Franziskaner Mission 1-2012
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<strong>Franziskaner</strong> <strong>Mission</strong> 1 | <strong>2012</strong> — Leben teilen – Brüder in <strong>Mission</strong><br />
Treffen mit dem nationalen Leitungsteam des Franziskanischen Dienstes für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung<br />
ca. 1.720 Milliarde US-Dollar<br />
betrug und Brasilien damit die<br />
achtgrößte Volkswirtschaft der<br />
Welt darstellte. Brasilien ist<br />
weltweit eine der am schnellsten<br />
wachsenden Volkswirtschaften.<br />
Man erwartet, dass es 2015 die<br />
fünftgrößte Weltwirtschaftsmacht<br />
sein wird. Wieso leben dann so<br />
viele Menschen in solcher Armut?<br />
Ja, das sei wirklich ein Skandal,<br />
meint Frei José Francisco. Unter<br />
Präsident Lula haben sich zwar<br />
von den rund 190 Mio. Brasilianern<br />
30 Mio. aus der Schicht der<br />
extrem Armen sozial verbessert,<br />
aber das heißt letztlich nicht viel.<br />
Die Grundbedürfnisse sind gestillt,<br />
offiziell beträgt die Arbeitslosenrate<br />
nur 6% und das neue<br />
Sozial geld im Stile einer Grundsicherung,<br />
die »bolsa família«,<br />
entlastet die Familien ungemein.<br />
Aber dennoch leben über 16% der<br />
Menschen im Land in extremer<br />
Armut. Und die Infrastruktur, also<br />
die medizinische Versorgung, die<br />
Versorgung mit Wasser und Strom,<br />
der Straßenbau und vieles mehr,<br />
ist in vielen Gegenden außerhalb<br />
der Zentren nach wie vor mangelhaft.<br />
Die Politiker schielen nur<br />
auf Zahlen, auf das quantitative<br />
Wachstum der Wirtschaftskraft.<br />
Die gerechte Verteilung der Güter<br />
und die notwendige ökologische<br />
Umgestaltung der Wirtschaft<br />
bleiben auf der Strecke. Außerdem<br />
werde eine gerechte Entwicklung<br />
immer wieder durch Korruption<br />
auf allen Ebenen blockiert.<br />
Nicht nur individuell helfen,<br />
sondern auch strukturell tätig<br />
werden<br />
Das franziskanische Hilfswerk<br />
SEFRAS setzt deshalb auf zivilgesellschaftlich<br />
vernetzte Hilfsprojekte,<br />
die den beteiligten Not<br />
leidenden Menschen Hilfe zur<br />
Selbsthilfe bieten. Nicht staatliche<br />
Hilfe ohne soziale und politische<br />
Bewusstseinsbildung, sondern<br />
gesellschaftliche Ermächtigung<br />
der Ärmsten ist das Ziel der zahlreichenNichtregierungsinitiativen;<br />
denn es soll sich ja bei den<br />
Hilfebedürftigen etwas nachhaltig<br />
verändern. So wird beispielsweise<br />
in dem Recyclingprojekt RECI-<br />
FRAN (»Serviço Franciscano de<br />
Apoio a Reciclagem«) nicht nur<br />
das Recycling von Dosen, Verpackungsmaterialen,<br />
Metallen und<br />
Elektroschrott organisiert, sondern<br />
auch Kurse und Fortbildungen<br />
in Lesen und Schreiben sowie in<br />
Gesundheitsfürsorge angeboten.<br />
Auch die Preisverhandlungen mit<br />
den Abnehmerfirmen der Recycling-Materialien<br />
führen die zum<br />
Teil obdachlosen Mitarbeiter von<br />
RECIFRAN – unterstützt durch die<br />
Sozialarbeiter – selber.<br />
Eine mangelnde politische<br />
Mobilisierung<br />
Das Hauptproblem in der brasilianischen<br />
Gesellschaft, meint Frei<br />
José Francisco, sei die mangelnde<br />
politische Mobilisierung. Das sei<br />
vor 15 bis 20 Jahren noch anders<br />
gewesen. Die »bolsa família«, die<br />
neue Grundsicherung, habe die<br />
breite Masse einfach ruhiggestellt.<br />
Dabei habe sich strukturell<br />
hinsichtlich der Armut und der<br />
mangelnden Bildungschancen<br />
im Land noch immer zu wenig<br />
getan. Es sei auch kein Bewusstsein<br />
dafür vorhanden, dass etwa<br />
eine mangelhafte Versorgung<br />
der Bevölkerung mit allgemein<br />
bilden den Schulen eine Menschenrechtsverletzung<br />
darstellt.<br />
Da sei es wichtig, mit den Betroffenen<br />
zusammen Initiativen und<br />
auch politische Kampagnen zu<br />
starten, damit sich das ändert.<br />
Frei José Francisco ist auch einer<br />
der Koordinatoren der Franziskanischen<br />
Familie für den Dienst<br />
an Gerechtigkeit, Frieden und<br />
Bewahrung der Schöpfung.<br />
Schon von daher ist es ihm wichtig,<br />
nicht nur die individuelle Seite<br />
des Helfens im Blick zu haben,<br />
sondern auch stets die strukturell<br />
