine<br />

ausgelassene Stimmung, wurde jeder Witz belacht, fast<br />

bevor er zu Ende ausgesprochen war, und hier und da<br />

war sogar leises Mitsingen zu vernehmen. Das ist umso<br />

erstaunlicher, als das Stück nicht nur zum ersten Mal in<br />

Deutschland gespielt wird, sondern auch in englischer<br />

Sprache, und noch dazu ohne Übertitel. Trotzdem hatte<br />

man den Eindruck, dass der weitaus größte Teil des<br />

Publikums (tendenziell zu achtzig Prozent unter dreißig<br />

und weiblich) das Stück mehr oder weniger auswendig<br />

kannte. Das zeigt, dass dieses Stück einen Nerv trifft –<br />

ähnlich wie »Hamilton« oder auch die Plate-Version von<br />

»Romeo und Julia«, die ebenfalls in Berlin im Theater<br />

des Westens ein ähnliches Publikumssegment erfolgreich<br />

ansprach. Die einigermaßen moderate Preisgestaltung,<br />

inklusive Ermäßigungen für ein »Queens Special«<br />

mit Ermäßigungen für eine Gruppe von vier Personen –<br />

was dem optischen Eindruck nach rege genutzt wurde ‒,<br />

trug sicher auch zur guten Auslastung bei. Vielleicht<br />

sollten sich andere Musicalanbieter in Deutschland die<br />

Preisgestaltung zum Vorbild nehmen…<br />

Die Keimzelle von »SIX« war ein Poesiekurs der<br />

Universität Cambridge als Projekt von Lucy Moss und<br />

Toby Marlow. Schnell zeigte sich, dass die Idee Potenzial<br />

hatte, vor allem, als die musikalische Gestaltung<br />

dazukam. So kam es 2017 beim Edinburgh Fringe<br />

Festival zu einer ersten Aufführung mit Studentinnen<br />

der Universität Cambridge. Es war ein solcher Erfolg,<br />

dass sich Produzenten fanden, die sechs Vorstellungen<br />

in London am Arts Theatre arrangierten, die ihrerseits<br />

genügend Erfolg hatten, um 2018 eine kleinere Tour<br />

durch Großbritannien zu ermöglichen. Am Ende<br />

stand das offizielle West-End-Debüt im Januar 2019<br />

in der Regie von Co-Autorin Lucy Moss und Jamie<br />

Armitage, die bis heute für alle Produktionen verantwortlich<br />

sind. Nach zwei Corona-Pausen, in denen die<br />

Londoner Theater geschlossen waren, spielt die Show<br />

seit 2<strong>02</strong>1 am Vaudeville Theatre am West End. Auch<br />

die US-Produktion stand unter dem Corona-Fluch:<br />

Am Tag der geplanten Premiere (12. März 2<strong>02</strong>0)<br />

schlossen die Broadway-Theater. Die Premiere fand<br />

daher erst am 3. Oktober im Lena Home Theatre statt,<br />

fand als erste Premiere nach der Wiedereröffnung der<br />

New Yorker Theater starke Beachtung und wurde sogar<br />

als Liveaufnahme veröffentlicht. In den Folgejahren<br />

gab es Produktionen in Kanada und Australien. In<br />

Südkorea, Ungarn und Polen gibt es landessprachliche<br />

Produktionen. Die Tour, die momentan in Deutschland<br />

unterwegs ist, ist die UK-Tour des Jahres 2<strong>02</strong>3 in<br />

identischer Produktion und Besetzung.<br />

Der Admiralspalast ist nicht immer ein leichtes<br />

Pflaster – das Parkett steigt kaum an, und der Ton ist<br />

auch nicht immer das Beste vom Besten. Erstaunlicherweise<br />

störte das an diesem Nachmittag überhaupt<br />

nicht. Der Ton hatte, obwohl es nur vier Bandmitglieder<br />

(Pardon: Ladies-in-Waiting) gibt (Yutong Zhang<br />

als MD und am Keyboard, Janette Williams an den<br />

8<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Drums, Julia Ostrowska am Bass und Lola Barber<br />

an der Gitarre) genügend »Umpf«, um dem Publikum<br />

ordentlich etwas auf die Ohren zu geben. Die<br />

Bühne, bestehend aus einer Spielfläche vorne, einer<br />

Showtreppe in der Mitte, einer Empore für die Band<br />

und acht Elementen im Hintergrund, die in wechselnder<br />

Beleuchtung (Licht: Tim Deiling) wahlweise<br />

Säulen, gotische Kirchenfenster, einen Thronsaal oder<br />

einen angedeuteten Palast darstellen (Bühne: Emma<br />

Bailey), ist erfüllt von grandioser Energie (zu der die<br />

sehr modernen Choreographien von Carrie-Anne<br />

Ingrouille das Ihre beitragen) der sechs Darstellerinnen,<br />

die als die »Ex-Wives« von ihrem Leben (und Tod)<br />

mit Heinrich VIII. erzählen.<br />

Wenn sich im Admiralspalast der Vorhang öffnet,<br />

geht es gleich in medias res: Die sechs Königinnen in<br />

modernen stylischen Kostümen, die sich dennoch formal<br />

leicht an Renaissance-Vorbildern orientieren (Kostüme:<br />

Gabriella Slade), treten auf mit dem Abzählreim,<br />

mit dem allen englischen Schulkindern die sechs Königinnen<br />

beigebracht werden: »Divorced, beheaded, died,<br />

divorced, beheaded, survived.« Schnell einigen sich die<br />

Damen darauf, dass sie keine Lust mehr haben, sich<br />

hierauf reduzieren zu lassen und beschließen, stattdessen<br />

ihre Geschichte (»our history, or as we like to say,<br />

herstory«) selbst zu erzählen und dazu die Band der<br />

›Ex-Wives‹ zu gründen. Die Leadsängerin soll diejenige<br />

werden, die am meisten unter Heinrich gelitten hat.<br />

Catherine of Aragon (Nicole Louise Lewis), Heinrichs<br />

erste Frau, tritt an und ist überzeugt, dass sie mit<br />

Sicherheit die Gewinnerin sein wird. In ihrem Solo<br />

›No Way‹ beschreibt sie, wie sie <strong>24</strong> Jahre lang Heinrich<br />

eine treue und loyale Ehefrau war, trotz all seiner<br />

Affären, fest überzeugt, dass sie bis an ihr Lebensende<br />

Königin von England sein würde – wofür Heinrich<br />

prompt versuchte, sie in ein Kloster abzuschieben.<br />

Als sie sich weigerte, verbannte er sie vom Hof und<br />

trennte sie von ihrer Tochter. Sie starb allein drei Jahre<br />

nach ihrer erzwungenen und von ihr nie anerkannten<br />

Scheidung. Sie ist felsenfest der Meinung, dass sie es<br />

damit am schlechtesten von allen Ehefrauen getroffen<br />

hat, aber dann kommt ›The One You’ve Been Waiting<br />

For‹: Anne Boleyn (Izi Maxwell) erzählt von ihrer<br />

Jugend in Frankreich und wie der König zuerst auf sie<br />

aufmerksam wurde. Als sie zur Bedingung macht, dass<br />

er sie heiraten muss, wenn er sie in sein Bett bekommen<br />

will, nimmt das Unheil seinen Lauf: Er bricht mit<br />

der katholischen Kirche, um sie heiraten zu können,<br />

ist aber auch ihr kein treuer Ehemann. Als sie allerdings<br />

ihrerseits ein wenig herumflirtet, nimmt Henry<br />

das zum Anlass, sich ihrer durch Enthauptung wegen<br />

Untreue zu entledigen (›Don’t Lose Ur Head‹). Anne ist<br />

ebenfalls davon überzeugt, dass sie am meisten unter<br />

ihrem Mann gelitten hat.<br />

Während die Nummern der ersten beiden Königinnen<br />

Up-Tempo-Nummern sind (laut dem Autoren-/<br />

Komponistenteam dienten Beyoncé und Jennifer<br />

Lopez als stilistische Vorbilder für Catherine of Aragon<br />

und Miley Cyrus und Avril Lavigne für Anne Boleyn),<br />

kommt mit dem Auftritt der Jane Seymour, Heinrichs<br />

dritter Frau und Mutter seines einzigen Sohnes, eine<br />

neue musikalische Farbe dazu (laut Autorenteam inspiriert<br />

von Celine Dion und Adele). Ihre eher ruhige<br />

Popballade ›Heart of Stone‹ ist eine Liebeserklärung an<br />

den König, den sie nur als Liebenden erlebt hat (was<br />

sofort den Protest der anderen auslöst), auch wenn sie<br />

sich bewusst ist, dass das vor allem daran liegt, dass<br />

sie ihm den ersehnten Sohn geboren hat. Vom Stil her<br />

ist dieser Song viel klassischer und verlangt eine starke<br />

Sopranstimme, die Erin Caldwell absolut mitbringt.<br />

So ist Jane, wie wohl auch ihr historisches Vorbild, ein<br />

Ruhepol in der temporeichen Show. Ihre Tragödie,<br />

den so ersehnten Sohn nicht aufwachsen zu sehen,<br />

ist eher stiller Natur. Noch weniger tragisch erging es<br />

SIX – The Musical (Tour)<br />

Toby Marlow / Lucy Moss<br />

In englischer Sprache<br />

Kenny Wax, Wendy & Andy Barnes<br />

and George Stiles & BB Promotion<br />

Admiralspalast Berlin<br />

Premiere: 12. März 20<strong>24</strong><br />

Regie .... Lucy Moss & Jamie Armitage<br />

Musikalische Leitung ...... Yutong Zhang<br />

Orchestrierung .................. Tom Curran<br />

Choreographie .... Carrie-Anne Ingrouille<br />

Bühnenbild .................... Emma Bailey<br />

Kostüme ...................... Gabriella Slade<br />

Licht .................................. Tim Deiling<br />

Sounddesign ............... Paul Gatehouse<br />

Catherine of Aragon ...............................<br />

.............................. Nicole Louise Lewis<br />

Anne Boleyn ...................... Izi Maxwell<br />

Jane Seymour .................. Erin Caldwell<br />

Anna of Cleves ................ Kenedy Small<br />

Katherine Howard ............... Lou Henry<br />

Catherine Parr ............ Aoife Haakenson<br />

Ladies in Waiting (Band):<br />

Yutong Zhang (Keyboard),<br />

Janette Williams (Schlagzeug),<br />

Julia Ostrowska (Bass),<br />

Lola Barber (Gitarre)<br />

Abb. unten:<br />

›No Way‹ – Catherine of Aragon<br />

(Nicole Louise Lewis, Mitte) lehnt<br />

es kategorisch ab, ihren Platz als<br />

Königin abzugeben<br />

Foto: Pamela Raith Photography<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

9


Musicals in Deutschland<br />

Abb. unten von oben links:<br />

1. Man richtet sich her im<br />

›House of Holbein‹<br />

2. Catherine Parr (Aiofe Haakenson,<br />

Mitte) emanzipiert sich von<br />

ihrem Ex-Ehemann – ›I Don’t Need<br />

Your Love‹<br />

3. Catherine Parr (Aiofe Haakenson,<br />

Mitte) ruft die anderen dazu<br />

auf, sich nicht nur über ihren<br />

Ehemann zu definieren – ›I Don’t<br />

Need Your Love‹<br />

4. ›The House of Holbein‹ – Die<br />

Königinnen diskutieren die<br />

Schönheitsstandards ihrer Zeit,<br />

wenn sich die potenziellen Bräute<br />

für Heinrichs Hofmaler Hans<br />

Holbein herrichten müssen<br />

Fotos (4): Pamela Raith Photography<br />

ihrer Nachfolgerin, Anna of Cleves (Kenedy Small).<br />

Sie erzählt zunächst, wie Heinrich auf der Suche nach<br />

potenziellen Bräuten seinen Hofmaler Hans Holbein<br />

auf den Kontinent schickte und erntete mit dem Satz:<br />

»To find his next queen, we’re heading to Germany«<br />

den größten und langandauerndsten Szenenapplaus<br />

des Abends, der sie selbst ein wenig zu verblüffen<br />

schien. Zunächst beschreibt die temperamentvolle<br />

Ensemble-Nummer ›House of Holbein‹ die mehr oder<br />

weniger unangenehmen Schönheitsmittel der Zeit,<br />

mit denen sich die Heiratskandidatinnen herrichteten,<br />

bevor Holbein sie für den König malte. Da sowohl<br />

Anna als auch der Maler Deutsche waren, werden hier<br />

zur Belustigung des Publikums immer wieder kurze<br />

deutsche Wörter oder Sätze eingestreut. In ihrem<br />

anschließenden Solo beschreibt Anna sarkastisch, wie<br />

der mittlerweile alte und ziemlich unattraktive König<br />

die junge Prinzessin ablehnt, weil sie angeblich nicht<br />

so schön ist wie ihr Porträt. Ihr Solo ›Get Down‹ ist<br />

deutlich fröhlicher und optimistischer als die Songs<br />

der anderen (die Inspiration waren hier Rihanna und<br />

Nicki Minaj), singt sie doch statt von erlittenem Unrecht<br />

darüber, wie sie es geschafft hat, im Gegenzug zur<br />

Einwilligung zu ihrer fast sofortigen Scheidung nicht<br />

nur das schöne Schloss Richmond, sondern auch ein<br />

substanzielles Einkommen zu ergattern. Obwohl sie<br />

das im Rennen um das größte Unglück an Heinrichs<br />

Seite disqualifiziert, kann sie nun als unabhängige reiche<br />

Frau die »Queen of the castle« sein. Kenedy Small<br />

verdient großen Respekt dafür, dass sie durch den ganzen<br />

Song hindurch einen einigermaßen glaubwürdigen<br />

deutschen Akzent durchhalten kann, was sicher vor<br />

einem deutschsprachigen Publikum herausfordernder<br />

ist als in einem englischsprachigen Land.<br />

Mit dem nächsten Song wird dagegen wieder ein<br />

düsteres Schicksal angesprochen, das der oberflächlichen<br />

und dennoch tragischen Katherine Howard (Lou<br />

Henry). Das nicht überbordend intelligente, aber bildschöne<br />

junge Mädchen wurde schon in jungen Jahren<br />

(13) von ihrem Musiklehrer verführt und hatte dann<br />

eine Affäre mit dem Sekretär des herzoglichen Hauses<br />

Norfolk, wo sie als Nichte des Herzogs aufwuchs. Mit<br />

17 traf sie den 32 Jahre älteren König, der sie umgehend<br />

heiratete. Wenig erstaunlich war Katherine zwar<br />

gerne Königin, fand aber junge Höflinge attraktiver als<br />

ihren alten Ehemann. Nachdem eine Affäre mit Thomas<br />

Culpeper, einem Höfling, dem König zu Ohren<br />

kam, ließ er sie als zweite seiner Gemahlinnen nach<br />

Anne Boleyn (die übrigens Katherines Cousine war)<br />

enthaupten – sie war wahrscheinlich noch nicht einmal<br />

zwanzig Jahre alt. Der Song ›All You Wanna Do‹ ist<br />

ein typischer Popsong im Stil von Britney Spears oder<br />

10<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Ariana Grande und bringt zum Ausdruck, wie sehr<br />

Katherine von allen Männern in ihrem Leben ausgenutzt<br />

wurde. Im Anschluss an diesen Song bekommen<br />

sich vor allem Catherine of Aragon und Anne Boleyn<br />

in die Wolle, wer von ihnen mehr Mätressen und<br />

Fehlgeburten ertragen musste. Bevor es handgreiflich<br />

wird, tritt Catherine Parr (Aoife Haakenson), Heinrichs<br />

sechste und letzte Frau, dazwischen und stößt<br />

die Diskussion an, ob man sich denn wirklich nur<br />

über den Ehemann definieren solle – schließlich seien<br />

andere Königinnen kaum bekannt und Heinrichs<br />

Frauen auch nur in Bezug auf ihre Stellung zu ihm.<br />

Zunächst stößt dieser Ansatz auf Unverständnis bei<br />

den anderen, und so erzählt Catherine in ›I Don’t Need<br />

Your Love‹ erst einmal von der Trauer, die sie empfand,<br />

als sie nach zwei lieblosen Ehen mit älteren Männern<br />

endlich den Mann gefunden hatte, den sie liebte (Thomas<br />

Seymour, Königin Janes Bruder), und ihn dann<br />

verlassen musste, weil der König sich in sie verliebte<br />

und Anspruch auf sie erhob als Ehefrau. Der Song, der<br />

Alicia Keyes und Emili Sandé als Inspirationen hat,<br />

ist am ehesten in dem ganzen Stück so etwas wie eine<br />

»klassische« Musicalballade, auch in seinem textlichen<br />

und dramatischen Aufbau und der darin enthaltenen<br />

Entwicklung: Zunehmend fragt sich die intelligente<br />

Catherine, warum sie sich eigentlich immer nur mit<br />

Heinrich befassen soll, wenn sie doch selbst Bücher<br />

geschrieben und sich für die Bildung von Frauen eingesetzt<br />

hat. Sie beklagt, dass die Geschichtsschreibung<br />

sie immer noch auf ihre Rolle als »die Überlebende«<br />

reduziert. Ermuntert von ihr stimmen nach und nach<br />

alle Königinnen in den Song mit ein und erklären, sich<br />

ihre eigene Geschichte zurückholen zu wollen: »We’re<br />

taking back control, you need to know, I don’t need<br />

your love, no, no.«<br />

Im abschließenden Song ›Six‹ (ein Remix aus allen<br />

Soli) bekräftigen alle Königinnen noch einmal ihr neu<br />

gewonnenes Selbstbewusstsein: »We’re free to take our<br />

crowning glory.« Als Zugabe/Applausmusik gibt es<br />

dann noch den ›Megasix‹, in denen unter Mittanzen<br />

und Mitsingen des Publikums alle Songs noch einmal<br />

angespielt werden. Der Jubel des Publikums erforderte<br />

noch einige weitere Verbeugungen – so eine grandiose<br />

Stimmung ist im Theater nicht allzu häufig und beweist<br />

wieder einmal, dass das Berliner Publikum, wenn ihm<br />

denn etwas wirklich gefällt, äußerst ausdauernd ist im<br />

Spenden von Applaus.<br />

»SIX« ist vielleicht kein traditionelles Musical – es<br />

hat kaum eine äußere Handlung ‒, aber es scheint<br />

einen Nerv vor allem bei jungen Frauen zu treffen.<br />

Man könnte es vielleicht als Pop-Konzert im historischen<br />

Rahmen (der im Übrigen erstaunlich korrekt<br />

wiedergegeben ist) bezeichnen, und es scheint, dass<br />

diese Verbindung von historischem Inhalt und moderner<br />

Form im Moment ein Erfolgsrezept ist. Ein Besuch<br />

lohnt sich ganz sicher!<br />

Merit Murray<br />

Abb. oben:<br />

Verpassen Sie nicht die große,<br />

bunte Party, die bereits weltweit für<br />

so viel Begeisterung sorgt:<br />

26. März 20<strong>24</strong> – 7. April 20<strong>24</strong><br />

Deutsches Theater München<br />

9. April 20<strong>24</strong> – 21. April 20<strong>24</strong><br />

Theater 11 Zürich (CH)<br />

25. April 20<strong>24</strong> – 28. April 20<strong>24</strong><br />

Politeama Rossetti Triest (IT)<br />

„Der Wahnsinn geht weiter!<br />

Nach über 500.000<br />

begeisterten ZuschauerInnen<br />

von Ku’damm 56 -<br />

jetzt die Fortsetzung!“<br />

Regie: Christoph Drewit z<br />

Choreograf ie: Jonathan Huor<br />

Jetzt<br />

Tickets<br />

sichern!<br />

W E L T P R E M I E R E<br />

5. Mai 20<strong>24</strong><br />

STAGE THE ATER DES WESTENS<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

w w w . m u s i c a l s b e r l i n . c o m<br />

11<br />

S C A N M I C H !


Musicals in Deutschland<br />

Dat rappelt op dat Dachböhn<br />

Uraufführung von »Bittersüße Zitronen« im Hamburger Ohnsorg-Theater<br />

Abb. oben:<br />

Zitronenjette (Marina Lubrich)<br />

und Bruno Michalke (Cem Lukas<br />

Yeginer) nähern sich nicht nur<br />

körperlich an, sondern entdecken<br />

auch Gefühle<br />

Foto: Oliver Fantitsch<br />

Bittersüße Zitronen<br />

Christian von Richthofen / Murat Yeginer<br />

Plattdeutsch von Frank Gruppet<br />

Ohnsorg-Theater Hamburg<br />

Uraufführung: 25. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie ............................ Murat Yeginer<br />

Musikalische Leitung ............................<br />

..................... Christian von Richthofen<br />

Ausstattung ......................... Beate Zoff<br />

Zitronenjette ............... Marina Lubrich<br />

Jette John ........................ Rabea Lübbe<br />

Paul John ....................... Jannik Nowak<br />

Bruno Michalke ..... Cem Lukas Yeginer<br />

Paulina Piperkarzcka .... Tanja Bahmani<br />

Emil Qoaquaro ................. Robert Eder<br />

Harro Hassenreuther ............................<br />

............................. Konstantin Graudus<br />

Anna Müller ........ Caroline Kiesewetter<br />

Alice Rütterbusch ............ Sorina Kiefer<br />

Erich Spitter .................... Flavio Kiener<br />

Therese Hassenreuther .... Beate Kiupel<br />

Walburga Hassenreuther .... Nele Larsen<br />

Mit:<br />

Christian von Richthofen<br />

Regisseur Murat Yeginer lädt, frei nach Gerhart Hauptmanns<br />

»Die Ratten«, auf den Dachboden eines alten<br />

Mietshauses ein, der als Theaterfundus mit vielen Verstecken<br />

dient und wo die unterschiedlichen Bewohner nun<br />

aufeinander treffen: Die kinderlose Maurerfrau Jette John<br />

(Rabea Lübbe), die einer illegalen Prostituierten (Tanja<br />

Bahmani) das Baby abkauft und es als ihr eigenes ausgibt,<br />

ihr Ehemann, der Maurer (Jannik Nowak), sowie ihr<br />

zwielichtiger Bruder Emil (Robert Eder), ein Hausmeister-<br />

Blockwart, der für Ordnung und Recht sorgt (Cem Lukas<br />

Yeginer), und ein ehemaliger Theaterdirektor (Konstantin<br />

Graudus), der gern vollmundig über die Kunst und das<br />

Leben philosophiert. Am liebsten tut er das mit seinem<br />

Schauspielschüler, dem ehemaligen Theologiestudenten<br />

Erich Spitter (Flavio Kiener), der in die Theaterdirektorentochter<br />

Walburga (Nele Larsen) verliebt ist. Nicht zu vergessen<br />

sind auch die Ehefrau des Theaterdirektors (Beate<br />

Kiupel) und dessen Geliebte Alice (Sorina Kiefer).<br />

Mitten unter ihnen: Henriette Johanne Marie Müller<br />

(Marina Lubrich), die den Hamburgern bis heute als<br />

Hamburger Unikat und als »Zitronenjette« bekannt ist.<br />

Hinzu kommt noch ihre Schwester Anna Müller (Caroline<br />

Kiesewetter).<br />

Allesamt Menschen, die im Gängeviertel (um 1841-<br />

1916) am Rande der Gesellschaft lebten und deren Leben<br />

nun auf schicksalhaft-komische Weise miteinander verbunden<br />

sind.<br />

Das Drama »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann<br />

(das in Berlin spielt und das soziale Elend der armen<br />

Bevölkerungsschichten im späten 19. Jahrhundert thematisiert<br />

und sich mit der Handlung auf das Schicksal einer<br />

jungen Frau namens Pauline Piperkarcka konzentriert, die<br />

in prekären Verhältnissen lebt und von ihrem Geliebten,<br />

dem Maler Paul Gollin, schwanger wurde, der dann stirbt,<br />

so dass sie sich von da an alleine organisieren muss) bildet<br />

den Grundstock für den durch Regisseur Murat Yeginer<br />

liebevoll nun auf die Zitronenjette angepassten und in die<br />

Stadt Hamburg umtransferierten Stoff von »Bittersüße<br />

Zitronen«.<br />

Yeginer geht die Erzählung der Geschichte nun so an,<br />

dass die Figuren die Zuschauer wie in einem Puppentheater<br />

nacheinander begrüßen und diese spielerisch und auch<br />

musikalisch in ihre Puppenstube, den Theaterfundus-<br />

Dachboden, einladen. Dabei begeistert ein herrlich<br />

verspieltes Bühnenbild, mit diversen Kleiderstangen und<br />

Kostümen, Harlekinen an der Wand, Masken, Sesseln<br />

und Lichtlein sowie kleinen Verstecken und die darin platzierten<br />

Musikern von Beate Zoff, die zusätzlich auch noch<br />

die zauberhaften und kreativen Kostüme entwarf, wie zum<br />

Beispiel den großartigen Mantel des Theaterdirektors mit<br />

rotem Schal und roten Handschuhen, fein aufeinander<br />

abgestimmt.<br />

Das Stück kommt zu Beginn verspielt und niedlichsüß<br />

daher, zieht aber dann im Spieltempo und in der Personenregie<br />

stark an, indem sich schnell herausstellt, dass<br />

der Abkauf des Babys von Paulina Piperkarzcka (Tanja<br />

Bahmani), einer illegalen Prostituierten, durch Jette John<br />

(fantastisch vielschichtig gespielt durch Rabea Lübbe) und<br />

die heimliche Geburt auf dem Dachboden nicht legal vonstattengingen<br />

und Jettes Mann Paul und der Hauswart<br />

nun misstrauisch über die Vorgänge im Haus werden.<br />

Hinzukommend werden viele weitere Nebenschauplätze<br />

eröffnet, die wie in einer Bauernkomödie daherkommen:<br />

Der Theaterdirektor trifft heimlich seine Affäre, plötzlich<br />

12<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

taucht seine Ehefrau auf, ihre gemeinsame Tochter verliebt<br />

sich in den Nachhilfelehrer, der aber lieber Schauspieler<br />

werden möchte statt Theologe, die Prostituierte möchte<br />

auf einmal ihr Kind zurück und Jettes halbseidener Bruder<br />

Emil wird mit der Lösung des Problems beauftragt und<br />

auf sie angesetzt.<br />

In dem Strudel der parallellaufenden Handlungsstränge<br />

agiert die Hauptfigur Zitronenjette, die bei ihrer<br />

Schwester lebt, durch eine Krankheit mit Spastiken und<br />

Kleinwuchs gezeichnet ist und die Familie mit dem Verkauf<br />

von Zitronen unterstützt. (Dieser Teil der Geschichte<br />

ist nicht fiktiv und hat damals in Hamburg tatsächlich<br />

so stattgefunden. Es gibt sogar ein Denkmal, das an die<br />

Zitronenjette erinnert.)<br />

Murat Yeginer entlässt den Zuschauer unter Schock in<br />

die Pause, nachdem es beim Babythema auch noch eine<br />

Verwechslung gab und ein Kleinkind auf offener Bühne<br />

stirbt.<br />

Wie Hauptmann in seinem Werk, so kritisiert auch<br />

diese Produktion die sozialen Missstände ihrer Zeit und<br />

stellt die Frage nach Verantwortung und Mitgefühl gegenüber<br />

den weniger Privilegierten. »Die Ratten« sind dabei<br />

ein bedeutendes Werk des Naturalismus, das die Lebensumstände<br />

der Unterschicht realistisch und schonungslos<br />

darstellt. An Schonungslosigkeit wird auch heute im<br />

Ohnsorg-Theater, das in der Regel eher für unterhaltendes<br />

Volkstheater steht, nicht gespart. Die Ereignisse und<br />

Verwechslungen nehmen im zweiten Teil noch einmal an<br />

Fahrt auf und Zitronenjette bandelt nun mit Emil an, der<br />

aber im Verdacht steht, der illegalen Prostituierten etwas<br />

angetan zu haben. Der Theaterdirektor eskaliert mit seiner<br />

Haltung zur modernen Theaterwelt, streitet mit seinem<br />

Schüler und wirft die Frage auf, wie subjektiv denn das<br />

Theater allen dienen sollte.<br />

Diese Frage stellte ich mir auch, ob diese Produktion<br />

mich nun gut unterhält und mir dient oder ob mich als<br />

Ohnsorg-Erstgänger ein plattdeutsch-norddeutsches Musiktheaterprojekt<br />

vielleicht doch leicht überfordert. Anfänglich<br />

hatte ich schon meine Schwierigkeiten reinzukommen und<br />

den oft oberflächlichen und schnell agierenden Rollen mit<br />

ihren diversen und parallellaufenden Handlungssträngen<br />

zu folgen. Auch habe ich seit dem Tod meiner Oma nie<br />

wieder Plattdeutsch gesprochen oder irgendwo gehört<br />

und das ist nun auch schon über 20 Jahre her… Zudem<br />

wurde hauptsächlich die Musikform der Moritat gewählt,<br />

eine Form, die von Bänkelsängern verbreitet wurde (hier<br />

in Plattdeutsch). Aber auch Elemente des bürgerlichen<br />

Küchenlieds sowie von Jazz, Swing und Chanson aus dem<br />

20. Jahrhundert sind enthalten. Die vier Musiker unter der<br />

Leitung von Christian von Richthofen spielen schwungvoll<br />

auf, wenn sie nicht gerade schlafend als Harlekine im<br />

Bühnenbild sitzen, aber dies ist ein cleverer Schachzug,<br />

denn so passiert immer mal wieder etwas im Bühnenbild,<br />

wenn sie sich plötzlich bewegen und ihre Instrumente<br />

dann klangvoll bedienen.<br />

Im Endeffekt war es ein spannender Dramaabend und<br />

eine schauspielerische Glanzleistung des gesamten Teams,<br />

wobei die Rollen Zitronenjette, Jette John und Harro Hassenreuter<br />

spielerisch am stärksten im Gedächtnis blieben.<br />

Insgesamt schuf das gesamte Ensemble einen prächtigen,<br />

wenn auch nicht ganz leicht verdaulichen Theaterabend.<br />

Die Themen von sozialen Ungerechtigkeiten, dem<br />

Kampf zwischen Tradition und der Moderne, unerfülltem<br />

Kinderwunsch und Neurosen, dem Umgang mit Verfehlungen<br />

und dem Überlebenskampf der einfachen Leute<br />

sind leider auch heute wieder aktueller denn je.<br />

Das Ohnsorg-Theater mit seinem Regisseur Murat<br />

Yeginer hat hier etwas geschaffen, das die Welt zum Nachdenken<br />

auffordert, unterhält und bleibende Momente<br />

schafft.<br />

Wenn die Zitronenjette tänzelnd schreit: »Zitronen,<br />

Zitronen, kauft Zitronen«, ist das einmalig und löst Gänsehautschauer<br />

aus. Bis vorerst zum 03. April 20<strong>24</strong> kann man<br />

sich noch vom Geschmack der »Bittersüße(n) Zitronen«<br />

überzeugen.<br />

Stefan Schön<br />

Abb. unten von links oben:<br />

1. Harro Hassenreuther (Konstantin<br />

Graudus, l.) und Erich Spitter<br />

(Flavio Kiener, r.) kämpfen für ihre<br />

jeweilige Position: klassisch gegen<br />

modern<br />

2. Jette John (Rabea Lübbe, vorne)<br />

kann nicht fassen, dass man ihrem<br />

Plan auf die Schliche kommt,<br />

hinten Erich Spitter (Flavio Kiener)<br />

und Walburga Hassenreuther (Nele<br />

Larsen), die miteinander anbändeln<br />

3. Paul (Jannik Nowak) und Jette<br />

John (Rabea Lübbe) freuen sich<br />

über ihr Wiedersehen. Nachdem<br />

Paul auf Montage war, erfährt er,<br />

dass sie ein Kind haben<br />

4. Zitronenjette (Marina Lubrich)<br />

zusammen mit ihrer Schwester<br />

Anna Müller (Caroline Kiesewetter)<br />

5. Harro Hassenreuther (Konstantin<br />

Graudus) hat ein Händchen für<br />

die Frauen, hier ein Tänzchen mit<br />

seiner Affäre Alice Rütterbusch<br />

(Sorina Kiefer)<br />

Fotos (5): Oliver Fantitsch<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

13


Musicals in Deutschland<br />

Mit’ nem Teelöffel Dolly!<br />

»Hello, Dolly!« am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen<br />

Abb. oben:<br />

Slapstick-Verwechslungen in<br />

Molloys Hutladen (v.l.: Sebastian<br />

Schiller, Sonja Hebestadt, Dirk<br />

Weiler, Anke Sieloff, Julia Heiser)<br />

Foto: Pedro Malinowski<br />

Hello, Dolly!<br />

Jerry Herman / Michael Stewart<br />

Songs in englischer Sprache<br />

Deutsche Dialoge von Robert Gilbert<br />

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen<br />

Premiere: 13. Januar 20<strong>24</strong><br />

Regie .................... Carsten Kirchmeier<br />

Musik. Leitung ....... Peter Kattermann /<br />

Mateo Peñaloza Cecconi<br />

Chorleitung .............. Alexander Eberle<br />

Choreographie .................. Paul Kribbe<br />

Bühnenbild ..................... Jürgen Kirner<br />

Kostüme ................ Beata Kornatowska<br />

Licht ........................ Thomas Ratzinger<br />

Ton .............................. Jan Wittkowski<br />

Dolly Gallagher Levi ........ Anke Sieloff<br />

Horace Vandergelder .......... Dirk Weiler<br />

Cornelius Hackl ........ Sebastian Schiller<br />

Barnaby Tucker ............ Nicolai Schwab<br />

Irene Molloy ....................... Julia Heiser<br />

Minnie Fay .................. Sonja Hebestadt<br />

Ermengarde .................... Alina J. Simon<br />

Ambrose Kemper ........... Jonathan Guth<br />

Ernestina Money ........... Alfia Kamalova<br />

Richter ............................. Oliver Aigner<br />

Rudolph ................ Charles E.J. Moulton<br />

In weiteren Rollen:<br />

Faye Anderson (Dance Captain),<br />

Mika Einmal, Eileen Michelle Landsmann,<br />

Julie Martin, Liam Tiesteel, Mykhaylo Tovt<br />

MiR Opernensemble & -chor<br />

Ist in einer Zeit, wo auf dem Handy durch einen<br />

Wisch nach rechts oder links über ein Date entschieden<br />

wird, ein Musical über eine Heiratsvermittlerin<br />

noch aktuell? Darf der Hauptdarsteller<br />

im Stück ein Frauenbild zeichnen, bei dem die<br />

Partnerin nur zu Hause putzt und kocht und<br />

den Geld verdienenden Mann dankbar von früh<br />

bis spät bedienen soll? Autor Michael Stewart<br />

kreierte die Titelheldin seines Broadway-Erfolgs<br />

»Hello, Dolly!« von 1964 sehr emanzipiert und<br />

selbstständig. Ausgezeichnet mit 7 Tony Awards<br />

zeigte Carol Channing mit Charme in 2844 Aufführungen,<br />

wer tatsächlich das starke Geschlecht<br />

ist. Nach New York feierte das Musical 1965 im<br />

Londoner West End Premiere und kam im folgenden<br />

Jahr in deutscher Version auch an das Düsseldorfer<br />

Schauspielhaus. Bette Midler glänzte in<br />

einem Revival am Broadway ab März 2017 in der<br />

Rolle der Dolly Levi, die als verwitwete Heiratsvermittlerin<br />

den geizigen Halb-Millionär Horace<br />

Vandergelder aus Yonkers unter die Haube bringen<br />

will. Ganz nebenbei verkuppelt Dolly seine<br />

beiden Angestellten Barnaby und Cornelius mit<br />

zwei Hutmacherinnen in New York, denn eigentlich<br />

hat sie für Horace längst die perfekte Ehepartnerin<br />

gefunden: sich selbst.<br />

Unter der Regie von Gene Kelly gab es 1969 die<br />

weltberühmte Verfilmung mit Barbra Streisand<br />

als eigentlich zu junger Dolly, mit Walter Matthau<br />

als griesgrämigem Horace, mit dem späteren Londoner<br />

»Phantom der Oper« Michael Crawford<br />

als schlaksigem Cornelius und mit Louis Armstrong<br />

in einer Gastrolle. Von sieben Oscar-<br />

Nominierungen konnte der Film drei Trophäen<br />

mit nach Hause nehmen. Jahre später war der<br />

Roboter »Wall-E« im gleichnamigen Pixar-Film<br />

von »Hello, Dolly!« und dem Song ›Put on Your<br />

Sunday Clothes‹ besessen.<br />

Am 13. Januar 20<strong>24</strong> feierte »Hello, Dolly!«<br />

Premiere am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.<br />

Unter der Regie von Carsten Kirchmeier<br />

wird eine deutsche Dialogfassung mit englischen<br />

Songtexten präsentiert. Von der ersten Minute an<br />

zeigt die Bühne von Jürgen Kirner, wie man den<br />

angestaubten Musical-Klassiker modern ins Bild<br />

setzt. Dabei haben die Darsteller wohl ein Fläschchen<br />

mit der Aufschrift »Trink mich!« aus »Alice<br />

im Wunderland« konsumiert und wurden mit<br />

dem »Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft«-<br />

Effekt miniaturisiert, denn Horace Vandergelder<br />

hat ein Geschäft in Form einer überdimensionalen<br />

Registrierkasse und in Molloys Hutmacherladen<br />

verstecken sich Cornelius und Barnaby in<br />

Riesenhutschachteln. Im exklusiven Restaurant<br />

Harmonia Gardens besteht die Einrichtung aus<br />

mit Servietten dekorierten Speisetellern und man<br />

sitzt auf riesigen Sektkorken. »Sei hier Gast« (»Die<br />

Schöne und das Biest«) könnte das Motto dieses<br />

Luxus-Restaurants sein. Passend dazu findet Dollys<br />

spektakulärer Auftritt zum Showstopper des<br />

Titel-Songs ›Hello, Dolly!‹ nicht auf der üblichen<br />

Showtreppe statt, sondern auf einem schwebenden<br />

Teelöffel!<br />

Zu diesem Regiekonzept passen auch die<br />

Regenbogen-bunten Kostüme von Beata Kornatowska,<br />

die eher an die Traumsequenz aus »Mary<br />

Poppins« im Bonbonladen erinnern als an historisch<br />

korrekte Straßenkleidung der Vereinigen<br />

Staaten um 1890, obwohl man sich diese superkalifragilistischexpialigetische<br />

Kluft vom tristen<br />

Grau in Yonkers erst durch Dollys frohe Lebens-<br />

Lektionen »verdienen« muss. Pfiffig ist auch die<br />

14<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Umsetzung der in der Verfilmung unglaublich aufwändigen<br />

Szene zum Song ›Before the Parade Passes<br />

By‹, denn in Gelsenkirchen sehen die Zuschauer<br />

nicht die patriotische Parade selbst, sondern nur die<br />

Reaktionen der Darsteller darauf.<br />

Zu diesen optischen Leckerbissen tanzt das<br />

Ensemble in der stimmigen Choreographie von<br />

Paul Kribbe, die das hektische Treiben der Kellner<br />

im Harmonia Gardens zeigt, zwar weniger<br />

akrobatisch als in anderen Inszenierungen, aber<br />

mit mehr Ruhe und Stil. Etwas zu viel Ruhe verströmte<br />

das Dirigat der musikalischen Leitung<br />

von Peter Kattermann, der die Neue Philharmonie<br />

Westfalen bei der Premiere mit angezogener<br />

Handbremse nicht zur vollen Power antreiben<br />

wollte. Der Orchestersound wurde im Ton von<br />

Jan Wittkowski zurückhaltender abgemischt, was<br />

die Textverständlichkeit der Darsteller verbessert,<br />

besonders da im englischen Original mit deutschen<br />

Übertiteln gesungen wird. Hier können die<br />

Darsteller umso mehr punkten.<br />

Anke Sieloff verkörpert ihre eigene Auslegung<br />

der Titelfigur Dolly Gallagher Levi – ohne<br />

dabei Rollenvorgängerinnen zu kopieren – in<br />

ihrer persönlichen Stimmfärbung. Einerseits<br />

sympathisch im Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen<br />

Mann, energetisch beim Verteilen ihrer<br />

Visitenkarten für unterschiedlichste Kurse von<br />

zwischenmenschlichen Aktivitäten oder einfühlsam<br />

bei der Anbahnung einer Pärchen-Bildung<br />

von Mann und Frau, bedient Sieloff alle Register.<br />

Dirk Weiler als Horace Vandergelder zieht<br />

bei so viel geballter Frauenpower den Kürzeren,<br />

überzeugt aber mit einer weitaus gehaltvolleren<br />

Singstimme als Walter Matthau im Film. Sebastian<br />

Schiller als Cornelius Hackl und Nicolai<br />

Schwab als Barnaby Tucker sind das energiegeladene<br />

Comedy-Paar, das von ihren weiblichen<br />

Gegenpolen Julia Heiser als bodenständige Irene<br />

Molloy und Sonja Hebestadt als liebenswerte<br />

Minnie Fay gezähmt wird. Mit Alina J. Simon als<br />

Horaces zierlicher Nichte Ermengarde und Jonathan<br />

Guth als Bohnenstange Ambrose Kemper<br />

hat sich bereits ein perfektes Paar gefunden, das<br />

Dolly in den Augen des Onkels aber erst noch etablieren<br />

muss. Alfia Kamalova spielt die überdrehte<br />

Lebedame Ernestina Money, die Dolly Horace als<br />

schlechtes Beispiel vorführt, um sich schließlich<br />

selbst besser an den Mann bringen zu können.<br />

Charles E.J. Moulton verkörpert die kleine, aber<br />

dankbare Rolle des Chefkellners Rudolph.<br />

Das Musiktheater im Revier zeigt mit der aktuellen<br />

Inszenierung von ›Hello, Dolly!‹, dass man<br />

auch vermeintlich altbackenen Musical-Klassikern<br />

neues Leben einhauchen kann. So fällt es gar<br />

nicht ins Gewicht, wenn die Handlung keinen<br />

aktuellen Bezug zu haben scheint, weil Hochzeiten<br />

zumindest in westlichen Kulturkreisen längst<br />

nicht mehr von älteren Damen eingefädelt werden<br />

und Männer nicht mehr vom Frauchen für Küche<br />

und Bett träumen – oder vielleicht doch?<br />

Stephan Drewianka<br />

Abb. oben:<br />

Viel Spaß bei der Arbeit und noch<br />

mehr Vergnügen in New York haben<br />

Vandergelders Angestellte Barnaby<br />

(Nicolai Schwab) und Cornelius<br />

(Sebastian Schiller)<br />

Abb. unten von links oben:<br />

1. Im Harmonia Gardens feiert man<br />

Dollys (Anke Sieloff, Mitte) Rückkehr<br />

2. Horace Vandergelder (Dirk Weiler,<br />

Mitte mit Ensemble) hat ein unumstößlich<br />

altmodisches Frauenbild<br />

3. Falsche Frau (Alfia Kamalova) für<br />

Vandergelder (Dirk Weiler)<br />

4. Ein ›Hello, Dolly!‹-Auftritt ohne<br />

Showtreppe, aber mit fliegendem<br />

Teelöffel für Dolly (Anke Sieloff,<br />

Mitte mit Ensemble)<br />

Fotos (5): Pedro Malinowski<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

15


Musicals in Deutschland<br />

Legal? Illegal? Scheißegal?<br />

Uraufführung von »Hanf. Ein berauschender Abend« in Schwedt<br />

Abb. oben:<br />

(v.l.): Bauer Pfeiffer (Janik Oelsch),<br />

Sabine (Antonia Schwingel), Chris<br />

Paffke (David Alonso), Meister Klein<br />

(Katarzyna Kluczna), Frau Schmidt<br />

(Ines Venus Heinrich) sind überzeugt:<br />

»Hanf kann´s!«<br />

Abb. unten:<br />

Mary Jane (Antonia Schwingel, l.)<br />

verführt Chris Paffke (David Alonso, r.)<br />

Fotos (2): Udo Krause<br />

Tom van Hasselts neuestes Werk »Hanf. Ein berauschender<br />

Abend« feierte am 8. März auf der kleinen<br />

Bühne der Uckermärkischen Bühnen Schwedt<br />

Uraufführung. Als das Werk vor rund 1,5 Jahren in<br />

Auftrag gegeben wurde, begannen die Gespräche rund<br />

um die Legalisierung von Cannabis in Deutschland<br />

gerade – nun ist es soweit, und völlig egal, wie man<br />

zu legal oder nicht steht – anscheinend ist das Thema<br />

so hipp, dass man mit Dialogen wie: »Stimmt es, dass<br />

Cannabis furchtlos macht?« ‒ »Es macht das, was man<br />

sich wünscht!« ‒ wohl auf die Bühne gehen darf, unabhängig<br />

vom Wahrheitsgehalt und in Missachtung dessen,<br />

dass Cannabis für die Gehirne Jugendlicher und<br />

junger Erwachsener gefährlich ist. Gefährlicher im<br />

Übrigen sogar als moderater Alkoholgenuss, was sich<br />

dann ab ca. dem 25. Lebensjahr umkehrt, wo Alkohol<br />

zu der weit gefährlicheren Droge wird. Dass der fatale<br />

Konsum von Alkohol legal ist und von der Gesellschaft<br />

völlig verharmlost wird, hätte auch Teil des Abends<br />

sein können. Als Thema wurde es zumindest kurz in<br />

einer Szene angespielt: Der makellose Makler zieht<br />

eine Line und schleppt dann ein Bierfass an, welches er<br />

mit allerlei hartem Alkohol anreichert. Er fordert dann<br />

alle auf, sich zu besaufen, denn mit Hilfe der Polizei<br />

und einem Alkoholtest soll der Gewinner ermittelt<br />

werden: Derjenige, der die höchste Promillezahl aufweisen<br />

kann. Ein Thema mit durchaus großer Brisanz,<br />

da Komasaufen ja etwas ist, was unter Jugendlichen<br />

ebenso blind durchgezogen wird wie so manch andere<br />

Droge. Aber auch hier bleibt es bei dieser oberflächlichen<br />

Szene, in der zwar aufgezeigt wird, wie absurd<br />

die Rechtsprechung sein kann, aber die vermutlich<br />

trotzdem bei niemandem ein Nachdenken bezüglich<br />

des eigenen Konsums von Nervengiften jeglicher Art<br />

auslöst.<br />

Der ganze Abend erscheint (leider) fast wie eine billige<br />

Werbeveranstaltung für Hanf, was eine Schande<br />

ist, wenn man bedenkt, wie viel eine wirkliche, ernstzunehmende<br />

Auseinandersetzung hätte hergeben können,<br />

sollen und müssen. Insbesondere gerade jetzt, wo<br />

es darum geht, die Augen und Sinne zu schärfen und<br />

zu bewussten Entscheidungen anzuregen. Aber das<br />

Buch und Textzeilen wie: »Ich will dich nicht verlieren,<br />

ich will auch nicht, dass du frierst, ich will auch nicht,<br />

dass du mich verlierst«, oder »Das ist mein letzter Joint,<br />

du warst mein bester Freund«, lassen einen wirklich<br />

intensiven Umgang mit der Thematik leider nicht zu.<br />

Dabei ist unbestritten, dass man Papier aus Hanf<br />

herstellen kann, auch für Seile, Seifen und Ähnliches<br />

ist der Rohstoff geeignet und es gibt sicher einige Möglichkeiten,<br />

so umweltschonende Produkte herzustellen.<br />

Ebenso unbestritten ist auch der medizinische Effekt,<br />

insbesondere im niedrigschwelligen Schmerzbereich,<br />

bei chronischen Erkrankungen sowie in der Krebsund<br />

Aidsbehandlung, wo neben der eigentlichen Wirkung<br />

insbesondere die appetitsteigernde Wirkung hilfreich<br />

ist. Statt ein plumpes »Joints sind super«-Stück<br />

zu schreiben, hätte man diese Aspekte hervorheben<br />

können. Aber obwohl das mit der Oma sogar angelegt<br />

wurde, indem der Enkel ihr Hanf-angereicherten<br />

Kaffee gibt, verpuffte dieses Thema in dem Moment<br />

faktisch als Glühstengel, in dem man erfährt, dass sie<br />

bereits seit Jahrzehnten kifft und den perfekten Ofen<br />

baut. Alles mündet in der Verherrlichung von Joints –<br />

16<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

mit ›Willkommen im Club‹ wird ein klares Zeichen<br />

gesetzt. Warum nur?<br />

Nachdem vieles nun besprochen wurde, was es<br />

hätte sein können, hier nun, was es ist:<br />

Wir schreiben das Jahr 20<strong>24</strong>, der ca. 20-jährige Chris<br />

Paffke hat es, nach seinem Abitur 2<strong>02</strong>2, versäumt, sich<br />

für einen Beruf zu entscheiden. Stattdessen kifft er, lebt<br />

im Haus seiner Oma und erhält Waisenrente, nachdem<br />

vor knapp fünf Jahren seine Eltern ums Leben gekommen<br />

sind. Oder – besser gesagt, er erhielt Waisenrente<br />

bis vor einem Jahr, wie ihm seine Freundin Sabine<br />

mitteilt, angeblich zum wiederholten Male. Anscheinend<br />

war aber in dem ganzen Jahr sein Kopf nicht klar<br />

genug, um es einmal tatsächlich zu verstehen. An diesem<br />

Abend realisiert er es, das mag auch daran liegen,<br />

dass zeitgleich Sabine mit ihm Schluss macht, weil er<br />

nichts macht außer Kiffen. Seine beste Freundin Mary<br />

Jane (amerikanisches Pseudonym für Marihuana) darf<br />

ihn (vermeintlich) noch ein letztes Mal durch den<br />

Abend begleiten. Völlig problemlos lässt er das Kiffen<br />

ab da sein und bekommt dank seiner Oma die Idee, ein<br />

Geschäft mit Hanfprodukten zu eröffnen sowie Hanf<br />

anzubauen. Der örtliche Bauer lässt sich auf den Anbau<br />

ein, idealerweise kommt es Chris da auch zugute, dass<br />

(was er bis dahin nicht wusste) das große Grundstück<br />

hinter Omas Haus ihnen gehört und dort früher auch<br />

schon Tabak angebaut wurde, der Boden also ideal<br />

dafür ist. Schnell bekommt er auch finanzielle Förderungen,<br />

erhält etliche Produkte auf Kommission<br />

und kann sich einen Laden einrichten – unwissend,<br />

was das alles bedeutet. Aber das macht ja nichts,<br />

wichtig ist nur: Er ist jetzt beruflich selbstständig!<br />

Ein alter Schulrivale, Jesko, hingegen ist schon länger<br />

als makelloser Makler unterwegs und möchte zum<br />

einen das Haus von Chris’ Oma verkaufen, zum anderen<br />

will er sich Sabine schnappen, die sich zumindest<br />

einmal kurz auf eine Knutscherei mit ihm eingelassen<br />

hat. Mit miesen Hintergedanken täuscht Jesko<br />

vor, er würde Chris’ Geschäft fördern wie ein echter<br />

Freund – als es dann allerdings tatsächlich zu einer Art<br />

Geschäftseröffnungs-, in Wahrheit irgendwie verspäteter<br />

Abiparty kommt, stellt er diesen allerdings vor der<br />

Polizei bloß, indem er nachweist, dass Chris ohne das<br />

Wissen anderer die Milch, die er verkauft, mit THC<br />

angereichert hat. Chris wird verhaftet und Jesko sieht<br />

den großen Moment gekommen – wie auch immer<br />

schafft er es angeblich im Handumdrehen, die Oma<br />

von Chris in ein Altersheim abzuschieben, für unmündig<br />

erklären zu lassen und Chris als Straftäter für nicht<br />

mehr geschäftsfähig zu erklären, so dass er sich das<br />

Haus unter den Nagel reißen und verkaufen kann. Die<br />

bis dahin so brave Sabine wird daraufhin wütend, lässt<br />

den Vamp in sich raus, betört so den Polizisten und<br />

befreit Chris. Sie eilen zur Oma ins Altersheim, die mit<br />

perfektem Joint das Leben genießt, bereitwillig aber<br />

nach Hause zurückkehrt, wenn sich denn dann Chris<br />

und Sabine wieder als Paar zusammenfinden. Mit herzzerreißenden<br />

Zeilen wie: »Dein Herz und mein Herz<br />

waren schon immer ein Herz« passiert natürlich genau<br />

das und so schaffen sie es, Jesko gerade noch rechtzeitig<br />

zu überführen. Statt ihn ins Gefängnis wandern zu lassen,<br />

verpflichten sie ihn, im Cannabis-Club Mitglied<br />

zu werden. Mit ›Willkommen im Club‹ wird die neue<br />

Legalität gefeiert.<br />

Musikalisch sind viele Momente weit schöner<br />

ausgearbeitet als die Texte, dass Tom van Hasselt hier<br />

gerade einmal eine dreiköpfige Band leitet, geht im<br />

guten Sound der kleinen Bühne völlig unter, so satt<br />

und kräftig klingt es. Die Melodien sind durchaus<br />

abwechslungsreich, ein echter Ohrwurm bleibt zwar<br />

nicht hängen, aber die Musik macht durchaus Freude<br />

an diesem Abend.<br />

André Nicke stehen für viele Rollen nur fünf Darsteller<br />

zur Verfügung, d.h. jede wurde mehrfach besetzt<br />

und er versteht es, ihnen dafür immer den nötigen<br />

Feinschliff mit auf den Weg zu geben – sei es sprachlich<br />

oder in den Bewegungen und Gesten. Für die Kostüme<br />

zeichnet Anke Fischer ebenso wie für das Bühnenbild<br />

verantwortlich – schnelle Wechsel, insbesondere von<br />

Katarzyna Kluczna, werden zum Teil offen gespielt<br />

und unterstreichen den Boulevardkomödieneindruck,<br />

der in sich dann wieder stimmig ist. Der Einsatz von<br />

Schwarzlichteffekten ist sehr wirkungsvoll, so werden<br />

mit einfachsten Mitteln tatsächlich echte Hingucker-<br />

Momente kreiert.<br />

Schauspielerisch hervorzuheben und sehr süß ist<br />

Hanf. Ein berauschender Abend<br />

Tom van Hasselt<br />

Uckermärckische Bühnen Schwedt –<br />

Kleiner Saal<br />

Uraufführung: 8. März 20<strong>24</strong><br />

Regie .............................. André Nicke<br />

Musik. Leitung .......... Tom van Hasselt<br />

Choreographie.............. Sven Niemeyer<br />

Ausstattung ..................... Anke Fischer<br />

Chris Paffke /<br />

Dinosaurier ................... David Alonso<br />

Sabine /<br />

Mary Jane ............. Antonia Schwingel<br />

Jesko / Bauer Pfeiffer ....... Janik Oelsch<br />

Meister Klein / Justina ..........................<br />

.............................. Katarzyna Kluczna<br />

Oma Paffke /<br />

Frau Schmidt ....... Ines Venus Heinrich<br />

Stimme Erzähler .... Christian Hirseland<br />

Abb. von links:<br />

1. Chris Paffke (David Alonso, 2.v.r.)<br />

zeigt Sabine (Antonia Schwingel, l.),<br />

Justina (Katarzyna Kluczna, 2.v.l.) und<br />

Frau Schmidt (Ines Venus Heinrich, r.)<br />

sein neues Geschäft<br />

2. Jesko (Janik Oelsch) zeigt der<br />

Hauskäuferin (Katarzyna Kluczna) den<br />

Vertrag<br />

Fotos (2): Udo Krause<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

17


Musicals in Deutschland<br />

Abb. unten:<br />

1. Es war einmal… Mary Jane<br />

(Antonia Schwingel, l.) sorgt auch<br />

bei den Dinosauriern (David<br />

Alonso, r.) für Entspannung<br />

2. Justina (Katarzyna Kluczna)<br />

erklärt Sabine (Antonia Schwingel),<br />

dass doch jeder mal etwas<br />

außerhalb des Gesetzes macht<br />

3. (v.l.): Oma Paffke (Ines Venus<br />

Heinrich), Jesko (Janik Oelsch),<br />

Hauskäuferin (Katarzyna Kluczna)<br />

und Chris Paffke (David Alonso) lassen<br />

sich von Mary Jane einnebeln<br />

4. (v.l.): Jesko (Janik Oelsch) wird<br />

von Meister Klein (Katarzyna<br />

Kluczna) vor den Augen von Sabine<br />

(Antonia Schwingel) und Chris<br />

Paffke (David Alonso) verhaftet<br />

5. (v.l.): Oma Paffke (Ines Venus<br />

Heinrich), Jesko (Janik Oelsch),<br />

Meister Klein (Katarzyna Kluczna),<br />

Chris Paffke (David Alonso) und<br />

Sabine (Antonia Schwingel) sind<br />

nun Teil des neuen Hanf-Clubs<br />

Fotos (5): Udo Krause<br />

Antonia Schwingel als Sabine. Sie hat auch fast den<br />

berührendsten Moment, als sie davon singt, dass sie ja<br />

immer die Perfekte sein muss und damit nicht klarkommt.<br />

Gesanglich gewohnt sehr stark unterstreicht in<br />

diesem Stück Katarzyna Kluczna auch ihr komödiantisches<br />

Können. In der Hauptrolle überzeugt David<br />

Alonso weniger durch eine starke Stimme, dafür aber<br />

mit viel schauspielerischem Feingefühl für seine Interpretation<br />

des liebenswerten, wenngleich geistig nicht<br />

ganz hellen Chris Paffke. Als vor allem schmieriger<br />

Makler ganz in rosa steht Janik Oelsch auf der Bühne,<br />

einer gewissen Abscheu ihm gegenüber kann man sich<br />

nicht entziehen ‒ und dies sei ein Lob an dieser Stelle,<br />

denn genauso gehört der offenkundige Antagonist<br />

interpretiert. Ines Venus Heinrich als Oma und Lehrerin<br />

hat häufig die Lacher auf ihrer Seite, darf auch tatsächlich<br />

mal die wenigen ernsthaften Töne anstimmen<br />

und macht dies mit warmer Stimme.<br />

Es ist schade, wenn ein Stück mit so einem durchaus<br />

ernsten Thema sich selbst nicht ernst nimmt. Wie<br />

schon andere Stücke bewiesen haben, heißt ein Thema<br />

ernstzunehmen ja nicht gleich, dass man ohne Humor<br />

auskommen muss. In diesem Fall, bestärkt durch die<br />

Mittanz-Szene und das Jointschwenken, schien es<br />

aber der Wunsch zu sein, das Publikum nur sehr oberflächlich<br />

erreichen zu wollen. Sei es den Schwedtern<br />

gewünscht, dass dieses Konzept aufgeht, denn was<br />

in diesem Theater, egal welches Stück auf der Bühne<br />

gespielt wird, immer spürbar ist, ist die Liebe der<br />

Beteiligten zu dem, was sie tun. Und dies ist, jedes Mal<br />

wieder, viel wert.<br />

Sabine Haydn<br />

18<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Germanys Next Top-Musicalstars<br />

