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URFASSUNG VON: Wolf Wagner Uni-Angst und Uni-Bluff Wie ...

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<strong>URFASSUNG</strong> <strong>VON</strong>:<br />

<strong>Wolf</strong> <strong>Wagner</strong><br />

<strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong><br />

<strong>Wie</strong> Studieren <strong>und</strong> sich nicht verlieren<br />

Dieser Text ist gegenwärtig nicht im Buchhandel erhältlich. Er ist erstmals 1977 erschienen. Das<br />

Copyright liegt beim Rotbuch-Verlag. Der Text kann zu nicht-kommerziellen Zwecken<br />

heruntergeladen <strong>und</strong> eingesetzt werden. Es gibt das Buch seit 2007 mit einem völlig überarbeiten<br />

<strong>und</strong> aktualisierten Text unter einem neuen Titel Bei Rotbuch zu kaufen: „<strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong><br />

heute. <strong>Wie</strong> studieren <strong>und</strong> sich nicht verlieren.“. Es unterscheidet sich gr<strong>und</strong>sätzlich von der<br />

Urfassung. In der Urfassung war ich noch der Auffassung, es gehe auch ohne <strong>Bluff</strong>. Jetzt denke<br />

ich, es geht gar nicht ohne <strong>und</strong> versuche Wege aufzuzeigen: <strong>Wie</strong> bluffen, ohne sich selbst zu<br />

bluffen..<br />

12. Auflage<br />

1977 Rotbuch Verlag, Potsdamer Straße 98, 1000 Berlin 30<br />

Umschlaggrafik von Gerhard Seyfried<br />

Druck <strong>und</strong> Bindung: <strong>Wagner</strong> GmbH, Nördlingen<br />

Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 3 88022 172 3<br />

Inhalt<br />

Warum ich dieses Buch geschrieben habe 7<br />

Vorweg: Einige Hinweise für Erstsemester <strong>und</strong> solche, die es werden wollen 9<br />

1. Kapitel: Das Problem 13<br />

Die Außenseite 13<br />

Die Innenseite 14<br />

2. Kapitel: Die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> 19<br />

Erste Ursache: die Institution 19<br />

Die Hauptursache: die <strong>Angst</strong> vor dem »klugen Gesicht« 20<br />

Die Situation der Erstsemester 21<br />

Die <strong>Uni</strong>-Kommunikation <strong>und</strong> ihre Folgen 22<br />

Der gesellschaftliche Hintergr<strong>und</strong> für die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> 23<br />

3. Kapitel: Der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> 27<br />

Was ist ein Akademiker? 30<br />

Der »heimliche Lehrplan« 31<br />

Gilt das für alle Fächer? 33<br />

Die Situation der Frauen an der <strong>Uni</strong> 35<br />

Die Situation der Arbeiterkinder 40<br />

Die Situation der ausländischen Studierenden 42


Wer den Erfolg erwartet, erlebt ihn auch! 43<br />

Die Prüfung: Was wird da eigentlich geprüft? 44<br />

Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg: Was bedeutet das? 46<br />

Die gesellschaftliche Funktion des <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong>s 49<br />

... <strong>und</strong> wie ist das an der Massenuniversität? 51<br />

4. Kapitel: <strong>Wie</strong> sich wehren? 53<br />

Das Ziel: die <strong>Angst</strong> überwinden 53<br />

Gesellschaftliche Ursachen - oder: wo es lang gehen soll 57<br />

Gebrauchswert des Studiums: eigene Probleme lösen! 60<br />

Noch einmal Gebrauchswert des Studiums:<br />

Praxisbezug <strong>und</strong> Befreiung 63<br />

Über Schwierigkeiten beim Sichwehren 65<br />

5. Kapitel: Hochschuldidaktik auch für Lehrende 74<br />

6. Kapitel: <strong>Wie</strong> wissenschaftliches Arbeiten<br />

Spaß machen kann 84<br />

Drei Gr<strong>und</strong>prinzipien:<br />

Erstens - den Respekt vor der Wissenschaft verlieren 85<br />

Zweitens - die geistige Arbeit in Handarbeit verwandeln 87<br />

Drittens - sich Erfolgserlebnisse verschaffen 89<br />

<strong>Wie</strong> lesen? 89<br />

Die Arbeit an einem größeren Thema 93<br />

Die Literatursuche 94<br />

<strong>Wie</strong> lesen, ohne zu lesen 96<br />

Das Schreiben 98<br />

<strong>Wie</strong> Prüfungen überstehen 100<br />

7. Kapitel: Chaos als Prinzip 103<br />

(Nachtrag zur 8. Auflage)<br />

Verzeichnis der angeführten Literatur 111<br />

Nachtrag 115<br />

Warum ich dieses Buch geschrieben habe<br />

Ich habe sieben Jahre lang an verschiedenen <strong>Uni</strong>versitäten <strong>und</strong> in einer ganzen Latte von<br />

Fächern herumstudiert. Anfangs als CDU-Mitglied <strong>und</strong> in deprimierender Einsamkeit. Damals<br />

trugen auch noch beinahe alle Studenten Krawatten an der <strong>Uni</strong>. In Bonn z. B. habe ich manchmal<br />

wochenlang mit niemandem geredet außer vielleicht mal in der Mensa: »Kann ich bitte das Salz<br />

haben?« Dann 1967 <strong>und</strong> danach habe ich in Berlin die Studentenbewegung mitgemacht, bin links<br />

geworden <strong>und</strong> habe dabei viele Verkrampfungen verloren <strong>und</strong> Anschluß an solidarisch arbeitende<br />

Gruppen gewonnen. In der Auseinandersetzung mit den autoritären Profs, dem ganzen<br />