politischen Aspekte in den Blick<br />
zu nehmen.<br />
Es kann nichts Gutes geben,<br />
wenn man nicht selber die<br />
Ärmel hochkrempelt<br />
Im Untergeschoss des <strong>Franziskaner</strong>klosters<br />
in São Paulo gibt es<br />
in den Räumen eines ehemaligen<br />
philippinischen Kinos die große<br />
Teestube für Obdachlose. Auch<br />
Gesprächskreise, Kunst- und<br />
Theaterprojekte, Bildungsveranstaltungen<br />
und nicht zuletzt<br />
Beratungsangebote werden hier<br />
gemeinsam von Obdachlosen<br />
und Sozialarbeitern organisiert.<br />
Hier treffe ich einen Mann<br />
namens Robson, der für sich klar<br />
hat, dass es nichts Gutes geben<br />
kann, wenn man nicht selber die<br />
Ärmel hochkrempelt. Vor über<br />
10 Jahren, so erzählt er mir, ist er<br />
aus dem Süden Brasiliens in die<br />
Metropole São Paulo gekommen,<br />
um ein neues Leben anzufangen.<br />
Doch schon am dritten Tag nach<br />
seiner Ankunft wurde sein Traum<br />
vom neuen Leben durchkreuzt,<br />
als ihm bei einem Raubüberfall<br />
all seine Habseligkeiten geklaut<br />
wurden. Fortan lebte er auf der<br />
Straße, schlug sich durch mit dem<br />
Wenigen, was in Suppen küchen<br />
und in Kleiderkammern den<br />
Armen angeboten wird oder was<br />
eben beim Betteln rauskommt.<br />
Das war für ihn auch kein großes<br />
Problem, wie er sagt. Doch er, der<br />
so gerne liest, vermisste schmerzlich<br />
die Möglichkeit, Bücher<br />
auszuleihen. Keine öffentliche<br />
Bibliothek verleiht Bücher an<br />
Personen ohne festen Wohnsitz.<br />
Leben teilen – Brüder in <strong>Mission</strong> — <strong>Franziskaner</strong> <strong>Mission</strong> 1 | <strong>2012</strong><br />
Als es ihm gelang, mit Hilfe der<br />
Teestuben-Initiative im <strong>Franziskaner</strong>kloster<br />
wieder Fuß zu<br />
fassen und sogar eine Wohnung<br />
zu finden, da stand für ihn fest:<br />
»Jetzt, da es mir wieder besser<br />
geht, will ich etwas für die Menschen<br />
auf der Straße tun. Das ist<br />
meine Berufung!« So gründete<br />
er eine Obdachlosen-Bewegung,<br />
die sich für die Rechte von Menschen<br />
auf der Straße einsetzt. Sie<br />
verfügt mittlerweile über eine<br />
eigene kleine Anlaufstelle ganz<br />
in der Nähe des Klosters. Und<br />
dann entwickelte Robson etwas<br />
ganz Besonderes: Er erfand die<br />
» bicicloteca« – ein Dreirad mit<br />
einem Aufbau, in dem sich eine<br />
kleine Bibliothek und ein batteriebetriebener<br />
Laptop befindet.<br />
Damit fuhr er dann durch die<br />
Stadt, um für Obdachlose den<br />
Tägliche Teestunde für Obdachlose im <strong>Franziskaner</strong>kloster von São Paulo<br />
Bruder Markus im Gespräch mit Robson, dem Erfinder der biciclotecas.<br />
Zugang zu Literatur und zum<br />
Internet zu ermöglichen. Alles von<br />
Spendern finanziert, die seine Idee<br />
genial fanden. Mittlerweile gibt es<br />
vier solcher fahrenden Bibliotheken<br />
in São Paulo, zahlreiche Helfer und<br />
weitere Nachahmer-Initiativen in<br />
den USA und in Europa. Sogar<br />
einen Preis hat Robson für seine<br />
soziale Erfindung gewonnen.<br />
Der ›heruntergekommene Gott‹<br />
befreit zu neuem Leben!<br />
Zurückgekehrt nach Deutschland,<br />
zu ›meinen‹ Obdachlosen nach<br />
Köln, muss ich oft an Robson und<br />
seine »bicicloteca« denken – und<br />
ich erzähle auch oft davon. Auch<br />
die vielen anderen Mut machenden<br />
Begegnungen und Erfahrungen in<br />
den Schulen und Projekten bleiben<br />
nachhaltig in meiner Erinnerung.<br />
Nordost-Brasilien – eine Region,<br />
die ich trotz ihrer zahlreichen<br />
sozialen Probleme, ihrer schroffen<br />
Gegensätze zwischen den wenigen<br />
reichen, stacheldrahtumzäunten<br />
Villen und den vielen ärmlichen<br />
Lehmhütten als Ort lebendiger<br />
Inspiration kennengelernt und<br />
schätzen gelernt habe. Als einen<br />
Ort, an dem etwas spürbar wird<br />
von unserem ›heruntergekommen<br />
Gott‹, der zu neuem Leben befreit!<br />
Markus Fuhrmann ofm<br />
Markus Fuhrmann ist Obdachlosenseelsorger<br />
in Köln und engagiert sich im <strong>Franziskaner</strong>orden<br />
auf nationaler und internationaler<br />
Ebene für den Bereich Gerechtigkeit,<br />
Frieden und Bewahrung der Schöpfung.<br />
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