ZAV-Absolventenpräsentation 20<strong>24</strong> an der Folkwang Universität der Künste Essen<br />

Abb. oben:<br />

Die 34 Absolventen der deutschsprachigen<br />

Musicalstudiengänge<br />

präsentieren sich in Essen<br />

Abb. unten:<br />

Die Studenten der gastgebenden<br />

Folkwang Universität der Künste Essen<br />

Fotos (2): Stephan Drewianka<br />

Jedes Jahr präsentieren die 5 Musicalhochschulen im<br />

deutschsprachigen Raum ihre Abschlussklassen in<br />

einem von der ZAV-Künstlervermittlung organisierten<br />

Event. 20<strong>24</strong> war die Folkwang Universität der Künste<br />

in Essen-Werden der Gastgeber und präsentierte die<br />

frisch gebackenen Musicaldarsteller an zwei Tagen<br />

am 12. und 13. Januar 20<strong>24</strong> in einer 6-stündigen Veranstaltung<br />

in der Neuen Aula. Jedem Darsteller wird<br />

dabei ein festes Zeitkontingent eingeräumt, um sich<br />

dem Publikum angemessen musikalisch in Solo- und<br />

Ensemble-Stücken sowie schauspielerisch in Monologen<br />

zu präsentieren. Jede Hochschule verpackt diese<br />

Mini-Konzerte mit von den Darstellern ausgewählten<br />

Titeln in eine kleine Rahmenhandlung, die die einzelnen<br />

Darbietungen verknüpft.<br />

Am Samstag, dem 13. Januar 20<strong>24</strong>, beginnt die<br />

Absolventenpräsentation mit den Gästen der Theaterakademie<br />

August Everding aus München. Ömer<br />

Örgey philosophiert augenzwinkernd über Kebab und<br />

besucht eine »Wild Party«, die mit »Babytalk« endet.<br />

Lorena Brugger zitiert Barbie, fragt »Hörst du mein<br />

Herz?«, und nachdem das Ensemble festgestellt hat,<br />

wie das »Funny Girl« agiert ›If a Girl Isn’t Pretty‹, darf<br />

auf ihre »Parade« natürlich kein Regen fallen. Auch<br />

Juliette Lapouthe ergründet mit ›Will He Like Me‹ im<br />

Monolog von Frau Stern als die Unsichtbare ihr inneres<br />

Selbst mit dem Resultat ›Alle Leute lieben Louis‹. Tim<br />

Nicolai Morsbach steht der Sinn eher nach ›Stil und<br />

Dekor‹ als ›Frau mit dem Einkauf‹, der seinen Partner<br />

aus »Rent« gerne zudeckt. Emily Mroseks Motto<br />

als Margarethe mit ›Grünfink und Nachtigall‹ lautet<br />

›Maybe I Like It This Way‹ und Mats Vissers »Güldenstern«<br />

erlebt ›Dunkles Schweigen an den Tischen‹<br />

mit etwas ›Gehirnfrost‹ aus »Heathers«.<br />

Die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt<br />

Wien präsentiert eine »Klassenfahrt« ihrer Darsteller.<br />

Lucia Miorin weiß, was es heißt, eine Schauspielerin<br />

zu sein, und wie Mücken nerven. Sie singt sich<br />

verliebt durch »The Scarlet Pimpernel«, »Smash« und<br />

das ›Lass mich oder verlass mich‹-»Rent«-Duett mit<br />

Hannah Schranz, die gleich mit ›If I Ain’t Got You‹<br />

weiterdenkt und die Beziehung beendet mit ›Der wird<br />

schön schau’n‹. Magnus Jahr als ›The Devil You Know‹<br />

bittet ›Run Away With Me‹, weil ›I Can’t Stand Still‹.<br />

Auch Jonathan Kügler bekennt ›Ich brech’ die Herzen<br />

der stolzesten Frau’n‹, insbesondere das von ›Maria‹,<br />

während Giulia Wegmüller noch darüber nachdenkt<br />

›Wie’s sein wird‹, als »Modern Millie« zu heiraten, oder<br />

»Wicked« zu sagen ›Ich bin es nicht‹. Liam Solbjerg als<br />

Joseph ›Schließt jede Tür‹ als der verlorene Sohn, vermutet<br />

›I’m Not That Smart‹, träumt aber heimlich vom<br />

»Rocky Horror« ›The Sword of Damocles‹, und auch<br />

Teresa Jentsch braucht ›Glitter and Be Gay‹, sieht sich<br />

als heilige Johanna, die Päpstin, und im Kontrastprogramm<br />

auch als »Sweet Charity«.<br />

Die nächsten 75 Minuten gehören den zehn Absolventen<br />

des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück.<br />

UZOH hat einen »Bandscheibenvorfall«, weil<br />

»& Juliet« sie ›Hit Me Baby One More Time‹, bevor sie<br />

›Ruhig‹ »In The Heights« abtaucht, um ›Arme Seelen<br />

in Not‹ zu retten. Natalie Friedrich leidet unter ›Losing<br />

My Mind‹ nach »The Wild Party« und schüttet Richard<br />

Fuchs ihr »Kokoro«, sorry Herz, aus, denn er steht<br />

auf dem Standpunkt ›Love Is Not Love‹ – ›Wenn es<br />

stimmt‹, bevor er »Das Licht auf der Piazza« mit Leonie<br />

Dietrich löscht, denn mit ihr und »Rocky« ist es ›Vorbei‹,<br />

ihr Name sei nun Peggy und ›Art Is Calling for<br />

Me‹. Annemarie Purkert findet den großen Kometen<br />

von 1812 ›Reizend‹, sagt aber »Nein« zu »Heathers«, ist<br />

›Ein bisschen sehr verliebt‹ in die »Wonderful Town«<br />

und sieht sich zusammen mit Pascal Dominik Schmid<br />

als ›Ashe und Joe‹, der wiederum »Footloose« nicht stillstehen<br />

kann und die ›Rolle des Lebens‹ sucht. Dominik<br />

Räk deckt ›Wie jeder andre Mann‹ als Hospitant die<br />

›Unehrlichkeiten‹ der »City of Angels« auf. Yannic<br />

Blauert läuft dem »Hase(n) mit den Bernsteinaugen«<br />

26<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

davon und findet ›Sie‹ in den »Tagebücher(n) von<br />

Adam und Eva«. Stefan Schößwendter als ›Barry geht<br />

heute zum Ball‹ von »The Prom«, diskutiert mit »Beetlejuice«<br />

›Das Ding mit dem tot sein‹ und ist ›Aus Stein‹.<br />

Höhepunkte sind das im Ensemble getanzte A-capella-<br />

Stück ›Tap‹, der ›Cell Block Tango‹ aus »Chicago«<br />

des Herren-Ensembles und ›Was immer Lola will‹ aus<br />

»Damn Yankees« des Frauen- Ensembles.<br />

Nach der Mittagspause geht es musikalisch weiter<br />

mit den Absolventen der Universität der Künste<br />

Berlin, die uns als Ensemble in das »Wonderland«<br />

der »City of Angels« mitnehmen. Nathan Johns Reise<br />

geht zum »Glöckner von Notre Dame« und ins »Moulin<br />

Rouge« bis zu ›Zwei Nobodys in New York‹, im<br />

Duett mit Fabio Kopf, der »Elegies« und das ›Ehrenwerte<br />

Haus‹ besingt. Laura Goblirsch berichtet von<br />

ihrem »Bandscheibenvorfall« und auch bei »Chaplin«<br />

bricht alles zusammen, während ›Surabaya Jonny‹ ein<br />

»Happy End« erlebt. Tara Frieses ›Requiem‹ aus »Dear<br />

Evan Hansen« zieht ein ›Look at Me Now‹ nach sich,<br />

während sich Anna Weidinger auf derselben »Wild<br />

Party« fragt ›Vielleicht mag ich es so‹ und ihr ›Model-<br />

Verhalten‹ in Frage stellt – alle drei Damen sind<br />

schließlich »West Side Story« ›Cool‹.<br />

Als letzte Hochschule geht der Gastgeber, die<br />

Folkwang Universität der Künste Essen, ins Rennen.<br />

Eingerahmt von zwei Ensemble Songs aus »Rent« präsentiert<br />

jeder der sechs Studenten als Einzelsänger mit<br />

kompletter, aber stummer Unterstützung der übrigen<br />

Absolventen eine Rolle aus einem Musical. Antonia<br />

Kalinowski unterstützt als Julie »Tootsie«, Julius<br />

Störmer verfasst als Evan falsche Briefe mit dem Titel<br />

»Dear Evan Hansen«, Tamara Köhn bereitet als Mrs<br />

Lovett Fleischpasteten aus »Sweeney Todd(s)« Kundschaft,<br />

Maximilian Aschenbrenner wird in »Parade«<br />

unschuldig des Mordes an einem Kind verurteilt, Friederike<br />

Zeidler zelebriert als »Sweet Charity« die Kunst<br />

der käuflichen Liebe, während Til Ormeloh als Roger<br />

versucht, seine »Rent« als Sänger zu verdienen.<br />

Alle diesjährigen 34 Absolventen präsentieren sich<br />

auf sehr hohem Niveau und zeigen deutlich, dass sich<br />

Deutschland und Österreich keine Sorgen um exzellenten<br />

Bühnen-Nachwuchs machen müssen. Es bleibt<br />

zu hoffen, dass nun die Theater dieses wundervolle<br />

Potenzial auch nutzen werden, damit diese Talente<br />

auch wirklich erfolgreiche Musical-Karrieren beschreiten<br />

können, alles andere wäre fahrlässige Verschwendung<br />

von Ressourcen!<br />

Stephan Drewianka<br />

Abb. von oben:<br />

1. ›Cell Block Tango‹ mit den Herren<br />

aus Osnabrück<br />

2. Die Teilnehmer der Musik und<br />

Kunst Privatuniversität der Stadt Wien<br />

3. Das Frauenensemble des Instituts<br />

für Musik der Hochschule Osnabrück<br />

4. Die Absolventen der Universität<br />

der Künste Berlin<br />

5. Die Theaterakademie August<br />

Everding aus München präsentiert<br />

sechs Darsteller<br />

Fotos (5): Stephan Drewianka<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

27


Musicals in Deutschland<br />

Brücken der Kulturen<br />

»China Girl – Liebe ist stärker als Blut« im F1rst Stage Theater Hamburg<br />

Das Musical »China Girl – Liebe ist stärker als Blut«<br />

transferiert die Romeo-und-Julia-Story als<br />

Acrobatical nach New York und erzählt die zeitlose<br />

Geschichte von Liebe und Verbot aus einer<br />

neuen Perspektive. Die Bühnenadaption, die von<br />

der klassischen Tragödie inspiriert ist, spielt im pulsierenden<br />

Herz von New York, wo die Dynamik der<br />

Gegensätze und die Konflikte zwischen den Bewohnern<br />

von Chinatown und denen aus Little Italy thematisiert<br />

werden. Mit der Story möchte Regisseur Raoul Schoregge,<br />

der auch noch als sehr bekannter Clown in der<br />

Produktion zu bestaunen ist, Brücken zwischen den<br />

Kulturen bauen und Steine aus dem Weg schaffen. Die<br />

Liebesgeschichte zwischen dem chinesischen Mädchen<br />

(Ziyan Shi) und dem Italo-Lover (Norbert Bunker-<br />

Whitney) wird umspannt von artistischen Nummern.<br />

Diese sind in die dünne Handlung, die von der Offstimme<br />

(Inga Dietrich) erzählt wird, eingebunden.<br />

Anfänglich muss man sich stark an die langweilige<br />

Erzählweise und die nicht immer dazu passenden<br />

Videoprojektionen gewöhnen, aber durch die Künstler<br />

auf der Bühne, die mit den einzelnen fulminanten<br />

Nummern immer wieder stimmlich wie auch artistisch<br />

begeistern, wird man aus dem Einschlafmodus<br />

immer wieder geweckt. Der Aufbau der Show erinnert<br />

stark an Kreuzfahrtschiff-Shows, wo in der Stilistik<br />

oft auf einen Erzähler zurückgegriffen wird, um die<br />

Handlung voranzutreiben und so kurze Shows zu<br />

produzieren, anstatt sie durch das Geschehen auf der<br />

Bühne im Flow und mit Tiefgang zu erzählen. Hier<br />

wären bessere Anschlüsse und ein insgesamt besseres<br />

Buch gewünscht. Die Musik reicht über Songs von<br />

David Bowie und chinesischen traditionellen Klängen<br />

bis zu Adriano Celentano und Auszügen aus der »West<br />

Side Story«. Die Titel werden von einer kleinen, aber<br />

flott aufspielenden Band unter der Leitung von Adrian<br />

Werum dargeboten. Die chinesische Geige mag dabei<br />

für das eine oder andere europäische Ohr gewöhnungsbedürftig<br />

sein, wird dieses Instrument hier doch stark<br />

in den Vordergrund gestellt. Die Choreographien von<br />

Sun Qing Qing & Julia Eseeva sind stimmig und platzieren<br />

die Cast dort, wo sie sein soll, überraschen aber<br />

auch nicht mit wirklich innovativen Gruppenmomenten.<br />

Hierbei lag die Schwierigkeit sicher auch darin,<br />

die Akrobaten, die keine Tänzer sind, zu integrieren.<br />

Die Kostüme von Nadine und Fee Schoregge schauen<br />

schön aus und lassen die Darsteller in ihren jeweiligen<br />

»New York«-Styles glänzen.<br />

Highlights der Produktion sind klar die Clowns<br />

und die artistischen Darbietungen, die von der Schlangen-<br />

und Magier-Frau über diverse Balancier-, Jonglierund<br />

Hutnummern hin zum Showstopper des Abends,<br />

einer »Jonglier-Strip-Show« zweier Italiener, reichen,<br />

die mit Flaschen werfen und dabei ihre Anzüge tauschen.<br />

Auch die Bodyakrobatik ist grandios! Das<br />

Gesangsensemble aus der Kooperation mit der Stage<br />

School Hamburg unterstützt die einzelnen Nummern<br />

stimmlich gut und lässt hier und da aufhorchen (z.B.<br />

Birgit Widmann).<br />

Die Premiere begeisterte die Zuschauer:innen und<br />

schaffte es, Brücken zwischen Ost und West zu bauen,<br />

appelliert an den Willen zu Frieden und Verbindung<br />

zwischen Menschen und entließ die Zuschauer:innen<br />

am Ende beeindruckt, was diese mit Standing Ovations<br />

zum Ausdruck brachten. Wer Lust bekommen hat, sich<br />

die Story über Liebe, Sehnsucht und Hass gepaart mit<br />

Akrobatik, Gesang, Musik und Tanz anzuschauen, hat<br />

noch bis in den April 20<strong>24</strong> hinein Gelegenheit dazu.<br />

Stefan Schön<br />

Abb. oben:<br />

Artistenfigur zum Abschluss –<br />

Messoudi-Brüder, Joanes Diakoyannis,<br />

Norbert Bunker-Whitney,<br />

Qing Qing Sun, Arisa Meguro und<br />

Xiangyang Wang<br />

Foto: Dennis Mundkowski<br />

Chinagirl –<br />

Liebe ist stärker als Blut<br />

Diverse / David Bowie /<br />

Chinesischer Nationalzirkus<br />

Chinesischer Nationalzirkus &<br />

Stage School Hamburg<br />

F1rst Stage Theater<br />

Premiere: 26. Januar 20<strong>24</strong><br />

Regie......................... Raoul Schoregge<br />

Musikalische Leitung..... Adrian Werum<br />

Choreographie .....................................<br />

.............. Sun Qing Qing & Julia Eseeva<br />

Bühnenbild ........... Günther Schoregge<br />

Kostüme ............... Nadine Schoregge /<br />

Fee Schoregge<br />

Licht / Bühne .... F1rst Stage Theaterteam<br />

Sound .... Technik Team F1rst Stage Theater<br />

Ensemble:<br />

Fiorina Bogatu, Norbert Bunker-Whitney,<br />

Theresia Busch, Ciao Hua Chang,<br />

Kandara Diabata, Joanes Diacoyannis,<br />

Tabitha Eugling, Xiaolin Gong,<br />

Martin Holtgreve, Dongsheng Li,<br />

Arisa Meguro, Karim Messoudi,<br />

Soffien Messoudi, Yassin Messoudi,<br />

Yurie Nishi, Marina Ortmann,<br />

Nathalie Schöning, Ziyan Shi,<br />

Qing Qing Sun, Deborah Vilchez,<br />

Hao Wang, Xiangyang Wang,<br />

Birgit Widmann<br />

Stimme aus dem Off ....... Inga Dietrich<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

19


Musicals in Deutschland<br />

Außergewöhnlich prickelnd<br />

»Broadway Danny Rose« am Schlosstheater Celle<br />

Abb. oben:<br />

Zu Thanksgiving ist alles wieder in<br />

Ordnung. Das Ensemble v.l.: Lisa<br />

Mader (Tina), Philipp Keßel (Danny<br />

Rose), Dirk Böther, Jamila Boukhers,<br />

Lars Fabian, Tanja Kübler (Theresa),<br />

Philip Leenders (Lou Canova,<br />

i.d.bes.Vorst.: Dimitri Breuer),<br />

Thomas Wenzel<br />

Abb. unten:<br />

Tina (Lisa Mader) macht ihrem Lover<br />

Lou eine Eifersuchtsszene am Telefon.<br />

Danny (Philipp Keßel) versucht sie zu<br />

beruhigen<br />

Fotos (2): Marie Liebig<br />

Überdreht, verrückt, ein kriminalistischer Ausflug<br />

in die Welt des Showbiz’ ist der in<br />

Schwarz-Weiß gedrehte Film von Woody Allen aus<br />

dem Jahr 1984, der, 2-fach für den Oscar nominiert,<br />

zum Kultfilm wurde. Es ist Allens zwölfter<br />

Film als Regisseur. Außerdem spielt er die Titelrolle,<br />

den erfolglosen Künstler-Agenten Danny,<br />

der den erfolglosen Schlagersänger Lou Canova<br />

managt. Der Darsteller des Lou, der bis dahin<br />

unbekannte Nick Apollo Forte, war im wirklichen<br />

Leben Nachtclubsänger, der wie Lou durch eine<br />

Nostalgiewelle plötzlich zum Comeback gelangte.<br />

Im Zentrum steht außerdem Mia Farrow als Tina<br />

Vitale.<br />

Lou ist in sie verliebt und kann nur singen, wenn<br />

sie im Zuschauerraum ist. Heikel ist jedoch, dass<br />

er verheiratet ist. Damit seine eifersüchtige Ehefrau<br />

Theresa nichts merkt, soll Danny als Strohmann<br />

herhalten und Tina als ihr Lover begleiten. Brisant<br />

ist jedoch, dass Tinas Ex, Johnny, zur Mafia<br />

gehört und spitzbekommen hat, dass ihr ein<br />

geheimnisvoller Liebhaber täglich eine weiße Rose<br />

schickt – welcher natürlich niemand anderer ist als<br />

der unglücklich verliebte Lou Canova. Für seinen<br />

Schützling macht sich Danny auf die Suche nach<br />

Tina. Wütend schimpft sie am Telefon mit Lou,<br />

sie glaubt, dass er sie mit einer blonden Schlampe<br />

betrogen hat. Mit Mühe kann Danny ihr diesen<br />

Verdacht ausreden. Abergläubisch befragt sie ihre<br />

Wahrsagerin Angelina, die ihr rät, mit ihrem<br />

Johnny, dem Gangster, Schluss zu machen. Doch<br />

auf einer Mafia-Party wird Danny als ihr Geliebter<br />

»enttarnt« und beide müssen vor der »Vendetta«<br />

fliehen. Sie werden in New York – nach einer Flucht<br />

durch eine Sumpflandschaft – gekidnappt. Da<br />

behauptet Danny, dass der stotternde Bauchredner<br />

Barney Dunn der Liebhaber von Tina ist – denn<br />

Barney wurde von ihm fernab auf eine Kreuzfahrt<br />

vermittelt ...<br />

Wie ein Paket aneinander gefesselt bleiben<br />

Danny und Tina zurück, wieder hat Danny eine<br />

zündende Idee: In seinem Pool war einmal ein<br />

indischer Entfesselungskünstler, und durch seinen<br />

Trick lösen sich die Fesseln. Endlich im Waldorf<br />

Astoria hat Lou sich inzwischen aus Angst und<br />

Verzweiflung betrunken. Auch da hat Danny die<br />

Lösung – sein Wundertrank macht Lou plötzlich<br />

nüchtern und er kann mit seinem Song ›My Bambina‹<br />

brillieren. Dem Comeback steht somit nichts<br />

im Wege, wäre da nicht der Künstler-Agent Sid<br />

Bacherach, der ihn sofort nach L.A. vermittelt …<br />

Da ändert Lou nun sein Leben – bzw. den Agenten<br />

–, und Danny bleibt allein mit seinen nicht<br />

vermittelbaren Künstlern zurück. In diese triste<br />

Stimmung hinein klingelt es an der Tür – Tina hat<br />

Lou verlassen! Und so sieht es so aus, als ob aus dem<br />

»Sad End« ein märchenhaftes »Happy End« wird.<br />

Genau dieser Filmhandlung folgt auch die<br />

20<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Bühnenfassung von Gil Mehmert und Jens Raschke,<br />

die am 16. Dezember 2000 in der Regie von Gil<br />

Mehmert am Theater Kiel zur Uraufführung kam<br />

und inzwischen u. a. auch am Theater Neue Bühne<br />

Darmstadt und am Saarländischen Staatstheater<br />

Saarbrücken gespielt wurde. Es ist erstaunlich, dass<br />

sich jetzt ein so kleines Theater wie das Schlosstheater<br />

Celle an diesen Stoff wagt. Aus dem Barocktheater<br />

von 1675, dem ältesten noch bespielten<br />

Theaterbau Europas, wird eine Showbühne. Aus<br />

dem Schnellimbiss, dem »Diner« im Film, wird<br />

in Celle der Theaterraum zum Varieté, wo sich<br />

vier Entertainer an den Künstler-Agenten Danny<br />

Rose in Rückblenden erinnern, und vor allem an<br />

seine beste Story, die von Lou Canova. Rote Rosen<br />

schweben als Beleuchtungskörper aus dem Schnürboden<br />

herab, eine Live-Band auf der Hinterbühne,<br />

auf einem Podest erhöht, begleitet mit Saxophon,<br />

Posaune, Klavier, Bass und Drums die Show – und<br />

da mischen sich Gesang und Schauspiel wie in<br />

einem Musical Play, mit überraschenden, witzigen<br />

Song-Zitaten, situationsbezogenen neuen Texten<br />

und Underscoring, die die Handlung kommentieren,<br />

und machen »Danny Rose« zu einem prickelnden<br />

Theaterabend. Die Darsteller lassen mit schauspielerischer<br />

Qualität und musikalischem Können<br />

die Story von Danny, Lou und Tina, der Mafia und<br />

den hoffnungslos erfolglosen Künstlern lebendig<br />

werden, die Story ist exakt gleich wie im Film, aber<br />

durch das Medium Theater vollkommen anders.<br />

So kann man in der eigenen Celler Fassung diese<br />

überdrehte Woody-Allen-Komödie mit gefühlt 30<br />

Songs und Musiktiteln durchaus als Musical Play<br />

bezeichnen. Die acht Darsteller lassen manchen Musical-Profi<br />

erblassen. Der der Situation entsprechende<br />

witzige Strauß von Musical-Hits, mit Songs und Titeln<br />

von Quincy Jones, Cole Porter, Frank Loesser und Leonard<br />

Cohen kann das Publikum verblüffen – auch so<br />

geht Musical, wenn auch nicht im klassischen Sinn.<br />

Im Bühnenbild von Martin Käser werden<br />

einzelne Spielorte durch fahrbare halbrunde Segmente<br />

angedeutet. Die Verwandlungs-Deko und<br />

ständigen Rollen- und Szenenwechsel sind zwar<br />

eine Herausforderung für das Regie-Team und das<br />

Ensemble, erschaffen aber gleichermaßen in theatraler<br />

Spielweise mit treffenden genau gezeichneten<br />

Kostümen (ebenfalls Martin Käser) einen Theaterabend,<br />

der nicht in das Schema gängiger Musicals<br />

passt.<br />

Hausherr Andreas Döring als Regisseur und<br />

sein musikalischer Leiter Moritz Aring schaffen<br />

eine Liebeserklärung ans Varieté, eine Reflexion<br />

über die Welt des Showbiz’ und des Theaters und<br />

den Wankelmut des Erfolgs. Durch das vielseitige<br />

Ensemble wird jede Figur markant, jede Szene<br />

auf den Punkt ein Highlight, jede Pointe gekonnt<br />

gesetzt. Die Rahmenhandlung spielt nicht wie im<br />

Film am Stammtisch eines »Diners«, sondern im<br />

Varieté. Vier Entertainer, wie das berühmte »Rat-<br />

Pack« (Thomas Wenzel, Dirk Böther, Lars Fabian,<br />

Jamila Boukhers), sprechen von alten Zeiten, werfen<br />

sich die Bälle zu, kokettieren mit dem Publikum<br />

und schlüpfen in zwanzig einzelne Rollen. Da bleiben<br />

Onkel Rocco, der in Zement macht, Johnny,<br />

der dichtende Gangster und Ex von Tina, Barney<br />

Dunn, der stotternde Bauchredner, und die nach<br />

Vendetta rufende »Mafia-Mama« Mrs Rispoli in<br />

Erinnerung. Die Vier erzählen uns von Danny<br />

Rose, der selbst mal auf der Bühne stand – und der,<br />

als der Erfolg ausblieb, beschloss, andere erfolglose<br />

Künstler als Künstleragent zu vermitteln, der fest an<br />

seine Schützlinge glaubte und fest davon überzeugt<br />

war, dass auch seine Kleinkünstler eines Tages zu<br />

Stars des Broadways werden würden, so wie jetzt im<br />

Stück für Lou die Gunst der Stunde winkt.<br />

Tanja Kübler ist Lous temperamentvoll-schlampige<br />

Frau Theresa und u. a. auch die mysteriöse<br />

Wahrsagerin Angelina, die Tina rät, ihr Leben in<br />

Ordnung zu bringen.<br />

Philipp Keßel IST Danny Rose – und man<br />

Broadway Danny Rose<br />

Diverse / Woody Allen<br />

Deutsch von Jens Raschke & Gil Mehmert<br />

Schlosstheater Celle<br />

Premiere: <strong>24</strong>. November 2<strong>02</strong>3<br />

Regie ......................... Andreas Döring<br />

Musikalische Leitung ...... Moritz Aring<br />

Ausstattung ..................... Martin Käser<br />

Danny Rose ................... Philipp Keßel<br />

Lou Canova .............. Philip Leenders /<br />

Dimitri Breuer<br />

Tina Vitale ......................... Lisa Mader<br />

In weiteren Rollen:<br />

Moritz Aring, Jamila Boukhers,<br />

Dirk Böther, Dimitri Breuer,<br />

Marco Djurdjević, Lars Fabian,<br />

Tanja Kübler, Marcus Lewyn,<br />

Erik Mrotzek, Jan Frederik Schmidt,<br />

Thomas Wenzel<br />

Abb. unten:<br />

Lou Canova (Philip Leenders,<br />

i.d.bes.Vorst. Dimitri Breuer, 2.v.r.)<br />

versucht, seiner eifersüchtigen<br />

Ehefrau Theresa (Tanja Kübler)<br />

weiszumachen, seine Geliebte Tina<br />

sei in Wahrheit die Freundin von<br />

Danny Rose (Philipp Keßel, l.)<br />

Foto: Marie Liebig<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

21


Musicals in Deutschland<br />

Abb. von oben links:<br />

1. Tinas (Lisa Mader) Ex und seine<br />

Mafia-Freunde lassen sie und Danny<br />

(Philipp Keßel) gefesselt zurück<br />

2. Die Mafia jagt Tina, weil ihr<br />

Mafioso-Ex auf ihren neuen Liebhaber<br />

eifersüchtig ist (v.l.: Lars Fabian,<br />

Thomas Wenzel, Dirk Böther)<br />

3. Danny (Philipp Keßel, 3.v.r.)<br />

erklärt den Mafiosi, Tinas (Lisa<br />

Mader, 2.v.l.) Verehrer sei ein<br />

Bauchredner, der auf einem<br />

Kreuzfahrtschiff arbeite<br />

4. Danny (Philipp Keßel, r.) redet<br />

dem betrunkenen Lou Canova<br />

(Philip Leenders, i.d.bes.Vorst.<br />

Dimitri Breuer) ins Gewissen<br />

5. Tina (Lisa Mader, Mitte) will<br />

mit ihrem Ex Johnny und dessen<br />

Mafia-Freunden nichts mehr zu<br />

tun haben<br />

6. Schauplatz der Rahmenhandlung<br />

ist ein Varieté (v.l.: Lars Fabian,<br />

Jamila Boukhers, Dirk Böther,<br />

Thomas Wenzel)<br />

Fotos (6): Marie Liebig<br />

meint, Woody Allen auf der Bühne zu sehen.<br />

Er rückt die Brille zurecht, ist schmal, nervös,<br />

mit dem typischen schüchternen und linkischen<br />

Auftreten, dem schnellen Sprachrhythmus und den<br />

Pointen, der ewige Loser, die Kunstfigur »Woody«<br />

mit ihrem unverwechselbaren Stil. Großartig, wie<br />

Philipp Keßel das macht. Und fraglos ist er ein<br />

Leuchtfeuer der Hoffnung in der Wüste des Showbiz’<br />

und des Theaters.<br />

Dimitri Breuer ist großartig (als Einspringer für<br />

den erkrankten Philip Leenders) als Lou Canova,<br />

man merkt kaum, dass er immer wieder das Textbuch<br />

in der Hand hat – er weiß, wie die Show geht,<br />

und spielt perfekt den altmodischen Schlagersänger,<br />

dessen Songs mit Gefühl aus der Mode waren und<br />

jetzt wieder in sind – und der wehleidig ohne Tina<br />

nicht singen kann. Lisa Mader ist Tina Vitale, voll<br />

vital, mit hervorragender Stimme, im Mia-Farrow-<br />

Look – blond mit Sonnenbrille – temperamentvoll,<br />

dann voll Kalkül und wird ganz wuschig, wenn<br />

Lou von »Amore« singt. Sie begeistert im Duett mit<br />

Danny: »That’s Why the Lady Is a Tramp.«<br />

Surreal, voller Stilbrüche – Lachsalven erschüttern<br />

das wunderschöne historische Schlosstheater<br />

in Celle! Aus der Perspektive des kleinen, ewigen<br />

Verlierers Danny Rose erleben wir die fragile Welt<br />

des Showbiz’. Der bittersüße Ausflug hat manchem<br />

Zuschauer die Augen geöffnet, ihn lächeln, mitleiden,<br />

lachen und nachdenken lassen, und zu guter<br />

Letzt kommen wir wieder zurück in die reale Welt.<br />

Hartmut Holm Forche<br />

22<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Bäuerin in Nöten<br />

»Käthe holt die Kuh vom Eis« im Kammertheater Karlsruhe<br />

Das Kammertheater Karlsruhe ist bekannt für<br />

kleine, aber feine Musicals. So hat der neue Intendant,<br />

William Danne, der im Stück selbst die Hauptrolle<br />

der Käthe Bauer spielt und auch Regie führt, mit<br />

»Käthe holt die Kuh vom Eis« ein durch und durch<br />

spaßiges MUHsical nach Karlsruhe geholt. Denn<br />

»Käthe« lief bereits über 200 Mal quer durch die ganze<br />

Republik.<br />

Lustig war bereits der Vorraum zum Theater mit<br />

diversen Requisiten dekoriert und – (wohl aber nicht<br />

immer) – es gab an der Garderobe ein Schnäpschen<br />

zum Einstimmen, denn der Korn spielt im Stück auch<br />

eine Rolle, heizt Käthe damit doch nicht nur sich, sondern<br />

auch das Publikum an.<br />

Und dann ging es auch schon los, durch den noch<br />

geschlossenen Vorhang gackerten drei Hühner zur Belustigung<br />

der Zuschauer. Wie der Titel unschwer vermuten<br />

lässt: Das Stück spielt auf einem Bauernhof. Die Show<br />

begann mit dem ersten bekannten, umgetexteten Lied,<br />

denn statt ›Old MacDonald‹ hat hier Käthe Bauer eine<br />

Farm. Käthe, rüstig, robust und kein bisschen zimperlich,<br />

lebt allein mit ihren Tieren dort. Um die drohende<br />

Insolvenz abzuwenden, gibt sie eine Anzeige auf, in der sie<br />

stressgeplagten Großstädtern einen erholsamen Urlaub auf<br />

dem Bauernhof anbietet.<br />

Als erstes landet Rascal auf dem Bauernhof, der von<br />

seinem Vater hierher geschickt wurde, damit er endlich<br />

arbeiten lernt, da er sein Studium schon mehrere Male<br />

abgebrochen hat. Nachdem Käthe ihn aus seiner Designerjeans<br />

rausgeholt und in eine Latzhose hineingesteckt hat,<br />

soll er den Schweinestall ausmisten.<br />

Als nächstes erscheint Leonie, die Teilzeit-Aussteigerin,<br />

die sich freut, Natur pur zu erleben. Leonie hält sich für<br />

›Heidi‹ ‒ und das ist dann auch gleich ihr Auftrittslied.<br />

Das Publikum begrüßt sie als Schafe und bittet darum,<br />

dass alle »Mäh« machen. Tatsächlich ist Leonie jedoch aus<br />

Frankfurt und arbeitete in einer Kita als Erzieherin, wo<br />

aber einiges schief gelaufen ist. Jetzt möchte sie auf Käthes<br />

Bauernhof mal nichts tun. Doch dann kommt Rascal,<br />

umgezogen und bereit, den Schweinestall auszumisten,<br />

und sofort funkt es zwischen Leonie und ihm.<br />

Dritter im Bunde ist Jürgen, der mit seinem Porsche<br />

nicht die Auffahrt hinunterkommt und sofort von Käthe<br />

zum Grasmähen verdonnert wird.<br />

Inzwischen hat Leonie zufällig den Brief vom Finanzamt<br />

gefunden, in dem Käthe aufgefordert wird, 500.000<br />

Euro zu zahlen, oder der Hof wird gepfändet.<br />

Um Käthe zu retten, beschließen ihre »Gäste«, ein<br />

Video für YouTube zu drehen und allen zu zeigen, wie<br />

schön das Landleben ist. Mitten im Dreh taucht dann<br />

eine weitere Person auf, von der alle annehmen, sie sei<br />

ein weiterer Gast. Sofort wird auch sie in das Video eingebunden.<br />

Doch es stellt sich heraus, die Dame ist die<br />

Gerichtsvollzieherin.<br />

Doch wie sollte es bei solch einem fröhlichen Boulevardstück,<br />

bei dem das Publikum oft zum Mitmachen aufgefordert<br />

wird, anders sein: Natürlich gibt es ein Happy End,<br />

Käthe und ihr Bauernhof werden gerettet und alle sind<br />

glücklich.<br />

Neben den fünf Darstellern spielen auch jede Menge<br />

Tiere, meist in Form von Handpuppen, aber auch im Kostüm,<br />

mit. Das Bühnenbild (Heiko de Boer), das aus einem<br />

gemalten Vorhang als blauem Himmel, einigen Heuballen<br />

und zwei Häuschen besteht, ist zwar nicht sehr aufwendig,<br />

erfüllt aber voll und ganz seinen Zweck.<br />

Man würde eigentlich sagen, es könnte auch gut ein<br />

Stück für Kinder sein, doch dafür sind Käthe und Co.<br />

eindeutig zu zweideutig, es gibt viele zotige Sprüche und<br />

Jürgen in einem goldenen String ist auch ziemlich mutig.<br />

Dass er dazu ›I am Too Sexy‹ singt, passt prima.<br />

»Käthe holt die Kuh vom Eis« ist ein fröhliches Musical,<br />

denn es wird nebenbei auch noch viel gesungen, auch<br />

wenn die Musik vom Band (Musikalische Leitung: Markus<br />

Kapp) kommt. Wer einen Abend verbringen will, an dem<br />

viel gelacht wird, man sich aber nicht viele Gedanken über<br />

die Handlung machen muss, der ist hier genau richtig.<br />

Ingrid Kernbach<br />

Abb. oben:<br />

(v.l.): Jürgen Pimperbeidel (Johann<br />

Anzenberger), Leonie Klappstock<br />

(Dorothée Kahler), Dr. Vivienne Rechtsprecher<br />

(Sandra Maria Germann),<br />

Rascal Petzow (Marius Schneider),<br />

Käthe Bauer (William Danne)<br />

Foto: Markus Breig<br />

Käthe holt die Kuh vom Eis<br />

Diverse / William Danne<br />

Kammertheater Karlsruhe – K1<br />

Premiere: 16. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie .......................... William Danne<br />

Musikalische Leitung ...... Markus Kapp<br />

Choreographie .... Sandra Maria Germann<br />

Bühnenbild .................. Heiko de Boer<br />

Käthe Bauer .................. William Danne<br />

Leonie Klappstock ...... Dorothée Kahler<br />

Dr. Vivienne Rechtsprecher ....................<br />

......................... Sandra Maria Germann<br />

Rascal Petzow ........... Marius Schneider<br />

Jürgen Pimperbeidel ..............................<br />

.............................. Johann Anzenberger<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