Wissenschaftsbetrieb, unter dem ich zuvor so sehr gelitten hatte, <strong>und</strong> in dem Bemühen etwas zu<br />

finden, was wir dem entgegensetzen könnten, lernte ich am wissenschaftlichen Arbeiten Spaß<br />

haben <strong>und</strong> hatte dann auch prompt noch das Glück, 1970 nach meinem Diplom eine<br />

Assistentenstelle am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien <strong>Uni</strong>versität Berlin zu


ergattern. Dort bin ich seither Dozent <strong>und</strong> arbeite in einer Gruppe linker Dozenten <strong>und</strong><br />

Dozentinnen. Wir stehen dabei ständig vor den Problemen, die hier behandelt werden sollen.<br />

Unsere Lehrveranstaltungen mißlingen immer wieder, die Teilnehmer sind frustriert, bleiben weg,<br />

die Gruppen brechen auseinander, die Papiere sind lustlos <strong>und</strong> ohne das Interesse am Stoff, das<br />

wir erwecken wollten, zusammengekloppt. Wir reagieren darauf meist mit einer Mischung von<br />

Ärger über »die Studenten« <strong>und</strong> einem Verantwortungstaumel, der uns glauben macht, wir<br />

könnten es das nächste Mal durch vermehrte eigene Anstrengung schaffen. Zugleich erfahren wir<br />

bei Gesprächen mit Studentinnen <strong>und</strong> Studenten, wie sehr sie selbst unter der Situation leiden,<br />

wie ihnen der ganze Studienbetrieb immer unerträglicher wird <strong>und</strong> immer sinnloser erscheint trotz<br />

aller ursprünglichen Freude über den Beginn des Studiums <strong>und</strong> aller Mühe, die sie zu Beginn<br />

eines jeden Semesters immer wieder aufs neue aufwenden. Viele von ihnen machen einen ganz<br />

verlorenen Eindruck: sie haben nicht nur die Orientierung auf ein Ziel hin, sie haben sich oft<br />

tatsächlich selbst verloren. Sie rennen überall gegen eine Wand der Sinnlosigkeit <strong>und</strong> des<br />

Mißerfolges <strong>und</strong> sind sich ihrer selbst völlig unsicher, spielen aber gleichzeitig sich selbst <strong>und</strong><br />

anderen die sichere, lockere Überlegenheit vor. Mit der Arbeit an diesem Buch will ich auch mir<br />

selbst klarzumachen versuchen, warum das so ist <strong>und</strong> was dagegen getan werden kann. <strong>Wie</strong><br />

man das möglich machen kann: studieren <strong>und</strong> sich nicht verlieren.<br />

7<br />

Dieses Buch kann aber nicht eine Einführung in die Arbeitsmethoden deines Faches sein. Dazu<br />

mußt du ein Buch lesen oder eine Veranstaltung besuchen, wo die speziellen Probleme <strong>und</strong><br />

Erfahrungen mit dem Fach auch vom Anspruch her behandelt werden. Ich habe versucht, so weit<br />

wie möglich die allgemeinen Probleme anzusprechen, die in allen Fächern <strong>und</strong> an allen<br />

<strong>Uni</strong>versitäten auftreten. Ich bin aber sicher, daß vieles durch meine speziellen Erfahrungen <strong>und</strong><br />

meine sozialwissenschaftliche Sichtweise geprägt ist. An diesen Stellen vertraue ich darauf, daß<br />

du meine Erfahrungen auf die Verhältnisse deiner <strong>Uni</strong> <strong>und</strong> deines Faches übertragen kannst.<br />

Inzwischen ist dieses Buch einige Zeit im Verkauf. Dabei habe ich aus einer Reihe von kritischen<br />

Anmerkungen gemerkt, wo der Text zu Mißverständnissen Anlaß gibt <strong>und</strong> wo grobe Fehler<br />

stecken. Deshalb habe ich an einigen Stellen, wo das drucktechnisch möglich war, den Text<br />

verändert (größere Veränderungen hätten bedeutet, daß der ganze Text neu hergestellt werden<br />

müßte). Ein besonders schwerwiegendes Mißverständnis, das durch den vorliegenden Text tat<br />

sächlich leicht produziert werden kann, war durch solche kleine Änderungen aber nicht<br />

auszuschließen. Ich möchte deshalb gleich vorweg davor warnen: Wenn der Eindruck entsteht,<br />

ich wollte behaupten, die ganzen Schwierigkeiten an der <strong>Uni</strong> entstünden alleine dadurch, daß die<br />

Leute nicht ehrlich genug oder gar nicht »nett« genug miteinander umgehen, dann ist das<br />

selbstverständlich Quatsch! Die Konkurrenz um den Erfolg an dieser Institution erzeugt die<br />

Verhaltensweisen, die für sie typisch sind. Diese Konkurrenz wird noch vielfach angeheizt durch<br />

die drohende Akademikerarbeitslosigkeit <strong>und</strong> die Studienreform von oben mit Regelstudienzeit,<br />

Kurzstudium, Verschulung <strong>und</strong> Ordnungsrecht samt drohendem Berufsverbot für alle, die sich<br />

konsequent wehren. Das wird in den Flugblättern <strong>und</strong> Denkschriften zur aktuellen<br />

Hochschulentwicklung zu Recht hervorgehoben <strong>und</strong> auch oft sehr gut <strong>und</strong> detailliert dargestellt.<br />

Mir kommt es hier aber darauf an, nicht nur eine weitere Analyse zu liefern, die bloß zeigt, wie wir<br />

von allen Seiten umstellt sind, daß wir sowieso nichts mehr machen können. Mir kommt es darauf<br />

an zu fragen: <strong>Wie</strong> können wir uns im <strong>Uni</strong>alltag wehren <strong>und</strong> nicht nur bei den großen<br />

hochschulpolitischen Aktionen.<br />

Berlin, Oktober 1978


P. S.: Die Klammerausdrücke im Text (Autorenname, Jahreszahl, Seitenzahl) verweisen auf die<br />

Buch- bzw. Aufsatz-Titel im alphabetisch geordneten »Verzeichnis der angeführten Literatur« (S.<br />

103-106).<br />

8<br />

Vorweg: Einige Hinweise für Erstsemester <strong>und</strong> solche, die es werden wollen<br />

Dieses Buch soll eigentlich helfen, sich durch die <strong>Uni</strong>versität nicht mehr einschüchtern zu lassen.<br />

Die Gefahr ist aber, daß bei allen, die noch keine längere Zeit an der <strong>Uni</strong> waren, genau das<br />

Gegenteil erreicht wird. Die ersten drei Kapitel müssen dann fremd <strong>und</strong> bedrohlich wirken. Die<br />

Situation in der Schule, sowohl im ersten wie im zweiten Bildungsweg, ist ganz anders als in der<br />

<strong>Uni</strong>. In der Schule kennen sich alle gegenseitig <strong>und</strong> wissen, was sie voneinander zu halten <strong>und</strong><br />

zu erwarten haben. Die Anforderungen sind einigermaßen überschaubar. Es ist ganz klar, wofür<br />

gelernt wird, nämlich für die Schule, für die Noten <strong>und</strong> die Numerus-clausus-Hürde.<br />

In der <strong>Uni</strong> ist das in den meisten Studienfächern überhaupt nicht mehr so klar: In jeder<br />

Veranstaltung triffst du auf andere Leute, <strong>und</strong> kaum hast du dich an sie gewöhnt, ist das<br />

Semester vorbei, <strong>und</strong> im nächsten sind es wieder ganz andere. Der Stoff <strong>und</strong> die Anforderungen<br />

sind unüberschaubar <strong>und</strong> scheinen unendlich. Die Noten <strong>und</strong> Abschlußprüfungen sind zwar<br />

wichtig, aber stehen lange nicht so im Zentrum, denn du hast dir ja ein besonderes Fach gewählt,<br />

weil du da hoffentlich einen besonderen Sinn drin sahst <strong>und</strong> weil du damit später einen Beruf<br />

ausfüllen willst. Da wird dann das Gefühl wichtig, wirklich etwas Sinnvolles zu lernen. Dabei weißt<br />

du aber nicht so richtig, was nun sinnvoll ist <strong>und</strong> was nicht.<br />

All das bringt eine Menge Schwierigkeiten mit sich, die in den ersten drei Kapiteln beschrieben<br />

<strong>und</strong> in ihren Folgen ausführlich dargestellt werden. Für Leute, die das alles schon selbst längere<br />

Zeit erlebt haben, ist das nicht erschreckend. Im Gegenteil, es zeigt ihnen, daß sie nicht allein<br />

sind mit ihren Schwierigkeiten, daß es nicht an ihrem individuellen Versagen liegt. Für<br />

Studienanfänger kann das ganz anders sein: Das ist nichts Bekanntes, in dem du dich<br />

verstanden fühlst, sondern erscheint als Drohung mit den Schwierigkeiten, die du vielleicht auch<br />

haben wirst. Laß dich beim Lesen aber nicht einschüchtern, denn diese Schwierigkeiten sind<br />

nicht unabwendbar wie das Wetter vom morgigen Tag. Du kannst selbst etwas dagegen tun,<br />

schon vom ersten Tag des Studiums an.<br />

Das wichtigste ist: Du mußt dich mit anderen zusammentun! Am besten gleich zu zweit oder zu<br />

dritt von der Schule aus oder vom Heimatort aus an das Studium rangehen. Wenn das nicht geht,<br />

quatsch jemanden an, der genauso verloren rumsteht wie du, <strong>und</strong> zusammen sucht euch weitere<br />

Leute. Wenn du das auch nicht bringst, dann geh in die Studienberatung aller politischen<br />

Gruppen <strong>und</strong> aller offiziellen Stellen an deinem Institut -solange, bis du zu<br />

9<br />

sammen mit anderen Studierenden beraten wirst, mit denen du ins Gespräch kommst.<br />

Das ist auch schon das nächstwichtigste: Besuch alle Studienberatungen, die es überhaupt gibt.<br />

Und wenn in einer etwas anderes gesagt wird als in anderen, dann frag nach: Anderswo hat man<br />

mir aber gesagt ... ! Das Ziel dabei muß sein, herauszufinden: Was sind die offiziellen<br />

Minimalvoraussetzungen an Scheinen <strong>und</strong> Leistungen im Gr<strong>und</strong>studium (erste 4 Semester) <strong>und</strong><br />

für die Gewährung des Bafög? Um das Hauptstudium <strong>und</strong> erst recht die Prüfungsordnungen<br />

solltest du dich überhaupt noch nicht kümmern. Es gibt keinen schnelleren Weg zur Depression


als das Lesen von Examensanforderungen (die sind purer <strong>Bluff</strong>, <strong>und</strong> es gibt niemanden, der sie je<br />

erfüllt hat - also vorerst nicht lesen!).<br />

Weiter ist wichtig: Wenn du herausgef<strong>und</strong>en hast, was die Minimalanforderungen in deinem Fach<br />

(oder in deinen Fächern) für das erste Semester sind, dann beleg <strong>und</strong> besuch nur die. Frag<br />

andere aus höheren Semestern, <strong>und</strong> sie werden dir alle erzählen, daß sie im ersten Semester viel<br />

zuviel belegt <strong>und</strong> besucht haben <strong>und</strong> bald gemerkt haben, was für ein Quatsch das ist. Du<br />

verzettelst dich da nur <strong>und</strong> lernst nirgendwo was Richtiges. Also nur das absolut vorgeschriebene<br />