23


Musicals in Deutschland<br />

Wahrheit – Schönheit – Freiheit – Liebe<br />

»Der große Gatsby« uraufgeführt am Deutschen Theater Göttingen<br />

Abb. oben:<br />

Im Hotel schlägt für alle Liebenden<br />

die Stunde der Wahrheit (v.l.): Tom<br />

Buchanan (Christoph Türkay), Nick<br />

Carraway (Moritz Schulze), Daisy<br />

(Gaia Vogel), Jordan Baker (Nathalie<br />

Thiede), Jay Gatsby (Daniel Mühe)<br />

Foto: Thomas M. Jauk<br />

Der große Gatsby<br />

Diverse / F. Scott Fitzgerald<br />

Deutsches Theater Göttingen<br />

Uraufführung: 27. Januar 20<strong>24</strong><br />

Regie ...................... Katharina Ramser<br />

Musik. Leitung ............ Michael Freitag<br />

Choreographie .... Valentí Rocamora i Torà<br />

Bühnenbild ........................ Ute Radler<br />

Kostüme .................. Myriam Casanova<br />

Video ....................... Thomas Bernhard<br />

Jay Gatsby ........................ Daniel Mühe<br />

George Wilson .......... Roman Majewski<br />

Nick Carraway .............. Moritz Schulze<br />

Jordan Baker ................ Nathalie Thiede<br />

Tom Buchanan ........... Christoph Türkay<br />

Daisy ................................... Gaia Vogel<br />

Myrtle ....................... Tara Helena Weiß<br />

In weiteren Rollen:<br />

Volker Muthmann, Katharina Pittelkow<br />

Baz Luhrmann verfilmte 12 Jahre nach seinem<br />

Kinohit »Moulin Rouge« den Roman<br />

von F. Scott Fitzgerald »Der große Gatsby« mit<br />

Leonardo DiCaprio in der Titelrolle als bildgewaltige,<br />

tragische Love-Story. Roman und Film<br />

inspirierten bereits mehrfach kreative Köpfe zu<br />

Umsetzungen des Stoffs für die Theaterbühne.<br />

So schrieb Claus Martin bereits 2012 ein Musical<br />

für die Freilichtbühne Coesfeld, und 20<strong>24</strong> zeigt<br />

das Deutsche Theater München eine Tanzshow<br />

von Enrique Gasa Valga. Das Deutsche Theater<br />

Göttingen nimmt sich des Stoffs in der Übersetzung<br />

von Hans-Christian Oeser unter der Regie<br />

von Katharina Ramser als »Vaudeville-Show« an<br />

und präsentiert einen Schauspiel-Abend mit 19<br />

Songs, passend zur Zeit der goldenen 20er Jahre<br />

des letzten Jahrhunderts, gespielt von der 10-köpfigen<br />

»Alexander´s Ragtime Band« unter der<br />

musikalischen Leitung von Michael Frei.<br />

Nick Carraway (Moritz Schulze) erzählt den<br />

Zuschauern, wie er als erfolgloser Autor 1922<br />

nach New York kommt, um an der Börse als Broker<br />

zu arbeiten. Er mietet ein schäbiges Häuschen<br />

in Long Island, direkt neben einer glamourösen<br />

Villa, in der sein Nachbar, ein gewisser Jay Gatsby<br />

(Daniel Mühe), ausschweifende Partys feiert. Kein<br />

Gast kennt den mysteriösen Gatsby persönlich,<br />

doch Nick gibt er sich zu erkennen. Denn Gatsby<br />

hat ein Anliegen: Er möchte Nicks Cousine Daisy<br />

(Gaia Vogel) wiedersehen, mit der er vor dem Ersten<br />

Weltkrieg eine Liebesbeziehung hatte. Daisy<br />

hat jedoch in der Zwischenzeit den reichen Ex-<br />

Polospieler Tom Buchanan (Christoph Türkay)<br />

geheiratet, dessen Anwesen direkt gegenüber<br />

Gatsbys Schloss auf dem »West-Egg« liegt. Nick<br />

weiß, dass Lebemann Tom eine Affäre mit Myrtle<br />

(Tara Helena Weiß) hat, der Frau des Autohändlers<br />

George Wilson (Roman Majewski) im schäbigen<br />

»Tal der Asche«, einem heruntergekommenen<br />

Vorort New Yorks, und kommt deshalb Gatsbys<br />

Bitte nach, Daisy einzuladen. Obwohl Daisy<br />

bereits eine Tochter hat, ist sie unglücklich in<br />

ihrer Ehe und die alte Liebe zu Gatsby flammt<br />

wieder auf. Nach einer Party in New York, bei der<br />

Nick mit Daisys Freundin Jordan Baker (Nathalie<br />

Thiede) verkuppelt wird, kommt es im Hotel<br />

zur Konfrontation zwischen Tom und Gatsby, bei<br />

der sich Daisy nicht eindeutig für ein Leben mit<br />

Gatsby entscheiden kann. Völlig aufgelöst verlassen<br />

Gatsby und Daisy das Hotel und verursachen<br />

auf der Rückfahrt einen folgenschweren, tödlichen<br />

Autounfall, der weitreichende Folgen hat.<br />

Obwohl es nicht im Programmheft vermerkt<br />

ist, hat der Baz-Luhrmann-Film einen prägenden<br />

Einfluss auf die Theaterinszenierung gehabt, werden<br />

doch größtenteils identische Dialogsequenzen<br />

aus Fitzgeralds Roman zitiert. Obwohl die Bühne<br />

von Ute Radler bei weitem nicht an die opulenten<br />

Bilder der Verfilmung herankommt, da sie nur auf<br />

eine Drehbühne und multifunktionale Wände und<br />

Requisiten (Sabine Jahn) setzt, die in einer Szene<br />

luxuriöse Sitzkissen darstellen und in der nächsten<br />

wie Autoreifen durch eine fiktive Werkstatt gerollt<br />

werden, gibt es auch hier deutliche Parallelen zum<br />

Film. Wenn Gatsby Daisy durch sein Haus führt<br />

und sie unter seinen bunten Luxushemden begräbt,<br />

wird diese Szene als eingespielte Videosequenz mit<br />

den Göttinger Schauspielern überdimensional auf<br />

die Wände projiziert. Auch wenn Glanz und Glamour<br />

von Gatsbys Villa eher in den Köpfen der<br />

Zuschauer entstehen, wo »Kronleuchter« aus verschlungenen<br />

Lichtbändern dargestellt sind, lassen<br />

<strong>24</strong><br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

die authentischen Kostüme in Weiß und braunen<br />

Herbsttönen (Myriam Casanova) die Charleston-<br />

Ära visuell aufleben. Schön, dass auch die Band im<br />

Orchestergraben diese Illusion mit ihren Outfits<br />

über den Bühnenrand hinaus weiterführt.<br />

Schauspielerisch bewegt sich das Drama auf<br />

höchstem Niveau und jede Textzeile wird klar<br />

verständlich vorgetragen. Doch diese Produktion<br />

ist eben viel mehr als reines Schauspiel. Durch<br />

eine passende Songauswahl von Michael Frei, die<br />

fulminant von den Darstellern vorgetragen wird,<br />

wird die Handlung zwar nicht unbedingt weitererzählt,<br />

jedoch unterstreichen die jazzigen Songs<br />

in zudem frischen Arrangements an den richtigen<br />

Stellen die Gefühle und Emotionen der handelnden<br />

Personen.<br />

Gleich zu Beginn entführt Gershwins ›Rhapsody<br />

in Blue‹ als Ouvertüre den Zuschauer in eine<br />

»Ein Amerikaner in Paris« - Musicalstimmung.<br />

›Alexander’s Ragtime Band‹ von Irving Berlin<br />

spiegelt die Kriegsstimmung wider, während Peggy<br />

Lees ›Ain’t We Got Fun‹ als pfiffiges Duett die beiden<br />

weiblichen Hauptcharaktere als gelangweilte<br />

Snobs einführt und der Folksong ›Man of Constant<br />

Sorrow‹ als Referenz für die armseligen Lebensumstände<br />

im »Tal der Asche« steht. Bei ›I Want to Be<br />

Bad‹ (Original von Helen Kane 1929) zeigt Myrtle,<br />

dass sie einer außerehelichen Beziehung nicht<br />

abgeneigt ist. Andere Songs unterstreichen mit<br />

der energiegeladenen Choreographie von Valenti<br />

Rocamora i Torà und den grandiosen Tänzern<br />

Germán Hipolito Farías, Pawel Malicki, Mar Sanchez<br />

Cisneros und Michael Tucker – allesamt auf<br />

High Heels »Cabaret«-tauglich, androgyn-weiblich<br />

gestylt – den exzessiv-erotischen Lebensstil der<br />

goldenen 20er Jahre. Zu ›Puttin’ on the Ritz‹<br />

oder ›Man With the Hex‹ wird gemeinsam mit<br />

dem gesamten Schauspiel-Ensemble in bester<br />

Fred-Astaire-Manier gesteppt. Weitere Songs sind<br />

›Gloomy Sunday‹ (Billie Holiday), ›Hi-De-Hi-<br />

De-Ho‹, ›Minnie the Moocher‹ und ›St. James<br />

Infirmary‹ von Cab Calloway, Gershwins ›Strike<br />

up the Band‹, ›They Can’t Take That Away From<br />

Me‹ und ›It Ain’t Necessarily So‹, das Frank Sinatra<br />

/ Sammy Davis Jr.-Duett ›Me and My Shadow‹,<br />

›Love Is Just Around the Corner‹ (u. a. Bing<br />

Crosby), ›The Love Nest‹ (John Steel), ›I’m Sitting<br />

on Top of the World‹, ›Better Luck Next Time‹<br />

und Kurt Weills ›Lost in the Stars‹.<br />

Trotz dieser geballten Ladung an Jazz, Blues<br />

und traditionellem Folksong, kombiniert mit<br />

einer sehenswerten Choreographie, sieht sich »Der<br />

große Gatsby« am Deutschen Theater Göttingen<br />

nicht als Musical, und das ist es irgendwie auch<br />

nicht. Trotzdem sollten sich Musicalfans diese<br />

Produktion nicht entgehen lassen, zumal eine<br />

Prise Baz Luhrmann der tragischen Romanvorlage<br />

auch in dieser Bühnenfassung einen sehenswerten<br />

Extra-Kick gibt, der einen unterhaltsamen<br />

Schauspielabend garantiert. Publikum und Presse<br />

sind zu Recht begeistert vom Göttinger »Gatsby«<br />

und bescheren dem Deutschen Theater mit seinen<br />

rund 500 Plätzen ausverkaufte Vorstellungen.<br />

Stephan Drewianka<br />

Abb. unten von links:<br />

1. ›Puttin‘ on the Ritz‹ – Es darf<br />

gesteppt werden (Ensemble)<br />

2. Nick Carraway (Moritz Schulze,<br />

3.v.l.) beginnt, Gatsbys (Daniel<br />

Mühe, r.) Lebensstil zu mögen (v.l.:<br />

Germán Hipolito Farías, Paweł<br />

Malicki, Michael Tucker, Mar<br />

Sanchez Cisneros)<br />

3. Trotz gesellschaftlicher Unterschiede<br />

werden Millionär (Daniel<br />

Mühe) und erfolgloser Autor (Moritz<br />

Schulze) als ungleiche Nachbarn<br />

beste Freunde<br />

4. Im Theater auch mal Film: Daisy<br />

(Gaia Vogel) verliebt sich erneut in<br />

Gatsby (Daniel Mühe)<br />

Fotos (4): Thomas M. Jauk<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

25


Musicals in Deutschland<br />

Glitter, Glamour, Flitter, ohne Männer wird es bitter!<br />

8 Jahre F1rst Stage Theater Hamburg – Die große Jubiläumsgala<br />

Fotos (11): Dennis Mundkowski<br />

Die große Jubiläumsgala<br />

F1rst Stage Theater Hamburg<br />

Premiere: 26. Februar 20<strong>24</strong><br />

Künstlerische Leitung .... Dennis Schulze<br />

Musikalische Leitung &<br />

Klavier .............. Marina Komissartchik<br />

Choreographie ......... Adam M. Cooper<br />

Bühnenbild ............. Felix Wienbürger /<br />

Tobias Mancinella<br />

Maske ........................ Carina Campell<br />

Lichtdesign ............... Felix Wienbürger<br />

Sounddesign ................ Sebastian Rieß<br />

Mit:<br />

Ann-Kathrin Amborn, Dominique Amport,<br />

Charlotte Beba, Elisabeth Bengs,<br />

Svenja Bertschi, Pauline Bienert,<br />

Luisa Bosselmann, Annika Böbel,<br />

Sarina Böker, Johanna Brödner,<br />

Sophia Brommund, Emily Creter,<br />

Naomi Diebel, Philine Ehrich,<br />

Moritz Ende, Mercedes Felling,<br />

Victoria Flecke, Ameline Funke,<br />

Maya Gaudino, Lilly Geis, Pascal Giebel,<br />

Jule Marie Gilster, Celia Gleiter,<br />

Chiara Goetschi, Pia Hartwig,<br />

Melina Hendel, Jule Herrmann,<br />

Max Kikken, Nadja Kilchherr,<br />

Phillip Oliver Kuhn, Selina Kullmann,<br />

Katharine Lindhorst,<br />

Babak Malekzadeh, Alina Martin,<br />

Cäsaria Mayer, Annika Müller,<br />

Aminata Ndaw, Luisa Neumann,<br />

Marlene Niemeyer, Dennis Petersen,<br />

Svea Pöhner, Britani Pouradbi,<br />

Philip Rakoczy, Jana Rimmele,<br />

Noelle Ruoss, Lina Sbaita,<br />

Laura Schäfer, Zoe Zabrina Schuhmacher,<br />

Emil Schuler, Rebecca Schuster,<br />

Jessica Schwarz, Ruby Smeets,<br />

Rebecca Spalt, Timo Stark,<br />

Melina Stauffer, Marietta Steinhausen,<br />

Lia Sussenbach, Linda Tauber,<br />

Gina Tuveri, Theolina Ulke,<br />

Lea Vowinkel, Monique Weißflog,<br />

Duygu Yüzbasioglu<br />

Am 26. Februar war es soweit und 63 talentierte<br />

Nachwuchskünstlerinnen und -künstler der Hamburger<br />

Stage School rockten zum 8-jährigen Jubiläum<br />

des F1rst Stage Theaters die Bühne. Die riesige Cast,<br />

bestehend aus den drei aktuellen Studienjahrgängen,<br />

präsentierte ihre aktuellen Highlights. Die Beiträge<br />

stammen dabei aus berühmten Musical- und Theaterstücken<br />

sowie Filmen (u. a. »The Greatest Showman«,<br />

»Cabaret«, »Hinterm Horizont«, »Finding Neverland«,<br />

»Kein Pardon«, »Monty Python’s Spamalot«, »Priscilla<br />

– Queen of the Desert« u.v.a.). Diese Gala kam mit<br />

stark unausgewogenem und auffallend unterschiedlichem<br />

Geschlechterverhältnis daher: 9 Männer und 54<br />

Frauen – klingt erst einmal wie: »Zu schön, um wahr<br />

zu sein« – oder wie eine große Ladies Night zu Gunsten<br />

einer Stiftung. Aber dies ist kein Regiestreich. Von<br />

den 9 Männern singt, spielt und tanzt auch nur einer<br />

auffallend oft und die anderen Männer haben zwar<br />

gute Momente, werden aber eher unauffällig platziert.<br />

Daher muss nun also in diesem Artikel einmal kurz<br />

eine Lanze für unsere männlichen Nachwuchs-Musicaldarsteller<br />

gebrochen werden – auch wenn natürlich<br />

die Damen der Show und diese junge Cast so oder so<br />

großen Spaß machen.<br />

Wo seid Ihr Männer? Wo sind die großen männlichen<br />

Stimmen geblieben? Stimmen, bei denen die<br />

Damen im Zuschauerraum raunen und tuscheln und<br />

eine Gänsehaut bekommen? Ist diese heute doch etwas<br />

vermisste Gattung eine Art aussterbender Typ? Muss<br />

in Zeiten von künstlicher Intelligenz und bei oft gegen<br />

den Typ besetzten Rollenprofilen der »männliche<br />

Mann« endgültig weichen?<br />

Daher die Bitte: Wenn Sie jetzt unser Magazin in<br />

den Händen halten und denken: »Ja, eigentlich kann<br />

ich besonders kraftvoll und schön singen und männlich<br />

bin ich auch, aber ich trau mich irgendwie nicht« – folgen<br />

Sie Ihrem Herzen und Talent! Die Welt braucht<br />

Frauen und Männer, die das künstlerische Licht und<br />

den Bühnenzauber mit Herz in die Welt tragen. Das<br />

Handwerkszeug dazu wird an einer Bühnenschule, wie<br />

der Stage School, oder einem anderen Institut gelehrt<br />

und führt dann zu so einem vielseitigen Abend wie dem<br />

hier.<br />

Der sonst gewohnte rote Faden (wie z.B. bei Kira<br />

Hehlemanns großartigen Regiearbeiten der »Weihnachtsshow«<br />

oder der letzten »Monday Night«) lässt sich<br />

an diesem Abend nicht klar erkennen und die Nummern<br />

wechseln einander zwischen Tanz und Gesang<br />

ab, ohne dass es eine kleine Geschichte oder wenigstens<br />

ein Motto gibt. Dennis Schulze (künstlerische Leitung)<br />

hat zusammen mit Choreograph Adam M. Cooper<br />

(interessante Choreos beim Opening und Finale!) aber<br />

einen flotten Abend in Studioatmosphäre geschaffen,<br />

der dennoch gut unterhält. Runde Kameralampen aus<br />

goldenen Lampenschirmen kreieren dabei ein schön<br />

anzusehendes Bühnenbild (Felix Wienbürger & Tobias<br />

Mancinella), das technisch in Premiummanier von<br />

Felix Wienbürger eingeleuchtet wird. Marina Kommissartchik<br />

(musikalische Leitung) haut in die Tasten des<br />

Klaviers und wechselt sich mit der eingespielten Musik<br />

ab. Diesen Spagat meistert das Soundteam (Sebastian<br />

Rieß) auf sehr hohem Niveau und unterstützt die<br />

Darsteller:innen auf der Bühne mit sehr gutem Ton.<br />

Highlights des Abends waren das von Pauline Bienert<br />

und Marlene Niemeyer gesungene ›Nimmerland‹ aus<br />

»Finding Neverland« sowie ›Du und die Nacht‹ von<br />

Anna Depenbusch, interpretiert von Sarina Böker und<br />

Max Kikken, der nebenbei auch mit seinem Schauspiel<br />

für spannende Momente sorgte. Natürlich begeisterten<br />

besonders das große Opening und das Finale, neben<br />

den vielen kleinen schönen Momenten. Als nächste<br />

Produktion feiert »A Chorus Line« im F1rst Stage Theater<br />

Premiere, mit der Jubiläumsgala wurde im Hinblick<br />

darauf bereits glitzernd und schillernd eingestimmt.<br />

Stefan Schön<br />

28<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

29


Einblick<br />

Für mich erfüllt sich ein Traum<br />

Ralph Siegels »Ein bisschen Frieden« kommt ins Deutsche Theater München<br />

Foto: Goran Nitschke<br />

Foto: Goran Nitschke<br />

Foto: Wolfgang Klauke<br />

Foto: Michael Böhmländer<br />

Wenn in wenigen Wochen »Ein bisschen<br />

Frieden« auf die Bühne des Deutschen<br />

Theaters München kommt, geht ein Traum von<br />

Ralph Siegel in Erfüllung: »In diesem Musical<br />

habe ich so viele private, vor allem aber auch<br />

musikalische Ereignisse und Erfahrungen verarbeitet,<br />

die ich in den sechs Jahrzehnten meines<br />

Wirkens erleben durfte. Jetzt darf ich das Musical<br />

endlich in meiner Geburtsstadt München<br />

auf die Bühne bringen. Ich freue mich sehr!«<br />

Der Komponist, der für zahlreiche Hits verantwortlich<br />

ist, betont, dass es absolut kein Musical<br />

über Nicole ist, die jeder mit dem namensgebenden<br />

Song verbindet. Dies sei im vergangenen<br />

Jahr von vielen missverstanden worden, so Siegel<br />

– dabei habe das Stück so viel zu bieten, insbesondere<br />

rund um die Teilung Deutschlands.<br />

Das Musical, welches die Geschichte von Rock-<br />

Musiker Ricky und Hippie-Mädchen Elisabeth<br />

erzählt und in den Kontext des Mauerbaus<br />

setzt, ist eine Geschichte, wie sie damals vielen<br />

Liebenden, Familien und Freunden passierte.<br />

Eine Geschichte, die vielleicht fiktional ist, aber<br />

im Grunde auf Begebenheiten und Erlebnissen<br />

beruht, die abertausende Menschen vereinen.<br />

Siegel kombiniert hierfür seine Songs, die sowohl<br />

im Country-, Rock- als auch Pop-Stil zuhause<br />

sind, und schafft damit ein vielseitiges Hörerlebnis.<br />

»Ich habe in den vielen Jahren meiner<br />

Karriere mit herausragenden Persönlichkeiten<br />

gearbeitet und es war immer eine Bereicherung.<br />

Jetzt in diesem Fall so ein wunderbares Ensemble<br />

und so namhafte Darsteller auf der Bühne<br />

sehen zu dürfen, in dem Stück, welches mir so<br />

viel bedeutet, ist für mich etwas Besonderes.«<br />

Teil des 30-köpfigen Ensembles sind Tim Wilhelm<br />

(Leadsänger der »Münchener Freiheit«),<br />

Heinz Hoenig, Simone Ballack und viele Musical-<br />

und Fernsehstars wie Alexander Kerbst<br />

(»Falco«), Jennifer Siemann (»Sturm der Liebe«),<br />

Madeleine Haipt (»Zeppelin«, »Die Schöne und<br />

das Biest«), Dan Lucas (»Jack the Ripper«) und<br />

Sonia Farke (TV-Serie »Hinter Gittern« und div.<br />

Musicals).<br />

»Ich bin dem Festspielhaus Füssen sehr dankbar,<br />

dass sie mein Musical im vergangenen Jahr auf<br />

die Bühne gebracht haben – es gab so viele wunderschöne<br />

Shows und Abend für Abend konnten<br />

wir beobachten, wie gerührt die Menschen im<br />

Publikum saßen. Dass ich jetzt das Stück in<br />

München auf dieser Bühne zeigen darf, rührt<br />

mich. Damit erfüllt sich tatsächlich ein Traum<br />

von mir und ich möchte mich bei allen bedanken,<br />

die diesen wahr werden lassen. Vor, hinter<br />

und auf der Bühne.«<br />

Foto: Goran Nitschke<br />

Sabine Haydn<br />

30<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

Ich glaube, die Art, Musiktheater zu spielen, hat<br />

sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert<br />

Anton Zetterholm über den Mann hinter der Maske<br />

blickpunkt musical: Sie hatten Ihren großen<br />

Durchbruch 2008 bei der TV-Castingshow »Ich<br />

Tarzan, Du Jane«, dank derer Sie Ihre erste große<br />

Rolle auf der Bühne ergatterten. Hätten Sie<br />

damals gedacht, heute auf den großen Bühnen<br />

Europas zu stehen oder gar einmal das »Phantom<br />

der Oper« zu verkörpern? Wie blicken Sie heute<br />

auf die Zeit zurück?<br />

Anton Zetterholm: Ich bin »Tarzan«, Disney,<br />

Stage Entertainment und SAT.1 sehr dankbar.<br />

Allerdings kann ich heute sagen, dass ich<br />

damals zu jung für eine so große Rolle war. Es<br />

war ein großer Druck und der Einstieg in die<br />

Musicalwelt war mit dieser Rolle fast zu groß.<br />

Es war auch danach schwierig, von der Titelrolle<br />

in kleinere Rollen zu wechseln, und ich musste<br />

dann erst einmal Abstand vom Musical-Business<br />

nehmen. Nach 10 Jahren kehrte ich dann zu Tarzan<br />

zurück und es war wirklich schön, die Rolle<br />

mit mehr Bühnenerfahrung zu spielen. Ich hätte<br />

nie gedacht, dass ich noch eine Titelrolle spielen<br />

darf, und schätze mich sehr glücklich. Ich hätte<br />

auch nicht gedacht, dass ich das Phantom so früh<br />

spielen würde, aber in dieser neuen Produktion<br />

ist es auch jünger besetzt.<br />

<strong>blimu</strong>: Betrachtet man Ihre lange Karriere, fällt<br />

vor allem Ihre Vielseitigkeit auf, was verschiedene<br />

Länder und Sprachen betrifft. Sie kommen<br />

selbst aus Schweden und sind dort auch schon<br />

aufgetreten, waren aber auch in großen deutschund<br />

englischsprachigen Produktionen vertreten.<br />

Was liegt Ihnen sprachlich am meisten und<br />

welche Vergleiche können Sie etwa zwischen<br />

den deutschen und österreichischen Bühnen<br />

und dem West End ziehen? Gibt es womöglich<br />

noch ein Land oder eine Sprache, die Sie reizen<br />

würden? Und wie sehen Sie die Musical-Szene in<br />

Ihrer Heimat?<br />

AZ: Ich mag es sehr, auf Deutsch zu singen,<br />

und irgendwie passt diese Sprache am besten<br />

zu meiner Stimme. Schweden ist klein und<br />

London ist ein hartes Pflaster. Ich bin sehr<br />

stolz, dass ich es geschafft habe, dort zu spielen,<br />

möchte aber eigentlich nicht zurück. Vielleicht<br />

kehren wir zurück, wenn meine Söhne Gavroche<br />

(Anm.d.Red.: in »Les Misérables«) spielen<br />

können.<br />

Foto: Jessylee Photography<br />

<strong>blimu</strong>: Abgesehen von der Bühne: Nicht selten<br />

klagen Musicaldarsteller darüber, nirgends<br />

wirklich zuhause zu sein. Wo fühlen Sie sich privat<br />

zuhause? Wie geht es Ihnen mit dem Reisen,<br />

vor allem jetzt, da Sie Vater zweier Söhne sind?<br />

Wie lässt sich das mit dem Alltag vereinbaren?<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 31


Einblick<br />

AZ: Seit meine Söhne auf der Welt sind, habe ich<br />

keine Long-Run-Produktion mehr gespielt. Wir<br />

haben auch in Schweden gewohnt, das ist auch<br />

unser Zuhause. Aktuell weiß ich aber nicht, ob<br />

wir wieder zurückziehen werden. Ich bin zwei<br />

Jahre von Schweden aus zu meinen Engagements<br />

gependelt und das war hart. Jetzt freue ich mich<br />

darauf, in Wien ein Zuhause aufzubauen und<br />

Routinen zu kreieren.<br />

<strong>blimu</strong>: Ihre Partnerin, Harriet Jones, ist selbst ein<br />

gefeierter Star am Londoner West End und verkörperte<br />

bereits viele Male die Rolle der Christine.<br />

Sie bezeichnen sich als »Phantom-Familie«.<br />

Was bedeutet Ihnen allen das Stück, kennen es<br />

die Kinder auch schon und wie fühlt es sich an,<br />

nun in »vertauschten Rollen« zu sein? (Ihre Frau<br />

im Publikum, Sie als Phantom).<br />

AZ: Ja, klar sind wir eine Phantom-Familie. Die<br />

Show bedeutet meiner Frau Harriet Jones sehr<br />

viel und die Kinder singen schon die Melodien.<br />

Harriets Vater ist vor 5 Jahren gestorben und jetzt<br />

bedeutet das Stück sogar noch mehr, Christine<br />

singt ja ›Könntest du doch wieder bei mir sein‹ zu<br />

ihrem verstorbenen Vater. Aktuell ist sie wieder<br />

als Christine Daaé in der World Tour Version zu<br />

sehen, gerade eben ist sie in Dubai.<br />

<strong>blimu</strong>: Ihre Kinder wachsen logischerweise mit<br />

dem Beruf der Eltern, in der Theaterwelt, auf.<br />

Wie wichtig ist es Ihnen, dass Musik eine Rolle<br />

in ihrem Leben spielt? Würden Sie Ihren Söhnen<br />

einen Bühnenberuf wünschen oder sogar davon<br />

abraten (bzw. aus welchen Gründen)? Kann man<br />

vielleicht schon erkennen, dass sie Talent von<br />

ihren Eltern geerbt haben?<br />

AZ: Das kann man wirklich deutlich erkennen.<br />

Im Kindergarten sagen sie auch immer, dass die<br />

beiden Musik lieben, und das ist natürlich schön<br />

zu hören.<br />

<strong>blimu</strong>: Zurück zu Ihrer Karriere: Von »Tarzan«<br />

über »Tanz der Vampire«, »Wicked« und »Les<br />

Misérables« bis hin zu »Elisabeth« und nun<br />

sowohl »Das Phantom der Oper« als auch »West<br />

Side Story«: Ist es Zufall, dass Sie sich stets für<br />

sogenannte Klassiker der Musicalwelt entschieden<br />

haben oder haben Sie einen Faible dafür?<br />

Welche Stücke oder Momente in Ihrer Karriere<br />

sind Ihnen besonders positiv (oder auch negativ)<br />

in Erinnerung geblieben?<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben nicht nur an vielen verschiedenen<br />

Bühnen gespielt, sondern auch mit vielen<br />

Stars der Musicalszene – von Willemijn Verkaik<br />

bis zu Carrie Hope Fletcher. Haben Sie persönlich<br />

Vorbilder, von wem konnten Sie am meisten<br />

lernen, wer hat Ihnen vielleicht etwas mit auf den<br />

Weg gegeben, das geblieben ist?<br />

AZ: Ich hatte Glück, mit sehr vielen talentierten<br />

Menschen arbeiten zu dürfen. Was man aber<br />

immer merkt, ist, dass jene, die viel Erfolg haben,<br />

auch sehr hart dafür arbeiten. Es geht auch um<br />

Glück, aber um in den »Top« zu bleiben, braucht<br />

es viel Zeit, Kraft und Arbeit.<br />

<strong>blimu</strong>: Mit einer Rolle wie dem Phantom, das<br />

viele Darsteller vor Ihnen bereits verkörpert<br />

haben und von dem viele Zuseher bereits eine<br />

feste Meinung/Vorstellung haben, ist es gar nicht<br />

so einfach zu überzeugen. Haben Sie Sorge im<br />

Hinblick auf Kritiken, wie gehen Sie damit um?<br />

AZ: Ich glaube, es ist schwierig, mit dem Phantom<br />

zu »gewinnen«. Jeder hat eine Meinung und<br />

eine Vorstellung zu dieser Rolle oder weiß, wie es<br />

damals war. Jetzt ist es eine neue Produktion und<br />

vieles wurde geändert und moderner gemacht.<br />

Ich freue mich vor allem darauf, das junge Publikum<br />

zu begrüßen, das »Das Phantom der Oper«<br />

vielleicht noch nie gesehen hat. Klar ist es hart,<br />

Kritik zu bekommen, manchmal wird vergessen,<br />

dass Darsteller die Vorstellungen von Regisseur<br />

und Produzent umsetzen. Trotzdem ist es nie<br />

schön, wenn etwas Negatives geschrieben wird.<br />

Man bekommt es immer irgendwie mit. Auch<br />

wenn es dem Großteil der Besucher:innen gefällt,<br />

bleiben leider auch die negativen Bemerkungen<br />

hängen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben bereits mehrmals erwähnt, dass<br />

es sich bei dieser Inszenierung um ein »neues«<br />

Phantom handeln soll, dass jünger gecastet<br />

wurde, und Sie haben auch die »Me too«-Debatte<br />

erwähnt. Wie legen Sie es denn an, wie machen<br />

Sie es zu Ihrem Phantom?<br />

AZ: Ich versuche, den Menschen hinter der Maske<br />

zu spielen. Mein Ziel ist es, dass das Publikum am<br />

Ende der Show mit meinem Phantom mitfühlt.<br />

Das ist gar nicht so einfach, da das Phantom auch<br />

für den Tod von zwei Personen verantwortlich<br />

ist. Ich glaube, die Art, Musiktheater zu spielen,<br />

hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert,<br />

und die »Me Too«-Debatte spiegelt sich auch im<br />

Castingprozess wider. »Das Phantom der Oper«<br />

ist letztendlich eine Liebesgeschichte und diese<br />

muss ja auch glaubwürdig sein.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie unterscheiden sich die Eindrücke des<br />

Stücks für Sie als Darsteller: Würden Sie jetzt<br />

im Publikum sitzen, was sind die markantesten<br />

Unterschiede, die Sie ausmachen können?<br />

AZ: Ich kenne die Show sehr gut, weil ich in<br />

der Original-Produktion den Raoul gespielt<br />

habe und meine Frau als Christine Daeé besetzt<br />

wurde. Ich kann ehrlich sagen, dass diese Version<br />

sehr neu und frisch ist. Ich bin sehr beeindruckt<br />

davon. Ich finde, das Phantom wird in dieser<br />

Produktion menschlicher dargestellt als in der<br />

Originalfassung.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Proben sind bereits weit fortgeschritten.<br />

Wie läuft es bisher, wie ist die Zusammenarbeit<br />

mit dem Rest der Cast und dem Leading<br />

Team?<br />

AZ: Die Cast ist super und wirklich top besetzt.<br />

Es macht sehr viel Freude, mit so vielen talentierten<br />

Künstler:innen und Kreativen zusammenzuarbeiten.<br />

Wir freuen uns riesig darauf, vor<br />

Publikum spielen zu dürfen.<br />

<strong>blimu</strong>: Es ist wie bereits erwähnt nicht Ihr<br />

erster Kontakt mit dem Stoff, in Schweden<br />

verkörperten Sie bereits 2016 Raoul. Inwiefern<br />

unterschied sich die damalige »neue schwedische<br />

Inszenierung« von der jetzigen? Und erzählen<br />

Sie uns, wie es nun zum Engagement in Wien<br />

kam: Wurden Sie angefragt, gab es klassische<br />

Auditions?<br />

AZ: »Tarzan« bedeutet viel für mich, das habe<br />

ich vor allem 2017 gemerkt, als ich nach fast 10<br />

Jahren zurückkam, um die Rolle erneut zu spielen.<br />

Es war auch fantastisch, in der wunderbaren<br />

Originalproduktion von »Les Misérables« spielen<br />

zu dürfen, die es jetzt leider nicht mehr gibt. Ich<br />

würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass<br />

ich nur Klassiker spiele. »Tarzan«, »Paramour«,<br />

»Wicked« und »Lady Bess« sind ein paar von den<br />

moderneren Stücken, die waren alle schön.<br />

Anton Zetterholm als Tony in der »West Side Story«, zusammen mit Oliver Liebl (Riff)<br />

Foto: Marco Sommer/Volksoper Wien<br />

32<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

AZ: Ich wurde tatsächlich gefragt, ob ich Lust<br />

hätte, an den Auditions teilzunehmen. Erst<br />

dachte ich, es handele sich wieder um die Rolle<br />

des Raoul, und ich sah mich erst nicht als Phantom,<br />

da ich die Original-Produktion im Kopf<br />

hatte. Ich habe dann für die Rolle des Phantoms<br />

die Audition für Cameron Mackintosh, die<br />

VBW und Andrew Lloyd Webber gemacht.<br />

<strong>blimu</strong>: Was macht für Sie das Phantom aus,<br />

was ist er für ein Mensch und was muss ein<br />

Darsteller mitbringen, um diese vielschichtige<br />

Figur authentisch zu vermitteln? Wo liegen<br />

darstellerisch und gesanglich die größten<br />

Herausforderungen?<br />

AZ: Das Phantom ist ein sehr einsamer Mann,<br />

der wegen seines entstellten Gesichts ganz alleine<br />

im Dunkeln lebt. Es ist eine Herausforderung,<br />

sich in dieses Leben hineinzuversetzen und seine<br />

Gefühlswelt nachzuempfinden. Ich glaube,<br />

ich werde, solange ich die Rolle spielen werde,<br />

laufend weitere Facetten des Phantoms entdecken.<br />

Gesanglich ist der Part für einen Tenor<br />

tief und für einen Bariton hoch. Es ist eine sehr<br />

anspruchsvolle Rolle, es sind sehr viele Emotionen<br />

im Spiel und es wird auch viel geschrien.<br />

<strong>blimu</strong>: Gibt es Szenen, Momente, die Sie im<br />

Stück besonders berühren oder auf die Sie sich<br />

besonders freuen? Gibt es auch Szenen, vor<br />

denen Sie als Darsteller Respekt haben?<br />

AZ: Das Ende ist echt krass und hat uns in den<br />

Proben alle berührt. Es ist jeden Abend eine sehr<br />

lange Reise für das Phantom, aber ich bin bereit<br />

für diese große Herausforderung.<br />

<strong>blimu</strong>: »Das Phantom der Oper« wurde 1986<br />

uraufgeführt. Warum ist die Geschichte immer<br />

noch aktuell, welchen Bezug kann man zur<br />

heutigen Zeit herstellen und was kann man als<br />

Zuschauer mitnehmen? Wie kann man auch die<br />

junge Generation dafür begeistern?<br />

AZ: Natürlich ist es zuerst die Musik, aber ich<br />

glaube, dass wir Menschen irgendwie eine Faszination<br />

für diese Übermenschlichkeit und das<br />

Gefährliche haben, sei es nun bei Vampiren oder<br />

dem Phantom. Ich glaube, die junge Generation<br />

wird diese neue Produktion auch mögen.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Entscheidung für die Rolle bringt<br />

auch eine Entscheidung für ein Jahr in Wien<br />

mit sich. Wie leicht oder schwer ist Ihnen und<br />

Ihrer Familie diese Entscheidung gefallen? Was<br />

verbinden Sie (auch abgesehen von Ihren Engagements)<br />

mit der Stadt? Worauf freuen Sie sich<br />

abseits vom Theater am meisten?<br />

AZ: Als ich die Zusage bekommen habe, hat<br />

meine Frau sofort »Ja« gesagt und das hat die<br />

Entscheidung, nach Wien zu gehen, natürlich<br />

leichter gemacht. Wien ist wirklich eine Kultur-<br />

Hauptstadt und sie fühlt sich als ausgebildete<br />

Opernsängerin sehr wohl hier. Die Stadt ist auch<br />

wirklich großartig für Kinder. Das Raimund<br />

Theater ist ein toller Arbeitsplatz und es ist ein<br />

Traum, in dieses tolle Haus zurückzukehren.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie sind gleichzeitig auch an der<br />

Volksoper als Tony in der »West Side Story«<br />

zu sehen – bereits zum fünften Mal in Ihrer<br />

Karriere. Wie leicht oder schwer fällt Ihnen der<br />

Wechsel zwischen diesen so unterschiedlichen<br />

Stücken? Und ist es ein »Zufall«, dass Sie es<br />

bereits so oft gespielt haben, oder ist diese Rolle<br />

für Sie etwas Besonderes?<br />

AZ: Es ist auf jeden Fall etwas Besonderes,<br />

Tony in einem Wiener Opernhaus zu spielen<br />

und mit so einem fantastischen Orchester zu<br />

arbeiten. Es sind zwei sehr unterschiedliche<br />

Rollen, und es ist ein Traum für einen Schauspieler,<br />

sie gleichzeitig spielen zu können.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben sich aufgrund eines Burnouts<br />

im Vorjahr komplett von der Bühne zurückgezogen.<br />

Wie war diese Zeit für Sie, wodurch<br />

haben Sie Kraft geschöpft und was haben Sie<br />

auch gelernt / was werden Sie künftig anders<br />

machen, um sich und Ihren Körper zu schützen?<br />

AZ: Es war die Hölle und hat mich sehr verändert.<br />

Ich habe nach wie vor Symptome, die vielleicht<br />

nie ganz weggehen werden, aber ich lerne<br />

gerade, wie ich gut damit umgehen kann. Ich<br />

hatte keine Ahnung oder Respekt für das, was<br />

mir passiert ist, und ganz ehrlich hat es mich fast<br />

mein Leben gekostet. Ich bin sehr dankbar für<br />

den Support meiner Familie und für das schwedische<br />

Gesundheitssystem, ohne diese beiden<br />

wäre ich heute nicht hier.<br />

<strong>blimu</strong>: Ein Blick in die Zukunft: Was wird man<br />

künftig noch von Anton Zetterholm sehen?<br />

Welche Karrierewünsche haben Sie noch?<br />

AZ: Ich hoffe erstmal, dass ich »Das Phantom<br />

der Oper« und »West Side Story« eine Weile<br />

spielen darf. Eigentlich hätte ich mit meiner<br />

Frau »Sweeney Todd« in Dortmund spielen sollen,<br />

dann kam aber erst Corona und dann das<br />

Engagement als Phantom. Sie wird es nach dem<br />

Sommer ohne mich in Dortmund spielen und<br />

es wird bestimmt eine tolle Erfahrung für sie.<br />

Vielleicht stehen wir irgendwann gemeinsam<br />

auf der Bühne, das wäre natürlich ein Traum.<br />

Das Interview führte Yvonne Mresch<br />

Das Phantom (Anton Zetterholm) lässt Christine (Lisanne Clémence Veeneman) näher an den Mann hinter der Maske herankommen<br />

Foto: Renate Schwarzmüller<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 33


Einblick<br />

Niemand soll jemanden kopieren<br />

Regisseur Seth Sklar-Heyn über seine Arbeitsweise an »Das Phantom der Oper« Wien<br />

Regisseur Seth Sklar-Heyn (l.) mit Produzent Cameron Mackintosh (Mitte) und Intendant Christian Struppeck (r.)<br />

Foto: Katharina Schiffl<br />

blickpunkt musical: »Das Phantom der Oper« –<br />

was für ein großer Name, was für eine große<br />

Produktion. Gab es an irgendeinem Punkt einen<br />

Moment, an dem Sie die Größe des Projekts<br />

erschreckt hat?<br />

Seth Sklar-Heyn: Nein. Ehrlich gesagt kenne<br />

ich nichts so gut wie das »Phantom«. Und ich<br />

weiß nicht einmal, warum dieses Stück so gut<br />

funktioniert. Viele einzelnen Sachen kommen<br />

hier zusammen, die Musik, die Szenen, die Story,<br />

der Gesang, die Kostüme, die Charaktere, aber<br />

ganz ehrlich – ich habe trotz allem keine Ahnung,<br />

warum die Leute hiervon sooo begeistert sind.<br />

Dabei bin ich die Person, die den Darstellern<br />

tatsächlich zeigt, wie man das Phantom ist. Das<br />

hier in Wien wieder zu machen ist tatsächlich für<br />

mich noch einmal eine ganz neue, aufregende<br />

Arbeit, weil ich in einer anderen Sprache arbeiten<br />

muss. Ich muss die Wörter alle neu verstehen, und<br />

wie die Übersetzung mit der Inszenierung funktioniert.<br />

Das macht es täglich zu einem neuen<br />

Erlebnis für mich. Und wenn es für mich ein<br />

neues Erlebnis ist, kann ich diese Energie auch in<br />

die neue Produktion überschwappen lassen. Eine<br />

Handvoll Leute dieser Produktion haben schon<br />

einmal in einer »Phantom«-Inszenierung mitgearbeitet,<br />

aber fast immer in anderen Rollen. Das<br />

heißt, der Zauber des ganz Neuen ist hier für alle<br />

da. Nach vielen Jahren in einer Produktion ist das<br />

oft anders, da gehen Darsteller und es kommen<br />

neue, es entsteht eine Art Patchwork-Inszenierung.<br />

In Wien haben wir wirklich die seltene<br />

Gelegenheit, dass alle ganz von vorn beginnen.<br />

Das führt dazu, dass wirklich ein Gefühl von<br />

»Wir haben es gemeinsam kreiert« entsteht. Es<br />

soll keine Kopie sein von einer Produktion, die<br />

schon an vielen anderen Orten lief. Jeder, der hier<br />

mitmacht, hat das Stück wirklich mitentwickelt.<br />

Und das alles mit dem Segen von all denen, die<br />

im Ursprung für das Stück verantwortlich sind.<br />

Andrew (Lloyd Webber) zum Beispiel, der einfach<br />

möchte, dass sich das Stück weiterentwickelt<br />

und nicht wie ein Museumsstück verstaubt.<br />

Dafür müssen sich Charaktere verändern, die<br />

Tonalitäten müssen sich verändern, all das. Der<br />

große Luxus mit den VBW und der Zusammenarbeit<br />

mit Cameron Macintosh ist, dass in diese<br />

Produktion wirklich viel investiert wird, damit es<br />

sich ganz neu anfühlt.<br />

<strong>blimu</strong>: »Das Phantom der Oper« lief in Wien ja<br />

schon einmal mit sehr großem Zuschauerzuspruch,<br />

wie sehr setzt Sie das jetzt unter Druck?<br />

S.S-H: In Wien fühlt man, wie sehr die Leute<br />

noch mit der bekannten Version verbunden sind.<br />

Alle kommen ins Theater und möchten ihre persönlichen<br />

Erinnerungen an das Stück bestätigt<br />

sehen. Ich hoffe so sehr, dass wir es schaffen, dass<br />

wir über diesen Punkt hinauskommen, dass wir<br />

die Erwartungen erfüllen, sie mit neuen Sachen<br />

verblüffen und ihre alten Erinnerungen idealerweise<br />

neu erschaffen und es somit alles noch<br />

stärker machen können.<br />

<strong>blimu</strong>: Alle Darsteller haben mir gesagt, dass Sie<br />

sehr offen für Gespräche über die Charaktere<br />

sind.<br />

S.S-H: Ich liebe es einfach, über die Charaktere<br />

zu reden. Das Phantom ist das Phantom. Christine<br />

ist Christine. Raoul ist Raoul. Jeder hat seine<br />

Kostüme, jeder, der ins Theater kommt, hat eine<br />

genaue Vorstellung von der Figur, die er da auf<br />

der Bühne sehen wird. Also komme ich zu den<br />

34<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

Proben und das erste, was ich sage, ist, dass niemand<br />

einen Charakter spielen soll. Bitte nicht!<br />

Du bekommst von uns alles in die Hand gelegt,<br />

um die Rolle zu spielen, aber bitte sei trotzdem<br />

genau die Person, die du bei der Audition in<br />

Jeans und T-Shirt warst. Denn als diese Person<br />

haben wir dich gecastet, für das, was wir in dir<br />

gesehen haben. Wenn Anton das Phantom spielt,<br />

ist er natürlich nicht wie ein anderes Phantom.<br />

Niemand soll jemanden kopieren. Damit die<br />

Geschichte glaubhaft wird, für jeden im Publikum,<br />

muss die Person auf der Bühne glaubhaft<br />

sein. Und das geht nur, wenn jeder er selbst<br />

ist. Darum liebe ich es, mit den Darstellern so<br />

viel zu reden. Niemand, der etwas sagt, was er<br />

nicht wirklich glaubt, wird es überzeugend sagen<br />

können.<br />

<strong>blimu</strong>: Jeder war bisher von diesem Ansatz wirklich<br />

begeistert. Hatten Sie schon Überraschungsmomente<br />

bei der Entwicklung eines Charakters?<br />

S.S-H: Nein, nicht wirklich. Ich habe die Darsteller<br />

beim Casting ja sehr genau gesehen und<br />

beobachtet, wir haben sie ja bewusst für die<br />

Rollen engagiert, weil wir etwas Bestimmtes in<br />

ihnen gesehen haben. Als wir Thomas (Sigwald)<br />

und Rob (Pelzer) als Operndirektoren zusammen<br />

gesehen haben, wusste ich genau, wie die<br />

Partnerschaft der beiden funktionieren wird.<br />

Natürlich nicht, wie sich das bis ins kleinste<br />

Detail entwickeln wird, aber die Grunddynamik<br />

zwischen ihnen war klar. Was mich vielleicht<br />

eher überrascht, ist, wie willig alle sind. (lacht)<br />

Es gibt einen gewissen Style, den ich mitbringe in<br />

die Arbeit, ein gewisses Gefühl für Drama, was<br />

ich umgesetzt haben möchte. Ich möchte ganz<br />

oft, dass sie sich mehr zurücknehmen, nicht zu<br />

viel schauspielern, dass sie viel passieren lassen<br />

im Miteinander. Und nicht nur, dass sie dafür<br />

offen sind, sondern auch voll mitgehen. Darum<br />

hoffe ich, dass, wenn ich nach der Premiere die<br />

Stadt verlasse, hier eine Gruppe von Menschen<br />

steht, die auf der Bühne etwas wirklich Reales<br />

entstehen lassen. So real es nun mal sein kann,<br />

mit all den Kostümen, dem Bühnenbild und dem<br />

Mann mit der Maske. Und ich hoffe sehr, dass die<br />

Darsteller dies dann beibehalten, weil ich genau<br />

weiß, wie schwierig es ist, nach all dem, was an<br />

Reaktionen auf sie zukommen wird, nicht zu viel<br />

in die Schauspielerei zurückzufallen. Sondern<br />

dass sie erkennen, dass sie so eine ganz andere<br />

Form des »Phantoms« zu den Zuschauern bringen<br />

können – und nicht einfach nur ein Musical<br />

auf die Bühne bringen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben während der Presseprobe<br />

erzählt, dass Sie ein bisschen an der Sichtweise<br />

des Phantoms gearbeitet haben, an der Art, wie<br />

er und Christine miteinander umgehen. Könnten<br />

Sie darauf noch einmal eingehen?<br />

S.S-H: Wir leben heute in einer anderen Welt.<br />

Vor vielen Jahren, bzw. Jahrzehnten, war es total<br />

ok, dass sie eine Frau war, die manipuliert, fast<br />

hypnotisiert wurde. Das wurde so hingenommen:<br />

Sie hatte keine Kontrolle über das, was ihr<br />

alles passiert. Wir arbeiten jetzt daran, dass sie<br />

ganz bewusst wahrnimmt, was geschieht und sie<br />

diejenige ist, die klar Entscheidungen trifft. Sie<br />

ist die, die durch den Spiegel steigen will. Es ist<br />

ihre Entscheidung, sich für den Mann hinter der<br />

Maske zu interessieren. Für das Phantom ist es<br />

wichtig, zu zeigen, dass wir es mit einem Mann<br />

zu tun haben, der ein unglaubliches Gehirn hat,<br />

welches so viele außergewöhnliche Sachen hervorbringt.<br />

Er schafft Musik, er kreiert Erfindungen,<br />

er vollbringt so viele Leistungen. Diese Dynamik<br />

kam auch im Originalbuch schon vor, wir haben<br />

die Aspekte jetzt nur noch mehr verstärkt. Er<br />

ist ein Genie, er hat ein Gehirn, das bei weitem<br />

nicht so ist wie bei jedermann. Und genau da<br />

liegt das Problem. Es ist nicht nur sein Äußeres,<br />

was ihn von allen anderen unterscheidet, nein, es<br />

sind auch seine Emotionen. Sein Bedürfnis nach<br />

Christine ist nicht rein sexuell. Nein, er möchte,<br />

dass seine Intelligenz und seine Intentionen tatsächlich<br />

gesehen und verstanden werden. Und<br />

natürlich kommen dann die männlichen Bedürfnisse<br />

ins Spiel, alles andere wäre gelogen. Aber sie<br />

sind nicht ursächlich für sein Verhalten, sondern<br />

sie sind das Resultat aus Christines Verhalten.<br />

Durch ihr Verhalten zeigt sie ihm, was Nähe ist.<br />

Sie macht seinen Schmerz im Kopf erträglich,<br />

lässt ihn vergehen. Als er sieht, dass sie sich auf<br />

ihn als Menschen eingelassen hat, dass sie auch<br />

Seth Sklar-Heyn<br />

Foto: Matthew Murphy<br />

nach Abnahme der Augenbinde nicht vor ihm<br />

wegläuft, sondern hinter der Maske sein Herz und<br />

Hirn gesehen hat, dass sie wirklich versucht, eine<br />

Verbindung zu ihm als Menschen aufzubauen –<br />

erst da, an dem Punkt, entdeckt er wirklich die<br />

Liebe zu ihr. Das war nichts, was geplant war. Es<br />

war nicht einmal etwas, was er bis dahin kannte.<br />

Aber dann ist es etwas, was er nie wieder loslassen<br />

will. Das ist der Moment, wo die Obsession<br />

beginnt. Das ist unser Unterschied zu der älteren<br />

Version, an der ich ja auch mitgearbeitet habe.<br />

Das heißt, ich weiß genau, wo die Unterschiede<br />

liegen. Aber umso mehr schätze ich diese jetzt.<br />

<strong>blimu</strong>: Zwischen dem »alten« und dem »neuen«<br />

Phantom lag mit »Love Never Dies« die Fortsetzung<br />

des Stoffs. Ist das etwas, was Sie im Kopf<br />

haben bei der Arbeit?<br />

S.S-H: Nein, im Gegenteil. Wenn überhaupt,<br />

dann lachen wir darüber. Nicht falsch verstehen,<br />

Andrew Lloyd Webber hat auch da einen<br />

unglaublich guten Score geschrieben, man kann<br />

sich davor nur verneigen. Er hat es in allen Shows<br />

geschafft, aber hier wirklich in Perfektion. Aber<br />

das Stück selbst, bzw. die Geschichte, die darin<br />

erzählt wird, hat nichts mit dem zu tun, was wir<br />

auf die Bühne bringen.<br />

Das Interview führte Sabine Haydn<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 35


Einblick<br />

Ich wage es, mich dem Geist Mozarts zu nähern<br />

Interview mit Frank Nimsgern, Komponist, Arrangeur & Musikalischer Leiter<br />

des Musicals »Zauberflöte«<br />

zu nähern und ein Fantasiekino über das Erwachsenwerden<br />

und die Auseinandersetzung zwischen<br />

dem scheinbar Guten und dem scheinbar Bösen<br />

wie einen Sonnenkreis des Yin und Yang zu kreieren.<br />

Basis ist das Original, daraus entwickelt<br />

sich mein filmisches, kaleidoskopartig erweitertes<br />

Kopfkino. Jeder Szene meiner Komposition habe<br />

ich eine eigene musikalische Farbe, ein eigenes<br />

musikalisches Spektrum und eigene Harmonien<br />

gegeben. Und wenn ich das eine oder andere Mal<br />

Mozart zitiere, geschieht es mit einer tiefen Verneigung<br />

und der Hoffnung, auch die einen oder<br />

anderen großen Augen verursachen zu können,<br />

wie sie Ingmar Bergman so strahlend in seinem<br />

Film eingefangen hat.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie sah ihr Bild von einem Musical<br />

»Zauberflöte« dann aus?<br />

FN: Im Mittelpunkt sollte unbedingt die<br />

Geschichte stehen. Auf keinen Fall wollte ich<br />

versuchen, Mozarts Musik zu verbessern oder zu<br />

modernisieren. Das würde nicht funktionieren.<br />

Die Musik von Mozart ist genial. Da geht man<br />

nicht ran. Was nicht heißt, dass manche Hit-<br />

Motive von Mozart nicht neu von mir verarbeitet<br />

worden sind. Darum ist die Musik zu 95 Prozent<br />

neu, aber die Story ist die gleiche, nur modern<br />

interpretiert.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie groß war die Hemmschwelle, sich mit<br />

einer Mozart-Oper zu messen?<br />

Foto: F. Hofmann<br />

blickpunkt musical: Herr Nimsgern, fangen wir mit<br />

einer wenig originellen Frage an: Wie kam Ihnen<br />

die Idee zum Musical »Zauberflöte«?<br />

Frank Nimsgern: Das ist ganz einfach: Es war<br />

die Idee von Theaterdirektor Benjamin Sahler.<br />

Dieses Musical war sein großer Traum. Er ist<br />

immer auf der Suche nach Ideen und Inspirationen,<br />

welchen Stoff die Menschen eventuell gerne<br />

sehen möchten. Das Werk ist optimal, es ist ja auf<br />

gewisse Weise eine Revue und konzipiert als ein<br />

fantastisches Märchen. Unvergessen sind meine<br />

Erinnerungen an meinen ersten Besuch der Oper<br />

von Mozart: »Die Zauberflöte«. Die fantasiereiche,<br />

lustige, tragische, kosmische, geheimnisvolle<br />

Geschichte ließ mich mit weit aufgerissenen<br />

Augen der Handlung folgen. Die Musik gab mir<br />

den Eindruck, schon vor den gesprochenen oder<br />

gesungenen Worten Stimmungen, Charaktere<br />

und Situationen zu erkennen. Diese Oper empfand<br />

ich wie einen Film! – dessen Aussage und<br />

musikalische Substanz sich mir bis heute immer<br />

wieder neu und von Mal zu Mal vielfältiger<br />

erschließen. Diese Inspirationen haben – unbewusst<br />

– mein Leben beeinflusst: Die Dimension<br />

»Musik« eröffnet mir immer wieder neue Welten<br />

und Möglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit<br />

dem Thema »Zauberflöte« habe ich seit langem<br />

im Kopf und wage es, mich mit dem »Sound<br />

meiner musikalischen Welt« dem Geist Mozarts<br />

FN: Ich habe mich sehr lange gewehrt, diesen<br />

Erkenntnis-Ertrag von Benjamin Sahler anzunehmen,<br />

weil es so eine enorme Bürde ist. Man<br />

kann und sollte ein Stück, das solch einen Namen<br />

hat, nicht verbessern wollen. Und schon gar nicht<br />

sollte man Mozart light machen. Somit habe ich<br />

erst einmal drei Songs entwickelt und kam dann<br />

schnell zur schwierigsten Prüfung: Die Königin<br />

der Nacht – und der Frage: Was mache ich damit?<br />

›Der Hölle Rache‹ ist die einzige Arie, die ich fast<br />

eins zu eins übernommen habe – natürlich in<br />

meinem Arrangement und mit neukomponierten<br />

Parts. Irgendwann habe ich dann für mich einen<br />

Weg gefunden, wie ich dieses Bild malen kann,<br />

welche Farben ich verwenden möchte. Ansonsten<br />

hätte ich diesen Werkauftrag nicht angenommen.<br />

<strong>blimu</strong>: Wenn man in die Musik hineinhört, klingt<br />

es nach sehr viel Arbeit – und obwohl es schon<br />

so klingt, kann sich vermutlich absolut niemand<br />

vorstellen, wie viel Arbeit dort wirklich dahintersteckt.<br />

Können Sie uns zeigen, wie so ein Song<br />

dann wirklich entsteht? Dass er in Ihrem Kopf<br />

ist, ist ja nur ein »kleiner« Teil, damit er dann<br />

36<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

so klingt, wie er später auf CD klingen wird,<br />

kommen noch unglaublich viele Gedanken- und<br />

Arbeitsschritte.<br />

FN: Ich glaube, man hat nur ein Leben, um es<br />

richtig zu machen. Ich mag nichts Lauwarmes,<br />

entweder heiß oder kalt. Leider ist es sehr arbeitsintensiv.<br />

Ich habe bei uns zu Hause zwei Räumlichkeiten:<br />

Einen analogen Raum, wo ich ganz<br />

klassisch mit Flügel, Bleistift und Papier arbeite,<br />

und dann geht es ab einem gewissen Zeitpunkt<br />

in die <strong>digitale</strong> Räumlichkeit. Ich glaube, dies hört<br />

man auch in der Musik, dass ich sehr viel Wert lege<br />

auf Details, Orchestration und Arrangement. Ich<br />

habe in den letzten 25 Jahren mit so unterschiedlichen<br />

Klangkörpern arbeiten dürfen, dass ich mir<br />

vorab sehr genau überlege, in welche Richtung<br />

die Instrumentation gehen muss und soll. Beim<br />

›Vogelfänger‹ arbeite ich z.B. mit ethnischen Chören<br />

und Industrial Percussion. Bei der Konzeption<br />

unserer »Zauberflöte« war es mir wichtig, jedem<br />

Charakter, wie zum Beispiel der Königin der Nacht<br />

oder Sarastro, eine ganz eigene stilistische Heimat<br />

zu geben, um sie identifizierbar zu machen. Bei der<br />

Königin ist die Mischung aus Hard Rock, Gesang<br />

und Koloratur nur eines der Stilmittel. Bei Sarastro<br />

ist es der teilweise bombastische und fast schon<br />

Big-Band-artige James-Bond-Sound.<br />

<strong>blimu</strong>: Es laufen bereits die ersten Previews, Sie<br />

sind mit der Musik fertig. Wenn Sie auf Ihr<br />

Werk schauen, was ist dann Ihr musikalischer<br />

Lieblingsmoment?<br />

FN: ›Brot und Spiele‹ und ›Lebenszeichen‹ weil es<br />

doch harmonisch sehr anspruchsvolle Musik ist,<br />

die nichts kopiert, sondern Verschiedenes dieser<br />

Elemente zusammenbringt und zu einem neuen<br />

Ganzen erschafft. Somit gibt es bei uns genauso<br />

Koloratur-Gesänge. Und es gibt auch die Energie<br />

des Rocks in Kombination mit dem fantastischen<br />

neuen Ensemble des Festspielhauses. Daraus ergibt<br />

sich eine neue musikalische Energie, die ich beim<br />

Schreiben so nicht erwartet hätte, muss ich ganz<br />

ehrlich sagen.<br />

<strong>blimu</strong>: Ist bei ihrer Musical-Interpretation überhaupt<br />

noch etwas von Mozarts klassischer Musik<br />

übriggeblieben?<br />

FN: Wie gesagt, unsere »Zauberflöte« ist kein<br />

Mozart light. Aber ich habe als Hommage und als<br />

Verbeugung diverse Mozart-Motive und musikalische<br />

Zitate eingebaut, die die Menschen weltweit<br />

kennen und die viele, die in das Musical gehen,<br />

sicher auch erwarten werden. »Die Zauberflöte«<br />

ist ja eine Oper voller Hits: ›Der Vogelfänger bin<br />

ich ja‹, ›Der Hölle Rache‹, ›Ein Mädchen oder<br />

Weibchen‹. Das sind richtige Schlager geworden.<br />

Ich habe diese Motive in verschiedenen Instrumentengruppen<br />

wieder aufblitzen lassen. Das<br />

fängt dann manchmal klassisch an und geht<br />

komplett anders weiter. Es ist eine neue, eigene<br />

Musik – inspiriert von Mozart. Letztlich geht es<br />

aber um eine märchenhafte Geschichte über das<br />

Erwachsenwerden.<br />

<strong>blimu</strong>: Welches sind denn ihre persönlichen Lieblingsfiguren<br />

in der »Zauberflöte«?<br />

FN: Die Königin der Nacht ist eine Figur, die<br />

meiner Meinung nach bei Mozart zu kurz kommt.<br />

Diese Persönlichkeit haben wir etwas ausgebaut,<br />

um andere Facetten der Gestalt zu zeigen. Also<br />

nicht nur die Rache-Queen. Der Held Tamino ist<br />

hingegen eher etwas old school. Ganz im Gegensatz<br />

zum Vogelfänger, diesem Anarcho. Das wird<br />

man im Stück dann auch sehen – er bekommt eine<br />

viel größere Bedeutung.<br />

<strong>blimu</strong>: Haben sie Bedenken, mit diesen Neuinterpretationen<br />

anzuecken?<br />

FN: Na ja, wir sind Musical. Wir spielen nicht<br />

primär für ein Publikum, das bereits zwanzig oder<br />

mehr Inszenierungen von »Die Zauberflöte« angeschaut<br />

hat. Aber wir haben mal in München und<br />

Füssen kleine Umfragen gemacht und Menschen<br />

gefragt: »Sagen Sie mal, worum geht es eigentlich<br />

in »Die Zauberflöte«?« Nur wenigen ist es gelungen,<br />

die Handlung wiederzugeben. Genau deshalb<br />

reizt mich der Stoff: Ja, Pamina ist entführt worden<br />

und es gibt eine zornige Königin der Nacht. Aber<br />

wer ist das eigentlich, warum und wieso handeln<br />

»Jack the Ripper« in Hof 2<strong>02</strong>2<br />

Foto: H. Dietz Fotodesign Hof<br />

die Figuren auf diese Weise? Das weiß kaum<br />

jemand. Und das wollen wir leisten. Wir wollen<br />

zurück zur Basis und nicht pseudo-intellektuelle<br />

Fragen beantworten, sondern die essenziellen.<br />

<strong>blimu</strong>: Haben Sie dabei auch ein bisschen den<br />

Anspruch oder die Hoffnung, dass Menschen nach<br />

dem Musical-Besuch eventuell den Wunsch verspüren,<br />

auch mal in die Original-Oper zu gehen?<br />

FN: Sicher, ich habe ja auch beispielsweise »Der<br />

Ring« geschrieben, damit sich Menschen wieder<br />

für dieses geniale Werk von Richard Wagner<br />

interessieren. Mein »Ring«-Musical war auch<br />

keine Simplifizierung des Werks, sondern eine Art<br />

Zusammenfassung für ein jüngeres Publikum.<br />

Ich habe bei meinen Werken ganz bewusst ein<br />

Publikum im Auge, das normalerweise nicht in<br />

die Oper »Tosca« geht. Bei der »Zauberflöte« ist<br />

es so: Wir transferieren die Geschichte in eine<br />

andere Zeit und versuchen, die Charaktere der<br />

Mozart-Oper neu zu interpretieren. Die Königin<br />

der Nacht ist dann eine Hard-Rock-Sängerin und<br />

Papageno habe ich eine Irish-Folk-Ausrichtung<br />

gegeben. Ich habe also versucht, die Charaktere<br />

mit heutigen Musikfarben zu versehen.<br />

<strong>blimu</strong>: Opernfans werden Sie wahrscheinlich<br />

kritisieren…<br />

FN: Ja, dabei ist das nichts Neues. Wenn man sich<br />

beispielsweise das Musical »Rent« anschaut, das ist<br />

»La Bohème«. Ein anderes Beispiel ist »Aida« von<br />

Elton John beziehungsweise eben auch von Verdi.<br />

Die »West Side Story« ist »Romeo und Julia«. Also<br />

bevor sich Opernfans jetzt aufregen, einfach mal<br />

den Ball flach halten. Selbst Bernstein hat Stoffe<br />

genommen, den es von anderen Komponisten<br />

schon gab. Ein weiteres Beispiel ist »Miss Saigon«<br />

(»Madame Butterfly«) etc. etc.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Fans und Zuschauer dürfen sich auch<br />

auf die CD zum Musical freuen, allerdings wurde<br />

diese nicht ausschließlich von denen eingesungen,<br />

die jetzt auf der Bühne zu sehen sein werden, wie<br />

kam es dazu?<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 37


Einblick<br />

FN: Das ist nicht ganz richtig. Zu 95 % sind alle<br />

Original-Castmitglieder auch auf der CD. Nur bei<br />

Doppelbesetzungen ist es nicht immer möglich,<br />

weil wir ja über eine Zeitspanne von fünf Monaten<br />

spielen. Aber ich bin froh, als Tamino zum<br />

Beispiel Riccardo Greco bekommen zu haben.<br />

Anna Maria Kaufmann, Christian Schöne, Chris<br />

Murray, Misha Kovar, Tim Wilhelm, Katja Berg,<br />

Stefanie Gröning etc. sind ja alle an Bord. Aber<br />

man kann es nie allen recht machen. Da wir aber<br />

bei einer CD auf 74 Minuten begrenzt sind, fehlen<br />

circa 25 Minuten Musik. Eventuell werden wir<br />

auf den Streaming-Plattformen in den nächsten<br />

Monaten noch weitere Songs und Instrumentals<br />

veröffentlichen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben – familiär bedingt – einen klassischen<br />