Minimum besuchen <strong>und</strong> belegen - das ist in vielen Fächern schon mehr als du wirklich schaffen<br />

kannst. Denn es ist entscheidend, daß du in den Veranstaltungen auch wirklich von der ersten<br />

Sitzung an intensiv mitarbeitest <strong>und</strong> dazwischen die Sitzungen gründlich vorbereitest. Nimm dir<br />

also auf jeden Fall die Zeit, das zu lesen, was von einer Sitzung zur anderen zur Lektüre<br />

empfohlen wird.<br />

Es ist sehr schwierig, in den Plenarsitzungen etwas zu sagen vor all den Leuten, die du nicht<br />

kennst <strong>und</strong> die alle so klug gucken. Laß dich da aber nicht einschüchtern <strong>und</strong> unter<br />

Leistungsdruck setzen mit: »Was ich sage, muß aber einschlagen <strong>und</strong> Niveau haben!« Wenn du<br />

so anfängst, blockierst du dich von Anfang an selbst. Du kannst dann vor Anstrengung gar nicht<br />

mehr denken. Dabei weiß auch noch niemand, was nun eigentlich Niveau ist, außer daß es heißt,<br />

besser zu sein als die anderen. Diese Art Konkurrenz macht aber alles gründlich kaputt.<br />

Es ist wirklich sehr schwierig, im Plenum ehrlich <strong>und</strong> ohne das Gefühl zu reden, sich anders<br />

darstellen zu müssen als man sich fühlt. Es ist deshalb auch keine Katastrophe, wenn du im<br />

ersten Semester kaum jemals was im Plenum sagst. Wichtiger ist es, daß du in der Arbeitsgruppe<br />

mitdiskutierst. Vielleicht könnt ihr da vereinbaren, euch gegenseitig beim Gruppenbericht fürs<br />

Plenum abzulösen. Wenn du nicht mehr weiter weißt, kann ein anderes Mitglied der<br />

Arbeitsgruppe einspringen, so wie vorher vereinbart. Das passiert jetzt auch immer öfter bei<br />

Vollversammlungen, wo es noch viel schwieriger ist, vor all den Leuten zu reden: Da gehen eben<br />

zwei hoch ans<br />

10<br />

Mikrofon <strong>und</strong> helfen sich gegenseitig. Auf diese Weise wird die <strong>Angst</strong>schwelle abgebaut, <strong>und</strong> mit<br />

der Zeit wird es zur gewohnten Sache. Ein guter Anfang ist es auch, das erste Mal (wenn möglich<br />

schon in der ersten Sitzung) irgend etwas Technisches zu fragen, etwa: »<strong>Wie</strong>viel Seiten muß<br />

denn so ein Referat haben?« Dann ist es das nächste Mal schon viel leichter, eine Frage zum<br />

Stoff zu stellen. Wenn es in der Veranstaltung Arbeitsgruppen gibt, dann ist das zuerst einmal<br />

gut. <strong>Wie</strong> es dann läuft, hängt ganz wesentlich auch von dir ab! Sorg dafür, daß die Gruppe sich<br />

jede Woche regelmäßig trifft, daß ihr mehrere St<strong>und</strong>en Zeit habt sowohl für die Arbeit am Fach,<br />

aber auch für persönliches <strong>und</strong> allgemeines Ausquatschen. Besprich mit den anderen in der<br />

Arbeitsgruppe schon am Anfang, was sie sich von der Arbeit erwarten. Mach dir selbst <strong>und</strong> den<br />

anderen deine eigene Zielsetzung ganz klar, <strong>und</strong> wenn es da erhebliche Unterschiede gibt <strong>und</strong><br />

wenn ihr mehr als fünf seid, dann teilt die Gruppe lieber auf. Vereinbart einen festen Termin <strong>und</strong><br />

besteht darauf, daß von Anfang an alle pünktlich kommen. Nichts ist so ärgerlich <strong>und</strong> auf die<br />

Dauer sprengend wie die ewige Warterei der einigermaßen Pünktlichen auf die anderen. Und bei<br />

der Arbeit am Stoff vergeßt in der Gruppe nicht: Ihr seid keine Akkordgruppe zur Erlangung eines<br />

Scheines, sondern ihr wollt zusammen ein Problem lösen, das euch interessiert. Dazu müßt ihr<br />

aber auch über euch selbst reden <strong>und</strong> dürft euch nicht voreinander hinter dem Stoff verstecken.<br />

Schon in der ersten Sitzung solltet ihr in einer Kneipe reihum über euch selbst erzählen. Im<br />

weiteren Verlauf müßt ihr mit Vorrang über Schwierigkeiten in der Gruppe, Aggressionen,<br />

Konkurrenzgefühle etc. reden (in den drei letzten Kapiteln des Buches könnt ihr darüber Näheres


lesen). Wenn ihr so vorgeht <strong>und</strong> euch einigermaßen dabei leiden könnt, dann wird aus euch<br />

vielleicht sogar ein Studienkollektiv. Das heißt: Ihr lauft nicht nach erfüllter Scheinanforderung<br />

auseinander, sondern ihr überlegt euch, welche Veranstaltung ihr gemeinsam im folgenden<br />

Semester besuchen könntet <strong>und</strong> bearbeitet eure Studienprobleme <strong>und</strong> politischen Aktivitäten<br />

über längere Zeit gemeinsam.<br />

Wenn du nun wirklich dem Rat gefolgt bist <strong>und</strong> tatsächlich das Minimum dessen belegt hast <strong>und</strong><br />

besuchst, was von dir im ersten Semester verlangt wird, dann hast du - im Gegensatz zu den<br />

meisten anderen Erstsemestern -genügend Zeit gewonnen, um die <strong>Uni</strong> im Laufe des ersten<br />