Hintergrund, Ihr Vater war ein bekannter<br />

Opernsänger. Jetzt haben Sie sich erst des »Rings«,<br />

dann der »Zauberflöte« angenommen. Wird das<br />

bei Ihnen zuhause diskutiert? Bekommen Sie dazu<br />

Input von Ihrem Vater?<br />

FN: Ich bin jahrelang mit dem Konflikt (selbsternannter)<br />

Hochkultur gegen »Unterhaltung« aufgewachsen.<br />

Für mich gibt es keine Klassifizierungen<br />

und Schubladen. Für mich gibt es einfach nur gute<br />

und schlechte Musik. Ich bin großer Verehrer von<br />

Beethoven, Wagner, Mozart etc., aber genauso<br />

verehre ich Pat Metheny, Peter Gabriel, The Who,<br />

Sting, Zimmer oder Toto. Unser »Ring«-Musical<br />

damals (2012) an der Oper Bonn war fast schon<br />

ein Skandal, da mein Vater ja dort auch, wie in<br />

Bayreuth unter Solti, den Wotan gesungen hatte.<br />

Heute wird ja auch unser Werk nachgespielt und<br />

es zeigt sich, dass es dafür ein Publikum gibt, das<br />

sich mit dem Stoff und der magischen Leitmotivik<br />

auseinandersetzen will, aber nicht für 6 Stunden<br />

am Abend. Natürlich gab es Auseinandersetzungen<br />

mit meinem Vater, aber es entscheidet dann<br />

doch die musikalische Qualität und ich glaube,<br />

heute ist er heimlich ein kleiner Verehrer geworden.<br />

Aber glauben Sie mir, es ist generell schwer,<br />

wirklich seriöse Akzeptanz und feuilletonistische<br />

Wertschätzung für das Genre Musical als solches<br />

zu bekommen, besonders in Deutschland.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie machen immer Ausflüge in alle Genres,<br />

gefühlt würde ich Sie aber am meisten im Musical<br />

verankert sehen. Sehen Sie das auch so? Was sind<br />

die Vor- / Nachteile, oder vielleicht vor allem auch<br />

die Reize für Sie in den anderen Genres?<br />

FN: Ich habe neulich gelesen über mich: »der<br />

Quentin Tarantino des Musicals«, da musste ich<br />

lachen – aber ich verstand, was man meinte, weil<br />

ich viele Genres gelernt und praktiziert habe und<br />

sie gerne auch integriere. Sie sehen es auch bei<br />

der »Zauberflöte« – da trifft sich dann das Cembalo<br />

mit Prog Rock und dann geht es wieder in<br />

ein Big-Band-Arrangement und wird dann mit<br />

einem Glockenspiel à la Mozart beendet. Ich sehe<br />

auch einen Kompositionsauftrag wie eine große<br />

Schauspielrolle. Ich bereite mich darauf vor und<br />

versuche, mich komplett auf den Stoff einzulassen.<br />

Bei »Jack the Ripper« habe ich mich ausgiebig mit<br />

Straßenmusik der damaligen Zeit auseinandergesetzt.<br />

Bei der »Zauberflöte« gibt es ganz andere Prämissen,<br />

die ich versucht habe so umzusetzen, dass<br />

man nicht austauschbar ist. Am Ende ist es aber<br />

so: Ich möchte mich und unser Publikum nicht<br />

langweilen, sondern immer mit etwas überraschen.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Zauberflöte wird in Füssen und München<br />

uraufgeführt. Welche Erwartungen haben Sie<br />

und gegebenenfalls welche Befürchtungen?<br />

FN: Wie gesagt, es ist komplett neue Musik mit<br />

Zitaten von Mozart – und Mozart ist ein Heiligtum.<br />

Gerade »Die Zauberflöte« ist nicht nur bei<br />

Freimaurern ein unantastbarer Heiliger Gral. Ich<br />

bin mir darum sicher, dass wir von einer Seite<br />

verrissen werden, nach dem Motto: Das darf man<br />

nicht und das geht so nicht. Und dass wir das<br />

Werk simplifizieren und die große Botschaft zerstören.<br />

Ich sage dazu nur eins: Mozart musste mit<br />

»Don Giovanni« Geld verdienen. »Don Giovanni«<br />

war in Prag als Dramma Giocoso angesetzt und<br />

nicht als ernste Oper. »Les Contes d’Hoffmann«,<br />

»Hoffmanns Erzählungen« von Jacques Offenbach,<br />

ist eine Musikrevue mit den bekanntesten<br />

Hits von Offenbach. »Carmen« von Georges<br />

Bizet war ein großer Flop bei der Uraufführung<br />

und ist heute eine der meistgespielten Opern der<br />

Welt. Diese ganzen Werke hatten es nicht leicht.<br />

Ich will mich damit aber gar nicht vergleichen.<br />

Ich sage einfach, wir versuchen hier ein neues<br />

Musiktheater für eine neue Generation zu machen.<br />

Wir sind nicht perfekt und wir können für nichts<br />

garantieren. Aber bevor jemand einen Graben zwischen<br />

E-Musik und U-Musik aushebt, bitte daran<br />

denken: Auch Mozart musste unterhalten – und er<br />

würde heute wahrscheinlich auch anders komponieren<br />

als zu seiner Zeit.<br />

<strong>blimu</strong>: E- und U-Musik wird in Deutschland noch<br />

immer unterschieden – für jemanden, der so crossover<br />

unterwegs ist wie Sie, müssen die Unterschiede<br />

auch in der Wahrnehmung ja eklatant sichtbar<br />

sein. Warum glauben Sie, dass sich spezifisch die<br />

Deutschen so schwer damit tun, dass beides seine<br />

Gleichberechtigung hat und dass es keine Frage des<br />

Niveaus oder des vermeintlichen Bildungsbürgertums<br />

ist, sondern in beiden Genres gleichermaßen<br />

harte, wertvolle Arbeit geleistet wird?<br />

FN: Ich glaube, es bröckelt, weil es einfach<br />

immer weniger Menschen gibt, die sich eine<br />

Regietheater-Operninszenierung von einem<br />

Stoff ansehen, manchmal mehrere Stunden im<br />

Neonlicht mit Aktentaschen und Alditüten, um<br />

dann frustriert oder gelangweilt aus dem Theater<br />

zu gehen. Gerade die jüngere Generation,<br />

die gar kein Bildungsbürgertum-Wissen mehr<br />

mitbekommen hat – die Schulen und das Bildungssystem<br />

sind ja nicht mehr so wie vor 30<br />

Jahren. Teilweise hat man den Eindruck, dass<br />

die großartige Musik, gerade z.B. bei Wagner<br />

oder Mozart, wirklich nur als Tonspur mitläuft<br />

»Der Ring« in Hof 2016<br />

Foto: H. Dietz Fotodesign Hof<br />

38<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

und die Regie gar nicht mehr mit der Metaphorik<br />

der Komposition korrespondiert, was ich<br />

sehr schade finde. Ich glaube, wir sind an den<br />

Punkt gekommen, wo wir wieder narratives<br />

Theater machen müssen, denn sonst verlieren<br />

wir die komplette neue Theatergeneration.<br />

Das größte Problem ist aber, dass wir Musicalschaffenden<br />

in Deutschland unter so einem<br />

kommerziellen Druck stehen, immer Publikum<br />

zu generieren, dass wir auch wenig Risikobereitschaft<br />

haben dürfen, wenn es um große Produktionen<br />

geht, wie ich sie zum Beispiel mache und<br />

gemacht habe, beispielsweise jetzt im Deutschen<br />

Theater in München oder im Festspielhaus in<br />

Füssen oder damals im Friedrichstadt-Palast<br />

Berlin mit über 1.400 Plätzen. Wenn sie da nur<br />

50% der Plätze verkaufen, gelten Sie sofort als<br />

Flop. Andere Theater wären froh, würden sie<br />

500 Leute im Publikum haben. Das Verhältnis<br />

stimmt nicht. Das engt natürlich die künstlerische<br />

Entwicklung und Freiheit komplett ein.<br />

Aber machen wir uns nichts vor. Auch Mozart<br />

bekam Aufträge, um überleben zu können,<br />

dass sie heute als genial gelten und große Wertschätzung<br />

erlangt haben, war zu seiner Zeit<br />

nicht immer so. Meines Erachtens sollte das<br />

Genre Musical ‒ was auch immer das bedeutet,<br />

denn für mich ist es nur neues zeitgenössisches<br />

Musiktheater ‒ ebenfalls einen besseren subventionierten<br />

Schutzschirm bekommen, um neues,<br />

modernes Musiktheater zu schaffen.<br />

<strong>blimu</strong>: Was würden Sie sich für die Theaterlandschaft<br />

der Zukunft wünschen?<br />

FN: Ach, es gibt ja auch wirklich positive<br />

Entwicklungen, wie man sieht. Ich bin ja<br />

auch unglaublich dankbar für Häuser wie das<br />

Festspielhaus Neuschwanstein, das Theater<br />

Hof, die Luisenburg-Festspiele, das Staatstheater<br />

Saarbrücken, das Deutsche Theater München,<br />

das Theater Pforzheim, die Oper Bonn,<br />

Merzig etc. etc., die wirklich den Gedanken<br />

unterstützen, neues Musiktheater zu schaffen.<br />

Ich glaube, das Zauberwort liegt in der Kooperation<br />

untereinander und dass einfach mehr deutsche<br />

bzw. neue Werke nachgespielt werden sollten.<br />

Was bringen die ganzen Uraufführungen, wenn<br />

die Stücke nicht weiterentwickelt und gespielt werden.<br />

Oder glauben Sie wirklich, dass »Hoffmanns<br />

Erzählungen« oder »Carmen« bei ihrer Uraufführung<br />

so ein Erfolg waren? Die Stücke wurden über<br />

Jahre weiterentwickelt, um heute dort zu sein, wo<br />

sie sind.<br />

<strong>blimu</strong>: Damit zu meiner letzten Frage: Wenn Sie<br />

Wolfgang Amadeus Mozart vor der Premiere eine<br />

kurze Sprachnachricht senden könnten, was würden<br />

Sie ihm mitteilen wollen?<br />

FN: »Danke für diese unfassbare Inspiration« – um<br />

sein Werk und seine Kunst zu ehren und irgendwie<br />

weiterzuführen in unserer heutigen Zeit. Aber<br />

nochmals, ich vergleiche mich nicht mit Mozart.<br />

Das, was wir machen, ist eine Verbeugung. Beethoven,<br />

Bach, Wagner, Mozart waren Genies. Die<br />

haben aus dem Nichts etwas geschaffen. Das<br />

machen wir nicht. Tut mir leid. Ich bin aber sehr<br />

dankbar, dass ich dieses Musiktheater machen<br />

darf, dass ich von meiner Kunst und meinen<br />

Kompositionen leben kann. Das nehme ich nicht<br />

für selbstverständlich. Dafür danke ich allen, die<br />

mich darin unterstützen und vor allem dem Publikum,<br />

das sich die Stücke dann anschaut.<br />

<strong>blimu</strong>: Dann habe ich doch noch eine Frage: Nach<br />

»Der Ring«, »Jack the Rippe«r und der »Zauberflöte«,<br />

was kann denn da noch kommen?<br />

FN: Oh, da habe ich gerade den nächsten Vertrag<br />

für eine sehr große bayerische Bühne unterschrieben<br />

– für 2<strong>02</strong>5. Aber dazu darf ich momentan<br />

noch nicht mehr verraten. Es wird aber auf jeden<br />

Fall wieder ein großer Stoff. Aber jetzt liegt mein<br />

Fokus erst einmal auf der »Zauberflöte«. Wir sind<br />

ja nicht besonders hoch staatlich subventioniert.<br />

Wenn das Werk überleben soll, sind wir also darauf<br />

angewiesen, dass das Publikum das sehen<br />

will.<br />

Das Interview führte Sabine Haydn<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 39


Backstage<br />

Yngve Gasoy Romdal - Larry Murphy<br />

blickpunkt musical: Sie sind ein steter Teil des Musical Frühlings in Gmunden,<br />

von daher sind Sie es schon »gewohnt«, Stücke mit starkem, wichtigem<br />

Inhalt zu spielen, die jenseits der reinen Unterhaltungskultur liegen. Was<br />

macht für Sie jetzt »Dear Evan Hansen« noch einmal zu etwas ganz Anderem /<br />

Besonderem?<br />

Yngve Gasoy Romdal: Das Stück ist so roh und pur. Wie ein Bagger ohne<br />

Bremse geht man durch das Stück und lernt die Charaktere ohne Sentimentalität<br />

und Schnick-Schnack kennen. Ich bewundere die Autoren und Musical<br />

Frühling in Gmunden mit Markus und Elisabeth, dass sie sich trauen, so ein<br />

Thema zu zeigen. Alleinsein, Angst, Mobbing, Selbstmord, Trauer, psychische<br />

Störungen, Soziale Medien usw. Die Sprache ist sehr modern, schnell und<br />

zugänglich, auch für ein jüngeres Publikum. Und es ist sehr schön, so viele<br />

junge, sehr begabte Darsteller:innen kennenzulernen und zu sehen, dass das<br />

Genre Musical eine schöne Zukunft hat.<br />

Foto: Rudi Gigler<br />

Annemieke van Dam – Cynthia Murphy<br />

<strong>blimu</strong>: Sie spielen Connors Mutter, wie würden Sie sie charakterisieren?<br />

Annemieke van Dam: Cynthia Murphy ist eine »Stay at home mum«, die so gut<br />

wie möglich ihre Kinder erzogen hat, während ihr Mann gearbeitet hat. In dieser<br />

Familie gibt es keine Geldprobleme, sondern eher psychische Herausforderungen.<br />

Cynthia kämpft schon länger mit Depressionen und Ängsten. Sie sucht immer<br />

neue Herausforderungen und Hobbys, um inspiriert zu bleiben, aber die scheinen<br />

eigentlich nur eine Ablenkung zu sein von einer endlosen Leere, die sie spürt. Als<br />

klar wird, dass ihr Sohn Connor auch unter Depressionen leidet, versucht sie alles<br />

zu tun, was in ihrer Macht liegt, um ihm zu helfen. Ihm die Hilfe zu geben, die sie<br />

vielleicht nie bekommen hat. Es muss schrecklich sein, zusehen zu müssen, wie<br />

dein Kind dir entgleitet, egal wie viel Mühe du dir gibst, um ihm zu helfen. Die<br />

Liebe zu deinem Kind ist endlos und Loslassen ist manchmal schwierig. Du kannst<br />

die Kinder begleiten, aber entscheiden über ihren Weg müssen sie schlussendlich<br />

selbst.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie spielen Connors Vater, einen vielbeschäftigten Mann. Durch die<br />

ständige Nähe zum Handy ist emotionale Nähe für ihn schwierig. Das ist ein<br />

sehr klassisches Bild von einem Vater, da spielen die Karriere und das Geld<br />

eine größere Rolle als das interne Familienleben. Als Künstlerfamilie führen<br />

Sie sicherlich ohnehin schon ein Leben fernab der Norm, aber wie sind Sie<br />

als Vater? Sie haben bereits eine erwachsene Tochter und nun eine kleine,<br />

wie nah wollten und wollen Sie immer an den beiden und ihren Leben dran<br />

sein?<br />

YGR: Ich wurde sehr früh Vater und war voller Stolz und Glück. Leider wurde<br />

es schwierig, als ich für »Sunset Boulevard« nach Deutschland umgezogen<br />

bin. Meine kleine Tochter kam mich aber sehr oft besuchen in den ersten<br />

Jahren hier auf dem Kontinent. Dann kam die Schule und sie wurde langsam<br />

erwachsen und wir sahen uns weniger. Jetzt habe ich einen neuen Versuch<br />

und die Möglichkeit bekommen, ein Vater zu sein. Es ist ein Geschenk, dass<br />

Leah und ich unsere Lilya Aurora bekommen haben. Wie ich jetzt als Vater<br />

bin, wird sich ja im Laufe der Zeit zeigen, aber ich versuche, ein guter Vater<br />

zu sein, und ich genieße es sehr, in meinem Alter eine Tochter zu haben, und<br />

es hält frisch. (grinst)<br />

<strong>blimu</strong>: Macht die Thematik des Stücks über den langen Probenzeitraum<br />

auch etwas mit Ihnen? Gehen Sie jetzt anders an Menschen heran, konnten<br />

Sie neue Denkansätze finden?<br />

YGR: Ich versuche immer, offen für Menschen zu sein, ein kleines Lächeln<br />

zu schenken, eine Hand auszustrecken, wenn ich sehe, dass jemand Hilfe<br />

braucht. Wenn man versucht, ein bisschen Empathie zu zeigen statt nur<br />

skeptisch zu sein und Misstrauen Fremden gegenüber zu zeigen, bekommt<br />

man fast immer nur schöne menschliche Begegnungen, die beide Seiten<br />

bereichern.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie ist es Ihnen in der Probenzeit ergangen? Sie werden in der Rolle mit<br />

der Trauer um Ihren Sohn konfrontiert, das ist kein einfaches Thema.<br />

AvD: Obwohl wir viel geweint haben in der Probenzeit, konnten wir Gott sei Dank<br />

zwischendurch auch immer wieder lachen. Diese Show hat ein sehr hartes Thema,<br />

das leider eine Realität für viele Familien ist.<br />

Wir haben aber ein unglaublich liebes Team und irgendwie gab es von Anfang an<br />

viel Vertrauen, wodurch ich mich beschützt genug gefühlt habe, um mich zu öffnen.<br />

Ich habe sehr viel von meinen Kollegen lernen können und habe diesen Prozess<br />

sehr genossen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie sind selbst Mutter, allerdings sind Sie von der Teenie-Phase doch noch<br />

eine ganze Zeit entfernt. Gibt Ihnen das Stück neue Denkansätze, wie Sie das<br />

Heranwachsen Ihrer Kinder begleiten wollen?<br />

AvD: Als Elternteil realisiert man schon sehr früh, dass man sein Kind relativ früh<br />

loslassen muss. Diese Kinder waren erst eine Zelle in meinem Körper und mein<br />

Körper hat sie gefüttert und wachsen lassen, bis zwei unglaublich tolle Babys<br />

daraus wurden. Da sind sie noch »Deins« und sie brauchen dich. Du fütterst sie, du<br />

kuschelst mit ihnen und küsst sie und lehrst die Kinder, selbstständiger zu werden,<br />

mit den allerbesten Intentionen. Du möchtest den Kindern die Geborgenheit geben,<br />

die du selbst vielleicht empfunden hast, aber auch die Fehler von deinen Eltern<br />

»ausbessern«, nur kommt jedes Kind mit seinem eigenen Charakter auf die Welt,<br />

und wir Erwachsenen müssen auch jonglieren zwischen Erziehung, Beziehung,<br />

Arbeit, sozialem Umfeld, Familie, Bildung, Sport, Haushalt etc.<br />

Da wirst du nie alles in der Hand haben können. Du wirst Fehler machen und das<br />

Einzige, was ich möchte, ist, dass meine Kinder wissen, dass sie bedingungslos<br />

geliebt werden. Egal, was passiert, sie können immer zu uns kommen.<br />

Leider gibt es Faktoren, die wir als Eltern nicht beeinflussen können. Wenn die<br />

Kinder entscheiden, ihr Innenleben nicht mit uns zu teilen, bewusst oder unbewusst.<br />

Es muss schrecklich sein zu sehen, wie dieses kleine Kind sich in einen<br />

unglücklichen Teenager verwandelt, in den du nie komplett hineinschauen kannst.<br />

Eltern fühlen sich so oft schuldig. Wir wollen das Allerbeste, aber wir werden unsere<br />

Kinder nicht immer beschützen können vor der Welt. Also, wie man hört, ich<br />

war damit konfrontiert, mich mit der Vorstellung auseinandersetzen zu müssen,<br />

dass eines meiner Kinder mir vielleicht entflieht und ich irgendwann Abschied<br />

nehmen muss. Ich kann nur hoffen, dass das nicht passiert.<br />

Foto: Rudi Gigler<br />

40<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Backstage<br />

Vanessa Heinz – Alana Beck<br />

<strong>blimu</strong>: Alana ist im Grunde die beste Freundin von Evan, es kommt dann<br />

aber zu einem Bruch. Was genau verletzt Alana da so sehr?<br />

Vanessa Heinz: Alana gehört in der Schule eher zu den Außenseitern.<br />

So wie Evan fühlt sie sich einsam und von den Leuten nicht gesehen. Sie<br />

versucht mit ihrer übermotivierten Art immer wieder vergeblich, Freundschaften<br />

zu schließen. Erst als Connor gestorben ist, freunden Alana und<br />

Evan sich an. Sie fühlt sich das erste Mal in ihrem Leben verstanden und<br />

denkt, dass sie endlich jemanden gefunden hat, der ihr in dunklen Zeiten<br />

den Rücken stärkt. Denn das würde Alana auch für ihn tun. Aber als sie<br />

merkt, dass es eventuell doch nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denkt sie<br />

wieder, dass der einzige Mensch, auf den sie sich verlassen kann, sie selbst<br />

ist.<br />

<strong>blimu</strong>: Wo finden Sie sich selbst in der Rolle wieder, bzw. wo weichen Sie<br />

völlig von dem Charakter ab?<br />

Foto: Rudi Gigler<br />

VH: Ich und Alana reden beide unglaublich gerne und viel. Besonders über<br />

Dinge, für die wir uns leidenschaftlich interessieren. Allerdings verliert<br />

sich Alana manchmal zu sehr in ihren Ambitionen und merkt dabei nicht,<br />

dass sie die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreitet. Ich glaube, in dieser<br />

Hinsicht bin ich etwas aufmerksamer und reflektierter.<br />

DEUTSCH<br />

SPRACHIGE<br />

ERSTAUF-<br />

FÜHRUNG<br />

<strong>blimu</strong>: Was macht für Sie den Reiz des Stücks aus, was glauben Sie, warum<br />

es so gut funktioniert?<br />

VH: Es zeigt auf eine sehr pure Art und Weise, zu was Frust und Einsamkeit<br />

einen Menschen führen können. Jeder geht mit Trauer anders um. Man<br />

trifft vielleicht falsche Entscheidungen und hat Angst, sich diese einzugestehen,<br />

und kann sich dann bis zum Schluss der Wahrheit nicht stellen. So<br />

wie im echten Leben zeigt das, dass wir menschlich sind.<br />

Savio Byrczak – Jared Kleinman<br />

<strong>blimu</strong>: Jared ist das, was für Evan einem Freund eigentlich am nächsten kommt. Wie<br />

charakterisieren Sie ihn und seine Beziehung zu Evan?<br />

Savio Byrczak: Ich glaube, Evan ist für Jared mehr Freund, als er es selber zugeben möchte,<br />

bzw. er überspielt es, um ein bisschen cooler zu wirken. Beide kennen sich ziemlich<br />

lange. Die Familien sind ja auch schon ewig befreundet, wie es scheint. Jared weiß zum<br />

Beispiel auch, wie er Evan beruhigen kann, wenn es kritisch wird.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie erwähnen in einem Interview, dass Sie selbst auch mit Problemen konfrontiert<br />

waren, u. a. aufgrund Ihrer Hautfarbe. Was hat das mit Ihnen gemacht, hatten Sie, anders<br />

als Evan, wirklich, wirklich gute Freunde an Ihrer Seite, die Ihnen da auch entsprechend<br />

Halt gegeben haben, oder mussten Sie Ihren Weg mit der Tatsache, dass manchmal einfache<br />

Äußerlichkeiten den Weg erschweren, ganz alleine finden?<br />

SB: Als PoC-Person in einer Kleinstadt aufzuwachsen, in der prädominant alle weiß sind,<br />

kann mitunter »schwierig« sein. Ich muss allerdings wirklich sagen, ich konnte mich<br />

stets auf meine Freund:innen verlassen, dass sie für mich da waren und mir den Rücken<br />

gestärkt haben. Trotz allem gab und gibt es noch immer Situationen, in denen meinen<br />

weißen Freund:innen bewusst wird, dass Rassismus immer noch alltäglich ist.<br />

<strong>blimu</strong>: Wenn Sie Wünsche frei hätten, wie das Publikum am Ende des Abends aus dem<br />

Theater hinausgehen soll, dann würden Sie sich wünschen, dass sie welche neuen Gedanken<br />

mit nach Hause nehmen in Bezug auf den Umgang<br />

- mit sich selbst?<br />

- mit ihrem besten Freund / ihrer besten Freundin?<br />

SB: Ich würde mir wünschen, dass das Publikum mit diesen Gedanken hinausgeht:<br />

- Habe ich mich jemals vielleicht doch nicht richtig gegenüber einer Person mit<br />

Depressionen/Angststörungen verhalten?<br />

- Bin ich mir meiner gesellschaftlichen und systemischen Privilegien bewusst?<br />

- Habe ich meiner/m besten Freund/in oft genug gesagt, dass ich sie/ihn lieb habe?<br />

Foto: Konstantin Zander<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

41


Backstage<br />

Jelle Wijgergangs – Connor Murphy<br />

<strong>blimu</strong>: Connor ist zwar ausschlaggebend für alles, was das Stück dann aufbaut,<br />

aber im Grunde hat er zwar intensive, aber doch kurze Zeiten auf der<br />

Bühne. Wie sind Sie an die Entwicklung dieser Rolle herangegangen?<br />

Foto: Konstantin Zander<br />

Jelle Wijgergangs: Ich persönlich denke, dass die ersten Eindrücke von<br />

Connor besonders wichtig sind, um ein Bild davon zu bekommen, wie er sich<br />

mit seinen Mitmenschen fühlt und in bestimmten Situationen reagiert. Nach<br />

Connors Tod erscheint er nur noch als Teil von Evans Gedanken. Das heißt,<br />

dass ich nicht nur Connors Gedankenwelt kennen muss, sondern auch die<br />

von Evan.<br />

<strong>blimu</strong>: Wo gab es in der Probenzeit die größten Herausforderungen für Sie?<br />

Ist Connor ein Charakter, der Ihnen eher ähnelt, oder einer, dem Sie mit sehr<br />

viel persönlichem Abstand begegnen?<br />

JW: Am Anfang habe ich hauptsächlich den Text gelernt und mich auf die<br />

einzelnen Situationen konzentriert, aber je mehr ich darüber nachgedacht<br />

habe, desto komplizierter wurde es, da ich zwei verschiedene Versionen von<br />

Connor spielen muss. In beiden Versionen gibt es Charakterzüge, in denen<br />

ich mich wiedererkenne. Die kann ich ganz gut in mein Spiel einbauen, aber<br />

es gibt natürlich auch Eigenschaften, die viel weiter von mir entfernt sind.<br />

Für die musste ich etwas mehr Arbeit hineinstecken, um einen Zugang zu<br />

ihnen zu finden. Aber es hat sich gelohnt. Jetzt habe ich »meinen« Connor<br />

gefunden.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie erwähnen in einem Interview, dass Sie es toll finden, dass in<br />

dem Stück so viel aus dem Text herauskommt. Sie erwähnen aber ebenso,<br />

dass gerade die Sprache für Sie noch schwierig ist. Wie haben sich Ihre<br />

Deutschkenntnisse verändert in der Probenzeit, wie war Ihr Zugang, diesen<br />

so intensiven Text dann für sich so zu verinnerlichen, dass das, was Sie auf<br />

der Bühne sagen, wirklich aus Ihnen herauskommt?<br />

JW: In der Zwischenzeit habe ich viel Zeit damit verbracht, meine Aussprache<br />

zu verbessern. Ich habe mit Duolingo gearbeitet, und was mir besonders<br />

geholfen hat, war, Filme und Serien auf Deutsch zu schauen. Der Text bietet<br />

viele Möglichkeiten, ihn möglichst realistisch zu halten, da er sehr pur ist<br />

und so bereits viel Emotion liefert. Das hilft sehr bei der Verinnerlichung der<br />

Dialoge.<br />

Foto: Konstantin Zander<br />

Dear Evan Hansen<br />

22. März - 21. April 20<strong>24</strong> Musical Frühling in Gmunden (AT)<br />

11. - 20. Oktober 20<strong>24</strong> Stadttheater Fürth (DE)<br />

Interviews: Sabine Haydn<br />

42<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Backstage<br />

Michaela Thurner – Zoe Murphy<br />

Foto: Konstantin Zander<br />

<strong>blimu</strong>: Sie sind noch sehr jung, sind diese Thematiken, die hier im Stück<br />

vorkommen, auch Themen, die in Ihrem Leben bei Ihnen / Ihren Freunden<br />

vorkommen?<br />

Michaela Thurner: Ich denke, dass gerade das Thema mentale Gesundheit<br />

kein Alter kennt und schon von Kind an eine Art psychosozialer<br />

Hygiene angelernt bzw. präventiv durchgeführt werden sollte. Mich<br />

persönlich begleiten depressive Episoden seit meiner Jugend und auch bei<br />

meinen ehemaligen Schulkolleg:innen waren psychische Probleme und<br />

Krankheiten kein Einzelfall. Wir lernen, das Thema zu tabuisieren, was<br />

letztendlich zu noch mehr Problemen führt. Dabei ist es doch so, dass ich<br />

mit körperlichen Beschwerden auch zur Ärztin gehe, wieso dann nicht mit<br />

psychischen? Mein jetziges Umfeld besteht aus Menschen, mit denen ich<br />

mich offen und viel über mentale Herausforderungen und Befindlichkeiten<br />

austausche. Insbesondere als junge Person sollte man mit diesen Themen<br />

nicht allein bleiben müssen. Es gibt zum Glück mittlerweile Anlaufstellen<br />

für Jugendliche, denen es nicht gut geht, wobei die eigentliche Hürde darin<br />

besteht, das Problem als solches zu erkennen, zu verstehen und tatsächlich<br />

Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich kann als Betroffene im Nachhinein nur<br />

sagen, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen, und es immer eine Lösung<br />

gibt, auch wenn es im Moment hoffnungslos erscheint.<br />

Foto: Rudi Gigler<br />

Anna Thorén – Heidi Hansen<br />

<strong>blimu</strong>: Sie haben die Rolle von Evans Mutter frisch übernommen, wie ist das für<br />

Sie?<br />

Anna Thorén: Evans Mama zu sein ist absolut nicht einfach, und als Schauspielerin<br />

muss ich mir erlauben, mich emotional in alle Richtungen zu bewegen. Ein<br />

Teenager im Haus ist schwierig.<br />

Das ist der normale Fall. Addiere dazu, dass Evan psychische Schwierigkeiten<br />

hat und dass sie alleinerziehend ist . . .<br />

Während der Proben haben wir sehr viel geweint, aber auch gelacht, und ich<br />

glaube, es ist so wichtig, das alles zu erlauben. Die Kollegen haben sehr viel<br />

Gefühl dafür und sind sehr empathisch. Sie merken, wenn ich Zeit für mich<br />

brauche, um mich für eine Schweige-Szene vorzubereiten. Aber auch, wenn ich<br />

eine Hand auf der Schulter brauche oder wenn ich es brauche, albern zu sein,<br />

um zu lachen.<br />

Markus (Olzinger, der Regisseur, Anm.d.Red.) ist darin auch sehr gut. Er kreiert<br />

einen sehr sicheren Ort bei den Proben, wo wir uns wirklich trauen können, alle<br />

Gefühle zu erlauben.<br />

<strong>blimu</strong>: Vor der Umbesetzung spielten Sie die Schwester von Connor – dies ist<br />

keine einfache Rolle, denn auf der einen Seite hatte sie die Beziehung zu Connor,<br />

auf der anderen die zu Evan. Wie war es für Sie, in der Probenzeit den Zugang zu<br />

dieser Rolle zu finden?<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

AT: Ich habe bisher zum Glück noch kein so enges Familienmitglied verloren,<br />

so wie Zoe ihren Bruder verloren hat, aber das Thema Verlust im Allgemeinen<br />

ist mir bekannt. Zoe hatte nicht die beste Beziehung zu ihrem Bruder, aber<br />

trotzdem bleibt er ja ihr Bruder. Die Situation ist nicht schwarz und weiß,<br />

sondern wie im echten Leben kompliziert, was die Rolle meiner Meinung nach<br />

nachvollziehbar und interessant macht. Auch durch den Austausch mit meinen<br />

Kolleg:innen wurde Zoe mir immer noch verständlicher und greifbarer. Die<br />

Beziehung zu Evan – das Gefühl, sich jemandem öffnen zu können, sich fallen<br />

lassen zu können, ist mir sehr vertraut. Besonders schön daran ist, sich an<br />

das erste Verliebtsein zurückzuerinnern 43 und altbekannte Situationen wieder<br />

aufleben zu lassen.


Backstage<br />

Foto: Konstantin Zander<br />

Denis Riffel – Evan Hansen<br />

Foto: Rudi Gigler<br />

<strong>blimu</strong>: Evan Hansen ist eine DER Rollen, die ein Mann spielen kann, zudem ist es hier die deutschsprachige<br />

Erstaufführung und bekommt sehr viel Aufmerksamkeit – wie geht es Ihnen so kurz vor der Premiere?<br />

Denis Riffel: Das fühlt sich noch alles ganz ruhig an, unaufgeregt. Wir sind direkt nach meiner Premiere<br />

in Nürnberg mit »Jesus Christ Superstar« wieder in die Endproben gesprungen, und das war erst einmal<br />

sehr verwirrend, da habe ich mich schon gefragt, ob ich das in so kurzer Zeit hinbekomme. Aber wir<br />

haben dann am 2. Tag einen Arbeitsdurchlauf gemacht und ich habe festgestellt – es ist alles da. Jetzt in<br />

Stress zu verfallen würde auch nicht helfen. Ich kann die Außenwelt nicht immer ignorieren, aber einen<br />

wirklichen Einfluss auf das, was wir da in unserem kleinen Probenraum machen – und zwar spielen wie<br />

Kinder mit dem Bewusstsein von Erwachsenen – hat diese Aufmerksamkeit nicht. Das ist unser Ding –<br />

beurteilen können die Menschen dann später.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie sind Sie an das Stück und an die Entwicklung der Rolle herangegangen?<br />

DR: Ich habe mir bewusst nichts vom Broadway und auch nicht den Film angesehen, ebenso nicht das<br />

Buch zum Stück gelesen. Mich hat nur interessiert: Was steht im Text? Wo sind die Widerstände von Evan,<br />

warum hat er Angst und wovor, wie geht er, wie denkt er, wie fühlt er sich, also ganz alltägliche Schauspielarbeit.<br />

Wir haben schnell festgestellt, dass es besonders bei diesem Stück unabdingbar ist, aus einer<br />

Entspannung heraus zu proben – damit unser Unterbewusstsein auch reagieren kann auf das, was da<br />

passiert. Und da habe ich so großartige Spielpartner:innen, das hilft mir wirklich sehr, mich aufzuraffen,<br />

um meinen Körper darauf vorzubereiten, wieder in diese Tiefe zu gehen – auch wenn ich einen Tag habe,<br />

an dem mein Körper sehr müde ist. Sie motivieren mich auch. Wir haben natürlich viel geredet, »Markus,<br />

wir müssen reden, das stimmt noch nicht«, dieser Satz ist sehr oft gefallen. Und dann haben wir geredet<br />

und danach probiert. Der Bogen ergibt sich dann.<br />

<strong>blimu</strong>: War die sehr starke Partitur für Sie gesanglich eine Herausforderung?<br />

DR: Ja – sehr. Und das ist gut so, daran konnte ich nur wachsen und es hat mir viel Vertrauen in und<br />

Verständnis für meine Stimme gegeben. Theo Rüster, mittlerweile mehr Mentor als nur Gesanglehrer, hat<br />

mich sehr unterstützt. Er ist ein großartiger Lehrer, der diesem Begriff auch gerecht wird. Und ein noch<br />

besserer Mensch.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Musik des Stücks ist unglaublich stark, der Text sehr mitnehmend – was macht es mit einem<br />

Schauspieler, sich über den langen Zeitraum der Proben immer wieder und wieder mit diesen Thematiken<br />

auseinandersetzen zu müssen?<br />

DR: Es ist wie das Stimmen eines Instruments. Jeden Tag gibt es Neues zu entdecken, und wenn sich<br />

mein Körper mal sträubt vor diesen starken Emotionen, vor Evans Abgründen, die enorm sind – und das<br />

ist öfter passiert –, dann gehe ich mittlerweile sanfter mit mir um. Ich entspanne mich, auch mit aktiven<br />

Übungen, und lasse zu, was heute da ist. Und dann kommt immer trotzdem etwas und ich denke: »Ah!<br />

Schau mal, da gibt es ja heute doch etwas zu entdecken!« Ich merke schon, dass ich viel mehr Vertrauen<br />

zu meinem Unterbewusstsein bekommen habe. Am Anfang hat mich das noch wahnsinnig müde gemacht,<br />

so müde, dass ich einfach nur 12 Stunden schlafen wollte nach der Probe. Mittlerweile ist es immer noch<br />

sehr anstrengend – aber es ist erträglich geworden. Und auch versöhnend, weil wir endlich das Ende des<br />

Stücks dazugenommen haben. Diese Bandbreite an tiefen Gefühlen erleben zu können und das auch in<br />

den Augen meiner Spielpartner:innen zu sehen – es gibt nichts Schöneres. Dafür lebe ich. Das ist Leben.<br />

Theater ist Leben.<br />

<strong>blimu</strong>: In einem Interview erwähnen Sie, dass es darum geht, auch Schwäche zuzulassen, den Mut zu<br />

bekommen, einfach einmal zuzuhören, ohne direkt darüber nachzudenken, wie man antwortet, was man<br />

gleich sagt. Hat dieses Stück, die intensive Auseinandersetzung damit, etwas mit Ihnen ganz persönlich<br />

gemacht, etwas in Ihnen verändert?<br />

DR: Es hat mich wieder ein Stück mehr ermutigt, meine Scham fallen zu lassen. Meine Scham davor, Gefühle<br />

zu zeigen, einem Männerbild nicht gerecht zu werden. Mehr zu sein als zu behaupten, auch privat.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie äußern ebenso den Wunsch nach mehr Ehrlichkeit, die man zulässt, wenn man das Stück<br />

einmal gesehen, an sich herangelassen hat. Denken Sie, dass Sie dies auch langfristig selbst umsetzen<br />

können? Es kann ja durchaus schmerzhaft sein, für einen selbst, aber auch für die Umwelt.<br />

DR: Ich glaube, dass Theater-Schauen sehr inspirierend, heilend sein kann. Theater-Machen möchte ich<br />

so nicht sehen, es ist ein Handwerk, ein wunderschönes, vielseitiges – aber ich möchte es niemals als Therapie<br />

missbrauchen. Natürlich hat es einen großen Einfluss auf mich, wenn ich mich jeden Tag mit so viel<br />

Schmerz und sozialen Beziehungen beschäftige. Ich glaube nicht, dass mein Gehirn versteht, dass diese<br />

Emotionen und Gedanken, denen ich jeden Tag nachgehe, Teil eines Theaterstücks sind. Also ja, es wird<br />

mich begleiten, es wird mein Denken langfristig ändern. Und trotzdem ist es wichtig, sich danach immer<br />

wieder zu regulieren mit einem Leben außerhalb des Theaters.<br />

44<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Backstage<br />

Elisabeth Sikora – Intendantin / Kostümbild<br />

<strong>blimu</strong>: Sie spielen die Mutter von Evan. Jedes Elternteil von bereits älteren Kindern weiß, mit wie vielen<br />

Herausforderungen das verbunden ist. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie sich ständig auf der Bühne,<br />

in den Proben, mit den nicht einfachen Themen konfrontiert fühlen?<br />

Elisabeth Sikora: Es war eine tolle Erfahrung, Heidi Hansen kennenzulernen, eine Version von ihr<br />

zu kreieren. Der Respekt vor alleinerziehenden Müttern, die mitunter mit sozialen Ängsten bei ihren<br />

Kindern konfrontiert sind, ist dadurch nochmal stark gewachsen und ich habe die Musik und meine<br />

Mitspielenden, besonders natürlich meinen Bühnensohn, sehr ins Herz geschlossen. Aber jetzt ist etwas<br />

Neues, sehr Schönes in unser Leben getreten, auf das ich mich nun konzentrieren möchte, und so<br />

haben wir uns für eine Umbesetzung der Rolle entschieden: Anna Thorén wird nun die Erstbesetzung<br />

von Heidi Hansen übernehmen und sie macht das großartig! Ich werde der Produktion als Kostümbildnerin<br />

und Co-Intendantin erhalten bleiben.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie sind nicht nur Schauspielerin, sondern auch Intendantin, Initiatorin für die Stückauswahl.<br />

Wieso fiel die Wahl genau auf diesen Stoff?<br />

ES: Wir versuchen immer, Stücke mit sinnhaften und aktuellen Themen zu finden, die uns und unser<br />

Publikum zum Nachdenken bringen, anspruchsvollen Unterhaltungswert haben, gepaart mit hochwertiger<br />

Musik. »Dear Evan Hansen«, wo Angstzustände und Depression bei Jugendlichen zum Thema<br />

gemacht werden, mit Musik der Oscarpreisträger Pasek & Paul und als deutschsprachige Erstaufführung<br />

– das passte einfach sehr gut in unser Profil. Noch dazu gibt es einen enormen Hype um das Stück<br />

in der Szene, und man wartete schon länger, dass das Stück endlich in den deutschsprachigen Raum<br />

kommt. Das waren also nur positive Punkte auf der Liste, die uns die Entscheidung dafür sehr leicht<br />

gemacht haben.<br />

<strong>blimu</strong>: Es ist nicht die erste deutschsprachige Erstaufführung, die Sie als Intendanten nach Gmunden<br />

holen, aber es ist sicherlich die mit der größten Aufmerksamkeit, da das Stück schon so viel an Ehrungen<br />

und großflächigem Interesse mit sich bringt. Spüren Sie Unterschiede zu den Produktionen in den<br />

vergangenen Jahren, rein was das Interesse von außen betrifft?<br />

ES: Bei unserer ersten DSE von »Jane Eyre« spürten wir auch, dass die Aufmerksamkeit in der Szene<br />

uns gegenüber wächst, und mit der ersten CD-Aufnahme gab es hier großen Fan-Zustrom, aber bei<br />

»Dear Evan Hansen« ist das schon nochmal um einiges mehr, ja. Zuerst die Rückmeldungen und auch<br />

Gratulationen auf unsere Ankündigung, dass die DSE von »Dear Even Hansen« beim Musical Frühling<br />

in Gmunden stattfinden wird, dann die Vielzahl an Bewerbungen, teilweise Liebesbekundungen<br />

dem Stück gegenüber, die unser Postfach überlaufen ließen, dann merken wir es natürlich anhand<br />

der Social-Media-Insights, dass sich die Reichweite um ein Vielfaches gesteigert hat. Die Zahl der<br />

Follower:innen mehrt sich, aber auch mehr Theaterintendant:innen melden Interesse an und kommen<br />

zum ersten Mal nach Gmunden.<br />

<strong>blimu</strong>: Wenn Ihre Proben als Darstellerin beendet sind, beginnt der Alltag als Intendantin. Wie schaffen<br />

Sie es, beides so gut unter einen Hut zu bekommen – und obendrein auch noch die emotionalen<br />

Punkte, die das Stück mit sich bringt, zu verarbeiten?<br />

ES: Während der Vor-Proben im Oktober/November ging ich fast täglich ins Fitnesscenter nach<br />

den Proben, um die Emotionen »rauszuradeln« und »-zurudern«. (grinst) Danach habe ich mich mit<br />

meinem Mann zusammengesetzt und die organisatorischen Dinge besprochen und abgearbeitet. An<br />

manchen Tagen klappt das gut, manchmal müssen wir uns aber auch zwingen, die Müdigkeit und<br />

auch den kreativen Prozess hintenanzustellen und Zahlen und Fakten zu wälzen, oder was gerade so<br />

ansteht. Diese Phasen sind wir aber mittlerweile gewohnt und wir kommen da auch ganz gut durch,<br />

bestimmt auch mit dem Wissen und der Erfahrung, dass nach den Entbehrungen auch bald wieder<br />

mehr Privat-Zeit ansteht.<br />

Markus Olzinger – Intendant / Regisseur / Bühnenbild<br />

<strong>blimu</strong>: Auch Sie haben, einmal mehr, nicht nur eine Funktion, sondern sind Intendant und Regisseur (und vieles mehr) gleichzeitig. Wie lange ist »Dear Evan Hansen«<br />

schon in Ihrem Kopf? Bis es zu der tatsächlichen Entscheidung von allen Seiten kam, brauchte es ja bereits viel Vorlauf.<br />

Markus Olzinger: Das Stück ist mir länger schon bekannt und der Hype darum war nicht zu übersehen, aber ich gehörte nicht zu jenen, die dachten, dieses Stück unbedingt<br />

machen zu müssen. Erst als es wirklich ein Thema für uns wurde und wir begannen, uns intensiv mit der inhaltlichen und musikalischen Struktur zu beschäftigen,<br />

hat es mich wirklich gekriegt.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie fühlte es sich an, als sich die Amerikaner dann tatsächlich für Sie als Ort für die deutschsprachige Erstaufführung entschieden haben? Dies ist ja durchaus<br />

auch eine Belohnung für die vielen, vielen Jahre, in denen Sie jetzt schon so hochwertiges Theater mit so spannenden Themen machen.<br />

MO: Ja ehrlich, es fühlt sich gut an, vor allem weil es vermutlich kaum Theater gibt, die diese DSE nicht gerne gehabt hätten. Wir haben zur richtigen Zeit erfahren, dass<br />

die Rechte für eine Neuproduktion langsam frei werden würden, und haben dann hart darum gekämpft. Über ein Jahr ging es zwischen New York und uns hin und her,<br />

wir mussten dann all unsere bisherigen Kritiken und Trailer schicken, uns als Team absegnen lassen und letztendlich auch Kostüm- und Bühnenbild- Entwürfe einsenden.<br />

Es hat geklappt! Wir freuen uns auf die Produktion, das wird schön.<br />

<strong>blimu</strong>: Was genau begeistert Sie so sehr an diesem Stück?<br />

MO: Es fordert eine ernsthafte Auseinandersetzung und erlaubt bei allen Showeffekten auch eine tiefgreifende Schauspielarbeit. Die Figur des Evan glaubhaft zu<br />

verkörpern ist eine Aufgabe für Darsteller und Regisseur. Man merkt, dass das Stück in den USA kreiert wurde; eine europäische oder österreichische Erzählweise wäre<br />

vermutlich eine andere, vielleicht weniger showbetont. Dies zu verbinden sehe ich als meine Aufgabe.<br />

<strong>blimu</strong>: Niemand muss besser alle Rollen kennen als ein Regisseur. Was macht dies mit Ihnen, Sie sind so intensiv in all den verschiedenen Positionen, die aber, jede für<br />

sich, ihr Päckchen zu tragen haben. Hat man da immer Abstand oder spüren Sie auch, dass es emotional an manchen Tagen einfach viel (vielleicht zu viel?) ist?<br />

MO: Ich lasse in den Proben alles nah an mich heran, verbinde mich mit den Figuren, nur so kann ich versuchen, diesen gerecht zu werden, ich muss sie spüren, sie verstehen.<br />

Aber ganz ehrlich, bei aller Tragik, das Stück hat so viel Positives in sich, dazu eine so fantastische Cast, da bin ich täglich voller Glück aus den Proben gegangen.<br />

Wo ich etwas gekämpft habe, war »Briefe von Ruth« letztes Jahr, diese wahre Geschichte lässt mich bis heute nicht wirklich los und ich habe jeden Abend am Ende der<br />

Vorstellung geweint. Ob das bei »Dear Evan Hansen« so sein wird, da werde ich mich noch überraschen lassen, aber das Publikum wird es sicher tun.<br />

<strong>blimu</strong>: Ihr Publikum geht in den Abend hinein – und kommt rund 2,5 Stunden später aus einem so intensiven Stück wieder heraus. Was sind Ihre persönlichen Wünsche,<br />

was die Menschen aus diesem Abend mitnehmen sollen?<br />

blickpunkt MO: Sie sollen musical die verhandelten <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> Themen weiter besprechen und vielleicht ihren Blick auf Menschen, die manchmal eigenwillig, seltsam 45 oder zurückgezogen wirken,<br />

ändern.


Einblick<br />

Ich mag es nicht, wenn man ein Stück<br />

brutal umdreht<br />

Alfons Haider über »My Fair Lady« bei den Seefestspielen in Mörbisch<br />

Foto: Andreas Hochgerner<br />

blickpunkt musical: Herr Haider, Sie sind seit vielen<br />

Jahren als Schauspieler, Sänger, Moderator, Entertainer<br />

und eben auch als Intendant aktiv. Woher nehmen<br />

Sie die Kraft und Energie für all diese Aufgaben?<br />

Alfons Haider: Im Augenblick ist es, ganz ehrlich,<br />

der Verlust meiner Mutter. Sie ist verstorben und das<br />

hat mich in eine Wüste geschickt und mich so aus der<br />

Bahn geworfen, dass ich drei Monate fast bewegungsunfähig<br />

war und vieles liegengelassen habe. Es war<br />

furchtbar. Nun muss alles aufgearbeitet werden und<br />

ich habe mich deshalb Hals über Kopf in die Arbeit<br />

gestürzt. Jetzt bin ich gerade auf dem Höhepunkt<br />

dieser Arbeit, wir sind im internationalen Geschäft<br />

mit dabei. Ich war immer ein Arbeitstier und konnte<br />

besser mit Niederlagen als mit großen Erfolgen<br />

umgehen. Ich ziehe mich bei Zweiterem eher zurück,<br />

bin kein großer Feierer, sondern dankbar, dass es gut<br />

gegangen ist.<br />

<strong>blimu</strong>: Das bedeutet, die Arbeit ist für Sie eine Art<br />

Flucht?<br />

AH: Das ist sie und ich weiß, es geht nicht ewig<br />

so dahin. Ich habe mir in meinem Leben schon<br />

oft gedacht, was noch kommen soll. Ich war<br />

in großen Fernsehserien, habe den Opernball<br />

moderiert, Hamlet gespielt. Als ich gemerkt<br />

habe, dass der ORF mich langsam abbaut, ist<br />

Mörbisch gekommen. Ich mag solche Sprüche<br />

eigentlich nicht, aber dieser stimmt: Wenn eine<br />

Tür zufällt, gehen zwei andere auf. Und auch<br />

wenn man mir vorwirft, ich sei eingebildet<br />

oder arrogant, ist es mir egal. Das gehört zu<br />

dem Geschäft dazu. Ich merke aber, dass mein<br />

Publikum mich nach wie vor schätzt und zu<br />

mir hält. Das habe ich auch gemerkt, als ich<br />

den Opernball verloren habe. Ich habe nicht<br />

gedacht, dass ich noch einmal so viele Sympathiebezeugungen<br />

bekomme ‒ dann muss man<br />

wohl ein paar Dinge im Leben richtig gemacht<br />

haben. Denn wäre ich den Leuten egal, würden<br />

sie nicht so reagieren. Aber ich bin nicht auf die<br />

Welt gekommen, um allen zu gefallen. In meinen<br />

Entscheidungen wurde ich bisher bestätigt:<br />

Ich hatte immer einen Riecher dafür, was das<br />

Publikum eigentlich möchte, vertrete aber nur<br />

Sachen, hinter denen ich selbst stehe. Für mich<br />

ist wichtig, dass Menschen mit einem Gefühl<br />

nach Hause gehen.<br />

<strong>blimu</strong>: Gehen wir ein Stück zurück: Wie hat die<br />

Liebe zur Bühne bei Ihnen begonnen?<br />

AH: Im Kindergartenalter wurde ich von einem<br />

Fotografen »entdeckt«. Er hat gefragt, »ob der<br />

Kleine nicht spielen mag«. Ich habe nur »spielen«<br />

verstanden und war schon auf einer Bühne<br />

– damals als Prinz in Dornröschen. Das war<br />

bestimmend für mein Leben. Etwas anderes<br />

als die Bühne gab es für mich nie, sie ist mein<br />

Leben. Ich habe den Austausch mit dem Publikum<br />

sofort geliebt und das ist mir geblieben.<br />

<strong>blimu</strong>: Was würden Sie heute rückblickend jungen<br />

Menschen raten, die einen Beruf im Theater /<br />

im Showbusiness anstreben?<br />

46<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einblick<br />

AH: Unbedingt machen, aber darauf achten,<br />

dass man so viel wie möglich lernen kann. Heute<br />

musst du tanzen, singen, spielen können, diszipliniert<br />

sein, quasi alles können. Die Anforderungen<br />

an Künstler sind stark gestiegen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sie selbst haben mit 17 Jahren bereits<br />

in Mörbisch in »Der Zigeunerbaron« auf der<br />

Bühne gestanden. Was bedeuten Ihnen diese<br />

Bühne und dieser Ort?<br />

AH: Am Tag des Begräbnisses meines Vaters bin<br />

ich dort in einer Statistenrolle aufgetreten. Ein<br />

Kollege ist bei der Generalprobe gestürzt. Der<br />

Intendant kam zu mir, um mich abzulenken – er<br />

wusste, dass ich etwas angeschlagen war – und<br />

fragte mich, ob ich die Rolle des Kollegen übernehmen<br />

möchte, er hatte einen Satz zu sprechen.<br />

Ich stand dort in viel zu großen Stiefeln und rief<br />

meinen Satz: »Sie kommen, sie kommen«, die<br />

Leute haben applaudiert. Danach gab es Lob<br />

und der Intendant versprach mir für das Folgejahr<br />

eine kleine Rolle. Ich habe damals gesagt:<br />

»Seien Sie mir nicht böse, das ist vermessen, aber<br />

wenn ich wiederkomme, möchte ich in der ersten<br />

Reihe stehen« – als Darsteller natürlich. Ich war<br />

danach mindestens 40 Jahre lang immer wieder<br />

in Mörbisch und habe mir alles angesehen, war<br />

immer verliebt in diesen Platz. Vor acht Jahren<br />

habe ich mich das erste Mal für die Intendanz<br />

beworben. Schon damals war es mein Plan, auf<br />

Musical umzusteigen. Nicht, weil ich Operette<br />

nicht mag, sondern weil ich gemerkt habe, dass<br />

vieles schon abgespielt war, und ich dachte, wir<br />

brauchen auch jüngeres Publikum. Der Platz<br />

schreit nach Musical und er kann etwas, das<br />

andere Orte nicht können. Bei »The King and I«<br />

haben wir Siam nachgestellt, bei »Mamma<br />

Mia!« eine griechische Insel mit Wasser. Die<br />

Zuschauer:innen sitzen oft eine Stunde vorher<br />

dort und sehen sich die Details an. Aber natürlich<br />

gibt es auch einen kaufmännischen Grund:<br />

Die Zahlen bei der Operette sind zurückgegangen.<br />

Nun sehen wir, dass wir entgegen<br />

allen Prophezeiungen keine Zuschauer verloren<br />

haben. Wir wissen, dass im Vorjahr etwa<br />

60 Prozent der altgewohnten Besucher wieder<br />

da waren. Gleichzeitig hatten wir aber etwa<br />

10.000 unter 20-Jährige im Publikum und das<br />

ist so wichtig.<br />

<strong>blimu</strong>: Es ist dennoch ein großer Sprung von<br />

»Mamma Mia!« zu »My Fair Lady«. Man könnte<br />

meinen, diese Entscheidung ist eine Art »Wiedergutmachung«<br />

für die Operettenfans?<br />

AH: Absolut nicht. »My Fair Lady« ist zwar die<br />

Antwort der Amerikaner auf die Operette, aber<br />

eben schon Musical.<br />

<strong>blimu</strong>: Man könnte dennoch behaupten, dass ein<br />

Stück wie »My Fair Lady« eher das Operettenpublikum<br />

anzieht als beispielsweise »Mamma<br />

Mia!«, oder nicht?<br />

AH: Nein, das glaube ich nicht. Wir haben<br />

dafür gesorgt, dass wir mit dem Hinweis im<br />

Titel »2<strong>02</strong>0« die jungen Zuschauer ansprechen,<br />

und wir merken auch, dass sie reagieren. Es ist<br />

nun einmal nicht London 1850. Autor Johannes<br />

Glück, der die Modernisierung vornimmt,<br />

achtet gemeinsam mit unserem Arrangeur, dem<br />

Dirigenten und musikalischem Leiter zahlreicher<br />

Produktionen, Christian Frank, mit dem<br />

größten Respekt darauf, dass wir diesen leichten<br />

heutigen Touch bekommen, ohne die Figuren<br />

und die Geschichte zu ändern. Was ich nicht<br />

mag, ist, wenn man ein Stück brutal umdreht.<br />

Ich werde wahnsinnig, wenn zum Beispiel die<br />

weibliche Hauptdarstellerin plötzlich ein Mann<br />

ist.<br />

<strong>blimu</strong>: Was genau wird denn neu sein, worauf<br />

sollte sich das Publikum einstellen?<br />

AH: Noch heute leben unzählige Menschen auf<br />

dieser Welt, die keinen Job bekommen, weil sie<br />

nicht schreiben oder lesen können oder die Sprache<br />

einfach nicht beherrschen. Egal aus welchen<br />

Gründen – weil sie in einem fremden Land sind<br />

oder ausbildungsmäßig in ihrer Heimat nicht<br />

dazu angehalten wurden. Für diese Menschen<br />

ist das eine Katastrophe und es ist egal, ob das<br />

vor 200 Jahren war oder heute ist – es ist ein irrsinniges<br />

Problem. Die Geschichte von »My Fair<br />

Lady« bleibt im Grunde so, wie sie ist, aber wir<br />

nehmen Anpassungen vor. So kann etwa Eliza<br />

heute keine Veilchen mehr verkaufen, weil es sie<br />

nicht mehr massenhaft gibt. Also verkauft sie<br />

Rosen. Ebenso ist der Vater kein Mistkutscher<br />

mehr, sondern ein Taxifahrer. Herbert Steinböck<br />

(Darsteller, Anm.d.Red.) war begeistert davon.<br />

Die Figuren sind moderner, aber die Aristokratie<br />

ist noch genauso wie vor 100 Jahren, vom Outfit<br />

und der Bewegung. Eliza ist bei uns nicht verdreckt<br />

und schwarz. So wird sie oft gezeigt und<br />

ich habe das immer als furchtbar empfunden.<br />

Ein Mensch, der keine Arbeit hat, muss nicht<br />

automatisch ungepflegt sein. Fällt einem nichts<br />

anderes mehr ein als ein schwarzer Fleck auf der<br />

Nase, ist es traurig. Eliza wird gepflegt sein, nur<br />

etwas lustiger angezogen und mit einer anderen<br />

Haarfarbe als Perücke. Freddy wird ein moderner<br />

Bonvivant des heutigen Lebens sein, ein<br />

Student, aber am Charakter wird nichts verändert.<br />

Es gibt alles, was es damals eben auch gab:<br />

Polizisten, Menschen mit anderer Haar- und<br />

Hautfarbe, Vertreter aus Indien, China, Afrika,<br />

Adlige... Die Umbauten sind durch die Größe<br />

der Bühne natürlich anders als im Theater,<br />

hier gibt es musikalische Verlängerungen von<br />

Szenen. Die Ballszene, die in manchen Inszenierungen<br />

nur erzählt wird, wird bei uns übrigens<br />

gezeigt. »My Fair Lady« war mir außerdem oft<br />

zu dunkel und düster gestaltet, auch was das<br />

Bühnenbild betrifft. In Higgins’ Arbeitszimmer<br />

gab es 2.000 staubige Bücher, das erdrückt den<br />

Zuschauer. Er wird als düsterer Wissenschaftler<br />

dargestellt, aber das ist er nicht. Er ist unfassbar<br />

schnell und er lebt gern. Das kommt natürlich<br />

auch auf den Schauspieler an – manche interpretieren<br />

ihn als eleganten Lebemann, andere als<br />

schrulligen Typen.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie sieht es sprachlich aus, welchen Dialekt<br />

wird Eliza Doolittle haben? In der Badener<br />

Inszenierung etwa entschied man sich für das<br />

Steirische...<br />

AH: Die Geschichte spielt bei uns in London,<br />

sie nach Wien zu setzen finde ich nicht sinnvoll,<br />

denn die Handlungsstränge mit der royalen<br />

Familie und Ascot müssen weiterhin so stimmen.<br />

Die Sprache muss aber natürlich unsere<br />

Muttersprache sein. Es ist also das tiefe Wienerisch<br />

bei Eliza und das gehobene österreichische<br />

Hochdeutsch bei Higgins.<br />

<strong>blimu</strong>: Gibt es auch Änderungen in Bezug auf<br />

die ganzen Diversitätsdebatten?<br />

AH: Es wird sehr divers sein. Oberst Pickering<br />

wird von einem PoC verkörpert. Ich finde es toll,<br />

dass ein Dunkelhäutiger einem Weißen erklärt,<br />

wie man Frauen zu behandeln hat. Auch der<br />

Regisseur Simon Eichenberger war begeistert<br />

von dieser Idee. Der »wahre Gentleman« ist bei<br />

uns also mit einem PoC besetzt. Zudem wollte<br />

ich nicht, dass die Mutter von Henry Higgins<br />

derart verhaucht als Lady gezeigt wird. Unsere<br />

Mutter ist direkter, sagt ihrem Sohn: »Henry,<br />

wie kannst du nur?« Das ist aber keine Veränderung<br />

der Figur.<br />

<strong>blimu</strong>: Die Dynamik zwischen Eliza und Henry<br />

bleibt gleich?<br />

AH: Die Dialoge müssen natürlich etwas verändert<br />

werden, weil uralte Worte darin vorkommen.<br />

Es gibt Begriffe, die der junge Zuschauer<br />

nicht mehr kennt. Aber am Inhalt wird nichts<br />

geändert. Es wird ein offenes Ende geben, wie<br />

bei so vielen Inszenierungen. Eliza wird zeigen,<br />

dass sie sich als Frau durchsetzt. Als ich Anna<br />

Rosa Döller im Vorjahr gesehen habe, wusste<br />

ich: Das ist meine Eliza! In der Geschichte hatten<br />

wir immer tolle (Kammer-)Schauspieler, die<br />

meist 55 oder 60 Jahre alt waren und Higgins<br />

verkörperten. Die Eliza-Darstellerinnen waren<br />

meist um die 40. So stimmt die Geschichte<br />

nicht, denn eine 40-jährige Frau verhält sich<br />

anders, ist nicht so leicht verletzt, hätte sich<br />

nicht alles gefallen lassen. Ich habe immer<br />

gelitten, wenn ich das gesehen habe. Anna Rosa<br />

Döller hat eine Verletzlichkeit, wird Higgins<br />

aber auch ordentlich Zunder geben. Sie provoziert<br />

ihn wirklich, führt ihn vor, das arbeiten<br />

wir heraus. Wenn ein Stück mit Respekt vor<br />

der Geschichte, der Handlung und der Aussage<br />

modernisiert wird, ist das völlig in Ordnung.<br />

Ich glaube, die Zuschauer haben nach einer halben<br />

Stunde völlig vergessen, dass sie im London<br />

der 2<strong>02</strong>0er sitzen.<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 47


Einblick<br />

<strong>blimu</strong>: Auch das Bühnenbild spiegelt das London<br />

im Jahr 2<strong>02</strong>0 wider, nehme ich an?<br />

AH: Wir zeigen ein pulsierendes London, stellen<br />

einen 22 Meter hohen Big Ben auf, hinter dem<br />

sich der Mond zeigen wird. Außerdem werden<br />

wir erstmals eine Art Vorhang auf der Bühne<br />

haben, eine zwölf Meter hohe U-Bahn, vor der<br />

die erste Szene spielt. Der Vorhang wird das<br />

Bühnenbild verstecken, den Big Ben sieht man<br />

am Anfang erst ab der 30. Reihe.<br />

<strong>blimu</strong>: Welche Veränderungen sind auf musikalischer<br />

Ebene geplant? Wird es Kürzungen<br />

geben, um sich dem veränderten Sehverhalten<br />

der Zuschauer anzupassen?<br />

AH: Viele Stellen im Stück sind doppelt und<br />

dreifach wiederholt. Da gibt es Möglichkeiten,<br />

dem Verlag Kürzungsvorschläge zu machen und<br />

dieser trifft die Entscheidung. Das wünschen<br />

wir uns für dieses Stück.<br />

<strong>blimu</strong>: Angenommen, man inszeniert das Stück<br />

genauso wie früher, würde es überhaupt noch<br />

funktionieren?<br />

AH: Nein, weil heute jedes junge Mädchen<br />

sagen würde: »Sind die wahnsinnig, die lässt sich<br />

das gefallen? Die schmeißt ihm nicht sofort die<br />

Pantoffeln an den Schädel?« Die Autoren haben<br />

das so aufgezeigt – was nicht heißt, dass wir<br />

nicht mit einem Augenzwinkern zeigen können,<br />

dass sie zu verstehen gibt: »Professor Higgins,<br />

so nicht!« Das kann man herausarbeiten, ohne<br />

die Geschichte zu verändern. Am Ende planen<br />

wir noch eine Überraschung. Sagen wir so:<br />

Die Frauen werden beglückt hinausgehen. Wir<br />

sehen, dass sie im Endeffekt die Siegerin der<br />

Geschichte ist. Ich habe immer gelitten, wenn<br />

Eliza sich am Ende hinkniet und Higgins quasi<br />

in die Pantoffeln hilft. Das kann man auch<br />

umspielen und anders machen.<br />

<strong>blimu</strong>: Sprechen wir noch kurz über Ihren Higgins,<br />

Mark Seibert. Warum fiel die Entscheidung auf<br />

ihn?<br />

AH: Ich bin ein treuer Mensch. Ich war 15 Jahre<br />

Intendant der Sommerfestspiele Stockerau, zu<br />

dieser Zeit habe ich Mark Seibert kennengelernt.<br />

Er war der jugendliche Hauptdarsteller<br />

von »Time Out!«. In »A Chorus Line« habe<br />

ich die damals noch nicht so bekannten Ines<br />

Hengl-Pirker und Bettina Mönch eingesetzt.<br />

Jetzt, viele Jahre später, bin ich Chef in Mörbisch<br />

und hole sie alle wieder. Von Mark Seibert<br />

war ich zu 1.000 Prozent überzeugt, als ich<br />

ihn in »Rebecca« am Wiener Raimund Theater<br />

gesehen habe. Er hat sich stark entwickelt, der<br />

Traum aller Frauen wurde plötzlich zum Mörder.<br />

Higgins muss jemand sein, der nicht nur<br />

bissig ist, sondern er muss auch glaubwürdig<br />

zeigen, warum er das tut. Es ist eine wahnsinnig<br />

schwierige Schauspielarbeit, deshalb hieß es bei<br />

»My Fair Lady« immer: »Hauptsache, die Männer<br />

können schauspielern.« Aber wie schön ist<br />

es, dass Mark auch noch eine Traumstimme hat.<br />

Als ich ihm den Higgins vorgeschlagen habe,<br />

hat er geantwortet: »Egal wo, wie, wann, ich<br />

bin dabei!« Wir haben uns umarmt, geweint vor<br />

Freude und waren glücklich. Er wollte immer<br />

in Mörbisch auftreten und immer diese Rolle<br />

verkörpern.<br />

<strong>blimu</strong>: »My Fair Lady« wurde bereits vielfach in<br />

unterschiedlichen Inszenierungen aufgeführt.<br />

Haben Sie auch den berühmten Film gesehen?<br />

AH: Natürlich, das war ein Jahrtausendereignis.<br />

Und man hat sich etwas getraut, denn im Film<br />

hat Eliza den Professor schon sehr abgestraft.<br />

Und Audrey Hepburn kann natürlich alles spielen.<br />

Anna Rosa Döller wurde schon gefragt, ob<br />

Hepburn ihr Vorbild sei, und sie hat geantwortet:<br />

»Wenn das mein Vorbild wäre, bräuchte ich<br />

gar nicht hinzugehen.« Audrey Hepburn gibt es<br />

nur einmal – aber Anna auch.<br />

<strong>blimu</strong>: Wie sieht es eigentlich mit Ihnen aus,<br />

wird man Sie auch wieder auf der Bühne sehen?<br />

Trotz Ihrer fordernden Arbeit als Intendant in<br />

Mörbisch?<br />

AH: Was mir ganz wichtig ist, da es oft vergessen<br />

wird: Ich habe seit drei Jahren auch noch die<br />

Intendanz auf Schloss Tabor im Südburgenland.<br />

Zuvor wurde dort Oper gespielt, ich habe es<br />

zum Operettenhaus gemacht. Hier betreue ich<br />

100 Mitarbeiter, in Mörbisch sind es knapp<br />

250. Das zu führen ist so schwer und kostet<br />

so viel Energie, dass ich eine große Rolle im<br />

Moment gar nicht spielen könnte. Man ist als<br />

Intendant Vater und Mutter des Teams, man<br />

ist die erste Anlaufstelle. Ich nehme diesen Job<br />

ernst und hätte die Kraft gerade nicht. Bei »The<br />

King and I« war meine Mama so verletzt, dass<br />

ich nicht mitgespielt habe. Schließlich hatte ich<br />

den König schon 700 Mal gespielt. Aber als ich<br />

gesehen habe, wie mein Baby zur Welt kommt,<br />

war ich gerührt und dann war die Freude da.<br />

So wollte ich es immer haben. Vom Alter her<br />

könnte ich jetzt sehr gut die Zaza in »La Cage<br />

aux Folles« spielen. Damals war ich einfach zu<br />

jung, das wirkte lächerlich. Auch den Higgins<br />

habe ich nie gespielt, bin drei Mal knapp an der<br />

Rolle des Freddy »vorbeigeschrammt«. Ich bin<br />

überzeugt, dass die Intendanz nicht der letzte<br />

Job meines Lebens ist. Es gab bereits ein paar<br />

Schauspielanfragen, aber es muss einfach passen.<br />

Alfons Haider vor der Seebühne Mörbisch<br />

Foto: Jerzy Bin<br />

Das Interview führte Yvonne Mresch<br />

48<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Düsterer Fast-Krimi<br />

»Die Königinnen« feiern Uraufführung im Musiktheater Linz<br />

Es ist ein eingespieltes Team, welches da die neueste<br />

Uraufführung auf die Bühne des Musiktheaters<br />

Linz gebracht hat. Henry Mason (Libretto) und Thomas<br />

Zaufke (Musik) haben, neben einigen anderen<br />

gemeinsamen Werken, bereits mit »Der Hase mit den<br />

Bernsteinaugen« in Linz für große Aufmerksamkeit<br />

gesorgt und mit eben diesem Stück 2019 beim Deutschen<br />

Musical Theater Preis in mehreren Kategorien<br />

gewonnen.<br />

Die Geschichte, die sie hier auf die Bühne bringen,<br />

ist zum einen tatsächlich im wahrsten Sinne des<br />

Wortes Geschichte, zum anderen aber vor allem auch<br />

verwoben, kompliziert und vielschichtig. Der Kampf<br />

zwischen Maria Stuart und Elisabeth I. ist nicht nur<br />

ein Kampf zwischen zwei Frauen, die beide aus dynastischen<br />

Gründen Anspruch auf den Thron erhoben, es<br />

ist auch ein Kampf zwischen Protestanten und Katholiken,<br />

es ist ein Kampf der Geschlechter, der die beiden<br />

Königinnen noch zusätzlich unter Druck setzt, und<br />

es ist ein steter Kampf mit sich selbst auf dem Weg,<br />

diejenige zu sein, die am meisten Stärke zeigt.<br />

Das Stück beginnt mit dem Moment, in dem Elisabeth<br />

I. das Todesurteil von Maria Stuart unterschreibt.<br />

Innerhalb von Sekunden wird dann ein sehr kluger<br />

Schachzug des Autorenteams etabliert: Obwohl sich<br />

die beiden Damen im wahren Leben nie begegnet sind,<br />

führen sie auf der Bühne Dialoge miteinander. Das<br />

lässt eine Tiefe zu, die allein mit der Darstellung der<br />

Geschichte nicht hätte erreicht werden können, denn<br />

hier kommen fast tagebuchartige Gedanken zum Tragen,<br />

die zum Teil in spitzfindigen Auseinandersetzungen<br />

gipfeln. Nachdem das Todesurteil unterschrieben<br />

ist, findet ein Zeitsprung von gut 40 Jahren zurück<br />

statt – Maria, deren Vater James V., König von<br />

Schottland, plötzlich stirbt, wird noch als Baby zur<br />

Thronerbin. Ihre Mutter übernimmt die Regentschaft<br />

stellvertretend an ihrer Stelle und stellt erfolgreich die<br />

Verbindung mit dem französischen Königshaus her.<br />

Als Teenager heiraten Maria und der französische Dauphin<br />

François, was Maria dann, recht plötzlich sogar<br />

durch den Tod des französischen Königs Heinrichs<br />

II., nicht nur zur Königin von Schottland, sondern<br />

auch zu der von Frankreich macht. Der Weg ist allerdings<br />

nicht einfach – Elisabeth I. ist inzwischen an die<br />

Macht in England gekommen, in Schottland beginnt<br />

die protestantische Revolution und Ziel von Elisabeths<br />

Parlament ist es, dass Maria auf ihren Anspruch auf die<br />

englische Krone verzichtet. Dann stirbt in Frankreich<br />

ihr Mann und somit verliert sie dort die Krone. Da sie<br />

das Gefühl, Königin zu sein, nicht aufgeben möchte,<br />

reist sie im Anschluss nach Schottland und ist dort trotz<br />

allen Widerstands nicht bereit, auf die Krone zu verzichten,<br />

geschweige denn, ihren Anspruch auf die englische<br />

Krone aufzugeben.<br />

Maria heiratet nach einigem Hin und Her Lord<br />

Darnley. Die Ehe erweist sich durch seine Machtbesessenheit<br />

wie durch seine Untreue allerdings als sehr<br />

schwierig. Immerhin bekommt Maria aber durch ihn<br />

ihren Sohn James, welcher in Elisabeth, die Kinder<br />

und Ehe verweigert, fast mütterliche Gefühle aufkommen<br />

lässt. Sie wird Patentante von James und Maria<br />

lässt sich auf den Deal ein, dass, wenn Elisabeth James<br />

als Thronfolger benennt, sie selbst auf die englische<br />

Krone verzichten wird. Darnley indes kommt bei<br />

Abb. oben:<br />

Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />

Alexandrova) und Elisabeth I.<br />

(Daniela Dett) trafen sich im wahren<br />

Leben nie, waren aber dennoch<br />

immer eng verbunden<br />

Abb. unten:<br />

Die noch junge Elisabeth I. (Daniela<br />

Dett) besingt ihren Patensohn James<br />

Fotos (2): Barbara Pálffy<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

49


Musicals in Deutschland<br />

Die Königinnen<br />

Thomas Zaufke / Henry Mason<br />

Landestheater Linz<br />

Musiktheater am Volksgarten –<br />

Großer Saal<br />

Uraufführung: 10. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie & Choreographie ........................<br />

............................ Simon Eichenberger<br />

Musikalische Leitung .... Tom Bitterlich<br />

Leitung Extrachor .................................<br />

.................... David Alexander Barnard<br />

Orchestrierung ........... Markus Syperek<br />

Bühnenbild ................. Stephan Prattes<br />

Kostüme ........................ Conny Lüders<br />

Lichtdesign ............ Michael Grundner<br />

Maria Stuart .........................................<br />

............ Alexandra-Yoana Alexandrova<br />

Elisabeth I. ...................... Daniela Dett<br />

William Cecil .......... Christian Fröhlich<br />

Henri II. / Earl of Moray .... Gernot Romic<br />

Erzbischof / James V. /<br />

Papst Pius V. ............... Max Niemeyer<br />

Marie de Guise /<br />

Kat Astley...................... Sanne Mieloo<br />

Caterina de Medici .... Ariane Swoboda<br />

François II., Dauphin /<br />

David Rizzio............. Lukas Sandmann<br />

Lord Darnley ................. Lucius Wolter<br />

Heinrich VIII. /<br />

Earl of Bothwell ........... Karsten Kenzel<br />

Kleine Maria /<br />

Kleiner James ................ Rosa Gruber /<br />

Leonie Cydlik<br />

Junger James ........... Raphael Naveau /<br />

Max Nimführ<br />

In weiteren Rollen:<br />

Kevin Arand, Ulrike Figgener,<br />

Maximilian Klakow, Valerie Luksch,<br />

Joel Parnis, Gabriela Ryffel,<br />

Stefan Gregor Schmitz, Lynsey Thurgar,<br />

Enrico Treuse, Matteo Vigna,<br />

Livia Wrede, Sarah Zippusch<br />

Extrachor des Landestheaters Linz<br />

einem Attentat ums Leben. Da Maria rechtzeitig entkommen<br />

konnte, verbreiten sich Vermutungen, dass sie<br />

ihre Hände im Spiel hatte und ihren Mann bewusst<br />

ermorden ließ. Dass ihr Halbbruder James, Earl von<br />

Moray, dieses Attentat veranlasst hat, erfährt nur der<br />

Zuschauer, Maria selbst wird zur Sonderkommission,<br />

die Elisabeth einberufen hat, gar nicht vorgeladen<br />

und kann entsprechend auch nicht Stellung beziehen.<br />

Moray verkauft sich so gut, dass die Sonderkommission<br />

dazu neigt, seiner Version zu folgen. Elisabeth<br />

ist hiervon nicht überzeugt, Maria aber weigert sich<br />

in ihrer Sturheit, doch noch vor der Kommission zu<br />

erscheinen. Dieses führt dazu, dass ihr Sohn weiterhin<br />

von Moray aufgezogen wird, während Maria sechzehn<br />

Jahre Haft absitzen muss. Selbst als ihr Sohn dann<br />

rechtmäßig zum König von Schottland erklärt wird,<br />

erfährt sie keine Begnadigung. Die politische Brisanz<br />

rund um Elisabeth wird immer größer, so dass sie nach<br />

einigem Ringen mit sich selbst auf ihre Gefolgschaft<br />

hört und das Todesurteil von Maria unterschreibt.<br />

Maria nutzt die Hinrichtung für einen letzten großen<br />

Auftritt.<br />

Dies ist nur ein Bruchteil dessen, was tatsächlich auf<br />

der Bühne gezeigt wird. Das Stück ist voll mit Action<br />

und funktioniert über weite Teile tatsächlich wie ein<br />

Krimi, durch den man als Zuschauer geführt wird.<br />

Filmisch sind die Übergänge, es gibt immer etwas zu<br />

sehen und im Zusammenhang mit den Kampf- und<br />

auch Tanzszenen hat Simon Eichenberger hier ein sehr<br />

rundes Gesamtbild geschaffen. Gerade in den großen<br />

Zeitsprüngen liegen ja immer wieder Herausforderungen,<br />

aber er hat den Charakteren auch eine körperliche<br />

Entwicklung mitgegeben. Unterstützt wird das durch<br />

die großartigen Kostüme von Conny Lüders, die sich<br />

durchaus an der Zeit der Geschehnisse orientiert, aber<br />

dank der Verbindung mit Lack, Leder und Sexappeal<br />

für absolute Raffinesse sorgt. Einzig und allein die<br />

Entscheidung, Maria auf einmal mehrere Szenen lang<br />

mit bloßen Beinen auf der Bühne zu lassen, erscheint<br />

merkwürdig. Dies macht im Zuge der Vergewaltigung<br />

Sinn, erschließt sich dann im weiteren Verlauf allerdings<br />

nicht. Und auch wenn das rote Abendkleid zur<br />

Hinrichtung durchaus Aufmerksamkeit bündelt, war<br />

das Lackkleid zuvor doch fast das beeindruckendere.<br />

Aber das ist Kritik auf höchstem Niveau und ist wie<br />

alles im Leben Geschmackssache. Was bleibt, ist wieder<br />

einmal mehr die Tatsache, dass hier den Augen jede<br />

Menge Ausgeklügeltes und gleichermaßen Attraktives<br />

geboten wird.<br />

Das Bühnenbild von Stephan Prattes wird insbesondere<br />

von dem Lichtdesign von Michael Grundner<br />

getragen. Im Großen und Ganzen werden hier dunkel<br />

gehaltene Blöcke auf der Bühne so in Szene gesetzt,<br />

dass sie immer wieder Neues ergeben – sei es das<br />

Gefängnis, eine Burg oder – ein ganz wunderbarer<br />

Effekt – ein Schiff, welches Maria von Frankreich<br />

nach Schottland bringt. So beeindruckend es immer<br />

wieder ist, mit welch vermeintlich einfachen Mitteln<br />

hier neue Welten entstehen, so bleibt es über die Länge<br />

des Stückes doch sehr düster, und die wenigen farbigen<br />

Momente, die vor allem Maria noch zu Beginn<br />

des Stückes gehören, erweisen sich als echte Akzente,<br />

die nach über drei Stunden Länge durchaus häufiger<br />

hätten gesetzt werden können.<br />

Das Ensemble wird hier natürlich von den beiden<br />

Königinnen angeführt: Daniela Dett als Elisabeth I.<br />

besticht durch schauspielerische Feinheit, sie legt sehr<br />

viel in ihre Haltung und lässt ihre Gesichtszüge Bände<br />

sprechen. Gesanglich überzeugt sie vor allem bei dem<br />

Lied anlässlich der Geburt von James. Als Maria<br />

Stuart schmettert Alexandra-Yoana Alexandrova ihre<br />

Stimmungen gesanglich hervorragend umgesetzt auf<br />

die Bühne. Ihre Maria ist in der Naivität gefangen,<br />

ihr grundsätzlich lebensfroher Charakter macht aber<br />

Freude. Bei den Männern sind vor allem zwei hervorzuheben<br />

– Gernot Romic hat als Earl von Moray den<br />

besten Moment des gesamten Stücks, seine Darbietung<br />

der Geschehnisse vor der Sonderkommission macht<br />

unglaublich viel Freude; er kann dort seine ganze<br />

Vielseitigkeit ausspielen. Als Berater von Elisabeth ist<br />

Abb. von links:<br />

1. Walsingham, Elisabeths<br />

Geheimdienstchef (Enrico Treuse),<br />

und William Cecil, ihr Staatssekretär<br />

(Christian Fröhlich), drängen die<br />

Königin (Daniela Dett) zu einer<br />

Entscheidung<br />

2. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />

Alexandrova, Mitte mit Ensemble)<br />

auf dem Weg zurück in ihre Heimat<br />

Fotos (2): Barbara Pálffy<br />

50<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Deutschland<br />

Christian Fröhlich als William Cecil stets an ihrer<br />

Seite, gesanglich hat er mehrere Momente, welche Lust<br />

auf mehr gemacht hätten. Schauspielerisch schafft er<br />

den Bogen vom jungen Mann zum älteren Herrn sehr<br />

gut. Beim starken Ensemble spielen viele Darsteller<br />

mehrere Rollen, um den Zeitsprüngen, Ortswechseln<br />

und den dichten Geschehnissen gerecht werden<br />

zu können. Darum sei an dieser Stelle einmal mehr<br />

erwähnt, wie hoch die Qualität der einzelnen Ensemblemitglieder<br />

ist, etwas, was in Linz jedes Mal gleichermaßen<br />

ins Auge wie ins Ohr sticht.<br />

Eine Uraufführung auf die Bühne zu bringen ist nie<br />

ein einfaches Unterfangen, und während im angloamerikanischen<br />

Raum Tryouts helfen, den Stoff vor dem<br />

großen Abend entsprechend zu verfeinern, zu bearbeiten,<br />

zu verdichten, schlicht zu optimieren, wird diese<br />

Phase hierzulande leider immer wieder ausgelassen.<br />

Dies ist im Fall von so einem Stück tatsächlich schade,<br />

denn hier liegt ganz viel Potenzial. Der eine oder andere<br />

Song würde auch etwas gekürzt noch genauso gut ausdrücken,<br />

was er ausdrücken muss. Viel wichtiger aber<br />

wäre es, noch einmal Arbeit in die Entwicklung der<br />

beiden Damen zu stecken. Die Naivität von Maria ist<br />

im ersten Akt noch durchaus liebenswert, der ständige<br />

Kampf von Elisabeth, als Frau die notwendige Härte<br />

zu zeigen, reicht für ein oder zwei Lieder. Aber insbesondere<br />

im zweiten Akt hat man dann das Gefühl, dass<br />

es kein Vorwärts gibt und die beiden Charaktere keine<br />

weitere Entwicklung erfahren. Und obwohl das Stück<br />

so viel bietet, optisch und inhaltlich, hinterlässt das<br />

leider einen Hauch Wehmut.<br />

Musikalisch holt Zaufke die großen Bögen hervor,<br />

das Stück ist klassisch durchkomponiert und bietet<br />

wunderschöne Momente. Im Formen der großen<br />

Bögen liegt allerdings auch immer wieder die »Gefahr«,<br />

dass das Publikum weit weniger Applaus spenden darf,<br />

als es eigentlich will, was spezifisch bei dem hohen<br />

gesanglichen sowie schauspielerischen Niveau immer<br />

wieder ein Drang gewesen wäre.<br />

Das Premierenpublikum entlud sich dann am Ende<br />

des Abends entsprechend und dankte die viele Arbeit,<br />

die hinter der Entstehung des Stückes steckt, mit sehr<br />

lautem Applaus und langen Standing Ovations. Und<br />

auch wenn hier der eine oder andere Kritikpunkt<br />

erwähnt wird, so sei doch noch einmal sehr bewusst<br />

niedergeschrieben, dass hier alles auf sehr hohem<br />

Niveau geschieht. Ein paar wenige Handgriffe und<br />

der Krimi rund um »Die Königinnen« wäre uneingeschränkt<br />

empfehlenswert – aber auch so sei jedem<br />

geschichtlich-interessierten Musicalliebhaber der Weg<br />

nach Linz ans Herz gelegt.<br />

Sabine Haydn<br />

Abb. unten von oben links:<br />

1. Elisabeth I. (Daniela Dett) und Maria<br />

Stuart (Alexandra-Yoana Alexandrova)<br />

am Tag der Hinrichtung<br />

2. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />

Alexandrova) findet vor ihrem Tod Halt<br />

im Glauben<br />

3. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />

Alexandrova) wird vom Earl of<br />

Bothwell (Karsten Kenzel) zur Ehe<br />

gezwungen<br />

4. Maria Stuart (Alexandra-Yoana<br />

Alexandrova, Mitte) heiratet den<br />

Dauphin (Lukas Sandmann, r.)<br />

Fotos (4): Barbara Pálffy<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

51


Musicals in Österreich<br />

Die Umsetzung ist gelungen<br />

»West Side Story« in der Volksoper Wien<br />

Sie stammen aus zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Maria (Jaye<br />

Simmons) und Tony (Anton Zetterholm) kämpfen dennoch um ihre Liebe<br />

Foto: Marco Sommer / Volksoper Wien<br />

West Side Story<br />

Leonard Bernstein / Stephen Sondheim /<br />

Arthur Laurents / Jerome Robbins<br />

Songs in englischer Sprache<br />

Deutsche Dialoge von Marcel Prawy<br />

Volksoper Wien<br />

Premiere: 27. Januar 20<strong>24</strong><br />

Regie ............................. Lotte de Beer<br />

Musikalische Leitung .... Ben Glassberg<br />

Choreographie .................. Bryan Arias<br />

Bühnenbild ................. Christof Hetzer<br />

Kostüme ...................... Jorine van Beek<br />

Licht ..................................... Alex Brok<br />

Sounddesign ............... Martin Lukesch<br />

Maria ..... Jaye Simmons / Juliette Khalil<br />

Tony ........................ Anton Zetterholm<br />

Riff .............. Oliver Liebl / Peter Lesiak<br />

Bernardo ............. Lionel von Lawrence<br />

Chino .................................. James Park<br />

Anita ........................ Myrthes Monteiro<br />

Doc .................................. Axel Herrig<br />

Detective Schrank ........ Nicolaus Hagg<br />

Officer Krupke .................. Tobias Voigt<br />

Anybodys ..................... Melanie Böhm<br />

In weiteren Rollen:<br />

Malick Afocozi, Emilio Moreno Arias,<br />

Claudia Artner, Kilian Berger,<br />

William Briscoe-Peake,<br />

Anneke Brunekreeft, Elies de Vries,<br />

David Eisinger, Philippa Eisinger,<br />

Oliver Floris, Sophia Gorgi,<br />

Fin Holzwart, Teresa Jentsch,<br />

Wei Ken Liao, Hannah Lehner,<br />

Bernadette Leitner, Roberta Monção,<br />

Kevin O’Dwyer, Maura Oricchio,<br />

Bianca Pizzagalli, Michael Postmann,<br />

Tara Randell, Jaime Lee Rodney,<br />

Rico Salathé, Dario Scaturro,<br />

Ilvy Schultschik, Jessica Scorpio,<br />

Danai Simantiri, Alex Snova,<br />

Liam Solbjerg, Josefine Tyler,<br />

Georg Wacks, Emilija Williams,<br />

Eva Zamostny<br />

Verfeindete Gangs in den Straßen New Yorks<br />

und eine Liebesgeschichte, deren tragisches<br />

Ende sich früh abzeichnet: Mit dem Musical-Klassiker<br />

»West Side Story« schuf Leonard Bernstein<br />

nach dem Buch von Arthur Laurents ein modernes<br />

»Romeo und Julia«, welches nun in der Wiener<br />

Volksoper zu erleben ist.<br />

Es scheint das Jahr des begnadeten amerikanischen<br />

Komponisten zu sein: Mit »Maestro« geht<br />

ein Film über Leonard Bernstein gleich mit sieben<br />

Nominierungen ins Oscar-Rennen, seine Operette<br />

»Candide« ist in einer Inszenierung von Lydia<br />

Steier im MusikTheater an der Wien zu sehen und<br />

nun zog auch sein wohl bekanntestes Werk, 67<br />

Jahre nach der Uraufführung 1957 am Broadway,<br />

in die österreichische Hauptstadt ein.<br />

Schauplatz des Geschehens ist die Upper West<br />

Side im New York der 1950er Jahre. Ein Ort, an<br />

dem Rassismus und Bandenkriminalität unter<br />

Jugendlichen den Alltag bestimmen. Der Konflikt<br />

zwischen den amerikanischen Jets und den<br />

puerto-ricanischen Sharks um eine Straße droht<br />

zu eskalieren, die Polizei muss laufend eingreifen.<br />

Inmitten aller Dramatik verlieben sich Maria<br />

(Jaye Simmons), Schwester des Sharks-Anführers<br />

Bernardo (Lionel von Lawrence), und Jets-<br />

Gründungsmitglied Tony (Anton Zetterholm)<br />

unsterblich ineinander – und das Drama nimmt<br />

seinen Lauf. In einem Kampf tötet Marias Bruder<br />

Bernardo Jets-Anführer Riff (Oliver Liebl). Tony<br />

gerät dazwischen und tötet schließlich den Bruder<br />

seiner Geliebten. Maria kann ihm verzeihen, doch<br />

es ist zu spät: Noch während er in ihre Arme läuft,<br />

trifft Tony ein Schuss von hinten. Er stammt von<br />

Sharks-Mitglied Chino (James Park) und führt zu<br />

Tonys tragischem Tod.<br />

Das Leading Team der Inszenierung an der<br />

Volksoper kann sich sehen lassen: Die Direktorin<br />

selbst, Lotte de Beer, führt Regie und bringt eine<br />

entstaubte Fassung auf die Bühne, die dennoch<br />

nichts an Flair von damals einbüßt und nahe am<br />

Original ist. Sie legt den Fokus auf die Tragik der<br />

Geschichte, auf das Wesentliche, und tut dies auf<br />

schonungslose Art und Weise. Das Bühnenbild<br />

(Christof Hetzer) ist dementsprechend reduziert,<br />

das Zentrum bildet eine schwarze Trennwand, welche<br />

die Drehbühne in zwei Flächen teilt und sich je<br />

nach Bedarf in Marias Zimmer, Docs Laden oder<br />

die Straßen der West Side verwandelt. Die Stimmung<br />

ist düster, der Geschichte nach trostlos, mit<br />

Lichtblicken, die lediglich in den Szenen des Liebespaares<br />

zu finden sind. Auch die komödiantisch<br />

angelegte Nummer ›Officer Krupke‹ bekommt in<br />

dieser Inszenierung einen dramatischen Touch,<br />

die Jets tanzen blutverschmiert und üben sich<br />

in Zynismus. Genau das tut der Szene aber auch<br />

gut – es handelt sich nun mal um einen tragischen<br />

Moment. Die grau-schwarze Melancholie wird ein<br />

einziges Mal zur Gänze unterbrochen: Beim Song<br />

›Somewhere‹, in dem Tony und Maria von einem<br />

besseren Leben träumen, entschied sich de Beer<br />

für die farbenfrohe Darstellung eines klassischamerikanischen<br />

Einfamilienhauses – der »American<br />

Dream«, der schließlich in den amerikanischen<br />

Alptraum und damit wieder die Realität mündet.<br />

Gesprochen wird übrigens deutsch, in einer Übersetzung<br />

von Marcel Prawy, die Songs wurden im<br />

englischen Original (Texte von niemand geringerem<br />

als Stephen Sondheim) mit deutschen Übertiteln<br />

belassen. Eine gute Entscheidung, die Texte<br />

harmonieren optimal mit den Melodien.<br />

Die musikalische Leitung übernimmt Ben<br />

52<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

Glassberg, neuer Musikdirektor des Hauses, der<br />

Bernsteins beinahe sinfonische und teils auch<br />

opernhafte Melodien, die sich mit Jazz und lateinamerikanischen<br />

Rhythmen vermischen, eindrucksvoll<br />

umsetzt und sie durch Mark und Bein gehen<br />

lässt. Für die Choreographien wurde Bryan Arias<br />

engagiert, der in Puerto Rico geboren wurde und<br />

in New York aufwuchs und damit lateinamerikanische<br />

Stile mit zeitgenössischem Tanz zu verbinden<br />

weiß. Mambo trifft auf Swing, Jazz auf lateinamerikanische<br />

Melodien. Die Umsetzung ist gelungen,<br />

die Choreographien sind energiegeladen, dynamisch<br />

und entwickeln sich, charakteristisch für die<br />

»West Side Story«, organisch aus einfachen Bewegungen<br />

heraus. Lediglich bei Hits wie ›America‹<br />

fehlt stellenweise der von anderen Inszenierungen<br />

gewohnte »Drive« in der Umsetzung. Bei den Kostümen<br />

(Jorine van Beek, klassisch: Haartolle und<br />

Petticoat) bleibt man dem Original treu.<br />

Überzeugen kann an der Volksoper auch die<br />

durchweg starke Cast: Jaye Simmons, die Mitglied<br />

des Opernstudios ist und Rollen wie die Papagena<br />

in Mozarts »Die Zauberflöte« zu ihrem Lebenslauf<br />

zählen darf, ist eine vokal fantastische Maria, die<br />

mit ihrer opernhaften Stimme für Gänsehaut sorgt.<br />

Im Gegensatz zu vielen vorangegangenen Darbietungen<br />

legt sie die Rolle stärker und emanzipierter<br />

an – sie weiß, was sie will, und zeigt das auch. Eine<br />

starke Performance, die lediglich im Setting von<br />

›I Feel Pretty‹ nicht funktioniert. Anton Zetterholm,<br />

der ab März die Titelrolle in »Das Phantom<br />

der Oper« am Wiener Raimund Theater verkörpern<br />

wird, schlüpft hier in einen gänzlich anderen<br />

Charakter. Neben einer vor allem in den Höhen<br />

tadellosen Stimme kann Zetterholm insbesondere<br />

im Schauspiel überzeugen. Er macht die Rolle zu<br />

der Seinen, gibt Tony Stärke und Neugier, lässt ihn<br />

eine Bandbreite an Gefühlen zeigen und begeistert<br />

nicht zuletzt im finalen Showdown in seiner Verzweiflung,<br />

als er glaubt, Maria verloren zu haben.<br />

Lionel von Lawrence zeigt eine solide Leistung<br />

als Sharks-Anführer Bernardo, bleibt jedoch trotz<br />

einer eigentlich präsenten Rolle weitgehend im<br />

Hintergrund. Myrthes Monteiro ist eine Anita, wie<br />

sie im Buche steht, Oliver Liebl ebenso stark als<br />

Jets-Anführer Riff. Hervorzuheben ist abermals die<br />

hervorstechende Leistung des gesamten Ensembles,<br />

schließlich lebt die »West Side Story« gerade in den<br />

dynamischen Szenen genau davon.<br />

Durch die Kombination einer bis heute relevanten<br />

Gesellschaftskritik, interpretiert von starken<br />

Schauspielern gepaart mit wunderschönen Orchesterklängen,<br />

zieht das Stück in der Inszenierung an<br />

der Wiener Volksoper auch lange Zeit nach seiner<br />

Uraufführung das Publikum in seinen Bann. Die<br />

Resonanz ist gut, minutenlanger Applaus und Standing<br />

Ovations bei der Premiere sprechen Bände.<br />

Yvonne Mresch<br />

Abb. unten von oben links:<br />

1. Immer wieder kommt es zu dramatischen<br />

Auseinandersetzungen<br />

zwischen Jets und Sharks (Ensemble)<br />

– hier treten die Anführer Riff<br />

(Oliver Liebl, Mitte) und Bernardo<br />

(Lionel von Lawrence, 2.v.r.)<br />

gegeneinander an<br />

2. ›I Feel Pretty‹ – Maria (Jaye<br />

Simmons) fantasiert vom großen<br />

Auftritt in ihrem Traumkleid<br />

3. Es war Liebe auf den ersten Blick:<br />

Tony (Anton Zetterholm) träumt von<br />

Maria<br />

4. Im Kultsong ›America‹ (Myrthes<br />

Monteiro als Anita, Mitte)<br />

überzeugen die Darsteller mit<br />

einer abwechslungsreichen und<br />

dynamischen Choreographie<br />

Fotos (4): Marco Sommer / Volksoper Wien<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

53


Musicals in Österreich<br />

Vom ESC zur großen Bühne<br />

»Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« am Wiener Rabenhof uraufgeführt<br />

›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹: Luziwuzi (Tom Neuwirth, r.) und sein Liebhaber (Sebastian Wendelin, l.)<br />

Foto: Rita Newman / Rabenhof Theater<br />

54<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

Das Wiener Rabenhof Theater im 3. Bezirk sorgt<br />

immer wieder für Überraschungen. Mit der neuesten<br />

Inszenierung des Duos Ruth Brauer-Kvam (Regie,<br />

sowie Co-Autorin gemeinsam mit Fabian Pfleger) und<br />

Kyrre Kvam (Musik) konnte kein geringerer als Tom<br />

Neuwirth aka Conchita Wurst sein Theaterdebüt feiern.<br />

Neben Neuwirth stehen die Schauspieler Florian<br />

Carove, Gerhard Kasal und Sebastian Wendelin, die<br />

in verschiedenen Rollen zu sehen sind, auf der Bühne.<br />

Im Stück »Luziwuzi – Ich bin die Kaiserin« wird<br />

die Geschichte von Erzherzog Ludwig Viktor, dem<br />

jüngeren Bruder von Kaiser Franz Josef, erzählt, der<br />

auch unter dem Spitznamen Luziwuzi bekannt war.<br />

Das exzentrische Leben des jüngsten Erzherzogs wird<br />

hier als schräge Albtraum-Revue erzählt. Zu Beginn<br />

sieht man im Prolog, dass sich Luziwuzi in einer Irrenanstalt<br />

befindet und von einem Arzt (Florian Carove)<br />

behandelt wird. In der ersten Szene sieht man Luziwuzi<br />

noch als Kind mit seiner Mutter Erzherzogin Sophie<br />

(besonders humorvoll: Florian Carove). Einige Jahre<br />

später – Luziwuzi und seine Brüder sind erwachsen –<br />

beginnt er, sich für Männer zu interessieren, die ihn<br />

heimlich besuchen. Das Stück endet mit einem Epilog,<br />

einer Auktion, bei der sein Nachlass versteigert wird.<br />

Tom Neuwirth zeigt sich in seinem Theaterdebüt<br />

feinfühlig, mit starker Bühnenpräsenz und kann zudem<br />

gesanglich punkten. Auch seine Kollegen überzeugen<br />

in ihren verschiedensten Rollen, allen voran Florian<br />

Carove, der nicht nur als Erzherzogin Sophie, sondern<br />

auch als Kaiserin Elisabeth sein komödiantisches Talent<br />

unter Beweis stellt. Außerdem ist die Chemie zwischen<br />

Carove und Neuwirth sehr stark, auch wenn vieles hier<br />

eher humorvoll inszeniert wird.<br />

Unter der musikalischen Leitung von Kyrre Kvam<br />

wird das Stück mit melancholisch-elektrischen Klängen<br />

untermalt, die eine ganz besondere Atmosphäre<br />

schaffen. Außerdem sind im Stück einige bekannte<br />

Musiknummern zu finden, darunter die Vertonung<br />

eines Songs mit einem Text von Heinrich Heine, der<br />

von Tom Neuwirth gefühlsvoll dargeboten wird, oder<br />

aber ›Dieser Anstand, so manierlich‹ aus der Operette<br />

»Die Fledermaus«, bei der Neuwirth als Rosalinde und<br />

Sebastian Wendelin als Eisenstein zu sehen sind und<br />

diesen bekannten Titel als Disconummer humorvoll<br />

interpretieren. Besonders gelungen ist außerdem Luziwuzis<br />

Darbietung von ›Dies Bildnis ist bezaubernd<br />

schön‹ aus »Die Zauberflöte«. Die berührende Arie wird<br />

zwar nicht in voller Länge gesungen, aber dennoch brilliert<br />

Tom Neuwirth hier.<br />

Die Choreographien von Lukas Strasser passen sich<br />

generell gut an die Musik an, aber besonders gelungen<br />

sind die Solonummern mit Luziwuzi allein, denn diese<br />

verhelfen ihm zu einer starken Bühnenpräsenz.<br />

Das Bühnenbild von Michaela Mandel besteht aus<br />

glitzernden Vorhängen und dekorierten Tapeten. Die<br />

Kostüme von Alfred Mayerhofer sind sehr gemischt,<br />

aber das ist auch gut so. So erinnern die schwarz-weißen<br />

Kostüme der Hofdamen (Wendelin und Kasal) ein<br />

wenig an den Kit Kat Club, aber das weiße Sakko der<br />

Titelfigur wirkt sehr elegant und glamourös.<br />

Ruth Brauer-Kvam und Kyrre Kvam haben die<br />

Geschichte von Luziwuzi mit Melancholie, Glamour<br />

und guten Geschichtskenntnissen erzählt. Die Story<br />

wird vielleicht ein wenig zu schnell erzählt, aber durch<br />

die Musik wirkt alles nicht nur wie eine Alptraum-<br />

Revue, sondern auch wie eine glamouröse Party: Eine<br />

Party als Basis, um die tragische Geschichte einer<br />

exzentrischen, vielleicht vielen eher unbekannten Person<br />

zu erzählen. Schade, dass es nicht mehr Lieder im<br />

Stück gibt, eine große Ballade hätte dem Stück eventuell<br />

gutgetan, aber dennoch ist es ein berührender und<br />

melancholischer Abend.<br />

Ludovico Lucchesi Palli<br />

Luziwuzi –<br />

Ich bin die Kaiserin<br />

Kyrre Kvam / Ruth Brauer-Kvam /<br />

Fabian Pfleger<br />

Rabenhof Theater Wien<br />

Uraufführung: 15. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie ...................... Ruth Brauer-Kvam<br />

Musikalische Leitung ......... Kyrre Kvam<br />

Choreographie .............. Lukas Strasser<br />

Bühnenbild .............. Michaela Mandel<br />

Kostüme .................. Alfred Mayerhofer<br />

Luziwuzi ....................... Tom Neuwirth<br />

In weiteren Rollen:<br />

Florian Carove, Gerhard Kasal,<br />

Sebastian Wendelin<br />

Abb. unten von links:<br />

1. Luziwuzi (Tom Neuwirth)<br />

mit seinen Brüdern Maximilian<br />

(Gerhard Kasal, l.) und Karl Ludwig<br />

(Sebastian Wendelin, r.)<br />

2. Luziwuzi (Tom Neuwirth)<br />

versucht seine Mutter (Florian<br />

Carove, vorne) zu beeindrucken<br />

Fotos (2): Rita Newman / Rabenhof Theater<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

55


Musicals in Österreich<br />

Mit Optimismus gegen den Rest der Welt<br />

»Candide« mit dem Ensemble des Theaters an der Wien<br />

Abb. oben:<br />

Lehrer Dr. Pangloss (Ben McAteer)<br />

vermittelt seinen Schülern (v.l.)<br />

Maximilian (James Newby),<br />

Cunegonde (Nikola Hillebrand),<br />

Candide (Matthew Newlin) und<br />

Paquette (Tatiana Kuryatnikova) in<br />

Westphalia ein heiles Weltbild<br />

Abb. unten:<br />

Der Governor von Buenos Aires<br />

(Mark Milhofer, hinten) hält<br />

Cunegonde (Nikola Hillebrand,<br />

r.) und die Old Lady (Helene<br />

Schneiderman, l., und Ensemble)<br />

zwar bei sich fest, hält aber sein<br />

Versprechen, Cunegonde zu<br />

heiraten, nicht ein<br />

Fotos (2): Werner Kmetitsch<br />

Das Theater an der Wien wird derzeit generalsaniert<br />

und daher ist Leonard Bernsteins »Candide« in<br />

der früheren kaiserlichen Winterreitschule, der heutigen<br />

Halle E des Museumsquartiers, zu sehen. Am<br />

17. Januar 20<strong>24</strong> feierte die Inszenierung der Comic<br />

Operetta Premiere in englischer Sprache.<br />

»Candide« erinnert an das Märchen »Hans im<br />

Glück«, denn der Held Candide (Matthew Newlin) ist<br />

der uneheliche Sohn eines Barons, wird aber nach einer<br />

Affäre mit der adligen Tochter des Hausherrn verstoßen.<br />

Damit beginnt – kurz gesagt – eine ereignisreiche<br />

Weltreise, bei der dem jungen Mann eine Katastrophe<br />

nach der anderen widerfährt. Er erlebt die Doppelmoral<br />

der Kirche sowie die korrupte Politik und muss in<br />

die Abgründe der Menschheit blicken. Und dennoch<br />

verliert er seinen schier unzerstörbaren Optimismus<br />

dabei nicht, denn ein Erdbeben – dessen Zeuge er<br />

wird – kann Häuser und Menschen erschüttern, aber<br />

scheinbar nicht seinen Glauben an das Gute. Er hat<br />

von seinem Professor Dr. Pangloss (Ben McAteer) die<br />

philosophische Lehre vermittelt bekommen, dass er in<br />

der besten aller möglichen Welten lebt.<br />

Auch Komponist Leonard Bernstein hat mit dem<br />

Stück eine wechselvolle Reise durchgemacht. Es<br />

beginnt damit, dass es sich einer klaren Einordnung<br />

verweigert, bewegt sich doch die Adaption der satirischen<br />

Novelle »Candide oder der Optimismus«<br />

von Voltaire zwischen Oper, Operette und Musical.<br />

Anfangs, nach der Uraufführung am 1. Dezember<br />

1956 im New Yorker Martin Beck Theatre, bestand nur<br />

wenig Interesse an den insgesamt 73 Aufführungen.<br />

Mehrmals wurde »Candide« in den folgenden Jahren<br />

umgearbeitet, bevor das Stück sein Glück fand, auch<br />

wenn es sich nicht so häufig auf den Spielplänen der<br />

Theater und Opernhäuser findet, und wenn, dann oft<br />

in voneinander abweichenden Fassungen. Besondere<br />

Bekanntheit hingegen genießen die ›Overture‹, die<br />

inzwischen oft an Konzertabenden als Einzelnummer<br />

gespielt wird, sowie die Koloraturarie ›Glitter and be<br />

Gay‹, die zum Kernrepertoire jeder Koloratursopranistin<br />

gehört.<br />

In Wien wird das Stück auf einer großen Revuetreppe<br />

inszeniert, die von mehreren großen Rahmen<br />

mit Lampen in verschiedene Ebenen unterteilt wird.<br />

Schnell zugezogene Vorhänge ermöglichen rasante<br />

Szenenwechsel, denn Bernstein hat dafür wenig Zeit<br />

gelassen. Zwar reist Candide in der Welt herum (insgesamt<br />

17 Orte werden in den fast drei Stunden Spielzeit<br />

besucht), doch unnötige Feinheiten werden von vornherein<br />

weggelassen. Warum Candide von einem Ort<br />

zum anderen fährt, wie das genau vor sich geht und was<br />

auf dieser Reise passiert – meist unwichtige Details,<br />

denn die nächste Katastrophe ruft. Anfangs ist noch<br />

unklar, warum Candide gerade das Schiff nimmt, um<br />

von Westfalen nach Lissabon zu kommen, später wird<br />

es zum Running-Gag, ist doch das Boot scheinbar sein<br />

liebstes Fortbewegungsmittel. So erlebt er das Erdbeben<br />

und die Inquisition in Lissabon mit, ist mit Syphilis-Kranken<br />

konfrontiert, fährt nach Buenos Aires im<br />

südamerikanischen Argentinien, kommt selbst in das<br />

sagenumwobene, goldene Eldorado, bis er schließlich<br />

nach einem Schiffbruch im verruchten Venedig<br />

ankommt. Für den besonderen Witz sorgt Schauspieler<br />

Vincent Glander, der als Erzähler mit Fliege und im<br />

dreiteiligen Nadelstreifenanzug mit einem deutlichen<br />

Hauch von britischem Establishment für einen Kontrapunkt<br />

zur teils grotesken Handlung sorgt, bei der man<br />

in kaum einer Szene ohne Sexspielzeug oder andere<br />

schlüpfrige Provokationen auskommt. Auch der Rest<br />

der Cast besticht durch hervorragende Qualität, allen<br />

voran Candides Geliebte Cunegonde (Nikola Hillebrand)<br />

hat mit ihrem Sopran einen beeindruckenden<br />

56<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

und glasklaren Klang, den sie zur Gänze präsentieren<br />

und ausspielen kann. Hauptdarsteller Matthew Newlin<br />

gibt sein Debüt am Theater an der Wien. Dabei<br />

singt der Tenor seine Lieder zart und fein, passend zu<br />

seiner naiven, leichtgläubigen Rolle.<br />

Eine wahre Schlacht mit 350 farbenfrohen und<br />

detailverliebten Kostümen und Accessoires bestreitet<br />

die Ausstattungsabteilung (Kostüme: Ursula Kudrna).<br />

Fantasievoll werden neue Welten geschaffen, von der<br />

Spielhölle in Venedig bis zum Bordellzimmer in Paris<br />

(Bühnenbild und Videos: Momme Hinrichs). Zur<br />

vollen Geltung kommt diese Sinnes-Explosion bei<br />

den großen Ensemble-Nummern mit mitreißenden<br />

Tanzeinlagen (Choreographien: Tabatha McFadyen).<br />

Der heimliche Star der Inszenierung ist jedoch das<br />

wunderbare Orchester unter der Leitung der US-amerikanischen<br />

Bernstein-Jüngerin und Dirigentin des ORF<br />

Radio-Symphonieorchesters, Marin Alsop. Sie ist es auch,<br />

die beim Schlussapplaus die Standing Ovations vom Publikum<br />

bekommt.<br />

Irgendwann im Verlauf des Abends führt die Reizüberflutung<br />

und die komplizierte Geschichte mit den<br />

anspruchsvollen englischen Texten leider dazu, dass<br />

man sich nicht mehr uneingeschränkt auf die fantastische,<br />

im krassen Gegensatz zur teilweise ernsten und<br />

dramatischen Handlung recht fröhlich anmutende<br />

Musik, in der Leonard Bernstein zahlreiche Anspielungen<br />

auf andere europäische Musiktheaterstücke<br />

aus dem 19. Jahrhundert versteckt hat, konzentrieren<br />

kann. Bernstein schuf »Candide« parallel zur wesentlich<br />

populäreren »West Side Story«. Mehrmals wurden,<br />

wie der Textdichter Stephen Sondheim berichtet,<br />

einzelne Musikstücke zwischen den zwei Werken hin<br />

und her verschoben. Das Orchester schafft es in großer<br />

Besetzung, die Wucht der Partitur in ein Klangerlebnis<br />

umzusetzen. Das Leading Team um Lydia Steier<br />

(Inszenierung) verzichtet weitgehend auf direkte<br />

Anknüpfungspunkte zur modernen Realität. Nur<br />

Donald Trump treibt, gefesselt von einem Rettungsring<br />

wie in einer Zwangsjacke zur Untätigkeit verdammt<br />

mit anderen Diktatoren nach dem Schiffbruch<br />

gackernd im Meer. Und so kann sich der Zuschauer<br />

jenen Aspekt herausziehen, der für ihn am passendsten<br />

erscheint. Am Ende des Stücks erkennt Candide die<br />

Illusion, die er die ganze Zeit gejagt hat. Seine große<br />

Liebe Cunegonde hat andere Vorlieben, interessiert<br />

sich mehr für Gold, Juwelen und das leichte Leben als<br />

für ihn. Es erinnert ein wenig an eine Coming-of-Age-<br />

Geschichte, wie bei »Mozart!«, bei der der Zuschauer<br />

im Verlauf des Stücks die Transition der Hauptfigur<br />

vom naiven Kind zum Erwachsenen miterlebt. Es bleibt<br />

zum Schluss eine ernüchternde, fast stoische Moral:<br />

Die Welt ist, wie sie ist, weder gut noch böse. Die Aufgabe<br />

der Menschen besteht darin, in ihr zu leben und<br />

ihren Garten zu bestellen, und so macht sich Candide<br />

ans Werk. In ein kleines Häufchen Erde pflanzt ein<br />

kleines Häufchen Elend, an das Candide nach fast drei<br />

Stunden schließlich erinnert, einen Samen. Und wie<br />

die keimende Hoffnung, die scheinbar noch nicht ganz<br />

verloschen ist, wächst daraus eine neue Pflanze, denn<br />

am Ende wird wohl alles gut, und wenn es noch nicht<br />

gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. In Wien siegt<br />

unter begeistertem Applaus also doch der Optimismus.<br />

Mina Piston<br />

Candide<br />

Leonard Bernstein / Richard Wilbur /<br />

John Latouche / Dorothy Parker /<br />

Stephen Sondheim / Lillian Hellman /<br />

Erik Haagensen<br />

In englischer Sprache mit deutschen<br />

Übertiteln<br />

Theater an der Wien Wien<br />

Museumsquartier – Halle E<br />

Premiere: 17. Januar 20<strong>24</strong><br />

Regie ................................ Lydia Steier<br />

Musikalische Leitung ........ Marin Alsop<br />

Choreinstudierung ...............................<br />

................................ Viktor Mitrevski &<br />

Juan Sebastian Acosta<br />

Choreographie ....... Tabatha McFadyen<br />

Bühnenbild & Video .............................<br />

................................. Momme Hinrichs<br />

Kostüme ....................... Ursula Kudrna<br />

Lichtdesign .................... Elana Siberski<br />

Erzähler ..................... Vincent Glander<br />

Candide .................... Matthew Newlin<br />

Cunegonde ............. Nikola Hillebrand<br />

Maximilian / Tsar Ivan .... James Newby<br />

Dr. Pangloss / Martin ...... Ben McAteer<br />

Old Lady ........... Helene Schneiderman<br />

Grand Inquisitor / Captain ....................<br />

...................................... Mark Milhofer<br />

Paquette .............. Tatiana Kuryatnikova<br />

Cacambo ......................... Lina Lottes /<br />

Maya Villarreal Danzinger<br />

In weiteren Rollen:<br />

Arvid Assarsson, Alessio Borsari,<br />

Pablo Delgado, Jörg Espenkot,<br />

Zacharias Galaviz-Guerra,<br />

Benjamin Heil, Karl Kachouh,<br />

Takanobu Kawazoe, Paul Knights,<br />

Thomas Kufta, Benjamin Savoie<br />

Arnold Schoenberg Chor<br />

Abb. oben links:<br />

1. Nach dem Erdbeben wird Dr.<br />

Pangloss (Ben McAteer) gehängt,<br />

Candide (Matthew Newlin) entkommt<br />

knapp der Inquisition<br />

2. In Paris muss sich Cunegonde<br />

(Nikola Hillebrand, r.) im Bordell für<br />

die Old Lady (Helene Schneiderman, l.)<br />

prostituieren<br />

3. Nach dem Schiffbruch treiben<br />

(v.l.) Charles (Paul Knights), Stanislaus<br />

(Benjamin Heil), Hermann (Arvid<br />

Assarsson), Tsar Ivan (James Newby)<br />

und der Sultan (Benjamin Savoie) auf<br />

dem Meer<br />

4. Im verruchten Venedig kommen<br />

lauter Schurken (Ensemble) auf einer<br />

wilden Party zusammen<br />

Fotos (4): Werner Kmetitsch<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