Semesters wirklich kennenzulernen: Du kannst deiner Neugier vollen Lauf lassen. Du kannst die<br />

meisten politischen Veranstaltungen besuchen (möglichst zusammen mit anderen, vielleicht<br />

sogar mit deiner Arbeitsgruppe, damit ihr hinterher darüber diskutieren könnt) <strong>und</strong> dir ein Bild<br />

davon machen, was sich hinter all den Abkürzungen <strong>und</strong> großen Sprüchen verbirgt. Du kannst<br />

die verschiedenen Veranstaltungen an deinem Institut, die dir vom Titel her interessant<br />

erscheinen, einfach einmal besuchen (eben nur mal<br />

11<br />

für eine Sitzung mit hineinsitzen <strong>und</strong> zuhören - da hat niemand was dagegen) <strong>und</strong> sehen, ob der<br />

Dozent oder die Dozentin so ist, daß du Lust hast, da mal irgendwann etwas zu machen. Und du<br />

kannst - was sehr wichtig ist - die Bibliotheksführungen <strong>und</strong> Informationsveranstaltungen für<br />

Erstsemester mitmachen. Da erhältst du gute <strong>und</strong> wichtige technische Hinweise für dein Studium,<br />

die in aller Regel in den Erstsemesterübungen trotz aller Versprechungen nicht gegeben werden.<br />

Z. B. wie du ein Buch ausleihst, wie du selbständig wichtige Literaturtitel zu einem Thema finden<br />

kannst, das dich interessiert, wo du fotokopieren kannst <strong>und</strong> wo im Lesesaal die wichtigen<br />

Nachschlagwerke stehen. (Informier dich dabei auch über die zentrale <strong>Uni</strong>versitätsbibliothek, also<br />

nicht nur über die Einrichtungen an deinem Institut.) Ohne diese - auf den ersten Blick<br />

oberflächlichen <strong>und</strong> bloß technischen - Informationen geht das Studieren nicht, das ist das<br />

wichtigste Handwerkszeug.<br />

12<br />

Erstes Kapitel<br />

Das Problem<br />

Die Außenseite<br />

Von der Erscheinung her, von außen gesehen, sieht die <strong>Uni</strong>versität eigentlich ganz idyllisch aus.<br />

Wenn ich versuchen würde, typische Aufnahmen von der <strong>Uni</strong> zu machen, kämen wahrscheinlich<br />

solche Bilder zustande: Ein grüner Rasen mit jungen Leuten, die herumliegen <strong>und</strong> sich<br />

unterhalten oder lesen. Dazwischen auf den Wegen gehen andere zielstrebig, aber ohne<br />

besondere Eile zu den verschiedenen Gebäuden, wahrscheinlich zu irgendwelchen Hörsälen<br />

oder Bibliotheken. Oder aber: In einem etwas kahlen Raum sitzen dieselbe Art selbstbewußt <strong>und</strong><br />

überlegen aussehender junger Leute entspannt an einem Kreis von Tischen. Sie hören zu, wie<br />

einige diskutieren, notieren sich gelegentlich etwas, <strong>und</strong> je nach Lust <strong>und</strong> Laune stehen sie auf<br />

<strong>und</strong> gehen. Dann das andere Bild: Der eng gezogene, rauchige Lichtkreis einer<br />

Schreibtischlampe irgendwann lange nach Mitternacht, darin der überquellende Aschenbecher,<br />

die Kaffeetasse mit den unzähligen eingetrockneten Kaffeekreisen auf der Untertasse <strong>und</strong><br />

dazwischen ein Chaos von aufgeschlagenen Büchern, Karteikarten <strong>und</strong> Notizzetteln. Und dazu<br />

das Bild vom Aufstehen am nächsten Tag nach zwölf. Selbst das immer wieder gezeigte<br />

Schreckensbild vom völlig überfüllten Riesenhörsaal, wo die Zuhörer <strong>und</strong> Zuhörerinnen sogar auf<br />

Treppen <strong>und</strong> auf dem Boden dicht gedrängt sitzen, sieht von außen gar nicht so schrecklich aus:


Eigentlich machen die Leute einen ganz lockeren <strong>und</strong> sicheren Eindruck, schauen interessiert<br />

oder skeptisch drein, <strong>und</strong> schließlich weiß man ja, daß sie da freiwillig sitzen in der Erwartung,<br />

etwas Interessantes zu lernen. Bei diesen Bildern stellt sich die Frage: Weshalb das Gerede von<br />

»<strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong>«?<br />

Erst recht idyllisch sieht die <strong>Uni</strong>versität aus, wenn sie aus der Perspektive Gleichaltriger gesehen<br />

wird, die nicht studieren, sondern ein »normales« Leben führen. Ob sie ihren Lebensunterhalt am<br />

Fließband, in einer Werkstatt, im Laden oder am Schreibtisch verdienen, sie müssen morgens<br />

raus <strong>und</strong> ihre acht oder mehr St<strong>und</strong>en runterreißen, nach fremden Anweisungen <strong>und</strong> unter<br />

ständiger Kontrolle. Sie können sich glücklich schätzen, wenn wenigstens Teile ihrer Arbeit<br />

interessant sind <strong>und</strong> sie selbst entscheiden können, wann <strong>und</strong> wie sie die festgesetzten Aufgaben<br />

erledigen. Da gibt es kein morgens-liegen-bleiben-bis-zwölf <strong>und</strong> kein: »Ich hab' heut keinen<br />

Bock«. Und wenn einem die Arbeit, die Kollegen <strong>und</strong> der Chef noch so stinken, wenn die ganze<br />

Situation voller <strong>Angst</strong> steckt, da muß<br />

13


man doch jeden Morgen ran <strong>und</strong> es durchstehen oder eine andere Arbeit suchen - die dann<br />

vielleicht noch schlimmer ist.<br />

Sicher: Sie haben mehr Geld <strong>und</strong> einen besseren Lebensstandard als die meisten Studierenden.<br />

Aber selbst wenn diese nach dem Examen einige Zeit arbeitslos sind <strong>und</strong> danach nicht einmal<br />

ihrer Ausbildung entsprechend beschäftigt werden, selbst unter diesen schlechtesten Umständen<br />

ist zu erwarten, daß sie in der Pyramide der Jobs wegen ihrer höheren Allgemeinqualifikation die<br />

obere Hälfte besetzen werden. In diesen Jobs haben sie dann eine ganz andere<br />

Lebensperspektive als die Gleichaltrigen mit industriellen Arbeitsplätzen. Industriearbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Arbeiter können ab dem vierzigsten Lebensjahr nur noch einem Abstieg entgegensehen, <strong>und</strong><br />

zwar einem Abstieg in jeder Hinsicht, ges<strong>und</strong>heitlich, finanziell <strong>und</strong> auch in bezug auf Inhalt <strong>und</strong><br />

Prestige der Arbeit. Dagegen ist es bis jetzt bei Akademikern genau umgekehrt: Mit wenigen<br />

Ausnahmen wächst ihr Einkommen, das Prestige ihrer Tätigkeit mit der Zeit. Je älter sie werden,<br />

desto mehr steigen sie auf <strong>und</strong> desto gesicherter wird ihre Position. Sie leben denn auch im<br />

Durchschnitt um zehn Jahre länger als gleichaltrige Industriearbeiter (Angaben der<br />

Lebensversicherungen). So gesehen erscheinen die Studierenden eindeutig privilegiert.<br />

Die Innenseite<br />

Das ist aber nur die eine Seite. Die einzige, die von außen <strong>und</strong> aus der Entfernung zu sehen ist.<br />

Sie ist der Gr<strong>und</strong> für die vielen erbitterten Kommentare, die uns vom Straßenrand bei<br />

Demonstrationen zugerufen werden. Schaut man näher hin, dann zeigt sich die andere, die<br />

innere Seite der Studiensituation: »Von h<strong>und</strong>erttausend Studenten begehen jährlich<br />

durchschnittlich 25 Studenten Selbstmord, aber vergleichsweise nur 19 Personen der<br />

Altersgruppe 18-30 Jahre« (Morgenstern, 1972, S. 28). Bei Studentinnen ist das sogar noch<br />

krasser (Lungershausen, 1969, S. 105). Die Anzahl der Selbstmorde <strong>und</strong> Selbstmordversuche<br />

nimmt dabei noch ständig zu. Eine Untersuchung über die Selbstmordmotive zeigt, daß<br />

Studienschwierigkeiten <strong>und</strong> Kontaktarmut meist die entscheidende Ursache waren (Friedrich,<br />

1974, S. 220 f.).<br />

Viele andere, die nicht diesen selbstzerstörerischen Ausweg nehmen, leiden dennoch schwer<br />

unter dem Studium. Sie haben Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle, sehen keinen Sinn mehr<br />

<strong>und</strong> sind völlig arbeitsunfähig. So berichtet eine psychotherapeutische Beratungsstelle einer<br />

<strong>Uni</strong>versität: »Geklagt wird z. B. über Verstimmbarkeit <strong>und</strong> Erschöpfbarkeit bei<br />

Konzentrationsaufgaben; über Kopfschmerzen, Schwindel <strong>und</strong> Schweißausbruch bei der Lektüre<br />

von Lehrbüchern, über Unrast, Merkfähigkeitseinbuße, Lust<br />

14<br />

losigkeit, allgemeine Mattigkeit <strong>und</strong> Schlafbeeinträchtigung. Man könne es allein in seiner Bude<br />

nicht mehr aushalten, die Decke stürze ein, man brauche Menschen um sich oder Radiomusik.<br />

Andere spüren keinen Antrieb mehr, erwachen morgens bleischwer, bleiben lange liegen <strong>und</strong><br />

ziehen sich am Abend bald wieder mit schlechtem Gewissen ins Bett zurück, weil sie den Tag<br />

hindurch nichts hinter sich bringen konnten. Die Zukunft bedrückt sie wie ein Berg. Häufig ist das<br />

Gefühl der Sinnlosigkeit, der allgemeinen tiefen Skepsis über den Zweck <strong>und</strong> die<br />

Verwendungsmöglichkeiten des aufgespeicherten Wissensstoffes, dessen gesellschaftliche<br />

Nutzanwendung dunkel blieb. Der Einstieg in komplexere Fachprobleme gelingt dann immer<br />

schwerer <strong>und</strong> unwilliger; die innere Distanz zum Studienobjekt wächst <strong>und</strong> lähmt dann das<br />

Engagement, sich mit innerer Anteilnahme einem mühsamen Lernprozeß hinzugeben, der in die<br />

Irre zu führen droht« (Böker, 1969, S. 140).