57


Musicals in Österreich<br />

Titanic geht Baden<br />

»Titanic« an der Bühne Baden<br />

Abb. oben:<br />

Die Passagiere der zweiten Klasse<br />

gehen an Bord (Beppo Binder, 2.v.l.;<br />

Verena Barth-Jurca, 3.v.l.; Matthias<br />

Trattner, 2.v.r.; Anetta Szabó, r.;<br />

Ensemble)<br />

Abb. unten:<br />

›Zu allen Zeiten‹ – Schiffskonstrukteur<br />

und Erbauer Thomas Andrews<br />

(Martin Berger) entwirft das größte<br />

Schiff seiner Zeit<br />

Fotos (2): Christian Husar<br />

Der US-Autor Morgan Robertson setzt sich am<br />

Ende des 19. Jahrhunderts an seinen Schreibtisch.<br />

In mühsamer Kleinarbeit entsteht ein neues<br />

Buch. Darin geht es um den Passagierdampfer<br />

Titan, der bei der Atlantiküberquerung einen Eisberg<br />

rammt und sinkt. Doch die Mühe scheint sich<br />

nicht bezahlt zu machen, denn sein neuer Roman<br />

»Futility«, der 1898 erscheint, ist ein Ladenhüter.<br />

Das Buch wäre wohl in Vergessenheit geraten,<br />

wäre 14 Jahre später dem Luxusliner Titanic nicht<br />

ein ähnliches Schicksal beschieden gewesen. Das<br />

damals schon legendäre Schiff, das von der Presse<br />

als unsinkbar gefeiert wurde, sank auf seiner Jungfernfahrt<br />

nach einer Kollision mit einem Eisberg in<br />

die Tiefen des kalten Ozeans. Der Roman wirkte<br />

nun wie eine Prophezeiung.<br />

Sofort berichten Medien ausführlich von der<br />

Katastrophe; Passagiere und Seeleute lassen in<br />

Memoiren die Nacht Revue passieren. Mehrmals<br />

wird der Stoff verfilmt. Jahrelang wurde nach dem<br />

Schiff gesucht und es wurden Pläne geschmiedet,<br />

die Titanic zu heben. Mitte der 1980er Jahre<br />

wurde das Wrack dann endlich in mehr als 3.800<br />

Metern Tiefe gefunden, was neuerlich zu einem<br />

Hype führte. Am bekanntesten ist wohl die Kino-<br />

Adaption aus dem Jahr 1997 von Regisseur James<br />

Cameron. Im New Yorker Lunt-Fontanne Theatre<br />

feierte einige Monate davor das Musical am 23.<br />

April 1997 seine Uraufführung und war danach<br />

unter anderem in den Niederlanden und Belgien<br />

zu sehen. Die deutschsprachige Erstaufführung<br />

fand am 7. Dezember 20<strong>02</strong> im Theater Neue Flora<br />

in Hamburg unter der Regie von Eddy Habbema<br />

statt. Nun hat sich die Bühne Baden in Österreich<br />

des Stücks angenommen – am <strong>24</strong>. Februar war<br />

Premiere.<br />

Die Geschichte des US-Drehbuchautors Peter<br />

Stone zeichnet zwar die historischen Persönlichkeiten,<br />

wie Kapitän Smith (Artur Ortens) und<br />

Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (Martin<br />

Berger) sowie zahlreiche prominente Passagiere,<br />

detailliert nach, verpasst es aber, eine größere, darüberhinausgehende<br />

Handlung einzuflechten, die den<br />

Zuschauer noch mehr fesseln könnte. Gerade für<br />

»Titanic«-Filmkenner kann das Stück daher langatmig<br />

wirken. Detailliert lernt man die einzelnen Passagiere<br />

kennen, ihre Geschichte, was sie an Bord der<br />

Titanic brachte und was sie sich für eine Zukunft<br />

in Amerika erhoffen. Das Musical ist eine Zeitreise<br />

und zeichnet sich durch einen Querschnitt einer<br />

interessanten Gesellschaft aus. Doch dabei bleibt<br />

es manchmal schablonenhaft. So muss Reinwald<br />

Kranner fast mantraartig als ein sehr eindimensionaler<br />

Schiffseigner Bruce Ismay in Baden wieder<br />

und wieder auf die Erhöhung der Geschwindigkeit<br />

drängen. Doch dieses Klischee ist nicht das einzige,<br />

das bedient wird: Regelmäßig wird beispielsweise<br />

betont, dass in Amerika ein neues Leben wartet,<br />

und natürlich warnt der Funker Bride (Sebastian<br />

Brummer) mehr als einmal vor dem Eis.<br />

Fast beliebig, oft gehört und letztendlich austauschbar,<br />

wirken die detailliert vorgetragenen Einzelschicksale<br />

der Passagiere, wie zum Beispiel vom<br />

Heizer Frederick Barrett (Robert David Marx), der<br />

heimlich zum Telegrafen-Raum schleicht, um seiner<br />

Geliebten in der Heimat eine Nachricht zukommen<br />

zu lassen. Marx legt all seine Gefühle in diesen Song<br />

und verleiht der Sehnsucht mit seiner Stimme wunderbar<br />

Nachdruck. Als ein emotionales Gesangs-<br />

Highlight ist das Liebesduett von Kate McGowan<br />

und Jim Farrell, ›Drei Tage‹, zu nennen, gesungen<br />

von Missy May und Stefan Bleiberschnig. Nur<br />

58<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

einige Darsteller der sonst von Regisseur Leonard<br />

Prinsloo mit einem großen Aufgebot an bekannten<br />

Namen besetzten Cast, die trotz der Lichtblicke<br />

keine Glanzleistungen oder Ohrwürmer präsentieren,<br />

und so wundert es auch nicht, dass die vom<br />

Tanz dominierte Nummer ›Beim Klang der Ragtime-Band‹<br />

den meisten Applaus bekommt. Stars<br />

wie Darius Merstein-MacLeod, dessen Leistungen<br />

in Baden in »Jekyll & Hyde« dem Publikum noch<br />

gut in Erinnerung sind, hier zu sehen als Isidor<br />

Straus, und seine Frau Ida, dargestellt von Wiens<br />

erster »Phantom«-Christine Luzia Nistler, dürfen in<br />

»Titanic« nicht ihr ganzes Können ausspielen. Als<br />

Institution an der Bühne Baden agiert René Rumpold<br />

und führt als Henry Etches, Chefsteward der<br />

Ersten Klasse, das Personal an.<br />

Der Text in der deutschen Übersetzung von<br />

Wolfgang Adenberg ist teilweise sperrig. Zu oft<br />

werden in Baden bereits bekannte Dinge Szene für<br />

Szene wiederholt. Zu sehr verliert man sich hier<br />

außerdem in Details, die die Handlung nicht vorantragen,<br />

z.B. was sich alles im Laderaum befindet<br />

und wie die Maße des Schiffes sind.<br />

Immer wieder werden Orts- und Zeitangaben<br />

mit Hilfe einer Projektion auf der Bühne eingeblendet.<br />

Was an Stummfilmzeiten erinnert, ist letztendlich<br />

unnötig, insbesondere wenn der Schiffssteward<br />

von der Empore ein anderes Datum verkündet,<br />

als es unter ihm an die Wand projiziert wird. Die<br />

Empore ist das dominante Bühnenelement (Bühnenbild:<br />

Carlos Santos) und dient meist dem<br />

Kapitän als Brücke. Darunter ist eine Spielfläche,<br />

die mit Tischen in den Speisesaal der Dritten oder<br />

der Ersten Klasse verwandelt wird. Durch herunterfahrbare<br />

Reling-Elemente wechselt die Szenerie<br />

binnen Sekunden zwischen dem Kessel- oder<br />

Maschinenraum zum Sonnendeck. Die Imposanz<br />

versucht man vor allem durch eine große Cast zu<br />

erzeugen. Oft singt diese zusammen mit dem Chor<br />

frontal in Richtung des Publikums.<br />

Die Musik von Maury Yeston ist lieblich-romantisch<br />

und operettenhaft, das Musical ist über weite<br />

Strecken durchkomponiert. Das große Orchester<br />

der Bühne Baden unter der musikalischen Leitung<br />

von Victor Petrov ist klanggewaltig. Besonders ist<br />

hier das dominante Schlagwerk hervorzuheben. In<br />

vielen Melodien findet sich ein schneller Triangel-<br />

Rhythmus, der an die Schiffsmaschinen erinnert.<br />

Insgesamt bleibt das Stück weit hinter seinen<br />

Möglichkeiten zurück – da hilft auch die aufwendige<br />

Kostümschlacht mit der hervorragenden<br />

Arbeit von Natascha Maraval nur bedingt. Die<br />

vielen Umzüge und Perückenwechsel, verursacht<br />

durch die Doppelrollen, gelingen jedoch reibungslos<br />

und helfen dabei, in jeder Szene viel Personal auf<br />

die Bühne zu bringen. So wird die vielschichtige,<br />

historische Gesellschaft an Bord des Schiffes greifbar,<br />

ihr Verhältnis zueinander – die vielen Menschen,<br />

die hier ihr Leben verloren, bekommen ein<br />

eindrückliches Gesicht. Das Ende ist traurig und<br />

wenig überraschend. Nach drei langen Stunden gab<br />

es jubelnden Applaus.<br />

Mina Piston<br />

Titanic<br />

Maury Yeston / Peter Stone<br />

Deutsch von Wolfgang Adenberg<br />

Bühne Baden<br />

Stadttheater<br />

Premiere: <strong>24</strong>. Februar 20<strong>24</strong><br />

Inszenierung &<br />

Choreographie ......... Leonard Prinsloo<br />

Musikalische Leitung ....... Victor Petrov<br />

Bühnenbild .................... Carlos Santos<br />

Kostüme ................. Natascha Maravali<br />

Kapitän E.J. Smith ............. Artur Ortens<br />

Thomas Andrews ........... Martin Berger<br />

Bruce Ismay ............ Reinwald Kranner<br />

Frederick Barrett, Heizer /<br />

Guggenheim ......... Robert David Marx<br />

Harold Bride, Funker /<br />

John Thayer ........... Sebastian Brummer<br />

Jim Farrell / Mr Bell /<br />

Latimer ............... Stefan Bleiberschnig<br />

Kate McGowan /<br />

Charlotte Drake Cordoza .... Missy May<br />

Alice Beane ........... Verena Barth-Jurca<br />

Edgar Beane................... Beppo Binder<br />

Isidor Straus ... Darius Merstein-MacLeod<br />

Ida Straus ........................ Luzia Nistler<br />

Henry Etches ................ René Rumpold<br />

Frederick Fleet, Ausguck /<br />

Stehgeiger ..................... Leon de Graaf<br />

Charles Clarke .......... Matthias Trattner<br />

Caroline Neville ............. Anetta Szabó<br />

William Murdoch /<br />

Kontrabassspieler ..... Florian Resetarits<br />

Charles Lightoller /<br />

J.J. Astor .................... Michael Konicek<br />

Kate Murphy /<br />

Mrs Widener ........ Rebecca Soumagné<br />

Kate Mullins /<br />

Madeleine Astor ........... Beate Korntner<br />

In weiteren Rollen:<br />

Branimir Agovi, Ardeshir Babak,<br />

Lucas Bonnet, Mario Fančovič,<br />

Tsveta Ferlin, Daniel Greabu,<br />

Erin Marks, Emily Nathan,<br />

Russi Nikoff, David Nikov,<br />

Vladimir Polovinchik, Jonas Peter Zeiler<br />

Chor und Ballett der Bühne Baden<br />

Abb. von oben links:<br />

1. Wenn der Servierwagen sich<br />

plötzlich von alleine bewegt, schauen<br />

die Passagiere ganz verwundert<br />

(Ensemble)<br />

2. Schiffsbesitzer Bruce Ismay (Reinwald<br />

Kranner, r.) versucht den Kapitän<br />

E. J. Smith (Artur Ortens, 2.v.r.) davon<br />

zu überzeugen, die Geschwindigkeit<br />

zu erhöhen (v.l.: Michael Konicek,<br />

Florian Resetarits, Branimir Agovi)<br />

3. Im Zwischendeck träumen die<br />

Passagiere der Dritten Klasse von<br />

Amerika (vorne ab Mitte v.l.: Beate<br />

Korntner, Missy May, Rebecca<br />

Soumagné, Ensemble)<br />

4. ›Barretts Lied‹ – Heizer Frederick<br />

Barrett (Robert David Marx, Mitte)<br />

klagt sein Leid, dass er zwar jetzt<br />

auf einem tollen Schiff arbeitet, aber<br />

trotzdem nie das Meer sieht (Jonas<br />

Peter Zeiler, l.; Leon de Graaf, r.)<br />

Fotos (4): Christian Husar<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

59


Musicals in Österreich<br />

Lassen Sie uns Tanzbein und<br />

Lachmuskeln schwingen<br />

Uraufführung von »Twist!« im Wiener Metropol<br />

Abb. oben:<br />

Tanzszene des ganzen Ensembles<br />

von »Twist!«<br />

Foto: Peter Burgstaller<br />

Twist!<br />

Diverse / Peter Hofbauer<br />

Wiener Metropol<br />

Uraufführung: 14. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie ......................... Peter Kratochvil<br />

Musikalische Leitung ... Valentin Oman<br />

Choreographie .......... Elisabeth Blutsch<br />

Ausstattung .................... Ilona Glöckel<br />

Lichtdesign .................... Hans Duchan<br />

Rita ........................... Elisabeth Blutsch<br />

Hugo .................... Martin Oberhauser<br />

Barbara ................... Dagmar Bernhard<br />

Boris ........................ Bernhard Viktorin<br />

Cindy ....................... Victoria Sedlacek<br />

Silvio ........................... Vincent Bueno<br />

Bertram / Mutter .......... Markus Richter<br />

Linda ....................... Denise Jastraunig<br />

Traditionell im Februar präsentiert das Metropol<br />

in Wien das neueste Stück aus der hauseigenen<br />

Musicalwerkstatt. Dieses Jahr entführt uns Intendant<br />

Peter Hofbauer in die Welt des Tanzes und lädt zum<br />

»Twist!«. Ein Abend rund um den Modetanz der frühen<br />

60er Jahre, bei dem die Tänzer sich nicht berühren<br />

und sich auf den Fußspitzen hin- und herdrehen.<br />

Die flotte Show glitzert in vielen Farben – angefangen<br />

bei den Kostümen über die Perücken, das vielseitige<br />

Bühnenbild bis zu den tollen Lichtspielen samt<br />

Discokugeln.<br />

Das Buch stammt von Peter Hofbauer, Regie<br />

führte Peter Kratochvil. Die Choreographie des flotten<br />

Tanzmusicals stammt von Elisabeth Blutsch, die<br />

auch die Rolle der Rita spielt.<br />

Alleine die Musik ist schon einen Besuch wert<br />

und zeigt den hohen Qualitätsstandard, der geboten<br />

wird: Live spielt sich die sechsköpfigen Band unter der<br />

Leitung von Valentin Oman gekonnt in die Ohren<br />

des Publikums. In der Playlist sind einige bekannte<br />

Sounds der 60er und frühen 70er Jahre; meist sind die<br />

Lieder aber mit einem neuen Text passend zum Stück<br />

versehen worden.<br />

Die eigentliche Story ist eher flach, sorgt aber für<br />

einen unterhaltsamen und humorvollen Abend für das<br />

Publikum: Die Redaktion der Tanzzeitschrift TWIST<br />

kämpft mit einer schwachen Auflage und sucht nach<br />

einer guten Idee, das Blatt und somit ihre Jobs zu retten.<br />

So weit, so gut. Denn hier beginnen nun die Verwicklungen:<br />

Der Herausgeber Hugo ist der »gerade<br />

noch Ehemann« der Chefredakteurin Barbara. Die<br />

Stimmung ist nicht herzlich, scheinbar hat Barbara<br />

auch eine allergische Reaktion auf Hugo: plötzlich<br />

auftretender Schluckauf, wenn nur die Rede von diesem<br />

ist. Hugos Bruder Boris ist für die Finanzen des<br />

ganzen Verlags, der mehrere verschiedene Magazine<br />

veröffentlicht, verantwortlich. Hugo möchte gerne die<br />

Tanzzeitschrift einstampfen, nicht zuletzt, um seiner<br />

»gerade noch Ehefrau« einen Denkzettel zu verpassen.<br />

Doch Boris steht heimlich auf Barbara, deswegen<br />

möchte er alles für sie tun und schafft es – mit nur<br />

teils legalen Tricks –, die Zeitung am Leben zu halten.<br />

Und so beginnt die erste verzwickte Lage, die den<br />

Zuschauer ein wenig an das Traumschiff erinnert –<br />

man weiß nach wenigen Minuten, wie die einzelnen<br />

Handlungsstränge laufen werden, welches Paar sich<br />

am Ende findet und dass am Schluss doch das Gute<br />

immer gewinnt. Jedoch gibt es einige Ereignisse in der<br />

Geschichte, die alles interessant machen, so hat z.B.<br />

Hugo eine neue Flamme: Cindy. Diese steckt er in<br />

die Redaktion von TWIST, was der Chefin Barbara<br />

freilich nicht recht ist. Doch Redakteur Silivio hat<br />

die rettende Idee: Er und Cindy machen bei einem<br />

internationalen Tanzwettbewerb mit, um dadurch an<br />

Insiderinformationen zu kommen, somit die neuesten<br />

News zu bringen und damit der Redaktion einen<br />

Mehrwert zu bieten. Doch auch hier sorgt die Liebe<br />

wieder für Verwirrung und das Tanzpaar verliebt sich<br />

ineinander… Dazwischen sorgt noch Bildredakteur<br />

Bertram mit derbem Wiener Humor für Trubel. Er<br />

erinnert ein wenig an Horst Schlämmer alias Hape<br />

Kerkeling. Bertram verputzt liebend gerne Punschkrapferl<br />

und heitert sich mit dem redaktionsinternen<br />

»Fencheltee« auf – der seltsamerweise immer aus<br />

Schnapsgläsern konsumiert wird. Die Redakteurinnen<br />

Rita und Linda mischen auch mit und so wird es<br />

alles andere als ruhig in der Redaktion. Nicht zu vergessen<br />

ist da noch die Mutti von Hugo und Boris – die<br />

erst nur telefonisch für Aufruhr sorgt und am Schluss<br />

des Stücks dann doch wahrhaftig auf der Bühne<br />

erscheint. Und erscheinen ist hier fast untertrieben…<br />

Am Ende des Abends ist eigentlich nicht klar, wer<br />

60<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

den Wettbewerb in New York gewonnen hat oder ob<br />

es ihn überhaupt je gegeben hat. Und so könnte alles<br />

weitergehen – vielleicht heißt es ja kommendes Jahr im<br />

Metropol »Let´s Twist Again!«?<br />

Das eher einfache, aber vielseitige Bühnenbild<br />

kann sich mit wenigen Handgriffen vom Redaktionsbüro<br />

in einen Tanzsaal verwandeln. Dafür zeichnet,<br />

ebenso wie für die farbenfrohen Kostüme, Ilona Glöckel<br />

verantwortlich. Die Perücken und Brillen haben<br />

sich sicher gefreut, wieder einmal einen Auftritt zu<br />

haben, sie stammen allesamt aus einer anderen Zeit.<br />

Das Ensemble hat deutlich Spaß an dem Stück<br />

und begeistert nicht nur durch starke Stimmen, das<br />

schwingende Tanzbein und das humorvolle Schauspiel:<br />

Wie blickpunkt musical erfahren hat, hatte das<br />

Ensemble bei dem Stück die Möglichkeit, viele eigene<br />

Ideen mit einzubringen – und so kann man hier mal<br />

sagen: Viele Köche machen einen guten Brei!<br />

Herausragend aus dem ganzen Ensemble sind vor<br />

allem Dagmar Bernhard und Markus Richter. Bernhard<br />

als Redaktionschefin Barbara hat eine klare kräftige<br />

Stimme und findet in jeder Wendung des Stücks<br />

die richtigen Ideen, um ihre Emotionen zu unterstreichen.<br />

Herausragend ist nicht nur der Schluckauf, den<br />

sie sogar ein ganzes Lied lang durchhält. Sie hat das<br />

große Talent, die Zuschauer mitzureißen. Markus<br />

Richter als Bertram schwankt mehr oder weniger<br />

durch die Kulissen und hat ein Gespür für den<br />

richtigen Moment. Er lässt kurze Pausen entstehen,<br />

in denen das Publikum kurz nachdenken kann, um<br />

dann souverän weiterzumachen. Und genau das macht<br />

es aus: Es ist kein Abspielen von Text und Choreographie,<br />

sondern ein Lebendig-Machen der Situation.<br />

Dieses Talent spürt man hier besonders. Und wenn er<br />

dann zum Schluss noch in die Rolle der Mutter von<br />

Hugo und Boris schlüpft, bleibt kein Auge mehr trocken.<br />

Mehr davon!<br />

Vincent Bueno spielt den Silvio. Durch seine ganz<br />

persönliche Art wirkt die Figur sehr authentisch und<br />

impulsiv – nicht zuletzt durch die perfekte tänzerische<br />

Darbietung, die ihn auch mal als Bruce Lee erscheinen<br />

lässt. Auch sein Spielen mit dem Publikum ist<br />

ein Pluspunkt, da er besonders die Seitenränge (im<br />

Metropol ist die Bühne von drei Seiten vom Publikum<br />

umzingelt) gut mit integriert. Zusammen mit Victoria<br />

Sedlacek als seiner Tanzpartnerin Cindy macht er die<br />

unterschiedlichen Handlungsstränge und Gefühlsschwankungen<br />

miterlebbar. Sedlacek hat ihr Talent<br />

hauptsächlich im tänzerischen Bereich.<br />

Martin Oberhauser als Hugo ist hier das Gegenteil,<br />

sein Schauspiel macht Freude und ist ausdrucksstark.<br />

Die Mimik spricht Bände und diese setzt er geschickt<br />

ein. Bernhard Viktorin beherrscht alle Teile eines Musicaldarstellers,<br />

besonders als schüchterner Boris, der im<br />

Hintergrund die Strippen zieht und sich erst langsam<br />

an seine Herzdame heranwagt. Letztlich nimmt er allen<br />

Mut zusammen und setzt sich gegen den großen Bruder<br />

durch. Er ist ein sehr wandlungsfähiger Darsteller<br />

und dies macht ihn in immer neuen Rollen interessant.<br />

Elisabeth Blutsch (Rita) und Denise Jastraunig<br />

(Linda) spielen als Redaktionsmitarbeiterinnen keine<br />

großen, aber wichtige Rollen: Sie sorgen für Klatsch<br />

& Tratsch, vermutlich auch für den Fenchelteenachschub,<br />

und glänzen besonders gemeinsam mit Richter<br />

als Bertram, als sie eine grandiose Choreographie mit<br />

bzw. auf den Bürosesseln bieten.<br />

Die Zeitreise in »Twist!« wirkt durch und durch<br />

authentisch und bringt das Publikum zum Tanzen,<br />

und das nicht erst beim gewaltigen Schlussapplaus.<br />

Zurecht wurde das Stück schon verlängert, die Tickets<br />

sind knapp! Gönnen sie sich einen Abend mit Twist!<br />

Steffen Wagner<br />

Abb. oben:<br />

Cindy (Victoria Sedlacek) im<br />

Twist-Fieber<br />

Foto: Peter Burgstaller<br />

Abb. unten von links:<br />

1. Chefredakteurin Barbara (Dagmar<br />

Bernhard) feiert, dass sie Hugo bald<br />

los ist<br />

2. Endlich finden Barbara (Dagmar<br />

Bernhard, r.) und Boris (Bernhard<br />

Viktorin, 2.v.r.) zusammen, zum<br />

Schock von Mama Berta (Markus<br />

Richter, l.) und Hugo (Martin<br />

Oberhauser, 2.v.l.)<br />

3. Die Mitglieder der Redaktion<br />

(v.l.: Elisabeth Blutsch, Markus<br />

Richter, Bernhard Viktorin, Denise<br />

Jastraunig) auf der Suche nach einer<br />

Idee, um die Zeitschrift TWIST zu<br />

retten<br />

Foto1: Peter Burgstaller<br />

Fotos 2+3: Wiener Metropol<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

61


Musicals in Österreich<br />

Ungebundenes Tanzfieber mit<br />

beeindruckender Cast auf Tour<br />

»Footloose« – Dancing Is Not a Crime!<br />

Abb. oben:<br />

Ren (Raphael Groß) und Ariel<br />

(Helena Lenn) lernen sich mit der<br />

Zeit besser kennen und lieben<br />

Foto: Nico Moser<br />

Footloose (Tour)<br />

Tom Snow / Dean Pitchford / Walter Bobbie<br />

Songs in englischer und deutscher Sprache<br />

Deutsch von Hauke Jensen<br />

Showslot<br />

Wiener Stadthalle Halle F Wien<br />

Premiere: 6. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie ......................... Manuel Schmitt<br />

Musik. Leitung ........ Hans Tilman Rose<br />

Choreographie & Co-Regie ..................<br />

....................................... Timo Radünz<br />

Bühnenbild ....... Mara Lena Schönborn<br />

Kostümdesign .... Lukas Pirmin Wassmann<br />

Lichtdesign ........................... Phil Kong<br />

Sounddesign .................. Dennis Heise<br />

Ren McCormack ........... Raphael Groß<br />

Ariel Moore .................... Helena Lenn<br />

Shaw Moore ................. Ethan Freeman<br />

Shaw Moore Walk-in Cover .................<br />

................................ Carl van Wegberg<br />

Vi Moore ......................... Kerstin Ibald<br />

Willard Hewitt .............. Martijn Smids<br />

Chuck Cranston / Cowboy Bob ............<br />

.......................... Alexander Findewirth<br />

Rusty ............................ Manar Elsayed<br />

Urleen ....................... Antonia Crames<br />

Wendy Jo ................... Ronja Geburzky<br />

In weiteren Rollen:<br />

Felicitas Bauer, Niklas Bauer,<br />

Nicole Eckenigk, Dominik Müller,<br />

Kevin Lisske, Elke Podhradsky,<br />

Lukas Poischbeg, Anja Rüger,<br />

Ilias Sidi-Yacoub, Janneke Thomassen,<br />

Anjuschka Uher, Pieter van der Vegte<br />

Vierzig Jahre nach dem Kultfilm erobert »Footloose«<br />

als Musical die Bühnen in Österreich,<br />

Deutschland und der Schweiz. Nach dem Tourauftakt<br />

Ende Januar in Bremen feierte die Cast die Österreichpremiere<br />

am 6. Februar 20<strong>24</strong> in der Wiener Stadthalle<br />

F. Die Show läuft noch bis in den Mai 20<strong>24</strong>.<br />

Die Story ist nicht sehr ergiebig, wie so oft bei<br />

bekannten Tanzfilmen bzw. Tanzmusicals der 70er<br />

und 80er Jahre, aber sie ist eigentlich auch nur nebensächlich,<br />

da es hier hauptsächlich nur um eines geht:<br />

Tanzen! Und da wird dem Publikum einiges geboten.<br />

Die Choreographien sind flott und abwechslungsreich<br />

und es gibt beeindruckende Ensemblenummern. Das<br />

Bühnenbild an sich ist eher spärlich, wie bei einer Tour<br />

üblich. Die sehr große Bühne in der Stadthalle wird<br />

von der Cast gut gefüllt und viele Stimmungen werden<br />

durch Drehen der Kulissen erzeugt, verbunden mit<br />

sehr gut abgestimmten Lichteffekten.<br />

Worum es in »Footloose« geht: Der Teenager<br />

Ren McCormack lebt mit seiner Familie in Chicago<br />

und genießt sein Leben mit Partys, Tanzen und<br />

seinen Freunden. Als sein Vater die Familie verlässt,<br />

entscheidet sich die Mutter, in die Kleinstadt<br />

Bomont zu ziehen, wo sie bei Verwandten unterkommen.<br />

Das Leben ändert sich sofort für Ren,<br />

denn hier herrschen andere Regeln: Rockmusik,<br />

Alkohol und Tanzen sind untersagt. Durchgesetzt<br />

hat das der Reverend der Stadt, Shaw Moore. Er<br />

zieht in der strenggläubigen Gemeinde die Fäden<br />

und bestimmt die Regeln nach seinen Vorstellungen.<br />

Doch Ren will und kann sich damit nicht abfinden,<br />

eckt immer wieder bei den Erwachsenen an, hat Probleme<br />

in der Schule und bei seinen Aushilfsjobs. Wie<br />

das Schicksal es will, trifft er rasch auf Ariel, die schöne<br />

Tochter des Reverends. Diese ist mit den Regeln<br />

ebenso unglücklich und ist mindestens so rebellisch<br />

wie Ren. Die Beiden finden zueinander, verlieben sich<br />

und kämpfen nun gemeinsam mit Ariels Girlstruppe<br />

und dem etwas seltsamen Einzelgänger Willard für<br />

ein freies und normales Teenagerleben. Hilfreich sind<br />

Rens Ausflüge mit Ariel und der ganzen Truppe nicht,<br />

um Reverend Moore von seiner Einstellung und den<br />

empfundenen Ungerechtigkeiten zu überzeugen. Ob es<br />

ihm dennoch gelingt, wird sich im Laufe des Abends<br />

erweisen…<br />

Die Leistung der Cast ist wirklich beeindruckend:<br />

Sie überzeugen nicht nur durch die perfekte Choreographie,<br />

sondern vor allem durch tolle darstellerische<br />

Leistungen und ausdruckstarke Stimmen.<br />

Jede noch so kleine Rolle ist stark besetzt und es<br />

macht Freude, ihnen zuzuschauen und zuzuhören.<br />

Was schon selten geworden ist: Durch die klare Verständlichkeit<br />

aller Darsteller können die eigentlich<br />

schwachen Dialoge stark gewinnen, so dass an diesem<br />

Abend einmal mehr der Wunsch übrigbleibt, dass man<br />

dies bitte bei allen deutschsprachigen Produktionen<br />

erleben möchte. Das Konzept der Show, nicht nur<br />

die Dialoge auf Deutsch (Hauke Jensen) zu sprechen,<br />

sondern auch die Lieder (mit Ausnahme der großen<br />

Hits wie ›Holding Out for a Hero‹, ›Almost Paradise‹,<br />

›Let’s Hear It for the Boy‹ und natürlich den Titelsong<br />

›Footloose‹) ebenfalls auf Deutsch zu singen, ist etwas<br />

irritierend, besonders, weil im Publikum die englischsprachigen<br />

Songs weitaus besser ankamen, wie deutlich<br />

am Beifall zu bemerken war.<br />

Die Hauptrollen sind besetzt mit Raphael Groß<br />

(Ren McCormack), Helena Lenn (Ariel Moore), Ethan<br />

Freeman (Reverend Shaw Moore) und Kerstin Ibald<br />

(Vi Moore).<br />

Raphael Groß spielt den rebellischen Ren authentisch<br />

und transportiert die vielen Gefühlslagen der<br />

Rolle gut durch seine Bühnenwirkung und Stimme,<br />

62<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Österreich<br />

sei es als unsicherer »Neuer« an der Schule, beim Eingehen<br />

auf seinen neuen Freund Willard oder in der<br />

langsam beginnenden Liebe zu Ariel. Besonders die<br />

Szene mit Reverend Moore nachts in der Küche, in der<br />

er schon aufgegeben hat, ist großes Kino. Man darf<br />

sich hoffentlich auf mehr große Rollen für ihn freuen.<br />

Helena Lenn trumpft in ihrer Rolle als Tochter des<br />

Reverends nicht nur durch ihre klare und kraftvolle<br />

Stimme auf, sondern auch durch lebendige und fröhliche<br />

Spielfreude. Beim ersten großen Song der Show,<br />

›Holding Out for a Hero‹, dreht sie so richtig auf und<br />

bringt mit der restlichen Cast das Publikum in Stimmung.<br />

Die Damen schauen dabei zwar ein wenig wie<br />

ein Kylie-Minogue-Lookalike in alten ABBA-Kostümen<br />

aus, haben aber eine irrsinnige Power, die man<br />

bei anderen Songs ein wenig vermisst. Lenn versteht es,<br />

die Jungs um den Finger zu wickeln, ohne dabei billig<br />

zu wirken, und man nimmt ihr die Rolle gerne ab und<br />

erfreut sich an der Vielfältigkeit im Umgang mit ihrem<br />

Vater, der Mutter und den Freunden.<br />

Ariels Eltern spiegeln souverän ein vom Leben<br />

gezeichnetes Ehepaar: Die Verbundenheit und das<br />

Auseinandergelebte, die perfekte Außenwirkung im<br />

Ort und das vom Schicksal gezeichnete Familienleben<br />

mit der rebellischen Tochter werden in den verschiedenen<br />

Szenen aufgezeigt und sehr gut umgesetzt.<br />

Ethan Freeman (Reverend Shaw Moore) ist eine tolle<br />

Besetzung. Die aufkommende Zerrissenheit erinnert<br />

ein wenig an seine Paraderolle als Jekyll / Hyde: die<br />

Überzeugung seiner Position auf der einen Seite<br />

und der langsam aufkommende Zweifel an seiner<br />

Meinung auf der anderen Seite. Und die letztliche<br />

(Achtung – Spoiler!) Kehrtwende unterstreicht er mit<br />

seiner bewusst gut eingesetzten Gestik und Mimik.<br />

Seine Gattin, Kerstin Ibald (Vi Moore), beeindruckt<br />

mit ihrer Ruhe und Sicherheit in der Stimme und dem<br />

Ausdruck ihrer Lieder. Als Ehefrau und Mutter muss<br />

sie stark sein, will sich aber auch nicht immer alles<br />

gefallen lassen und zeigt dies überzeugend auf.<br />

Aus der Cast sind noch besonders zu erwähnen:<br />

Martijn Smids (Willard Hewitt) mimt den auf der<br />

einen Seite schüchternen und dann doch selbstsicheren<br />

(dank der vielen guten Tipps seiner Mutter) Willard als<br />

eine Figur, die man einfach lieben muss. Ein Typ, der<br />

wie ein Außenseiter wirkt, aber vor den (vermeintlich?)<br />

starken Jungs kein Blatt vor den Mund nimmt. Er und<br />

Ren werden schnell zu einem guten Team und unterstützen<br />

sich gegenseitig. Rusty (Manar Elsayed) hat ihr<br />

Herz an Willard verloren und steht ihren Freundinnen<br />

immer zur Seite. Elsayeds Power in Ausdruck und<br />

Stimme machen Lust auf mehr! Gemeinsam mit Antonia<br />

Crames (Urleen) und Ronja Geburzky (Wendy Jo)<br />

gibt sie das Power-Trio an der Seite von Ariel. Alle drei<br />

jungen Darstellerinnen sind stimmlich stark und verbreiten<br />

gute Laune auf der Bühne. Ihre Lockerheit ist<br />

ein guter Gegenpart zur Schwere der Familie Moore.<br />

Sie haben mehrere Songs gemeinsam, neben ›Holding<br />

Out for a Hero‹ und ›Let’s Hear It for the Boy‹ haben<br />

sie auch ruhige Parts wie das immer wiederkehrende<br />

›Jemand schaut zu‹. Der Nachwuchs auf der Bühne<br />

scheint gerettet bei solch vielversprechenden jungen<br />

Talenten.<br />

Wer die Möglichkeit hat, sollte sich den Besuch bei<br />

»Footloose« nicht entgehen lassen. Wenn die eigentliche<br />

Story auch flach und alt ist, ist sie doch aktueller<br />

denn je: rebellische Frauen, die für ihre Rechte kämpfen<br />

und bereit sind, über Grenzen zu gehen. Dies alles<br />

gepaart mit jungen Talenten, rockiger Musik und viel<br />

Spielfreude bringt eine gute Unterhaltung.<br />

Steffen Wagner<br />

Abb. oben:<br />

Ren (Raphael Groß, vorne r.) und<br />

Willard Hewitt (Martijn Smids,<br />

vorne l.) freunden sich schnell an<br />

und halten zusammen<br />

Abb. unten von oben links:<br />

1. Reverend Shaw Moore (Ethan<br />

Freeman, vorne) predigt der<br />

Kirchengemeinde (Ensemble) und<br />

schwört alle auf das Tanzverbot ein<br />

2. Ren (Raphael Groß, vorne)<br />

versucht, die Mitglieder der<br />

Gemeindesitzung zu überzeugen,<br />

dass die Regeln aufgeweicht werden,<br />

alle Jugendlichen (Ensemble)<br />

unterstützen ihn<br />

3. Ariel (Helena Lenn, Mitte) ist mit<br />

ihren Eltern (Kerstin Ibald, l., Ethan<br />

Freeman, r.) im ständigen Streit, da<br />

sie sich auch nicht an die von ihrem<br />

Vater auferlegten Regeln halten will<br />

4. Das Bühnenbild ist eher schlicht,<br />

aber durch die Lichteffekte sehr<br />

eindrucksvoll<br />

Fotos (5): Nico Moser<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

63


Musicals in Europa<br />

Leben mit HIV<br />

»Rent« am Theater St. Gallen<br />

Abb. oben:<br />

›La Vie Bohème‹ – Mimi Marquez<br />

(Naomi Simmonds, 3.v.l.), Roger<br />

Davis (Dominik Hees, 4.v.l.), Mark<br />

Cohen (Thomas Hohler, Mitte),<br />

Angel Dumott Schunard (Gonzalo<br />

Campos López, 4.v.r), Tom Collins<br />

(Daniel Dodd-Ellis, 3.v.r.), Maureen<br />

Johnson (Jeannine Michèle<br />

Wacker, r.) und Ensemble<br />

Abb. unten:<br />

›Find ein Lied‹ – Roger Davis<br />

(Dominik Hees)<br />

Fotos (2): Edyta Dufaj<br />

Anfang der 1980er Jahre beobachten Ärzte in den<br />

USA die Ausbreitung einer seltenen Lungenentzündung,<br />

die von Pilzen ausgelöst wird, und des Kaposi-<br />

Sarkoms, einer aggressiven Hautkrebsart. Betroffen sind<br />

vor allem junge Männer, die zuvor gesund waren, was<br />

ungewöhnlich ist, da diese beiden schweren Krankheiten<br />

zuvor nur bei Schwerkranken mit geschwächtem<br />

Immunsystem auftraten. Der Name der neuen Infektionskrankheit<br />

ist AIDS, deren Ursache das 1983 entdeckte<br />

HI-Virus ist, das hauptsächlich durch Sperma<br />

bei ungeschütztem Sexualkontakt und Blut übertragen<br />

wird. Erst seit 1996 gibt es eine antiretrovirale Therapie,<br />

die lebenslang ist, da die HIV-Infektion nicht heilbar<br />

ist. Zuvor war AIDS weltweit die Haupttodesursache<br />

bei den 25- bis 44-Jährigen. Viele HIV-Infizierte werden<br />

bis heute im privaten und beruflichen Umfeld stigmatisiert,<br />

ausgegrenzt, obwohl Menschen mit HIV, die unter<br />

wirksamer Therapie sind und somit kein nachweisbares<br />

Virus im Blut haben, nicht ansteckend sind.<br />

Im 1996 in New York uraufgeführtem Musical<br />

»Rent« von Jonathan Larson (Buch, Musik, Liedtexte)<br />

wird der Alltag einer Gruppe verarmter Künstler:innen<br />

von HIV geprägt, ähnlich den Hauptfiguren in Puccinis<br />

»La Bohème«, die mit der damals unheilbaren Tuberkulose<br />

leben mussten. Jonathan Larson bezieht sich mit<br />

»Rent« auf diese Oper von Puccini, die 1896 in Turin<br />

uraufgeführt wurde.<br />

In der Mitte der dunklen Bühne im Theater St. Gallen<br />

steht ein Mikrofon, das von hellem Scheinwerferlicht<br />

beleuchtet wird. An dieses Mikrofon tritt Mark (Thomas<br />

Hohler), ein junger Filmemacher, mit einer Kamera<br />

in der Hand und erzählt, dass er in einer ärmlichen<br />

WG mit dem Ex-Junkie und Musiker Roger (Dominik<br />

Hees) lebt. Es ist Weihnachten, Mark filmt Roger beim<br />

Komponieren eines Songs, da er einen Dokumentarfilm<br />

über die Stadt drehen will. Zudem werden die Beiden<br />

von ihrem Ex-Mitbewohner Benny (Vikrant Subramanian),<br />

der dank seines Schwiegervaters zum Besitzer des<br />

Wohnblocks geworden ist, per Telefon ermahnt, die<br />

Miete zu zahlen, sonst droht der Rauswurf, da Benny<br />

plant, die Straße in ein Cyber-Kunststudio umzubauen.<br />

Jonathan Larson verortet den Spielort seines Musicals<br />

in die Gegend um den Tompkins Square Park, in der<br />

Alphabet City des East Village in Manhattan, einem<br />

schwul-lesbischen Szeneviertel mit Galerien und Clubs.<br />

Dieses Quartier wurde seit den 1980er Jahren gentrifiziert<br />

‒ ein Problem, das aktuell in vielen Städten zu<br />

erleben ist und zu Protesten der Betroffenen führt, wie<br />

der Regisseur Matthew Wild in seiner fesselnden Inszenierung<br />

klar aufzeigt.<br />

Zudem zeigt das wandelbare Bühnenbild von Paul<br />

Wills mal ein spärlich mit Möbeln vom Sperrmüll<br />

eingerichtetes Loft in einem heruntergekommenen<br />

Industrie-Betonbau, der ebenfalls in irgendeiner Stadt<br />

in Europa stehen könnte. Die Wände im Treppenhaus<br />

sind mit Graffitis verziert. Schnell kann das Bühnenbild<br />

zu einer Szenekneipe mit langen Tischen, Zelten eines<br />

Protestcamps oder einem Markt verändert werden.<br />

An der rechten und linken Bühnenseite entdeckt man<br />

Münztelefone, die das Publikum in eine Zeit ohne Handys<br />

entführen. Das originelle Kostümbild von Claudio<br />

Pohle weist die bunte Mode der 90er Jahre auf, die aktuell<br />

als Vintage Mode bei den jungen Leuten angesagt ist.<br />

Tom Collins (Daniel Dodd-Ellis) wird auf dem<br />

Weg in die WG überfallen, von der Dragqueen Angel<br />

(Gonzalo Campos López) gefunden und in die WG<br />

begleitet. Sie wissen beide, dass sie HIV-positiv sind, und<br />

verlieben sich ineinander. Sie zeigen ein harmonisches<br />

64<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Europa<br />

Liebespaar, das die gemeinsame Zeit genießt. Doch das<br />

Glück wird im Laufe des Jahres überschattet vom akuten<br />

Ausbruch der Krankheit bei Angel. In einer kurzen,<br />

stillen, intensiven Szene nehmen sich die Männer in den<br />

Arm, als Angel Tom die dunklen Flecken des Kaposi-<br />

Syndroms auf seiner Brust zeigt. Der Schreck über diese<br />

Diagnose ist im Theatersaal spürbar. Ebenso schmerzhaft<br />

ist das Sterben von Angel im Krankenhaus in einer<br />

späteren Szene. Tom begleitet seinen Lebenspartner<br />

beim Sterben, muss mit diesem schweren Verlust klarkommen.<br />

In einer bewegenden Trauerfeier versuchen<br />

die Freundinnen und Freunde einerseits, den Tod von<br />

Angel zu verarbeiten, andererseits konfrontiert Angels<br />

Tod die HIV-Infizierten mit der brutalen Realität der<br />

Krankheit AIDS.<br />

Dominik Hees überzeugt in der Rolle des Roger, der<br />

die Trauer über den Tod der Partnerin bewältigen muss,<br />

sich deshalb anfänglich gegen die Beziehung zu der drogenabhängigen<br />

Tänzerin Mimi wehrt, die ihn sehr direkt<br />

versucht anzumachen. Naomi Simmonds gestaltet glaubwürdig<br />

die Rolle der lebenshungrigen, zerbrechlichen<br />

Mimi, die Halt im Leben sucht. Die meist rockige Musik,<br />

von der »Rent«-Band unter der musikalischen Leitung<br />

von Christoph Bönecker hervorragend präsentiert, verleiht<br />

der Trauer, Wut, Liebe der jungen Künstler:innen<br />

fassbaren Ausdruck. Duette wechseln mit lebendigen<br />

Ensembleszenen, die mit facettenreichen Choreographien<br />

von Louisa Talbot das Publikum begeistern.<br />

Thomas Hohler überzeugt als Filmemacher Mark,<br />

der wie sein Freund Roger versucht, als Künstler Anerkennung<br />

zu finden, um vom Beruf leben zu können. In<br />

diesen Momenten trägt das Musical autobiographische<br />

Züge, da Jonathan Larson (4. Februar 1960 – 25. Januar<br />

1996) ebenfalls diese Ziele hatte. Leider konnte er den<br />

Erfolg von »Rent« nicht mehr miterleben, da er am Vorabend<br />

der Premiere des Werkes an einer Aortendissektion<br />

verstarb.<br />

Kerry Jean überzeugt in der Rolle der tatkräftigen,<br />

organisierten Anwältin Joanne Jefferson und begeistert<br />

das Publikum mit ihrer souligen Stimme. Ebenso<br />

überzeugt Jeannine Michèle Wacker in der Rolle der<br />

schrillen Maureen Johnson, die als Performance-Künstlerin<br />

in der Kunstszene bestehen möchte. Maureens<br />

Protestaktion findet immensen Anklang. Benny nimmt<br />

Abstand von seinen Umbauplänen und finanziert sogar<br />

die Entziehungskur von Mimi, die jetzt eine Beziehung<br />

mit ihm hat.<br />

Weihnachten ein Jahr später: Mark will seinen<br />

Freunden den vollendeten Dokumentarfilm vorführen.<br />

Wenige Szenen sind als Schwarz-Weiß-Videosequenzen<br />

auf der Bühnenrückwand zu sehen. Mimi hat die Entziehungskur<br />

abgebrochen und ist zur großen Sorge von<br />

Roger spurlos verschwunden. Maureen und Joanne<br />

finden sie bewusstlos und unterkühlt im Park, bringen<br />

sie in die WG. Umringt von ihren bestürzten Freunden<br />

scheint Mimi in den Armen des verzweifelten Roger zu<br />

sterben. Doch plötzlich erwacht sie und berichtet ihren<br />

erleichterten Freunden von ihren Nahtoderfahrungen.<br />

In der packenden, intensiven, emotionalen Inszenierung<br />

von Matthew Wild am Theater St. Gallen lässt die<br />

starke Cast das Premierenpublikum tief in das Leben<br />

der in prekären finanziellen Verhältnissen lebenden New<br />

Yorker Künstlerbohème eintauchen. Zudem müssen sie<br />

sich mit den Konsequenzen der HIV-Infektion auseinandersetzen,<br />

die ihre Lebenssituation zusätzlich belastet.<br />

Trotzdem verlieren sie nicht die Freude am Leben, sondern<br />

versuchen aktiv, sich ihre beruflichen und privaten<br />

Träume zu erfüllen.<br />

Da einige Hauptrollen doppelt besetzt sind, empfiehlt<br />

sich ein Blick in den Spielplan.<br />

Martina Friedrich<br />

Rent<br />

Jonathan Larson / Billy Aronson<br />

Deutsch von Wolfgang Adenberg<br />

Theater St. Gallen – Großes Haus<br />

Premiere: 17. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie ............................. Matthew Wild<br />

Musik. Leitung ....... Christoph Bönecker<br />

Arrangements .................. Steve Skinner<br />

Choreographie ................ Louisa Talbot<br />

Bühnenbild ........................... Paul Wills<br />

Kostüme ......................... Claudio Pohle<br />

Licht ................................. Tim Mitchell<br />

Video ................................. Reto Müller<br />

Ton ...................... Nicolai Gütter-Graf /<br />

Peter Szabo<br />

Mimi Marquez .......... Naomi Simmonds<br />

Roger Davis ................... Dominik Hees /<br />

Florian Minnerop<br />

Mark Cohen .................. Thomas Hohler<br />

Maureen Johnson ...................................<br />

....................... Jeannine Michèle Wacker<br />

Angel Dumott Schunard .........................<br />

......................... Gonzalo Campos López<br />

Tom Collins ................ Daniel Dodd-Ellis<br />

Joanne Jefferson ................... Kerry Jean /<br />

Dionne Wudu<br />

Benjamin »Benny« Coffin III ...................<br />

............................... Vikrant Subramanian<br />

Pastor ................................ Gerd Achilles<br />

Polizistin / Dance Captain .......................<br />

.......................................... Rachel Colley<br />

In weiteren Rollen:<br />

Lara de Toscano, Adrian Hochstrasser,<br />

Amaya Keller, Robert Lankester,<br />

Florian Minnerop, Jessica Rühle,<br />

Tobias Stemmer, Sander van Wissen,<br />

Tamara Wörner<br />

Abb. von links oben:<br />

1. ›Miete‹ – Mark Cohen (Thomas<br />

Hohler) und Roger Davis (Dominik<br />

Hees)<br />

2. Joanne Jefferson (Kerry Jean)<br />

telefoniert mit Maureen Johnson<br />

3. Maureen Johnsons (Jeannine<br />

Michèle Wacker) Performance<br />

Foto 1: Edyta Dufaj<br />

Fotos 2+3: Ludwig Olah<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

65


Musicals in Europa<br />

Kampf um gesellschaftliche Anerkennung<br />

»La Cage aux Folles« am Stadttheater Bern<br />

Abb. oben:<br />

»Les Cagelles« (Ensemble) erzählen<br />

in der Revue die Geschichte ihrer<br />

sexuellen und politischen Befreiung<br />

Abb. unten:<br />

›Ich bin, was ich bin‹ – Zaza<br />

(Christoph Marti)<br />

Fotos (2): Rob Lewis<br />

La Cage aux Folles<br />

Jerry Herman / Harvey Fierstein<br />

Deutsch von Erika Gesell und Christian Severin<br />

Bühnen Bern<br />

Stadttheater Bern<br />

Premiere: 9. März 20<strong>24</strong><br />

Regie ............................... Axel Ranisch<br />

Musik. Leitung ... Hans Christoph Bünger<br />

Choreographie ....................... Alex Frei<br />

Bühnenbild ....................... Falko Herold<br />

Kostüme ................................ Axel Aust<br />

Licht .................. Christian Aufderstroth<br />

Georges ............................. Tobias Bonn<br />

Albin/Zaza .................... Christoph Marti<br />

Jean-Michel ................... Wolfram Föppl<br />

Anne Dindon ................. Beatrice Reece<br />

In weiteren Rollen:<br />

Arne David, Arthur Büscher,<br />

Angela H. Fischer, Andreas Goebel,<br />

Sylvia Heckendorn, Sara Hidalgo,<br />

Fausto Israel, Silvia Maria Jung,<br />

Jan Henning Kraus, Denis Lakey,<br />

Laurent N’Diaye, Matthias Schuppli,<br />

Tom Zahner<br />

Statisterie der Bühnen Bern<br />

Unter der Regie von Axel Ranisch feierte das Musical<br />

»La Cage aux Folles« (Musik und Gesangstexte von<br />

Jerry Herman, Buch von Harvey Fierstein), ein popkultureller<br />

Meilenstein der queeren Bewegung, am 9. März<br />

20<strong>24</strong> am Stadttheater Bern Premiere. Der Handlungsort<br />

ist ein stillgelegtes Gefängnis in Frankreich, in dem<br />

Homosexuelle inhaftiert waren, als Homosexualität unter<br />

Strafe stand. Nun nutzen die ehemaligen Gefangenen,<br />

Aktivistinnen und Aktivisten der Lesben- und Schwulenbewegung,<br />

die sich teilweise im Rentenalter befinden,<br />

die Räume für ihre allabendliche Revue, in der die »Les<br />

Cagelles« die Geschichte ihrer sexuellen und politischen<br />

Befreiung zeigen. Leiter des Clubs ist der charmante Conférencier<br />

Georges (Tobias Bonn), Mann von Albin. Der<br />

exaltierte Albin ist als Travestiekünstlerin Zaza (Christoph<br />

Marti) der Star des Nachtclubs.<br />

In der Berner Inszenierung können die Darstellenden<br />

in den Haupt- und Nebenrollen ihren Figuren die nötige<br />

Tiefe geben. Dadurch erlebt das Publikum vielfältige,<br />

vom Leben gezeichnete Charaktere auf der Bühne. Hinter<br />

den Gittern einer düsteren Gefängniszelle stehen und<br />

sitzen die Gefangenen. Plötzlich belebt sich die Szenerie,<br />

als Georges, verkleidet als Gefängnisdirektor, die »Les<br />

Cagelles« vorstellt: Ordensschwester Angelique (Arthur<br />

Büscher), Chantal, das Singvögelchen aus Avignon (Denis<br />

Lakey), die bittersüße Clo-Clo (Andreas Goebel), Stage<br />

Manager Francis (Tom Zahner), Hanna aus Hamburg<br />

(Angela H. Fischer), Mercedes, der heimliche Star (Matthias<br />

Schuppli), Nicole, »Nikkli« das Pferdemädchen<br />

(Arne David), Phädra, das Mysterium (Sara Hidalgo). Sie<br />

unterhalten allabendlich mit ihrer Revue das Publikum,<br />

leben hinter der Bühne ihr Leben mit allen Höhen und<br />

Tiefen, ebenso wie Georges und Albin. Die Beziehung des<br />

Paares gerät in die Krise, als der gemeinsame Ziehsohn<br />

Jean-Michel (Wolfram Föppl) ausgerechnet Anne (Beatrice<br />

Reece), die Tochter des homophoben, rechten Politikers<br />

Edouard Dindon (Jan Henning Kraus), heiraten will.<br />

Die Drehbühne, die schnelle Szenenwechsel ermöglicht<br />

(Bühne: Falko Herold), zeigt mal das mit modernen<br />

Stilmöbeln eingerichtete Loft von Albin und Georges,<br />

den vom Vollmond beleuchteten Platz einer Stadt oder<br />

die glitzernde Showbühne. Im Orchestergraben begleiten<br />

die Musiker:innen der Big Band des Berner Symphonieorchesters<br />

unter der musikalischen Leitung von Hans Christoph<br />

Bünger mit ins Ohr gehendem Big-Band-Sound die<br />

Cast. Die bunten, mal eleganten, mal schrillen Kostüme<br />

mit viel Pailletten und Latex wurden von Axel Aust entworfen.<br />

Alex Frei erarbeitete die Choreographien. Diese<br />

unterstreichen nicht nur wirkungsvoll die Gesangsszenen<br />

der Revue, sondern erzählen auch von den Demonstrationen<br />

der Aktivistinnen und Aktivisten der Lesben- und<br />

Schwulenbewegung, die, obwohl sie von der Polizei mit<br />

Schlagstöcken zusammengetrieben und verletzt werden,<br />

trotzdem weiter für ihre Rechte kämpfen.<br />

Die verschiedenen Lebensentwürfe der Eltern werden<br />

in Frage gestellt, als Jean-Michel seinen leiblichen<br />

Vater Georges bittet, für den angekündigten Besuch der<br />

zukünftigen Schwiegereltern nur für einen Abend eine<br />

bürgerliche Existenz vorzugaukeln, Albin auszuladen und<br />

stattdessen seine Mutter, die sich nie um ihn gekümmert<br />

hat, einzuladen. Diese Bitte bringt Georges in einen tiefen<br />

Konflikt, da er einerseits seinen Mann Albin verleugnen<br />

soll, andererseits seinem Sohn helfen möchte. Glaubhaft<br />

zeigen Tobias Bonn und Christoph Marti die Verletzlichkeit<br />

sowie innere Stärke der Figuren Georges und<br />

Albin, die besonders in der Christoph Martis emotionaler<br />

Interpretation des Songs ›Ich bin, was ich bin‹ Ausdruck<br />

findet. Außerdem klären Jean-Michel und Anne mit ihren<br />

Eltern verdrängte Konflikte, da Jean-Michel aufgrund<br />

der unkonventionellen Lebensweise seiner Eltern in der<br />

Schule gemobbt wurde, Anne die ultrakonservativen<br />

Werte ihres Vaters Edouard Dindon ablehnt, sich dagegen<br />

in ihrer Schwiegerfamilie geliebt und toleriert fühlt.<br />

Die unterhaltsame, humorvolle, tiefgehende Inszenierung<br />

von Axel Ranisch sowie die großartigen schauspielerischen<br />

und gesanglichen Leistungen der Darsteller:innen<br />

begeistern das Premierenpublikum. Zugleich ist die<br />

Inszenierung ein Plädoyer für mehr Toleranz in der<br />

Gesellschaft und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe.<br />

Martina Friedrich<br />

66<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Filme & Serien<br />

Die Emanzipation der Frau mit Herz und Schmerz<br />

»Die Farbe Lila« im Kino<br />

Das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete, gleichnamige<br />

Buch von Alice Walker aus dem Jahr 1982<br />

verfilmte Steven Spielberg 1985 mit Whoopi Goldberg<br />

in der Rolle der Afroamerikanerin Celie, die von<br />

ihrem Stiefvater als Ehefrau an einen Farmer verkauft<br />

wird, von dem sie Unterdrückung, Misshandlung und<br />

Demütigung erfährt. »Die Farbe Lila« wurde zu einem<br />

Grundpfeiler der Kultur, insbesondere der Schwarzen.<br />

Brenda Russell, Allee Willis und Stephen Bray adaptierten<br />

den Roman sowie dessen Filmversion 2005 für<br />

die Bühne. Das für elf Tony Awards nominierte Bühnenstück<br />

lief u. a. mehrere Jahre am Broadway.<br />

Seit dem 8. Februar ist die von Oprah Winfrey,<br />

Steven Spielberg, Scott Sanders und Quincy Jones produzierte<br />

Neuinterpretation der klassischen Geschichte<br />

von Liebe und Widerstandskraft im Kino zu erleben.<br />

Im Jahr 1909 herrscht an der Georgia Coast friedliche<br />

Landidylle. Das Leben ist hart für die Bewohner<br />

der Kleinstadt, doch sind sie mit dem zufrieden, was<br />

sie haben. Auch die Schwestern Celie (Phylicia Pearl<br />

Mpasi) und Nettie (Halle Bailey) leben ein einfaches<br />

Leben unter der strengen Hand ihres Vaters Alfonso<br />

(Deon Cole), der nach dem Tod seiner Frau alleine für<br />

die Töchter verantwortlich ist. Trotz der Umstände<br />

bewahren sie sich ihre Lebensfreude: ›Huckleberry<br />

Pie‹. Die Jahre vergehen und Nettie träumt davon,<br />

Lehrerin zu werden. Celie hingegen, die zum zweiten<br />

Mal schwanger ist, darf als alleinstehende Frau in der<br />

Obhut ihres Vaters keine Ansprüche stellen. Während<br />

des Gottesdienstes soll sie Buße tun wie alle anderen:<br />

›Mysterious Ways‹. Doch insgeheim freut sie sich auf<br />

ihr Kind. Als ihr Sohn, den sie Adam tauft, wenig<br />

später geboren wird, hofft sie, ihn behalten zu dürfen.<br />

Doch ihr Vater bringt den Bastard zu Gott, wie bereits<br />

ihre Tochter, die sie auf die gleiche Weise verlor. Sie<br />

trauert ihren Kindern nach, besitzt jedoch das Gottvertrauen,<br />

eines Tages wieder mit ihnen vereint zu<br />

sein, während sie im Laden ihres Vaters schuftet. Ihre<br />

Hoffnung scheint sich zu bestätigen, als sie ein kleines<br />

Mädchen im Laden als ihres wiedererkennt: ›She Be<br />

Mine‹.<br />

Derweil wird Nettie auf ihrem Heimweg von der<br />

Schule von einem Mann begleitet, der ihr seine Aufwartung<br />

macht. Nettie wehrt die Werbung des um<br />

Jahre älteren Mannes, der von allen Mister genannt<br />

wird, ab. Doch Mister (Colman Domingo) hält dennoch<br />

bei Netties Vater um deren Hand an. Der Witwer<br />

sucht eine Frau, die seine Kinder aufzieht und den<br />

Haushalt führt, während er die Farm bewirtschaftet.<br />

Alfonso verweigert ihm Netties Hand, bietet ihm<br />

jedoch Celie an, die in seinen Augen zu hässlich ist,<br />

um sie gewinnbringend verheiraten zu können. Celie<br />

muss sich ihrem Schicksal fügen. Als Misters neue Frau<br />

muss sie das heruntergekommene Haus in Schuss halten,<br />

die drei Kinder aufziehen und den Beischlaf über<br />

sich ergehen lassen. Sie bemüht sich, Misters Anforderungen<br />

gerecht zu werden, trotzdem straft er sie täglich<br />

mit Schlägen und Tritten. Als Nettie eines Tages vor<br />

ihrer Tür steht und um Unterschlupf bittet, weil sie<br />

ihrem zornigen Vater alleine nicht mehr gewachsen ist,<br />

gewährt Mister ihr diesen. Glücklich sind die Schwestern<br />

wieder vereint: ›Keep It Movin‹. Sie teilen sich die<br />

Hausarbeit und verbringen ihre wenige Freizeit zusammen.<br />

Mister findet noch immer Gefallen an Nettie und<br />

versucht eines Nachts, ihre Dankbarkeit für die Unterkunft<br />

einzufordern. Als sie sich gegen seine Annäherung<br />

zur Wehr setzt, schmeißt er sie im strömenden<br />

Regen vor die Tür. Die Schwestern schwören sich,<br />

immer in Kontakt zu bleiben, bis Mister Celie wieder<br />

ins Haus ruft und seinen Frust an ihr auslässt: ›Lily of<br />

the Field.‹ Die Jahre vergehen und Celie (nun Fantasia<br />

Barrino) hofft auf ein Lebenszeichen ihrer Schwester,<br />

nicht ahnend, dass ihr Mann deren Briefe abfängt und<br />

vor ihr versteckt.<br />

Abb. oben:<br />

Celie (Fantasia Barrino)<br />

umschwärmt die erfolgreiche Shug<br />

Avery (Taraji P. Henson):<br />

›Dear God – Shug‹<br />

Foto: Warner Bros. Entertainment Inc.<br />

Die Farbe Lila<br />

The Color Purple<br />

Warner Bros.<br />

USA 2<strong>02</strong>3<br />

Release: 8. Februar 20<strong>24</strong><br />

FSK 12<br />

Länge: 141 min<br />

Regie .......................... Blitz Bazawule<br />

Drehbuch .................. Marcus Gardley<br />

Idee ................................ Alice Walker<br />

Stage Play ................. Marsha Norman<br />

Kamera .......................... Dan Laustsen<br />

Filmschnitt .............................. Jon Poll<br />

Score & Songs.............. Brenda Russell,<br />

Allee Willis, Stephen Bray<br />

Musik ............................... Kris Bowers<br />

Musik Supervision ....... Jordan Carroll,<br />

Morgan Rhodes<br />

Choreographie .......... Fatima Robinson<br />

Produktionsdesign ...............................<br />

............................. Paul D. Austerberry<br />

Kostüme ...............................................<br />

................. Francine Jamison-Tanchuck<br />

Produktion ............... Steven Spielberg,<br />

Oprah Winfrey, Scott Sanders<br />

Junge Celie ......... Phylicia Pearl Mpasi<br />

Celie .......................... Fantasia Barrino<br />

Junge Nettie ..................... Halle Bailey<br />

Nettie ......................................... Ciara<br />

Shug Avery ............... Taraji P. Henson<br />

Sofia .......................... Danielle Brooks<br />

Mister ..................... Colman Domingo<br />

Harpo ......................... Corey Hawkins<br />

Alfonso .............................. Deon Cole<br />

und weitere<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

67


Filme & Serien<br />

Abb. unten von links oben:<br />

1. Mister (Colman Domingo) hat das<br />

Sagen auf der Farm<br />

2. Celie (Phylicia Pearl Mpasi) und<br />

Nettie (Halle Bailey) sind wieder<br />

glücklich vereint<br />

3. Celie (Fantasia Barrino, Mitte) ist<br />

endlich angekommen in IHREM Leben;<br />

Shug Avery (Taraji P. Henson, r.) und<br />

Sofia (Danielle Brooks, l.) unterstützen<br />

sie in ihrem Geschäft: ›Miss<br />

Celie’s Pants‹<br />

4. Celie (Fantasia Barrino, l.) und Shug<br />

Avery (Taraji P. Henson , r.) werden<br />

enge Freundinnen: ›What About Love?‹<br />

Fotos (4): Warner Bros. Entertainment Inc.<br />

Die Kinder sind erwachsen geworden. Sohn Harpo<br />

(Corey Hawkins) hat sich in die resolute Sofia (Danielle<br />

Brooks) verliebt, die sich selbstbewusst Mister und<br />

Celie als ihre zukünftige Schwiegertochter vorstellt.<br />

Mister ist gegen die Beziehung mit der bereits Schwangeren.<br />

Er versucht Harpo zur Besinnung zu bringen.<br />

Doch Harpo will seinen eigenen Weg gehen und baut<br />

für sich und seine Liebste ein Haus: ›Workin‹. Sofia<br />

übernimmt das Ruder in der Ehe und gibt den Ton an,<br />

was Celie imponiert. Nachdem Sofia ihr Kind zur Welt<br />

gebracht hat, gibt sie dieses in Harpos Obhut, weil sie<br />

sich nicht als Mutter ans Haus binden will. Harpo<br />

hofft, dass er nach der Heirat das Sagen hat, doch<br />

Sofia stellt klar, dass sie sich ihr ganzes Leben gegen<br />

die Männer ihrer Familie zur Wehr setzen musste und<br />

selbst über ihr Dasein bestimmt: ›Hell No!‹<br />

Celie bewundert Sofias Mut, den sie selbst nicht<br />

aufbringen kann, um den Missbrauch durch ihren<br />

Mann zu beenden. Sie selbst gibt Harpo den Rat,<br />

Sofia zu schlagen, um sich Gehör zu verschaffen, als<br />

dieser von seinem Vater für seine widerspenstige Frau<br />

verhöhnt wird. Doch ist es Sofia, die die Rollen tauscht<br />

und Harpo gegenüber handgreiflich wird.<br />

Als die erfolgreiche Sängerin Shug Avery (Taraji<br />

P. Henson) 1922 einen Besuch in ihrer Heimatstadt<br />

ankündigt, herrscht große Aufregung: ›Shug Avery‹.<br />

Die Männer umschwärmen sie, während die Frauen<br />

sie als Vorbild verehren. Besonders Mister, der sie einst<br />

heiraten wollte, bevor sie die Stadt für ihre Karriere<br />

verließ, ist voller Vorfreude. Als sie eintrifft, trägt er<br />

sie auf Händen und lädt sie in sein Haus ein. Celie<br />

fügt sich den Wünschen ihres Mannes und umsorgt<br />

die Sängerin, die ihrer Alkoholsucht zu erliegen droht.<br />

Auch Celie fühlt sich in der Nähe von Shug betört<br />

(›Dear God – Shug‹). Während die Diva wieder zu<br />

Kräften kommt, erkennt sie, wie sehr Celie unter Mister<br />

zu leiden hat, und nimmt sich ihrer an.<br />

Derweil gehen Harpo und Sofia getrennte Wege.<br />

Während er mit seiner neuen Freundin einen Jazzclub<br />

eröffnet, hat Sofia einen neuen Mann an ihrer Seite.<br />

Die Eröffnung des Clubs ist dank Shugs Auftritt ein<br />

großer Erfolg: ›Push Da Button‹. Doch der Abend<br />

endet in einem Eifersuchtsdrama, als sich Harpo und<br />

Sofia auf der Tanzfläche wieder annähern.<br />

Shugs Rückkehr nach Memphis steht bevor und sie<br />

bietet Celie an, mit ihr zu gehen. Doch Celie hadert<br />

und bleibt aus Pflichtgefühl zurück. Als sie durch<br />

Zufall zusammen mit Shug die unterschlagenen Briefe<br />

ihrer Schwester entdeckt, erfährt sie endlich, dass ihre<br />

Schwester mit einem Pfarrerspaar auf Mission gegangen<br />

ist und sich um ganz besondere Kinder kümmern<br />

darf.<br />

Shug kehrt mit ihrem Ehemann in die Heimat<br />

zurück, was Mister schockiert. Als er sein wahres<br />

Gesicht zeigt und die Hand gegen Celie erhebt,<br />

setzt sich Shug für sie ein. Sie nimmt Celie mit nach<br />

Memphis, wo sie ein neues Leben beginnt. Erst der<br />

Tod ihres Vaters holt sie als gestärkte Frau zurück in<br />

die Heimatstadt. Sie erfährt das Geheimnis um ihre<br />

Familie und übernimmt als rechtmäßige Erbin den<br />

68<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Filme & Serien<br />

Laden. Zusammen mit Sofia und Shug gründet sie ein<br />

florierendes Geschäft: ›Miss Celie’s Pants‹. Das Glück<br />

ist fast perfekt (›I’m Here‹), nur ihre Schwester Nettie<br />

fehlt an ihrer Seite.<br />

Mister, der in der Einsamkeit Schicksalsschläge<br />

verkraften musste, ist zur Besinnung gekommen. Als<br />

er 1947 die Chance bekommt, einen Teil von dem, was<br />

er verschuldet hat, wieder gutzumachen, verkauft er<br />

sein Land und nutzt das Geld, um Nettie (jetzt Ciara)<br />

wieder in die Heimat zu holen. Endlich vereint, ist<br />

das Glück perfekt: ›Maybe God Is Tryin’ to Tell You<br />

Somethin‹/ ›The Color Purple‹.<br />

Blitz Bazawule, der als Co-Regisseur bei Beyoncés<br />

Musikfilm »Black Is King« mitwirkte, führt nach<br />

einem Drehbuch von Marcus Gardley (»The Maid«)<br />

Regie. Gardleys Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen<br />

Roman von Alice Walker sowie dem Musical<br />

und dem Buch des Broadwaystücks aus der Feder von<br />

Marsha Norman, mit Musik und Texten von Brenda<br />

Russell, Allee Willis und Stephan Bray. Produktionsdesigner<br />

Paul Denham Austerberry (»The Shape of Water« /<br />

»Das Flüstern des Wassers«) fängt das Mississippi im<br />

Zeitraum von 1909 bis 1947 authentisch ein. Auch<br />

die Kostüme von Francine Jamison-Tanchuck (»One<br />

Night in Miami«) wirken wie aus einem Guss und sind<br />

dem Lauf der Zeit angepasst. Von schlichten Arbeitskleidern<br />

auf der Farm bis hin zu Spitzenkleidern für<br />

den Gottesdienst und Celies modernen Hosenschnitten<br />

spiegeln sie die Emanzipation der Frau wider, stets<br />

auch untermalt von der einzigartigen Musik, kompo-<br />

niert von Kris Bowers (»Green Book«), der das Leid<br />

Celies trotz aller Dramatik immer mit einem Hauch<br />

von Hoffnung und Gottvertrauen anklingen lässt. Die<br />

Unterschiede zwischen Mann und Frau werden des<br />

Öfteren durch die Choreographie von Fatima Robinson<br />

(»Dreamgirls«) spürbar.<br />

Getragen wird der Film von Fantasia Barrino, die<br />

in ihrem Kinofilmdebüt ihre Rolle aus dem Broadway-Musical<br />

von 2005 verkörpert. Sie brilliert mit<br />

Stimmkraft und Schauspiel zwischen verängstigter,<br />

unterdrückter Frau sowie erfolgreicher Geschäftsfrau<br />

und liebender Christin, die im Gottvertrauen zu Hoffnung<br />

und Liebe im Stande ist, wobei sie diese selbst<br />

nicht erfahren hat. An ihrer Seite glänzt Danielle<br />

Brooks als emanzipierte Sofia, die für diese Rolle am<br />

Broadway für den Tony nominiert wurde. Mit Taraji<br />

P. Henson als Shug Avery, die zwischen den Welten<br />

der Kleinstadt und des Ruhms wandelt, ist das Trio<br />

komplettiert. Die Frauen bilden eine starke Einheit,<br />

deren Schauspiel harmoniert und deren Stimmen zu<br />

einer zusammenwachsen.<br />

»Die Farbe Lila« geht zu Herzen und berührt von<br />

der ersten bis zur letzten Minute. Der Zuschauer leidet<br />

mit Celie und wächst mit ihr über die Kräfte und den<br />

Glauben hinaus, um am Ende versöhnt zu werden für<br />

all den Schmerz, den sie ertragen musste. Ein wunderschöner,<br />

schauspielerisch meisterhafter und musikalisch<br />

einzigartiger Film, den man nach dem Abspann<br />

sofort noch einmal sehen möchte.<br />

Sandy Kolbuch<br />

Abb. unten von links oben:<br />

1. Celie (Fantasia Barrino, l.)<br />

bewundert Shug Avery (Taraji P.<br />

Henson, r.) für ihren Lebensstil<br />

2. Sofia (Danielle Brooks, Mitte)<br />

bringt den Frauen bei, sich nicht<br />

von den Männern unterdrücken zu<br />

lassen: ›Hell No!‹<br />

3. Mister (Colman Domingo) hofft,<br />

mit seinem Song Eindruck zu<br />

machen: ›Mister/Nettie‹<br />

4. Celie (Phylicia Pearl Mpasi) und<br />

Nettie (Halle Bailey) genießen ein<br />

glückliches Leben: ›Huckleberry Pie‹<br />

Fotos (4): Warner Bros. Entertainment Inc.<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

69


Musicals in den USA<br />

Im Rausch des Showbusiness’<br />

Revival von »Merrily We Roll Along« am Broadway<br />

(v.l.): Gussies Manager (Reg Rogers), Franklins erste Frau (Katie Rose Clarke), Franklin Shepard (Jonathan Groff),<br />

Charley Kringas (Daniel Radcliffe) und Mary Flynn (Lindsay Mendez) feiern ihren ersten Broadway-Hit: ›It’s a Hit‹<br />

Foto: Matthew Murphy<br />

Merrily We Roll Along<br />

Stephen Sondheim / George Furth<br />

Hudson Theatre New York<br />

Broadway-Revival: 9. Oktober 2<strong>02</strong>3<br />

Direction ................... Maria Friedman<br />

Music Direction ................... Joel Fram<br />

Orchestration ............. Jonathan Tunick<br />

Music Supervision ...... Catherine Jayes<br />

Choreography .................. Tim Jackson<br />

Scenic & Costume Design ....................<br />

.................................... Soutra Gilmour<br />

Hair & Wig Design ...... Cookie Jordan<br />

Lighting Design ....................................<br />

.......................... Amith Chandrashaker<br />

Sound Design ................... Kai Harada<br />

Charley Kringas .......... Daniel Radcliffe<br />

Franklin Shepard .......... Jonathan Groff<br />

Mary Flynn ............... Lindsay Mendez<br />

Gussie Carnegie ...... Krystal Joy Brown<br />

Beth Shepard .......... Katie Rose Clarke<br />

Joe Josephson ................... Reg Rogers<br />

Scotty / Mrs Spencer ..... Sherz Aletaha<br />

Mimi from Paramount ....... Maya Boyd<br />

Claudia / Newscaster ...........................<br />

........................ Leana Rae Concepcion<br />

Tyler ................................ Corey Mach<br />

Meg Kincaid .... Talia Simone Robinson<br />

In weiteren Rollen<br />

Morgan Kirner, Ken Krugman,<br />

Amanda Rose, Jamila Sabares-Klemm,<br />

Brian Sears, Evan Alexander Smith,<br />

Christian Strange, Koray Tarhan,<br />

Vishal Vaidya, Natalie Wachen,<br />

Jacob Keith Watson<br />

Vierzig Jahre nach seiner nicht so erfolgreichen<br />

(manche würden sagen desaströsen) Broadway-<br />

Premiere im Jahre 1981 – es schloss nach 44 Previews<br />

und 16 Vorstellungen – hat Stephen Sondheims »Merrily<br />

We Roll Along« mit seinem aktuellen Broadway-<br />

Revival jetzt seinen vollen dramatischen Ausdruck<br />

gefunden und bewegt sich vom reinen Kult-Status<br />

endlich zu seinem angestammten Platz im Kanon der<br />

Werke Sondheims. Der lange Weg der Show zurück<br />

zum Broadway war mit Umwegen verbunden; über<br />

Jahrzehnte wechselten sich verschiedene Konzertversionen,<br />

Off-Broadway- und regionale Produktionen<br />

darin ab, einen erzählerischen Sinn in eine Story zu<br />

bringen, die von hinten nach vorne die Geschichte<br />

von drei Freunden erzählt, die ihren Weg durch ihre<br />

Karrieren und konfliktbeladenen Beziehungen finden<br />

müssen.<br />

Dieses Revival nun hat seine Wurzeln in einer<br />

Produktion, die Maria Friedman 2012 an The Menier<br />

Chocolate Factory in London inszenierte. 2013 folgte<br />

der Transfer ans West End. Die Produktion lief später<br />

auch in Tokio und hatte dann eine begrenzte Spielzeit<br />

am Huntington Theatre in Boston. Schließlich landete<br />

die Show Ende 2<strong>02</strong>2 mit ihrer aktuellen – und<br />

besten – Besetzung in New York an einem der renommiertesten<br />

Off-Broadway-Theater, dem New York<br />

Theatre Workshop.<br />

Basierend auf einem Schauspiel aus dem Jahr 1934<br />

des Autorenteams George K. Kaufman und Moss Hart<br />

eröffnet Buchautor George Furth (der auch Sondheims<br />

»Company« geschrieben hat) »Merrily« anno 1976 mit<br />

einer eleganten Malibu Beach Cocktail Party, ausgerichtet<br />

von dem reichen und berühmten Liedermacher<br />

Franklin Shepherd (ultimativ gespielt von Theater-,<br />

Fernseh- und Filmstar Jonathan Groff), der inzwischen<br />

als Filmproduzent arbeitet. Sein Ego ist außer Kontrolle<br />

geraten, genauso wie die Ehe mit seiner zweiten Frau,<br />

dem früheren Broadway-Musical-Star Gussie Carnegie<br />

(Krystal Joy Brown). Ein Hausgast ist die älteste<br />

Freundin aus Franks frühen New Yorker Tagen, Mary<br />

Flynn (eine hervorragende Lyndsay Mendez), damals<br />

eine angehende Romanautorin, inzwischen Theaterkritikerin.<br />

Ihre vom Alkohol beflügelte heftige Abneigung<br />

gilt der Oberflächlichkeit von Franks Filmprojekten;<br />

seine Fassade bröckelt, als ein Gast erwähnt, dass sein<br />

früherer bester Freund und Arbeitspartner Charley<br />

Kingras (ein intonationssicherer Daniel Radcliffe), mit<br />

dem er sich entzweit hat, gerade einen Pulitzer-Preis<br />

gewonnen hat. Das Buch von Furth erzählt in der<br />

Rückschau von der Auflösung der gemeinsamen Werte<br />

von Frank, Charley und Mary, die sie hatten, als sie<br />

sich 1957 in New York als um Anerkennung ringende<br />

Autoren trafen.<br />

Der Schlüssel zum lange überfälligen Erfolg von<br />

»Merrily« ist zweifacher Art: unfehlbare Besetzung<br />

der Charaktere und präzises Verstehen der Charaktere<br />

auf Seiten der Regie. Beides ist miteinander verbunden.<br />

So wie sich die Geschichte in der Rückschau in<br />

den Händen von Regisseurin Friedman entfaltet, ist<br />

es offensichtlich, dass Frank, Mary und Charley ihre<br />

eigentlichen Persönlichkeiten nicht wirklich verändern.<br />

Stattdessen wird durch äußere Umstände und<br />

persönliche Entscheidungen bestimmt, welcher Teil<br />

ihrer Persönlichkeit sich durchsetzt; dieser Version<br />

gelingt es zum ersten Mal, jede bedeutsame Wendung<br />

in Furths originalem Buch klar herauszuarbeiten.<br />

Im Fall von Frank ist sein Ehrgeiz der dominierende<br />

Charakterzug. Sein Antrieb ist allgegenwärtig, selbst,<br />

als er noch ein naiver junger Mann ist, und die Entscheidungen,<br />

die er trifft – bei seiner Ehe und seiner<br />

70<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in den USA<br />

Scheidung, in seinem Verhältnis (oder Mangel eines<br />

solchen) zu Charley und Mary ‒, führen ihn zu kommerziellem<br />

Erfolg und persönlichem Versagen. Groff,<br />

mit seinem offenherzigen Gesichtsausdruck, verbirgt<br />

geschickt Franks Besessenheit von Erfolg um jeden<br />

Preis.<br />

In ähnlicher Weise macht Charley, charmant<br />

gespielt als zerstreuter Professor von Daniel Radcliffe,<br />

seine Entscheidungen deutlich: Er verlässt die künstlerische<br />

Partnerschaft mit Frank, weil seine Definition<br />

von Erfolg präziser ist. Er wird von tiefen intellektuellen<br />

Überzeugungen angetrieben und verliert zwar<br />

seinen besten Freund, aber er realisiert seinen Traum<br />

von künstlerischer Autorität und Unabhängigkeit.<br />

Was Mary betrifft, so trägt sie ihr ganzes Leben<br />

lang die Last ihrer unerwiderten Gefühle – eigentlich<br />

sogar Liebe – zu Frank. Ihre taffe, sarkastische Attitüde<br />

verbirgt eine verletzliche emotionale Seele. Sie versucht<br />

in dem Verhältnis von Frank und Charley zu vermitteln,<br />

aber am Ende bleibt sie allein zurück.<br />

Die weisen Regieentscheidungen von Regisseurin<br />

Friedman schließen den Verzicht auf den unbeholfenen<br />

Song des Schulklassentreffens ein, der bei der Originalversion<br />

am Anfang und Ende der Show stand (und<br />

der seitdem in den Folgeversionen bereits weggelassen<br />

wurde). Vom Showbusiness inspirierte Bühnenbilder<br />

und der Spielepoche angemessene Kostüme von Soutra<br />

Gilmour funktionieren hervorragend.<br />

Mit den wunderbaren Orchestrierungen des unvergleichlichen<br />

Jonathan Tunick, der schon das Original<br />

orchestrierte, klang Sondheims Partitur niemals besser.<br />

Genauso gut funktionieren die Liedtexte, um die<br />

Charaktere zu entwickeln. Die Ouvertüre, aufgeblasen<br />

und blechlastig, spielt auf den Rausch des Showbusiness’<br />

an, hat aber auch genügend Dissonanzen, um die<br />

dunkle Kehrseite einer Karriere im kreativen Bereich<br />

anzudeuten.<br />

Die flotte, fast fröhliche Nummer ›Old Friends‹ feiert<br />

nicht nur die ursprüngliche Freundschaft des Trios,<br />

sondern dient auch als Erinnerung an vergangene Tage.<br />

Charleys Song ›Franklin Shepard Inc.‹ – eine Tour de<br />

Force für jeden Darsteller – hebt die Differenzen zwischen<br />

Charley und Franklin besser hervor, als es jeder<br />

Dialog könnte. Die wehmütige Ballade ›Growing Up‹,<br />

von Sondheim Jahre später für eine regionale Produktion<br />

der Show hinzugefügt, die von Gussie gesungen<br />

wird (dem Broadway-Sternchen, für das Franklin seine<br />

Ehe verlässt), stellt die Werte, zwischen denen Franklin<br />

sich entscheidet, ironisch auf den Kopf.<br />

Sinnbildlich für das Thema von »Merrily« beginnt<br />

›Good Thing Going‹ als süßes kleines Duett, das<br />

Charleys und Franklins Salattage beschreibt, aber dann<br />

erlaubt Franklin, von Gussie verführt, dass es eine extravagante<br />

Shownummer in ihrem nächsten Broadwaystück<br />

wird. Marys ›Charley‹ ist ihre tief empfundene<br />

Klage um die Vergangenheit. Das schmerzliche<br />

›Not a Day Goes By‹ wird ironischerweise von Franklins<br />

erster Frau gesungen, obwohl es doch eigentlich<br />

Marys Liebeslied ist, für die Franklin als romantischer<br />

Partner immer außerhalb ihrer Reichweite lag.<br />

Das Finale, ›Our Time‹, sticht jedes Mal ins Herz.<br />

Das Trio trifft sich 1957 zum ersten Mal auf dem Dach<br />

ihrer Wohnung in Brooklyn. Mit großen erstaunten<br />

Augen sehen sie den Sputnik-Satelliten am Nachthimmel.<br />

Überzeugt, dass die Zukunft ihnen gehören wird,<br />

verkünden sie: »Wir sind die, die etwas bewegen und<br />

etwas formen. Wir sind die, deren Namen morgen in<br />

der Zeitung stehen werden. Es ist an uns, es ihnen zu<br />

zeigen.« Ihre Fröhlichkeit wird von den tatsächlichen<br />

Entscheidungen, die sie in der Zukunft treffen werden,<br />

nur zu bald widerlegt.<br />

Dan Dwyer<br />

Dt. v. Merit Murray<br />

Abb. unten von links oben:<br />

1. (v.l.): Mary Flynn (Lindsay Mendez),<br />

Franklin Shepard (Jonathan<br />

Groff) und Charley Kringas (Daniel<br />

Radcliffe) im Finale (zu der Zeit, als<br />

sie sich kennenlernten): ›Our Time‹<br />

2. (v.l.): Charley (Daniel Radcliffe)<br />

und Franklin (Jonathan Groff)<br />

geraten in einem Live-Fernsehinterview<br />

aneinander, wo Charley<br />

ihn als »Firma Franklin Shepard«<br />

abkanzelt, rechts Moderatorin KT<br />

(Natalie Wachen)<br />

3. (v.l.): Gussies Manager (Reg<br />

Rogers, 2.v.r.) und Gussie (Krystal<br />

Joy Brown, r.) überzeugen das<br />

Liedermacher-Team Charley<br />

(Daniel Radcliffe, l.) und Franklin<br />

(Jonathan Groff, 2.v.l.), ihre Musik<br />

zu kommerzialisieren<br />

4. Gussie Carnegie (Krystal<br />

Joy Brown, l.) verführt Franklin<br />

(Jonathan Groff, r.) dazu, seinem<br />

geschäftlichen Ehrgeiz zu folgen<br />

Fotos (4): Matthew Murphy<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

71


Musicals in Großbritannien<br />

Hollywoodmärchen neu aufgelegt<br />

»Pretty Woman: The Musical« (Tour) am Wimbledon Theatre<br />

Abb. oben:<br />

Happy End von Vivian (Amber Davies,<br />

Mitte l.) und Edward (Oliver Savile,<br />

Mitte r. mit Ensemble)<br />

Foto: Marc Brenner<br />

Pretty Woman:<br />

The Musical (UK-Tour)<br />

Bryan Adams / Jim Vallance /<br />

Garry Marshall / J.F. Lawton<br />

New Wimbledon Theatre London<br />

Premiere: 12. Februar 20<strong>24</strong><br />

Regie & Choreographie....Jerry Mitchell<br />

Musikalische Leitung,<br />

Arrangement &<br />

Orchestration ............... Will Van Dyke<br />

Bühnenbild.................. David Rockwell<br />

Kostüme .............................Tom Rogers<br />

Lichtdesign..................Kenneth Posner /<br />

Philip S. Rosenberg<br />

Sounddesign .....................John Shivers<br />

Vivian Ward ..................... Amber Davies<br />

Edward Lewis ..................... Oliver Savile<br />

Happy Man / Mr Thompson .... Ore Oduba<br />

Kit De Luca ........................ Natalie Paris<br />

Philip Stuckey ........................ Ben Darcy<br />

David Morse .................... Chomba Taulo<br />

Alfredo................... Josh Damer-Jennings<br />

Giulio .............................. Noah Harrison<br />

In weiteren Rollen:<br />

Becky Anderson, Rebekah Bryant,<br />

Andrew Davison, Lila Falce-Bass,<br />

Sydnie Hocknell, Elly Jay,<br />

Rachael Kendall Brown,<br />

Michael Kholwadia, Joshua Lear<br />

(Dance Captain), Stuart Maciver,<br />

Victoria Rachael McCabe,<br />

Eleanor Morrison-Halliday, LJ Neilson,<br />

Annell Odartey, Curtis Patrick,<br />

Elliot David Parkes, Toby Shellard<br />

Der Film »Pretty Woman« war 1990 ein Überraschungserfolg<br />

und die Schauspieler Julia Roberts<br />

und Richard Gere haben sich mit ihren Figuren in die<br />

Herzen der Zuschauer gespielt. Entsprechend sind die<br />

Erwartungen groß, dem auf der Musicalbühne gerecht<br />

zu werden. Was kann die Musik zusätzlich liefern? Was<br />

muss für die Bühne angepasst werden? Was liefert die<br />

Bühnenfassung Neues zu der Geschichte: Prostituierte<br />

trifft reichen Geschäftsmann, sie verlieben sich und es<br />

gibt ein Happy End.<br />

Der auf der Bühne entstehende Hollywood Boulevard<br />

wird zum Pflaster der Träume. Vergessene, in<br />

einer Ecke des Herzens längst verkümmerte Träume<br />

holt der Happy Man (Ore Oduba) mit dem rockigpoppigen<br />

›Welcome to Hollywood‹ wieder hervor.<br />

Gerade in dem von Kleinkriminalität durchzogenen<br />

Abschnitt des Hollywood Boulevards sind Träume ein<br />

Lebenselixier. So versammeln sich alle in dem Feel-<br />

Good-Musical auf der Straße, um in Jerry Mitchells<br />

energiegeladener Choreographie das Leben von seiner<br />

lebenswerten Seite zu zeigen.<br />

Die Musik von Bryan Adams und seinem langjährigen<br />

Arbeitspartner Jim Vallance gibt die Richtung<br />

vor: Rock und Pop dominieren, die Geschichte<br />

spielt immerhin 1990. Musikalisch kristallisiert sich<br />

schnell heraus, dass Vivians (Amber Davies) Träume<br />

daraus bestehen, aus ihrer Lage herauszukommen:<br />

Prostituierte zu sein entspricht ihr nicht. Sie ist auf der<br />

Suche nach einem Platz im Leben, der zu ihr passt. Ihr<br />

melancholisches ›Anywhere But Here‹ bringt dies zum<br />

Ausdruck. Ihre weiteren Songs sind Variationen dieses<br />

Themas, was die musikalische Behandlung ihrer Figur<br />

eher einseitig macht. Auch die Texte sind nicht sonderlich<br />

inspiriert: »I look around and what I see is that I<br />

don’t belong here. This isn’t me.«<br />

Dem Mieten-Eintreiber gerade mal entkommen<br />

stiefelt Vivian nun den Hollywood Boulevard entlang,<br />

wo der Geschäftsmann Edward (Oliver Savile) auf dem<br />

Weg zum noblen Regent Beverly Wilshire Hotel orientierungslos<br />

Halt macht, zumal er auch mit dem flotten<br />

Wagen seines Anwalts völlig überfordert ist. Vivian,<br />

geschäftstüchtig, schafft in beiden Angelegenheiten<br />

Abhilfe. Fasziniert von ihrem natürlichen, selbstbewussten<br />

und unprätentiösen Wesen entscheidet er sich<br />

spontan, sie für die Nacht zu »mieten«. Seine Ballade<br />

›Something About Her‹ gibt, verpackt in einfallslosen<br />

Worten, das wieder, was der Zuschauer längst weiß: Er<br />

ist von ihr angetan. Edwards musikalische Perspektive<br />

beschränkt sich primär darauf, dass er sich in sie<br />

verliebt. Das wird in ›You’re Beautiful‹ abermals aufgegriffen,<br />

was wenig überzeugt. Rückblick auf den Film:<br />

Waren dort Edwards Faszination mit Vivian und sein<br />

Handeln glaubwürdig? Der Film ist für Unausgesprochenes<br />

das dankbarere Medium. Es sind seine Blicke,<br />

die verraten, dass er neugierig auf sie ist – zumal er eh<br />

kein Mann vieler Worte ist. Außerdem: Vivian für eine<br />

ganze Woche zu engagieren, ist auch geschäftlich motiviert.<br />

Er hat in der Stadt etwas abzuwickeln und eine<br />

schöne Frau an seiner Seite könnte ihm dabei helfen.<br />

Etwas Abwechslung in den Klangfarben bietet<br />

›On a Night Like Tonight‹. Mit seinen lateinamerikanischen<br />

Rhythmen und seiner romantischen Stimmung<br />

rutscht man allerdings im Geiste durch den<br />

Musicaltunnel in ein anderes Stück, nämlich zu ›On<br />

This Night of a Thousand Stars‹ aus »Evita«. Dennoch<br />

gehört diese Nummer zu den Highlights der Show, da<br />

verschiedene Aspekte geschickt zusammenkommen.<br />

Vivian steht der erste Abend in feiner Gesellschaft<br />

bevor, an dem sie sich an Edwards Seite bewähren<br />

muss. Tanzen wird erwartet. Anders als im Film, wo sie<br />

sich durch allerlei Besteck für die verschiedenen Gänge<br />

navigieren muss, geht es hier darum, auf dem Parkett<br />

Haltung zu zeigen, das ist schließlich viel bühnenwirksamer.<br />

Das Besondere ist, dass Oduba, der zuvor den<br />

72<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Musicals in Großbritannien<br />

Happy Man verkörperte, nun auch den Hotelmanager<br />

Mr Thompson spielt und »zufällig« ein begnadeter<br />

Tänzer ist. Die Figur ist sehr viel besser herausgearbeitet<br />

als im Film und gibt Oduba die Chance, nicht nur<br />

mit seinem schauspielerischen Können zu brillieren,<br />

sondern auch mit seinem tänzerischen. Fans der Samstagabend-TV-Talent-Show<br />

»Strictly Come Dancing«<br />

kennen ihn bereits, da er dort als Gewinner hervorging.<br />

Seine Talente werden hier also bestens eingesetzt.<br />

Sein Spaß an der Sache verbreitet sich im ganzen Theater.<br />

Man sieht, wie sein Herz aufgeht, als er Vivian die<br />

korrekten Schritte zeigt. Zu Hilfe kommt ihm dabei<br />

der Hotelpage (Noah Harrison). So tanzen sie zeitweilig<br />

zu dritt, was eine liebenswerte Referenz an »Dirty<br />

Dancing« ist. Mitchells Choreographie anzuschauen ist<br />

eine Freude. Dem romantisch-musikalischen Ausflug<br />

nach Lateinamerika folgt ein Ausflug in die Swing-Ära.<br />

In dem Club, in dem Edward seinen Geschäftspartner<br />

trifft, fordert die Sängerin mitreißend zu ›Don’t Forget<br />

to Dance‹ auf. Bevor es auf die Tanzfläche geht,<br />

wird Edwards Geschäft eingeführt: der Kauf bzw. die<br />

Auflösung einer Werft. Das klingt langweilig und distanziert,<br />

so war es im Film. Doch die Autoren Garry<br />

Marshall, der damals beim Film Regie führte, und J.F.<br />

Lawton, der das Drehbuch dazu schrieb, bringen mit<br />

einem kleinen Zusatz Leben in die Angelegenheit: Es<br />

geht um eine Werft, die Kreuzfahrtschiffe herstellt, so<br />

wie das »Love Boat«, kommentiert Vivian. Das Schiff<br />

war in den 1970er-Jahren Spielort einer beliebten amerikanischen<br />

TV-Serie. Dies ist ein cleveres Detail, da<br />

es wieder um Träume und Liebe geht. Aus praktischer<br />

Sicht illustriert die Szene auch, wie leicht Vivian gute<br />

Beziehungen knüpfen kann und damit Wärme in<br />

heikle Geschäftssituationen bringt. Unter Mitchells<br />

Leitung – er führt auch Regie – bietet das Musical<br />

viele kleine inszenatorische, vor allem humorvolle<br />

Details, die die Produktion bereichern. Dazu gehört<br />

der Hotelpage, der am Morgen schnell reagieren muss,<br />

als Edwards Anwalt (Ben Darcy) in Edwards Suite hineinspaziert<br />

und unversehens sämtliche Spuren beseitigt<br />

werden müssen, die auf Vivian hinweisen. Hier sind<br />

die Beziehungen zwischen den Figuren, wie Vivian und<br />

Mr Thompson, der im Film eher kühl daherkommt,<br />

feiner ausgearbeitet. Die Neuinterpretation der Nebenfiguren<br />

kommt der Geschichte zugute. Vivians Freundin<br />

Kit (Natalie Paris), die sich ebenfalls auf der Straße<br />

verdingt, hat nun Ambitionen, eine Karriere bei der<br />

Polizei zu machen. Edwards Anwalt Philip ist jünger<br />

als im Film und damit ein ganz anderer unangenehmer<br />

Typ. Die Besetzung bricht auch Klischees auf: Nicht<br />

alle sind weiß. So ist es erfrischend, Chomba Taulo als<br />

Werft-Besitzer David Morse zu sehen, den Edward am<br />

Ende unterstützt.<br />

Zwar dreht sich die Story um Amber Davies als<br />

Vivian und Oliver Savile als Edward, aber zwischen<br />

ihnen fehlt die Spannung. Ihre zudem platten Songs<br />

und deren bekannte Geschichte lassen einen eher<br />

unberührt. Viel spannender ist Ore Oduba, der mit<br />

seinem Charme und verschiedenen Rollen immer wieder<br />

überrascht. Er bildet quasi die dritte Hauptfigur<br />

und macht den Reiz der Show aus. Eingebettet ist diese<br />

in die farbenfrohe und stilvolle Ausstattung von David<br />

Rockwell (Bühnenbild) und Tom Rogers (Kostüme)<br />

nach dem originalen Broadway-Design von Gregg<br />

Barnes.<br />

Insgesamt bietet die Show einen unterhaltsamen<br />

Musicalabend. Wer sich jedoch nach einer Romanze<br />

sehnt, sollte auf den Film zurückgreifen.<br />

Sabine Schereck<br />

Abb. oben:<br />

Der liebenswerte Page Giulio (Noah<br />

Harrison) im Beverly Wilshire Hotel<br />

Abb. unten von links:<br />

1. Vivian (Amber Davies) am<br />

Hollywood Boulevard auf der Suche<br />

nach Freiern<br />

2. Happy Man (Ore Oduba, mit<br />

Ensemble) sorgt am Hollywood<br />

Boulevard für gute Laune<br />

3. Mr Thompson (Ore Oduba mit<br />

Ensemble) in der Nummer ›On a<br />

Night Like Tonight‹<br />

Fotos (4): Marc Brenner<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

73


anno... 1974<br />

Was war anno… 1974<br />

Wir schauen zurück in die Musicalgeschichte<br />

»Mack & Mabel« im Majestic Theatre, 1974<br />

Foto: Glasshouse Images / Alamy Stock Photo<br />

Erstaunlich wenig große Musicals hat das Jahr 1974<br />

herausgebracht, nichtsdestotrotz hat sich der Blick in<br />

das Archiv einmal mehr gelohnt. Daher Ihnen viel<br />

Spaß mit dem Jahr 1974.<br />

Let My People Come<br />

8. Januar, The Village Gate Off-Broadway<br />

Ein Musical der besonderen Art wurde 1974 am<br />

Off-Broadway uraufgeführt, ging den Umweg<br />

über London, um schließlich 1976 an den Broadway<br />

zu kommen – dort durfte es allerdings nie<br />

offiziell öffnen, sämtliche 108 Vorstellungen<br />

wurden als Previews gespielt. Das Musical von<br />

Earl Wilson, Jr und Phil Oesterman bekam eine<br />

Nominierung bei den Grammy Awards für<br />

»Bestes Cast Album«. Das Stück enthält u. a.<br />

Songs mit den klangvollen Namen: ›Come in<br />

My Mouth‹, ›Fellatio 101‹ und ›The Cunnilingus<br />

Champion of Company C‹. Wilson hat sich von<br />

der Broadway-Show distanziert, nachdem sie ihm<br />

als zu vulgär erschien. An anderen Orten lief sie<br />

sehr erfolgreich, am längsten am Grendel´s Lair<br />

Cabaret Theatre in Philadelphia mit über zehn<br />

Jahren Spielzeit.<br />

Over Here!<br />

6. März, Shubert Theatre Broadway<br />

Das finanziell erfolgreichste Musical des Jahres<br />

1974 stammt von Richard M. und Robert B. Sherman,<br />

das Buch wurde von Will Holt geschrieben.<br />

Die Fortsetzung des Weltkriegsmusicals »Victory<br />

Canteen« wurde in Summe 354 Mal am Broadway<br />

aufgeführt und brachte viele spätere Stars<br />

hervor: u. a. The Andrews Sisters, John Travolta,<br />

Treat Williams, Samuel E. Wright und Ann<br />

Reinking. Dass die Produktion so abrupt endete,<br />

lag mitnichten an der Auslastung, vielmehr kam<br />

es zu Streitereien zwischen den Andrews Sisters<br />

und den Produzenten, die sich gegenseitig Geldgier<br />

vorwarfen. Trotz des großen Erfolges im<br />

Jahr 1974, den vier Tony Award-Nominierungen<br />

sowie einem gewonnen Tony Award konnte das<br />

Stück später keine erfolgreichen Spielzeiten mehr<br />

verzeichnen, erst 2<strong>02</strong>0 wurde eine Off-Broadway-<br />

Produktion mit vier Nominierungen bei den<br />

Broadway World Awards bedacht.<br />

Billy<br />

1. Mai, Theatre Royal Drury Lane<br />

Ein großer Erfolg für Michael Crawford war<br />

das Musical »Billy« von Dick Clement, Ian La<br />

Frenais, John Barry und Don Black. Das Stück<br />

spielte am Theatre Royal Drury Lane 904 Vorstellungen.<br />

Zur Cast gehörten auch Bryan Pringle,<br />

Billy Boyle und Elaine Paige.<br />

The Magic Show<br />

28. Mai, Cort Theatre New York<br />

Eins der ersten Musicals von Komponist Stephen<br />

Schwartz (Buch Bob Randall) kam 1974<br />

an den Broadway und es war sicherlich eins der<br />

ungewöhnlichsten, denn der Star der Show, Zauberer<br />

Doug Henning, konnte weder tanzen noch<br />

singen. Bereits im Vorjahr gab es das Stück in<br />

Toronto, allerdings mit einem völlig anderen Kreativteam.<br />

Produzent Ivan Reitman ließ für New<br />

York alles neu schreiben und erhielt als Dank für<br />

den mutigen Schritt die Belohnung in Form von<br />

zwei Tony-Award-Nominierungen sowie 1.920<br />

gespielten Vorstellungen.<br />

Mack & Mabel<br />

6. Oktober 1974, Majestic Theatre Broadway<br />

Bis zu seinem Lebensende galt »Mack & Mabel« als<br />

eines der Lieblingsstücke von Jerry Herman – und<br />

dies, obwohl er ganz sicherlich auch eine seiner größten<br />

Enttäuschungen damit verbinden musste: Nach<br />

der Uraufführung am 6. Oktober 1974 im Majestic<br />

Theatre am Broadway wurde das Stück nach gerade<br />

einmal 66 Vorstellungen (und 6 Previews) bereits<br />

wieder abgesetzt. Dennoch erhielt es acht Tony-<br />

Award-Nominierungen; während allerdings Autor<br />

Michael Stewart nominiert wurde, erhielt Herman<br />

selbst keine Nominierung. Am Broadway spielte<br />

die junge Bernadette Peters an der Seite von Robert<br />

Preston die Hauptrolle. Nach einer deutlichen<br />

Buchüberarbeitung, inklusive der Veränderung des<br />

Endes, konnte das Stück in England Fuß fassen, am<br />

West End lief es 1995 270 Mal.<br />

Das Jahr der Beatles<br />

Sowohl am Off-Broadway als auch in Liverpool<br />

gab es je ein Musical über The Beatles. Am Off-<br />

Broadway spielte »Sgt. Pepper´s Lonely Hearts<br />

Club Band on the Road« für 66 Vorstellungen ‒<br />

das Stück von Robin Wagner und Tom O‘Horgan<br />

hatte insbesondere den Segen von John Lennon, der<br />

mehrfach bei den Proben dabei war. Einige Jahre<br />

später war es Basis für die Entwicklung des Films<br />

»Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band«, in dem<br />

u. a. Peter Frampton, The Bee Gees, Steve Martin,<br />

Aerosmith, Alice Cooper und Earth, Wind & Fire<br />

sowie Billy Preston mitspielten.<br />

In Liverpool kam hingegen »John, Paul, George,<br />

Ringo … and Bert« zur Uraufführung. Es lief acht<br />

Wochen lang im Everyman Theatre, bevor es dann<br />

74<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


anno... 1974<br />

im Sommer nach London ins Lyric Theatre wechselte,<br />

dort über ein Jahr lief und sogar als »Bestes<br />

Musical« von 1974 ausgezeichnet wurde. Anders als<br />

Besuchern und Kritikern gefiel George Harrison das<br />

Stück hingegen gar nicht, er verließ die Londoner<br />

Premiere und entzog dem Stück sogar die Rechte<br />

an dem Song ›Here Comes the Sun‹, so dass dieser<br />

mit ›Good Day Sunshine‹ ersetzt werden musste.<br />

Auch Paul McCartney mochte das Stück nicht und<br />

verhinderte eine Verfilmung.<br />

Dear Worthy Editor<br />

New Rochelle, New York<br />

»Dear Worthy Editor« gilt mit als Alan Menkens<br />

erstes Stück und half ihm, sich das Studium am<br />

College in New York zu finanzieren. Das Buch,<br />

basierend auf einer jüdischen Kolumne einer<br />

Tageszeitung, wurde von Menkens Mutter Judy<br />

geschrieben.<br />

Spannende Ur- und Erstaufführungen im<br />

deutschsprachigen Raum:<br />

De schönste Mann von de Reeperbahn<br />

6. Januar, Ohnsorg-Theater Hamburg<br />

Charly Niessen (Musik)<br />

Heinz Wunderlich und Walter Rothenburg (Text)<br />

Eine umjubelte Uraufführung auf Plattdeutsch bot<br />

das Ohnsorg-Theater in Hamburg: Die damaligen<br />

Stars Jürgen Pooch, Edgar Bessen, Heidi Kabel und<br />

Heidi Mahler spielten und sangen sich in der Boulevardkomödie<br />

in die Herzen der Zuschauer.<br />

Fanny Hill<br />

25. Januar, Raimund Theater Wien<br />

Paul Kuhn (Musik)<br />

Günther Schwenn (Text)<br />

Pippin<br />

10. Februar, Theater an der Wien, Wien<br />

Stephen Schwartz (Musik und Texte)<br />

Roger O. Hirson (Buch)<br />

Das Stück von Stephen Schwartz und Roger O. Hirson<br />

erlebte in der deutschen Übersetzung von Robert<br />

Gilbert am 10. Februar 1974 in Wien die deutschsprachige<br />

Erstaufführung. Erst über 20 Jahre später<br />

fand das Stück, dank des Theaters Pforzheim, auch<br />

den Weg auf die deutschen Bühnen.<br />

Man liest kein fremdes Tagebuch<br />

19. April, Metropol-Theater Berlin<br />

Conny Odd (Musik)<br />

Maurycy Janowski (Text)<br />

Rendezvous in Theben<br />

21. April, Schleswig-Holsteinisches<br />

Landestheater Schleswig<br />

Immo Kroneberg (Musik & Liedtexte)<br />

Friedrich Bremer & Nanna Reiter (Buch)<br />

Candid<br />

<strong>02</strong>. Juni, Volkstheater Rostock<br />

Hermann Thieme (Musik)<br />

Marcel Valmy (Texte)<br />

Während Leonard Bernsteins »Candide« bereits<br />

Erfolge feierte, wurde in der DDR »Candid« mit<br />

Musik von Hermann Thieme am 2. Juni 1974 am<br />

Theater Rostock uraufgeführt. So wie das amerikanische<br />

Vorbild auch hielt sich das Stück mit den<br />

Texten von Marcel Valmy sehr eng an die Vorlage<br />

Voltaires.<br />

Die Prinzessin auf der Erbse<br />

13. Juni, Theater Greiz<br />

Joachim-Dietrich Link (Musik)<br />

Friedrich Schmidt-Behrens (Texte)<br />

Terzett<br />

15. Juni, Musikalische Komödie Leipzig<br />

Gerd Natschinski (Musik)<br />

Jürgen Degenhardt (Liedtexte)<br />

Helmut Bez und Jürgen Degenhardt (Buch)<br />

Poker mit Dame<br />

8. September, Kleine Komödie im<br />

Bayerischen Hof, München<br />

Charly Niessen (Musik & Liedtexte)<br />

Andreas Rosgony (Buch)<br />

Auf glattem Parkett<br />

27. September, Theater Plauen<br />

Manfred Nitschke (Musik)<br />

Heinz Hall (Text)<br />

Vor der Tür ein Auto<br />

3. Oktober, Elbe-Elster-Theater Wittenberg<br />

Klaus Hofmann (Musik)<br />

Günther Liebenberg (Text)<br />

Seidenstrümpfe<br />

5. Oktober, Landestheater, Linz<br />

Cole Porter (Musik & Liedtexte)<br />

George S. Kaufmann, Laureen MacGrath, Abe<br />

Burrows (Buch)<br />

Das Landestheater Linz machte bereits 1974 auf sich<br />

aufmerksam, indem es die deutschsprachige Erstaufführung<br />

des Broadwayerfolges »Silk Stockings«<br />

auf die Bühne brachte. Das Stück wurde von Wilfried<br />

Steiner übersetzt und dann, ein Jahr später, am<br />

Staatstheater Kassel auch erstmalig in Deutschland<br />

gespielt.<br />

Letzter Ausweg Heirat<br />

9. Oktober, Staatsoperette Dresden<br />

Hans Kunze (Musik)<br />

Ursula Damm-Wendler & Horst Ulrich Wendler<br />

(Buch)<br />

Moral<br />

26. Oktober, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen<br />

Franz Grothe (Musik)<br />

Günther Schwenn (Buch & Liedtexte)<br />

Ludwig Thomas Roman »Moral« wurde von Günther<br />

Schwenn und Franz Grothe zu einem Musical<br />

umgearbeitet und dieses durchaus erfolgreich. Nach<br />

der Uraufführung am 26. Oktober 1974 wurde es<br />

auch in der Schweiz in St. Gallen sowie in der DDR<br />

gespielt.<br />

Fiktiver Report über ein amerikanisches<br />

Pop-Festival<br />

6. Oktober, Friedrichstadt-Palast Berlin<br />

Gábor Presser (Musik)<br />

Anna Adamis (Liedtexte)<br />

Sándor Pós (Buch)<br />

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki<br />

Nachdichtung der Liedtexte von Wolfgang Tilgner<br />

Gigi<br />

<strong>24</strong>. Oktober, Theater an der Wien, Wien<br />

Frederick Loewe (Musik)<br />

Alan Jay Lerner (Buch & Liedtexte)<br />

Das Stück von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner<br />

feierte in der Übersetzung von Robert Gilbert 1974<br />

am Theater an der Wien seine deutschsprachige<br />

Erstaufführung. Auf der Bühne standen damals<br />

große Stars, allen voran Johannes Heesters und<br />

Christiane Rücker, die beide auch knapp zwei Jahre<br />

später am Theater des Westens in Berlin die deutsche<br />

Erstaufführung spielten.<br />

Karneval in San Catarina<br />

10. Dezember, Stadttheater Freiberg<br />

Alexej Fried (Musik)<br />

Tibor Sedin (Buch & Liedtexte)<br />

Frau Warrens Gewerbe<br />

23. Dezember, Theater am Dom, Köln<br />

Charles Kálmán (Musik & Liedtexte)<br />

Peter Goldbaum (Buch)<br />

nach dem Schauspiel »Mrs Warren’s Profession«<br />

von George Bernard Shaw<br />

Sabine Haydn<br />

Quellen: musicallexikon.eu / wikipedia.com / broadway.<br />

com / playbill.com<br />

Johannes Heesters spielte 1974 in der<br />

deutschsprachigen Erstaufführung von<br />

»Gigi« am Theater an der Wien<br />

Foto: United Archives GmbH / Alamy Stock Photo<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 75