Keil (1973, S. 56) berichtet, daß jeder zweite Studierende im Studium Kontakt oder Klarheit<br />

vermißt. Und immer mehr geben freiwillig die äußerlich gesehen so privilegierte Situation auf <strong>und</strong><br />

brechen das Studium ab, weil sie es nicht mehr aushalten (Saterdag/Apenburg, 1972, S. 5). Für<br />

die meisten Studierenden sehen denn auch die Bilder, die ich vorhin beschrieben habe, ganz<br />

anders aus: Die da geschäftig auf den Wegen herumwuseln, wissen nicht, was sie in der<br />

Veranstaltung oder in der Bibliothek eigentlich sollen, was ihnen das bringt, <strong>und</strong> fühlen sich so<br />

isoliert, daß sie neidisch sind auf diejenigen, die sich auf dem Rasen so locker zu unterhalten<br />

scheinen, trauen sich aber nicht, sich dazuzusetzen. Die auf dem Rasen sind aber gar nicht so<br />

locker wie sie scheinen, sondern spielen das nur, während sie sich voller Konkurrenz entweder<br />

»geistreich« unterhalten oder »auf hohem Niveau« diskutieren. Eine Studentin im ersten<br />

Semester fragte mich deshalb einmal ganz erstaunt: »Warum können sich die Studenten<br />

eigentlich nicht einmal im Erfrischungsraum wie normale Menschen unterhalten? Warum müssen<br />

sie selbst da noch über Einschätzungen, Politik <strong>und</strong> Großes reden?« Einige Zeit später sagte sie:<br />

»Die <strong>Uni</strong> macht mich ganz anders als ich auf der Schule war. Sie macht mich traurig <strong>und</strong><br />

verkrampft. Ich war mir noch nie so fremd!« Kurz danach hat sie das Studium abgebrochen.<br />

Dann das Bild mit den Leuten, die so locker an den Tischen sitzen <strong>und</strong> zuhören, wie andere<br />

diskutieren: Es wird oft genug nicht über den Stoff diskutiert, sondern der Stoff ist nur ein Mittel,<br />

um herauszufinden, wer akzeptiert ist, wer »Bescheid weiß«, wer sich durchsetzen kann. Die<br />

scheinbar interessiert zuhören <strong>und</strong> mitschreiben, überlegen sich in Wirklichkeit angespannt <strong>und</strong><br />

voller <strong>Angst</strong>, was sie selbst sagen könnten. Vor lauter Anstrengung, etwas wirklich Bedeutendes<br />

zu sagen, kriegen sie überhaupt nichts mehr heraus, werden immer stiller oder hauen - je nach<br />

Durchhaltevermögen<br />

15<br />

frustriert ab. Dabei geben sie sich aber den Anschein, als ob sie darüber stünden, als ob sie<br />

keine Lust mehr hätten, weil »es sowieso nichts bringt«. Von innen sieht das so aus: »Ich fange<br />

an, mir meine Gedanken vorzuformulieren. Ich kann gar nicht mehr zuhören vor lauter Aufregung.<br />

( ... ) Ich denke, so, jetzt, jetzt, jetzt. Ich sage es nicht. Jetzt - ich kann es nicht sagen. ( ... ) Ich<br />

ärgere mich. Ich will mich in den Griff kriegen. Mein Gott, ich bin doch kein blutiger Anfänger. Ich<br />

möchte wissen, was sie über mich denken, so wie ich hier herumsitze. Ob die mich für doof<br />

halten. Mir fallen Situationen ein, in denen ich mitgearbeitet habe. Situationen in kleineren<br />

Arbeitsgruppen, in denen ich teilweise sogar dominiert habe. Da ist mir eine Idee gekommen <strong>und</strong><br />

ich habe sie gesagt, ganz impulsiv.<br />

Vielleicht habe ich das Referat nicht verstanden, denke ich noch, <strong>und</strong> wenn ich jetzt was sage,<br />

stöhnen alle, <strong>und</strong> ihre Blicke sagen mir, das hat der doch in seinem Vortrag schon erklärt. Ich<br />

überlege hin <strong>und</strong> her. Kann ich das überhaupt vertreten? Da gibt's ja 1000 Gegenargumente. Mir<br />

wird immer heißer. ( ... ) Das Belächeln, fällt mir ein, das mache ich auch manchmal. Einer sagt<br />

was, ich finde es doof <strong>und</strong> grins mir einen ab. Aber vielleicht ist das genau die Reaktion, die man<br />

als Legitimation dafür braucht. Daß man selbst in einer solchen Situation nichts sagt, was nicht<br />

hieb- <strong>und</strong> stichfest ist. ( ... ) Ich bin nur noch vier St<strong>und</strong>en in der Woche als Studentin in der <strong>Uni</strong>.<br />

Das ist wirklich so, als würdest du ab <strong>und</strong> zu mal zum Zahnarzt gehen. Gleich unangenehm«<br />

(aus: Klöckner, 1977).<br />

Auch das Bild vom nächtlichen Referat-Schreiben, auf den ersten Blick beinahe symbolhaft für<br />

völliges Versunkensein in der Arbeit, sieht von innen ganz anders aus. Da wird so spät nachts<br />

noch gearbeitet, weil den ganzen Tag über ungeheuer »wichtige« andere Sachen wie Aufräumen,<br />

Briefe schreiben, Einkaufen etc. dazu benutzt wurden, sich vor der Arbeit zu drücken. Und erst<br />

wenn es wirklich nicht mehr anders ging <strong>und</strong> eigentlich auch schon viel zu spät war, hat sie oder<br />

er sich an die Arbeit gesetzt. Jetzt aber schon mit ungemein schlechtem Gewissen, <strong>und</strong> zum


Ausgleich hat sie oder er sich vorgenommen, jetzt aber besonders viel wegzuarbeiten. Das ist<br />

aber schon wieder so viel, daß es in einer Nacht überhaupt nicht zu schaffen ist.<br />

Oft genug kommt dann noch Bier oder Wein mit auf den Schreibtisch, weil sonst der Frust<br />

überhaupt nicht auszuhalten wäre. Mit dem Frust wird aber auch gleich der Rest an<br />