Abgeschminkt<br />

Ich finde, es ist eine moralische Verpflichtung<br />

Peter Scholz über seine vielfältigen Charity-Aktionen<br />

der Show zu halten, ging es richtig los. Seit<br />

Corona übernimmt das Vorderhaus das<br />

Halten der Spendenboxen. Die Einnahmen<br />

pro Show sind aber gleichgeblieben.<br />

Tolle Sache. Pro Show über 1.000 Euro. Da<br />

kommt ganz schön was zusammen.<br />

<strong>blimu</strong>: Ein besonderes Highlight war auch<br />

›Der fünfte Stern‹-WM-Song, der Musicalfans<br />

mit der Fußballwelt verbunden hat und<br />

unglaublich viel Aufmerksamkeit bekommen<br />

hat. Wie kam es damals dazu und wie<br />

haben Sie die Zeit rundherum empfunden?<br />

PSCH: Das war ein Spaßprojekt, das leider<br />

wegen des sehr frühen Ausscheidens der<br />

deutschen Nationalmannschaft nicht wirklich<br />

eine lange Wirkungsdauer hatte. Aber<br />

immerhin durfte ich einen Playbackauftritt<br />

vor dem Brandenburger Tor hinlegen. Ein<br />

schöner Spaß zwischendurch.<br />

<strong>blimu</strong>: Woher nehmen Sie die Kraft und Energie<br />

für Ihren wirklich intensiven Arbeitsalltag<br />

und diese Projekte?<br />

PSCH: Manchmal fehlt die Kraft, aber die<br />

Projekte zwingen einen ja weiterzumachen.<br />

Wir haben ja Verantwortung für unsere<br />

Künstler. Wenn ich dann die strahlenden<br />

Gesichter im Foyer sehe, weiß ich immer,<br />

wofür wir das machen. Es bedeutet den Menschen<br />

sehr viel. Interessanterweise werde ich<br />

auch zunehmend im Foyer angesprochen und<br />

kann damit direkt erspüren, was unsere Arbeit<br />

in den Leuten auslöst. Eine tolle Energie.<br />

<strong>blimu</strong>: Was führt Sie zu der Entscheidung,<br />

ein Charity-Projekt zu unterstützen?<br />

Foto: Christian Tech<br />

blickpunkt musical: Lieber Herr Scholz, Sie<br />

sind ein sehr umtriebiger Mensch, neben<br />

dem Musicalsommer Fulda und all den<br />

organisatorischen Aufgaben dafür stehen<br />

Sie selbst regelmäßig als Musiker auf der<br />

Bühne, sind Familienvater und vor allem<br />

seit vielen Jahren häufig Organisator von<br />

verschiedenen Charity-Aktionen. Können<br />

Sie uns kurz einen Überblick geben, was es<br />

da in den letzten Jahren alles gab?<br />

Peter Scholz: Angefangen haben wir im<br />

Jahr 2007. Da spielten wir »Elisabeth – Die<br />

Legende einer Heiligen« in Eisenach und<br />

irgendwie dachte ich, wir stellen jetzt mal<br />

eine Spendenbox ins Foyer und machen<br />

nach der Show einen Spendenaufruf für<br />

die José-Carreras-Leukämie-Stiftung... Das<br />

hatte noch nicht so toll funktioniert, erst<br />

als sich dann Darsteller selber bereit erklärt<br />

hatten, im Kostüm die Spendenboxen nach<br />

PSCH: Es ist eigentlich eine moralische<br />

Verpflichtung, wie ich finde. Wer ins Theater<br />

gehen kann, ist außerordentlich privilegiert.<br />

Es gibt so viele Menschen, die das<br />

nicht können. Entweder weil sie krank, alt,<br />

alleinerziehend, kinderreich oder schlicht zu<br />

arm sind. Wer sonst sollte was für die Menschen<br />

abgeben, die nicht dabei sein können?<br />

Da die Künstler nach jeder Show in Fulda<br />

eine Durchsage machen und der Darsteller<br />

sich das auch alles merken muss, können wir<br />

nicht jeden Tag für etwas anderes sammeln.<br />

Wir machen das meistens wochenweise und<br />

ich entscheide dann vor der Spielzeit, wer<br />

dabei sein kann. Das ist am Ende eine subjektive<br />

Entscheidung. Meistens kenne ich<br />

die Leute von den Organisationen persönlich,<br />

das schafft natürlich Vertrauen. Bei der<br />

76<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Abgeschminkt<br />

José-Carreras-Gala sind wir zum Beispiel<br />

der größte Spender überhaupt. Das macht<br />

uns auch ein bisschen stolz. Unsere 100.000<br />

Euro-Spende an die Deutsche Palliativstiftung<br />

in Jahr 2011 hat deren Arbeit erst<br />

richtig angeschoben. Heute ist das Thema<br />

etabliert.<br />

<strong>blimu</strong>: In den vielen Jahren – was war der /<br />

waren die berührendste(n) Moment(e) für<br />

Sie im Rahmen dieser Charity-Aktionen?<br />

PSCH: Ich war sehr oft bei der Carreras-<br />

Gala als Gast. Dort die Geschichten<br />

der Betroffenen live zu erleben hat mich<br />

mehrfach zum Weinen gebracht. Es ist ein<br />

unfassbares Leid und es ist so entscheidend,<br />

dass über Stiftungen geholfen wird,<br />

da unser Gesundheitssystem, aus welchen<br />

Gründen auch immer, nicht immer alles<br />

tun kann, was getan werden könnte.<br />

<strong>blimu</strong>: Sind bereits in näherer oder weiterer<br />

Zukunft Projekte / Konzerte oder ähnliches<br />

geplant, die man sich im Terminkalender<br />

notieren sollte?<br />

PSCH: Nun ja, in Fulda sammeln wir ja in<br />

jeder Show fleißig weiter. Mein Ziel im Jahr<br />

2007 war, eine Million Euro einzusammeln.<br />

Jetzt knacken wir bald die 2 Millionen und<br />

es gibt eigentlich kein Ziel mehr, außer weiter<br />

zu sammeln. Mal sehen, wieviel es am<br />

Ende wird. Wenn wir richtig Glück haben,<br />

vielleicht 5 Millionen? Wer weiß!<br />

<strong>blimu</strong>: Wenn unsere Leser Sie jetzt unterstützen<br />

möchten, wie können sie dies am<br />

besten tun?<br />

PSCH: Das Beste ist, ins Schlosstheater zu<br />

kommen und danach etwas zu spenden.<br />

In Fulda sind die Tickets ja deutlich<br />

günstiger als anderswo und da sollte doch<br />

der eine oder andere Euro zum Spenden<br />

übrigbleiben.<br />

Das Interview führte Sabine Haydn<br />

Wie alles begann: Im Premierenjahr von<br />

»Elisabeth – Legende einer Heiligen« 2007 in<br />

Eisenach rief erstmals Jesse Garon (Walther<br />

von der Vogelweide) das Publikum nach<br />

der Show zu Spenden für die José-Carreras-<br />

Leukämie-Stiftung auf<br />

Foto: Merit Murray<br />

Fotos (6): spotlight musicals<br />

Übergabe an die Organisation von<br />

»Tour der Hoffnung« 2<strong>02</strong>3<br />

Scheckübergabe an das Hospiz des<br />

Malteser Hilfsdienstes 2<strong>02</strong>3<br />

Scheckübergabe an José Carreras<br />

für seine Stiftung 2009<br />

Übergabe an die Organisation von<br />

»Tour der Hoffnung« 2017<br />

Scheckübergabe mit Chris de<br />

Burgh (2.v.r.) für »Schule machen<br />

ohne Gewalt« 2<strong>02</strong>2<br />

Scheckübergabe an José Carreras<br />

für seine Stiftung 2016<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong> 77


Mit Unterstützung von sound of music<br />

Einspielungen<br />

Einspielungen<br />

zusammengestellt von Mario Stork<br />

Die Cast von »Harmony« v.l.n.r.: Blake Roman, Steven Telsey, Zal Owen, Danny Kornfeld, Eric Peters und Sean Bell<br />

Foto: Julieta Cervantes<br />

Harmony<br />

Original Broadway Cast 2<strong>02</strong>3<br />

Weit mehr als ein Vierteljahrhundert arbeiteten<br />

Barry Manilow (Musik) und Bruce Sussman<br />

(Buch und Songtexte) an ihrem (nach<br />

»Copacabana«) zweiten Musical. Seit der ersten<br />

Aufführung in San Diego 1997 erlebte die<br />

Show diverse Inkarnationen, bis sie 2<strong>02</strong>2 endlich<br />

New York erreichte. Die von Presse und<br />

Publikum gefeierte Inszenierung im Museum<br />

of Jewish Heritage wurde im Oktober 2<strong>02</strong>3<br />

an den Broadway transferiert, musste dort<br />

aber bereits Anfang Februar wieder schließen.<br />

Bedauerlich, denn kaum ein aktuelles Musical<br />

scheint so in diese Zeit zu passen…<br />

»Harmony« erzählt die wahre Geschichte<br />

der »Comedian Harmonists«. Im ersten<br />

Akt erleben wir die Gesangsgruppe auf dem<br />

Höhepunkt ihrer internationalen Karriere,<br />

beginnend mit ihrem USA-Debüt in der<br />

Carnegie Hall. Im zweiten Akt zerstören<br />

die Repressionen der nationalsozialistischen<br />

Regierung zunehmend das, was die sechs<br />

Musiker erreicht und aufgebaut haben, bis<br />

das Ensemble schließlich per Dekret von oben<br />

aufgelöst wird und den jüdischen Mitgliedern<br />

nur noch die Flucht bleibt…<br />

Im Gegensatz zu diversen auch hierzulande<br />

gespielten Theaterstücken, die dieselben<br />

historischen Fakten mit Originalliedern der<br />

»Comedian Harmonists« garnieren, schrieben<br />

Sussman und Manilow eine komplett<br />

eigenständige Partitur. Erwartungsgemäß<br />

gibt es natürlich ein paar wenige Nummern,<br />

die die Gruppe bei Auftritten zeigen und sich<br />

stilistisch an den Stil des Ensembles samt<br />

Close-Harmony-Gesang anlehnen wie z.B.<br />

›Harmony‹. Diese wirken aber eher wie ein<br />

weichgespülter Abglanz der Originale, ohne<br />

deren oft widerborstigen Charme zu erreichen.<br />

Zu großer Form laufen die Songwriter<br />

hingegen in den abseits der Konzertbühne<br />

spielenden Nummern auf. Barry Manilow<br />

demonstriert hier seine gesamte Bandbreite<br />

als Komponist. Zwar klingen gelegentlich<br />

die Soft-Pop-Sounds und Latin-Rhythmen<br />

durch, die man mit ihm assoziiert (›We’re<br />

Goin’ Loco!‹). Die wahre Stärke dieses Scores<br />

liegt aber in den Charaktersongs und handlungsgetriebenen<br />

Stücken, bei denen der<br />

Komponist immer wieder das »Golden Age«<br />

des Broadway-Musicals heraufbeschwört,<br />

jüdische Folklore, Märsche und Walzer<br />

ebenso einbindet wie Klassik-Zitate und sich<br />

auch nicht scheut, mit düster dräuenden Klängen<br />

die zunehmend dramatischer werdende<br />

Story zu illustrieren. Zu den vielen Highlights<br />

zählen Songs wie ›This Is Our Time‹,<br />

›The Wedding‹, ›Home/Threnody (Part 1)‹,<br />

›In This World‹ oder ›Stars in the Night‹.<br />

Als Bonustrack gibt es übrigens auch noch<br />

ein von Barry Manilow selbst eingesungenes<br />

Demo zum hübschen, aus der Show gestrichenen<br />

Song ›Where Does the Time Go?‹. Mit<br />

exzellent ausgeführtem Satzgesang und eindringlichen<br />

Charakterisierungen bestechen<br />

die Darsteller der »Comedian Harmonists«,<br />

allen voran Broadway-Legende Chip Zien, der<br />

als »Rabbi« Josef Roman Cycowski in Rückblenden<br />

durch die Handlung führt und mit<br />

›Threnody‹ einen der packendsten Songs auf<br />

dem Album gestaltet. Gemeinsam mit Danny<br />

Kornfeld (Young Rabbi), Sean Bell (Robert<br />

Biberti), Zal Owen (Harry Frommermann),<br />

Eric Peters (Erich Collin), Blake Roman<br />

(Erwin »Chopin« Bootz) und Steven Telsey<br />

(Ari Leshnikoff) erzählt er die Geschichte<br />

dieser durch rechtsradikale Ideologie zerstörten<br />

Karrieren und Leben. Sierra Boggess<br />

(Mary) und Julie Benko (Ruth) flankieren sie<br />

in den größeren weiblichen Rollen und teilen<br />

sich das traurige, aber wunderschöne Duett<br />

›Where You Go‹. John O’Neill dirigiert das<br />

33-köpfige (!) Orchester, das in der farbenreichen<br />

Orchestrierung von Doug Walter<br />

besonders durch seine große Streichergruppe<br />

besticht. »Harmony« präsentiert sich so als<br />

»klassisches« Musical mit nostalgischem<br />

Flair und einer zugleich brandaktuellen Botschaft.<br />

Hoffentlich steht ihm trotz des frühen<br />

Broadway-Aus eine Zukunft auf den Bühnen<br />

der Welt bevor – diese Geschichte und diese<br />

Lieder sollten gehört werden.<br />

Fazit: Ein brillantes, bewegendes neues<br />

Musical – unbedingt reinhören!<br />

17 Titel<br />

65 min<br />

Digipack mit 32-seitigem<br />

Booklet mit<br />

Credits, Liner Notes,<br />

Songtexten und Fotos<br />

Sondheim’s Old Friends<br />

Concert Cast 2<strong>02</strong>2<br />

»Side by Side by Sondheim«, »Putting It Together«,<br />

»Sondheim on Sondheim« – die Zahl von<br />

Revuen und Tribute-Programmen zu Stephen<br />

Sondheims Werk war schon zu dessen Lebzeiten<br />

stattlich. Am 3. Mai 2<strong>02</strong>2, rund ein halbes Jahr<br />

nach dem Tod des gefeierten Komponisten und<br />

78<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


Einspielungen<br />

Texters, fand im Londoner Sondheim Theatre<br />

ein Galakonzert mit beeindruckender Starbesetzung<br />

statt. Namhafte Sondheim-Alumni wie<br />

(ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Michael<br />

Ball, Helena Bonham Carter, Judi Dench,<br />

Maria Friedman, Bernadette Peters, Imelda<br />

Staunton u.v.a. gaben sich mit aktuellen (und<br />

jüngeren) West-End-Profis das Mikro in die<br />

Hand, anmoderiert von niemand Geringerem<br />

als Impresario Cameron Mackintosh persönlich.<br />

Das als einmaliges Event geplante Konzert lief<br />

im Herbst 2<strong>02</strong>3 schließlich, mit verschlankter,<br />

aber nach wie vor illustrer Besetzung, 16<br />

Wochen lang im Gielgud Theatre. Der Livemitschnitt<br />

des ursprünglichen Galaabends bildet<br />

also nicht die spätere West-End-Produktion ab.<br />

Und das ist durchaus bedauerlich, denn mehrere<br />

aufgenommene Shows zur Auswahl oder die Sorgfalt<br />

einer Studioproduktion hätten dem Album<br />

gutgetan…<br />

Die Setlist des Konzerts besteht hauptsächlich<br />

aus nach Blöcken geordneten Highlights aus<br />

Sondheims bekanntesten Musicals (»Company«,<br />

»Into the Woods«, »A Little Night Music«,<br />

»Sweeney Todd« und »Follies«), ergänzt durch<br />

Titel aus weniger prominenten Shows, Auszüge<br />

aus Werken, für die Sondheim lediglich die Liedtexte<br />

schrieb (»West Side Story« und »Gypsy«)<br />

sowie die eine oder andere Rarität (›Live Alone<br />

and Like It‹ aus dem Film »Dick Tracy« etwa).<br />

Viele der Nummern sind, auch wenn sie nicht<br />

aus ein und demselben Musical stammen,<br />

nahtlos miteinander verbunden, wobei die<br />

Übergänge schon mal recht abrupt und holprig<br />

geraten (Arrangements: Stephen Metcalfe).<br />

Andererseits ist mit einer Tracklist in der Hand<br />

der Überraschungseffekt zugegebenermaßen<br />

nicht mehr so groß, als wenn man das Konzert<br />

live im Theater erlebt hätte, so dass man über<br />

diesen Kritikpunkt noch hinwegsehen kann.<br />

Gravierender ist, dass die Doppel-CD zwar mit<br />

einem ansprechenden Booklet daherkommt,<br />

aber nirgendwo die zahlreichen Interpret:innen<br />

den Songs zugeordnet werden. Hier helfen die<br />

Streamingdienste mit Informationen ab, aber<br />

der Sinn einer physischen Veröffentlichung<br />

kann es doch gerade nicht sein, am Ende doch<br />

auf Spotify & Co zurückgreifen zu müssen.<br />

Möchte man es boshaft formulieren, hätte<br />

man im Nachhinein allerdings auch so manche<br />

Besetzung nicht genau erkannt. Es war sicher<br />

für das Publikum im Saal (dessen frenetischer<br />

Applaus mehr als einmal den Hörfluss stört)<br />

ein Erlebnis, all diese Stars zusammen auf einer<br />

Bühne zu erleben. Doch nicht jede verdiente<br />

und einst gefeierte Stimme ist gut gealtert.<br />

Regelrecht erschreckend ist leider ausgerechnet<br />

der Auftritt von Bernadette Peters – ihre Darbietung<br />

des Rotkäppchens (!) aus »Into the Woods«<br />

sowie ihres früher so unvergleichlichen ›Children<br />

Will Listen‹ möchte man am liebsten gleich<br />

wieder vergessen, so sehr haben die gesangliche<br />

Leistung und die Artikulation gelitten. Viel<br />

besser gelingt Peters zum Glück ihr ›Losing<br />

My Mind‹ – da weiß man wieder, warum<br />

diese Künstlerin zu den größten Sondheim-<br />

Interpretinnen gezählt wird. Auch Michael Ball<br />

klingt bei seiner Darbietung des (hier in einer<br />

erweiterten Fassung gespielten) ›Loving You‹ aus<br />

»Passion« angestrengt und bemüht, so dass aus<br />

Foscas fragilem und gerade deshalb so tief bewegendem<br />

Liebeslied eine (pardon) geknödelte Arie<br />

wird. Besser macht Ball seine Sache im »Sweeney<br />

Todd«-Block; besonders im Zusammenspiel mit<br />

Maria Friedman (deren mittlerweile dunkleres,<br />

raueres Timbre gut zu Mrs Lovett passt) gelingen<br />

ihm gute Momente. Auf der Habenseite<br />

stehen u. a. ein tolles ›Send in the Clowns‹ von<br />

Judi Dench (deren brüchiger Gesang in diesem<br />

Fall die Interpretation noch tiefgründiger wirken<br />

lässt), ein charmantes ›I’m Still Here‹ von<br />

Petula Clark, Imelda Stauntons immer noch fulminantes<br />

›Everything’s Coming up Roses‹ oder<br />

grandiose Ensemblenummern wie ›Sunday‹ und<br />

›Being Alive‹. Auch das 25-köpfige Orchester<br />

unter Leitung von Alfonso Casado Trigo sorgt<br />

für einen akustischen Genuss. So halten sich<br />

Licht und Schatten auf dieser Doppel-CD die<br />

Waage. Eingefleischte Sondheim-Fans dürften<br />

wenig finden, das den Kauf zwingend erforderlich<br />

macht, für Einsteiger gibt es Sampler oder<br />

Aufnahmen ähnlicher Revuen mit teilweise besseren<br />

Interpretationen. Am besten nimmt man<br />

das Album als das, was es ist: Das Dokument<br />

eines hochemotionalen, im Theater sicherlich<br />

mitreißenden Abends, der Leben und Werk<br />

eines der wichtigsten Musicalkomponisten überhaupt<br />

feiert und würdigt.<br />

Fazit: Best of Sondheim mit vielen Stars, aber<br />

nicht durchgehend geglückten Darbietungen.<br />

41 Titel<br />

CD 1: 68 min<br />

CD 2: 62 min<br />

Doppel-Jewel-Case mit<br />

16-seitigem Booklet<br />

mit Credits, Liner<br />

Notes und Fotos<br />

Wonka<br />

Original Motion Picture Soundtrack 2<strong>02</strong>3<br />

Mit seinem kurz vor Weihnachten 2<strong>02</strong>3 angelaufenen<br />

Film präsentierte Regisseur und<br />

(gemeinsam mit Simon Farnaby) Co-Autor Paul<br />

King ein Prequel zu Roald Dahls mehrfach verfilmtem<br />

und für die Musicalbühne adaptierten<br />

Klassiker »Charlie und die Schokoladenfabrik«.<br />

Wir erfahren diesmal mehr über die Vorgeschichte<br />

Willy Wonkas, wie er, nach Jahren auf<br />

Weltreise, zum Hersteller besonderer Schokoladen<br />

avanciert und letztlich zu seiner Fabrik<br />

kommt, die dann den Schauplatz für Dahls<br />

Story bildet. Wie die bisherigen Adaptionen des<br />

Stoffes ist auch »Wonka« als Musical angelegt.<br />

Die Songs steuerte Neil Hannon bei, wobei die<br />

Hits ›Pure Imagination‹ und ›Oompa Loompa‹<br />

von Leslie Bricusse und Anthony Newley aus<br />

der 1971er Verfilmung natürlich nicht fehlen<br />

dürfen. Doch auch Hannons neue Lieder entwickeln<br />

einen ganz eigenen Charme und schaffen<br />

mit ihrer Mischung aus Showtunes, Vaudeville<br />

und Chanson, gewürzt hier und da mit einer<br />

Prise Jazz oder Latin, eine gleichermaßen nostalgische<br />

wie zeitlose Atmosphäre. Dabei erweisen<br />

sich vor allem Nummern wie ›A Hatful of<br />

Dreams‹, ›You’ve Never Had Chocolate Like<br />

This‹, ›For a Moment‹ oder ›A World of Your<br />

Own‹ als unterhaltsam und eingängig, setzen<br />

sich jedoch erst nach mehrfachem Hören im<br />

Ohr fest. Hauptdarsteller Timothée Chalamet,<br />

der die meisten Lieder interpretiert, beweist<br />

dabei ein natürliches Gesangstalent. Und sogar<br />

Hugh Grant, der einen Oompa-Loompa spielt,<br />

darf singen und schlägt sich wacker. Gelungen<br />

sind auch die Score-Kompositionen von Joby<br />

Talbot, die eine märchenhafte, oft auch leicht<br />

melancholische Stimmung evozieren und das<br />

musikalische Erlebnis schön abrunden. Ob<br />

»Wonka« und seine Songs einen ähnlichen<br />

Klassiker-Status erreichen werden wie der Original-Film<br />

mit den Bricusse/Newley-Hits, darf<br />

bezweifelt werden; gute Unterhaltung bietet der<br />

Soundtrack allemal.<br />

Fazit: Gelungene Filmmusik mit unterhaltsamen<br />

Songs als Ergänzung zum Original und<br />

zur Musicalversion.<br />

<strong>24</strong> Titel<br />

56 min<br />

Jewel-Case mit<br />

12-seitigem Booklet<br />

mit Credits und Fotos<br />

Waitress<br />

Blu-ray/DVD 2<strong>02</strong>3<br />

Als »Waitress« 2016 den Broadway erreichte,<br />

machte es Schlagzeilen als eine der ersten<br />

großen Produktionen, deren wichtigste<br />

Positionen im Kreativteam von Frauen<br />

besetzt waren. Neben Komponistin und<br />

Songtexterin Sara Bareilles und Buchautorin<br />

Jessie Nelson halfen u. a. Diane Paulus<br />

(Regie), Lorin Latarro (Choreographie)<br />

und Nadia DiGiallonardo (musikalische<br />

Leitung) dabei, die auf Adrienne Shellys<br />

gleichnamigem Film von 2007 basierende<br />

Geschichte der Kellnerin und leidenschaftlichen<br />

Bäckerin Jenna auf die Bühne zu bringen.<br />

Bei so viel Frauenpower kein Wunder,<br />

dass die Damen in dieser Show die stärksten<br />

Charaktere sind: Jenna ist unglücklich in<br />

ihrem Job bei Joe’s Diner und in ihrer Ehe<br />

mit Earl. Sie träumt davon, sich aus dieser<br />

toxischen Beziehung zu befreien und sich<br />

mit ihren allseits beliebten und gepriesenen<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

79


Mit Unterstützung von sound of music<br />

Einspielungen<br />

Kuchen selbstständig zu machen. Immer an<br />

ihrer Seite sind ihre Kolleginnen und besten<br />

Freundinnen Becky und Dawn. Als Jenna<br />

unverhofft schwanger wird, nimmt ihr<br />

Leben eine andere Richtung: Sie beginnt<br />

eine stürmische Affäre mit ihrem (verheirateten)<br />

Arzt und legt Geld zur Seite, um an<br />

einem Backwettbewerb teilzunehmen, bis<br />

Earl ihr auf die Schliche kommt…<br />

Über weite Strecken und obwohl immer<br />

wieder auch ernste Themen angeschnitten<br />

werden, kommt »Waitress« als Feelgood-<br />

Show mit köstlichem Humor, viel Tempo,<br />

eingängigen Pop-Songs und ein wenig<br />

Herz-Schmerz daher. Erfrischend ist, dass<br />

die Geschichte nicht endet wie die typische<br />

Romantikkomödie: Jenna steht ihre Frau,<br />

beendet das Verhältnis mit Dr. Pomatter,<br />

trennt sich von ihrem Gatten und zieht ihre<br />

Tochter Lulu alleine groß. Zugleich erbt sie<br />

das Diner von dessen Vorbesitzer und kann<br />

so auch ihre beruflichen Ambitionen erfüllen.<br />

Und für all das braucht sie eben nicht<br />

den männlichen Ritter auf dem weißen<br />

Pferd, mit dem sie in den allermeisten anderen<br />

Musicals zum Schluss glücklich liiert<br />

gewesen wäre. Die Show kehrte nach dem<br />

Covid-bedingten Aus der Originalproduktion<br />

als eines der ersten Broadway-Musicals<br />

im Herbst 2<strong>02</strong>1 zurück auf die Bühne und<br />

wurde während seiner limitierten Spielzeit<br />

live im New Yorker Ethel Barrymore Theatre<br />

gefilmt. Regisseur Brett Sullivan setzt<br />

Diane Paulus’ Inszenierung sensibel für den<br />

Bildschirm um, setzt wohldosiert filmische<br />

Tricks wie Zeitlupen ein, ist mit der Kamera<br />

immer nah an den Figuren, behält zugleich<br />

aber auch immer alle wichtigen Ereignisse<br />

auf der Bühne im Blick. Es entstand ein<br />

ausgesprochen gelungener Hybrid zwischen<br />

Film und Theateraufführung, dem man<br />

gern für knapp zweieinhalb Stunden folgt.<br />

Natürlich merkt man Sara Bareilles, die<br />

hier höchstpersönlich die Rolle der Jenna<br />

übernimmt, ihre enge Verbindung zum<br />

Material an. Sie spielt sympathisch und<br />

bringt eine schöne Balance aus Toughness<br />

und Verletzlichkeit ein. Ein wahres Energiebündel<br />

mit umwerfendem Witz ist Charity<br />

Angél Dawson als Becky, während Caitlin<br />

Houlahan ihre Dawn herrlich als nerdiges<br />

Mauerblümchen anlegt. Unter den Nebendarstellerinnen<br />

sticht besonders Anastacia<br />

McCleskey hervor, die aus jedem ihrer<br />

Auftritte als Arzthelferin mit knochentrockenen<br />

Sprüchen ein Glanzstück macht.<br />

Bei den Herren gefällt Drew Gehling als<br />

etwas unbeholfener, sich Hals über Kopf in<br />

Jenna (und ihre Kuchen) verliebender Dr.<br />

Pomatter. Joe Tippett spielt den Earl gerade<br />

unsympathsich genug, dass er glaubhaft<br />

bleibt. Als herrlich schräger Ogie glänzt<br />

Christopher Fitzgerald, Eric Anderson gibt<br />

den Restaurant-Betreiber Cal als harten<br />

Hund mit goldenem Herzen, und Dakin<br />

Matthews als alternder Diner-Inhaber Joe<br />

entpuppt sich hinter der unwirschen Fassade<br />

letztlich als männliche Version der guten<br />

Fee für Jenna. So bietet »Waitress« auf DVD<br />

bzw. Blu-ray beste Musical-Unterhaltung<br />

für zu Hause. Achtung ist allerdings vor<br />

dem Kauf geboten: Entgegen der ursprünglichen<br />

Ankündigung des Labels sind die<br />

Discs nicht code-frei, weshalb ein kompatibler<br />

Player für Regionalcode 1 (DVD)<br />

bzw. Region A (Blu-ray) benötigt wird.<br />

Fazit: Gelungener Mitschnitt eines herzerwärmenden<br />

Musicals fürs Heimkino.<br />

DVD: RC 1; Blu-ray<br />

Disc: Region A<br />

144 min.<br />

Sprache: Englisch<br />

Untertitel: Englisch<br />

Ton: Dolby Digital 5.1<br />

Special Features:<br />

2 Trailer<br />

• Premieren April / Mai<br />

<strong>02</strong>.04.20<strong>24</strong> Tell Me on a Sunday Kleines Theater Bad Godesberg<br />

05.04.20<strong>24</strong> Cats Bürgerhaus Mörfelden-Walldorf<br />

06.04.20<strong>24</strong> Pinkelstadt – ab in die Büsche! TfN – Theater für<br />

Niedersachsen Hildesheim<br />

06.04.20<strong>24</strong> Panikherz Theater am Puls Schwetzingen<br />

06.04.2<strong>02</strong>3 Spring Awakening – Frühlings Erwachen<br />

Theater Trier – Großes Haus<br />

07.04.20<strong>24</strong> Tschitti Tschitti Bäng Bäng Landestheater<br />

Detmold – Großes Haus<br />

12.04.20<strong>24</strong> Baby Talk – Das Kinder-Krieg-Musical Eduard-von-<br />

Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz<br />

12.04.20<strong>24</strong> La Cage aux Folles Theater Nordhausen<br />

12.04.20<strong>24</strong> Cabaret Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin<br />

13.04.20<strong>24</strong> Cabaret Landesbühnen Sachsen Radebeul<br />

13.04.20<strong>24</strong> Peter Pan Staatstheater Kassel – Schauspielhausl<br />

13.04.20<strong>24</strong> Cabaret Schlweswig-Holsteinisches Landestheater<br />

Flensburg<br />

13.04.20<strong>24</strong> Das Licht auf der Piazza Musiktheater Linz – BlackBox<br />

19.04.20<strong>24</strong> Hedwig and the Angry Inch Mittelsächsisches Theater<br />

Freiberg<br />

20.04.20<strong>24</strong> My Fair Lady Theater Hagen – Großes Haus<br />

20.04.20<strong>24</strong> The Rocky Horror Show Landestheater Coburg – Globe<br />

20.04.20<strong>24</strong> The Story of My Love MIR Musiktheater im Revier<br />

Gelsenkirchen<br />

20.04.20<strong>24</strong> Zorro Theater Hof – Großes Haus<br />

25.04.20<strong>24</strong> La Cage aux Folles Stadttheater Klagenfurt<br />

27.04.20<strong>24</strong> Im weißen Rössl Theater Rudolstadt – Meiniger Hof<br />

Saalfeld<br />

01.05.20<strong>24</strong> My Fair Lady Harztheater Halberstadt – Großes Haus<br />

03.05.20<strong>24</strong> Carrie Theater Lüneburg – Junge Bühne T.3<br />

80<br />

07.05.20<strong>24</strong> Ku´damm 59 Theater des Westens Berlin<br />

10.05.20<strong>24</strong> The Rocky Horror Show Mainfranken Theater<br />

Würzburg<br />

12.05.20<strong>24</strong> Little Miss Sunshine Theater Altenburg / Gera Altenburg<br />

15.05.20<strong>24</strong> Ich will keine Schokolade Contra-Kreis-Theater Bonn<br />

21.05.20<strong>24</strong> Pride and Prejudice (*sort of) Vienna´s English Theatre<br />

Wien<br />

25.05.20<strong>24</strong> Strike up the Band oder Der Käsekrieg Musiktheater<br />

Linz<br />

25.05.20<strong>24</strong> Anything Goes Gerhard-Hauptmann-Theater Görlitz<br />

• Kommende Neuererscheinungen<br />

CD EDITH PIAF, JE VOUS AIME – Original London Cast 1977<br />

22. März 20<strong>24</strong><br />

CD ZAUBERFLÖTE – DAS MUSICAL – Original Studio Cast 20<strong>24</strong><br />

28. März 20<strong>24</strong><br />

DVD / Blu-ray THE COLOR PURPLE<br />

8. April 20<strong>24</strong><br />

CD ÄNGLAGÅRD – Original Stockholm Cast 2<strong>02</strong>3<br />

12. April 20<strong>24</strong><br />

CD KU´DAMM 59 – DAS MUSICAL – Original Berlin Cast 20<strong>24</strong><br />

12. April 20<strong>24</strong><br />

CD THE SHINING – Original US Cast 2<strong>02</strong>3<br />

12. April 20<strong>24</strong><br />

CD HERCULES – Das heldenhafte Musical – Original Hamburg Cast 20<strong>24</strong><br />

31. Mai 20<strong>24</strong><br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


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blickpunkt musical erscheint jetzt nicht in der UM Verlag GmbH, sondern<br />

wird von der JS Hauptstädter Wortspiele UG verlegt.<br />

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Per E-Mail an abo@blickpunktmusical.online oder per Post an:<br />

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»A Chorus Line« Tickets<br />

Wir verlosen 3 x 2 Tickets für »A Chorus Line« am 23. Juni 20<strong>24</strong>, 14.30 Uhr<br />

im F1rst Stage Theater in Hamburg.<br />

blickpunkt musical<br />

JS Hauptstädter Wortspiele UG<br />

Graacher Straße 12<br />

12<strong>24</strong>7 Berlin<br />

Telefonische Nachfragen unter +49 (0)176 816 787 68<br />

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Teilnahmeberechtigt sind nur Abonnenten der .<br />

Die Teilnahme kann per E-Mail an abo@blickpunktmusical.online<br />

oder per Brief erfolgen. Bei mehr als 3 Teilnehmern entscheidet das<br />

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Einsendeschluss ist der 29. April 20<strong>24</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

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<strong>Ausgabe</strong> 127 (01/20<strong>24</strong>)<br />

€ 7,50 (DE) • € 8,00 (EU)<br />

ISSN 1619-9421<br />

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Am sichersten ist ein Einwurfeinschreiben. Hier bestätigt<br />

der Briefträger den Einwurf beim Empfänger. Am günstigsten<br />

ist natürlich eine E-Mail. Hier trägt der Absendende die Verantwortung<br />

dafür, dass die E-Mail auch ankommt.<br />

Kasimir & Karoline<br />

Uraufführung an der Staatsoper Hannover<br />

Chicago Berlin<br />

Les Misérables St. Ga len<br />

Cinderella Wuppertal<br />

Sunset Boulevard London<br />

Lasst uns die Welt vergessen Wien<br />

Das Phantom der Oper<br />

Zurück im Wiener Raimund Theater<br />

<strong>Ausgabe</strong> 128 (<strong>02</strong>/20<strong>24</strong>)<br />

€ 7,50 (DE) • € 8,00 (EU)<br />

ISSN 1619-9421<br />

www.blickpunktmusical.online<br />

West Side Story Wien<br />

SIX The Musical Berlin<br />

Die Königinnen Linz<br />

Der Große Gatsby Göttingen<br />

Pretty Woman London<br />

Hanf. Ein berauschender Abend Schwedt<br />

Notre Dame de Paris Paris<br />

ABO-Bestellung über<br />

www.blickpunktmusical.online<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong><br />

81


Ausblick blickpunkt musical <strong>Ausgabe</strong> 129<br />

Das spannende Musical-Frühjahr 20<strong>24</strong> geht weiter – die eine große<br />

Premiere liegt gerade hinter uns, weitere große und mit viel Freude<br />

erwartete Premieren und sogar Uraufführungen lagen leider nach<br />

unserem Redaktionsschluss, aber dafür können wir uns jetzt schon<br />

auch auf die nächste <strong>Ausgabe</strong> freuen!<br />

In Hamburg findet eine mit viel Spannung erwartete Disney-<br />

Uraufführung statt: »Hercules« wird die Neue Flora für sich beanspruchen.<br />

In München / Füssen hat ein deutscher Komponist ein<br />

berühmtes Mozart-Werk als Musical neu geschaffen: Frank Nimsgerns<br />

»Zauberflöte – Das Musical« wird uraufgeführt.<br />

Ebenfalls mit Spannung erwartet wird die Uraufführung von<br />

»Ku´damm 59 – Das Musical«, welches im Theater des Westens in<br />

Berlin hoffentlich an den großen Erfolg des Vorgängers »Ku´damm 56 –<br />

Das Musical« anknüpfen kann.<br />

Auch der Blick nach Österreich wird wieder spannend:<br />

Mit »Ein bisschen trallalala« zeigt die Volksoper Wien wieder eine<br />

Uraufführung, und in Gmunden hebt sich der Vorhang für die<br />

deutschsprachige Erstaufführung von »Dear Evan Hansen«.<br />

Wir haben auch schon spannende Interviewtermine vereinbart,<br />

neben Alan Menken und Thomas Schumacher durften wir auch<br />

Dennis Schulze zu ausführlichen Interviews in Hamburg treffen.<br />

Sie sehen – es bleibt aufregend, faszinierend und wunderschön in<br />

der deutschsprachigen Welt des Musicals!<br />

Impressum<br />

JS Hauptstädter Wortspiele UG<br />

Graacher Straße 12<br />

12<strong>24</strong>7 Berlin<br />

Abonnements<br />

Tel. +49 (0)176 816 787 68<br />

abo@blickpunktmusical.online<br />

Herausgeber und Verlag<br />

JS Hauptstädter Wortspiele UG<br />

info@blickpunktmusical.online<br />

Redaktion<br />

blickpunkt musical<br />

Graacher Straße 12<br />

12<strong>24</strong>7 Berlin<br />

redaktion@blickpunktmusical.online<br />

Chefredaktion<br />

Sabine Haydn<br />

sabine.haydn@blickpunktmusical.online<br />

Bildredaktion<br />

Birgit Bernds<br />

birgit.bernds@blickpunktmusical.online<br />

bildredaktion@blickpunktmusical.online<br />

Mitarbeiterinnen<br />

Birgit Bernds<br />

Dr. Merit Murray<br />

Autorinnen und Autoren dieser <strong>Ausgabe</strong><br />

Dr. Stephan Drewianka<br />

Dan Dwyer<br />

Hartmut Forche<br />

Martina Friedrich<br />

Sabine Haydn<br />

Ingrid Kernbach<br />

Sandy Kolbuch<br />

Yvonne Mresch<br />

Dr. Merit Murray<br />

Ludovico Lucchesi Palli<br />

Mina Piston<br />

Sabine Schereck<br />

Stefan Schön<br />

Mario Stork<br />

Steffen Wagner<br />

Übersetzungen<br />

Dr. Merit Murray<br />

Layout<br />

Jürgen Kretten, Wien<br />

Marketing/Anzeigen<br />

Oliver Wünsch<br />

oliver.wuensch@umverlag.de<br />

Tel. +49 (0)30 50 59 69 59<br />

oder<br />

sabine.haydn@blickpunktmusical.online<br />

Tel. +49 (0)176 816 787 68<br />

Es gilt unsere Anzeigenpreisliste<br />

Nr. 28 vom 1. März 20<strong>24</strong><br />

Abonnements-Bedingungen<br />

Preis der Zeitschrift im freien Verkauf:<br />

€ 7,50; Jahresabo: € 37,90. Abonnements können jederzeit<br />

zum Ablauf des jeweils laufenden Abonnementjahres<br />

gekündigt werden. Wird nicht zwei Monate vor Ablauf gekündigt,<br />

verlängert sich das Abonnement jeweils um ein<br />

weiteres Jahr.<br />

Urheber- und Nutzungsrechte<br />

Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion, Übersetzung in<br />

fremde Sprachen, Mikroverfilmung und elektronische Verarbeitung<br />

sowie jede andere Art der Wiedergabe nur mit<br />

schriftlicher Genehmigung des Verlags. Eine Verwertung<br />

ohne ausdrückliche Genehmigung ist strafbar. Namentlich<br />

gekennzeichnete Artikel stellen nicht in jedem Fall die<br />

Meinung der Redaktion dar. Für unverlangt eingesandte<br />

Manuskripte und Fotos wird keine Haftung übernommen.<br />

82<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/20<strong>24</strong>


News<br />

04/20<strong>24</strong> – 05/20<strong>24</strong><br />

Bühnentalent 20<strong>24</strong> gesucht<br />

In einer bundesweiten Aktion geht das Schülerportal für Berufsorientierung<br />

stuzubi auch in diesem Jahr wieder auf Talentsuche.<br />

Die besten Bewerber:innen gewinnen nicht nur die Teilnahme<br />

an den bundesweit stattfindenden Intensiv-Workshops für Tanz,<br />

Gesang und Schauspiel, sondern erhalten auch die Chance auf<br />

eine Einladung zu der Stipendiumsprüfung der Stage School.<br />

stuzubi.de<br />

A Chorus Line - Das Musical<br />

Auch in diesem Sommer sorgt das First Stage Theater mal wieder für ein außergewöhnliches<br />

Highlight. Mit A Chorus Line hat Stage School Chef Dennis Schulze nicht nur eines der erfolgreichsten<br />

Broadway-Musicals überhaupt an die Elbe geholt, sondern lässt auch gleich<br />

eine neue Fassung des Klassikers auf die Bühne bringen: Die Inszenierung des Pulitzerpreisgekrönten<br />

Musicals im First Stage ist bundesweit die erste Produktion in dieser Spielzeit, für<br />

die eine neue deutsche Übersetzung von Robin Kulisch verwendet wird. Dem nicht genug:<br />

Regisseur und Choreograf Till Nau hat mit offizieller Genehmigung des Verlages eine eigene<br />

und somit einzigartige Choreografie entwickelt. A Chrous Line führt die Zuschauer:innen in<br />

die aufregende Welt einer Audition, bei der die hoffnungsvollen Bewerber:innen bis an ihre<br />

emotionalen Grenzen gehen müssen. Auch nach Jahrzehnten hat das weltbekannte Musical<br />

nichts von seiner mitreißenden Anziehungskraft eingebüßt. In diesem Sinne: Vorhang auf und<br />

Hut ab! firststagehamburg.de<br />

20<strong>24</strong><br />

Mit 9 Terminen in 7 Städten geht die Stage School in<br />

Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Casting Tour.<br />

Nach dem großen Erfolg der letzten Jahre freuen sich Casting-Direktorin<br />

Anja Launhardt und ihr Team mit zahlreichen<br />

Talenten in einem intensiven Einzeltraining zu arbeiten und<br />

die Aufnahmeprüfung für einen Ausbildungsstart ab August<br />

20<strong>24</strong> abzunehmen.<br />

Alle Infos und Anmeldung unter<br />

stageschool.de/ausbildung/casting-tour<br />

Foto: Dennis Mundkowski<br />

Intensiv<br />

Workshop<br />

Die Workshop-Saison 20<strong>24</strong><br />

läuft auf vollen Touren. Mit<br />

den bundesweit stattfindenden<br />

Intensiv-Workshops<br />

kann die Aufnahmeprüfung<br />

für die Profiausbildung ersetzt<br />

werden. Besonders<br />

begabte Teilnehmer:innen<br />

haben die Möglichkeit,<br />

über die Workshops zur<br />

Stipendiumsprüfung an die<br />

Stage School eingeladen<br />

zu werden.<br />

Infos und Anmeldung<br />

unter stageschool.de oder<br />

+49 40 355 407-43/-87<br />

Foto: Dennis Mundkowski<br />

Weiterbildung<br />

Masterclass-Highlights<br />

mit<br />

Christoph<br />

Trauth<br />

Audition Masterclass<br />

Um die begehrte Rolle in einem Musical zu bekommen,<br />

reicht es bei weitem nicht „nur“ künstlerisch zu glänzen. Wie in<br />

jedem Job kann man auch hier schon beim Auswahlverfahren<br />

scheitern. Wie sollte die Vita aufgebaut sein? Was<br />

sind absolute No Go`s bei einer Audtion und wie läuft diese<br />

überhaupt ab? Welchen Blickwinkel haben Caster und<br />

Agenturen, wenn Bewerbungen eingehen. Welche Anforderungen<br />

sollten Berwerbungsvideos und -fotos erfüllen?<br />

Wie nutze ich „CastApp“? Christoph Trauth, Castingprofi<br />

der Stage Entertainment, coacht die Schüler:innen des Abschlussjahrgangs,<br />

damit sie den Casting-Prozess mit Bravour<br />

meistern können. Für das umfangreiche Thema wurden gleich<br />

zwei aufeinander aufbauende Masterclasses angesetzt.<br />

Foto: L. Lothian<br />

mit<br />

Sharon<br />

Sexton<br />

Song Interpretation Masterclass<br />

Bevor sie ihre erfolgreiche Bühnenkarriere begann, absolvierte<br />

die ursprünglich aus Irland stammende Sharon Sexton ihre Ausbildung<br />

am „DIT Conservatory of Music and Drama“ in Dublin, wo<br />

sie Schauspiel und klassischen Gesang studierte. Darüber hinaus<br />

schloss sie ihr Masterstudium in Theaterregie am University College<br />

Dublin mit Auszeichnung ab. Jetzt gibt sie ihr Wissen an der Stage<br />

School weiter. In dieser Masterclass werden die Schüler:innen<br />

mit geschärftem Blick lernen, ein Audition-Skript zu untersuchen,<br />

grundlegende Aspekte der zeitgenössischen Gesangstechnik behandeln<br />

und Wege finden, um zu entdecken, wie sie sich optimal<br />

als Darsteller:innen in ihre Rolle einbringen können. Wer könnte das<br />

besser vermitteln, als eine vom Londoner West End preisgekrönte<br />

Musicaldarstellerin?<br />

20.03. bis 17.04.<br />

China Girl<br />

28.04. bis 05.05. 10.06. bis 12.10.<br />

Monday Night Mai<br />

A Chorus Line


Generalintendant<br />

Alfons Haider<br />

Jetzt Karten kaufen!<br />

www.seefestspiele.at<br />

Anna Rosa<br />

DÖLLER<br />

––––<br />

Mark<br />

SeIbErt<br />

DAS MUSICAL<br />

11. Juli bis 17. August 20<strong>24</strong><br />

Nach GEORGE BERNARD SHAWS „Pygmalion“ I Musik von FREDERICK LOEWE


22 APRIL-<br />

22 JUNE<br />

EUROPEAN PREMIERE<br />

LIZARD BOY<br />

A NEW MUSICAL BY JUSTIN HUERTAS<br />

DIRECTED BY PAUL GLASER<br />

THE ENGLISH THEATRE OF HAMBURG | LERCHENFELD 14 | HAMBURG<br />

U-BAHN STATION MUNDSBURG | TICKETS: (040) 227 70 89<br />

WWW.ENGLISHTHEATRE.DE


„FULMINANT, RASANT UND MITREISSEND“ Süddeutsche Zeitung<br />

JETZT IN FRANKFURT,<br />

BERLIN UND LINZ<br />

In Kooperation mit BB Promotion · Tickets nur unter eventim.de<br />

NEUINSZENIERUNG: GIL MEHMERT<br />

nach dem Weltbestseller von Donna W. Cross<br />

31. MAI - 4. AUGUST 20<strong>24</strong> SCHLOSSTHEATER FULDA<br />

DEUTSCHLANDS GRÖSSTES OPEN-AIR-MUSICAL<br />

MIT GROSSEM ORCHESTER UND SINFONISCHEM CHOR<br />

22. - 31. AUGUST 20<strong>24</strong> DOMPLATZ FULDA<br />

Tickets: 0661 2500 8090 www.spotlight-musicals.de

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