Arbeitsfähigkeit weggeschwemmt. Wenn dann die Müdigkeit die Zeilen endgültig verschwimmen<br />

läßt, dann werden die nicht erfüllten Vorsätze mit noch gewaltigeren Vorsätzen für den folgenden<br />

Tag ausgeglichen. Und deshalb kommt sie oder er am nächsten Tag auch nicht aus dem Bett:<br />

Der Berg der guten Vorsätze lastet jetzt erst recht, macht das Aufstehen <strong>und</strong> nachher das<br />

Anfangen beinahe unmöglich - wieder die Flucht in alle möglichen »wichtigen« anderen<br />

Aufgaben. Dieser<br />

16<br />

Teufelskreis von schlechtem Gewissen <strong>und</strong> entlastenden »guten« Vorsätzen macht für viele den<br />

Berg immer lastender <strong>und</strong> größer, die Ausweichstrategien immer raffinierter, bis sie nur noch auf<br />

eine mehr oder weniger schlimme Art ausflippen können.<br />

Dazu ein Beispiel aus der psychotherapeutischen Beratungsstelle der <strong>Uni</strong>versität Göttingen: »Ein<br />

Student der Germanistik <strong>und</strong> einer alten Sprache (Griechisch) kommt wegen akuter<br />

<strong>Angst</strong>zustände <strong>und</strong> Arbeitsstörungen in die Beratungsstelle. Die <strong>Angst</strong>zustände, unter denen er<br />

seit Wochen andauernd leidet <strong>und</strong> die schon einmal vor einem Jahr kurzfristig bestanden,<br />

gleichen einer Verkrampfung, gegen die man sich intellektuell nicht wehren könne. Wenn im<br />

Seminar allgemeine Fragen gestellt würden, verspüre er den Drang, wegzulaufen, immer<br />

getrieben von dem Gefühl, daß sein Wissen auf keinem Gebiet ausreiche. Nur bei reinen<br />

Fachfragen sei das anders. ( ... ) Er könne sich nicht mehr konzentrieren <strong>und</strong> müsse sich ständig<br />

zwingen, etwas für sein Studium zu tun. Er schweife aber dauernd ab, wenn er ein Fachbuch<br />

lese. Bei jedem Tun habe er mit dem Gefühl zu kämpfen, eigentlich etwas anderes vordringlich<br />

machen zu müssen« (Sperling, Jahnke, 1974, S. 128).<br />

Ein anderes Beispiel: »Ein 22jähriger Zahnmediziner, der kurz vor dem Physikum wegen<br />

schwerer Konzentrationsstörungen <strong>und</strong> >innerer Müdigkeit< mit zur Panik gesteigerter <strong>Angst</strong> vor<br />

der Prüfung in die Sprechst<strong>und</strong>e kommt <strong>und</strong> sich auch mit Suizidgedanken trägt. Seine<br />

Überzeugung, das Einfachste nicht mehr leisten zu können, da er z. B. beim Lernen zwanghaft<br />

jedem Nebengedanken nachgehen muß <strong>und</strong> ihm bald die Buchstaben vor den Augen<br />

verschwimmen, kontrastiert mit höchsten Ansprüchen. Alles bisher Geleistete scheint ihm wertlos.<br />

Eine unproduktive zerstreute Unruhe treibt ihn durch Kaufhäuser <strong>und</strong> Straßen, immer >auf der<br />

Suche nach dem großen Losalle< ganz isoliert von >allen< herumsitzen) <strong>und</strong> weil es da um den<br />

»neuesten Stand der Diskussion« geht (obwohl niemand das versteht, was die wenigen sagen,<br />

die da mitreden) - kurz: es ist ein Albtraum, <strong>und</strong> es ist nicht verw<strong>und</strong>erlich, daß solche Bilder nur<br />

zu Semesteranfang entstehen können, denn dann bleiben die Leute weg.<br />

Viele - wenn nicht gar die meisten - Studierenden sind also gar


17<br />

nicht fähig, ihre »privilegierten« Arbeitsbedingungen zu nutzen, d. h. aus ihrem Studium etwas<br />

gesellschaftlich Sinnvolles <strong>und</strong> persönlich Befriedigendes zu machen. Geradezu beispielhaft<br />

dafür schreibt eine Gruppe Studenten aus Gießen: »Wir, die wir nun seit einigen Wochen den<br />

Status von Studenten besitzen, haben gehofft, daß sich damit in unserem Leben etwas ändert.<br />

Wir hatten es satt, uns durch Elternhaus <strong>und</strong> Schule dressieren zu lassen. (...) Wir haben gehofft,<br />

daß der Übergang zur <strong>Uni</strong>versität unser Dasein verändert, uns Möglichkeiten eröffnet,<br />

selbständig denken, lernen <strong>und</strong> leben zu lernen.<br />

Wer das gehofft hat, ist nun schon nach einigen Wochen eines >Besseren< belehrt worden. Wir<br />

sitzen in überfüllten Hörsälen <strong>und</strong> Seminarräumen, die mit Menschen gefüllt sind, die wir nicht<br />

kennen <strong>und</strong> auch nicht kennenlernen können unter diesen Umständen. Wir sitzen eng<br />

nebeneinander, ohne zu wissen, wer der andere neben uns ist, was er fühlt <strong>und</strong> denkt, welche<br />

Probleme er hat. Wir riskieren mal einen scheuen Seitenblick, mehr nicht.<br />

Wir hören uns Monologe von Professoren, Assistenten <strong>und</strong> älteren Studenten über Themen an,<br />

von denen sie glauben, daß sie uns interessieren müßten. Wir lassen Seminare über uns<br />

ergehen, deren Strukturen von vornherein verhindern, daß wir mitdiskutieren können, daß wir<br />

unsere Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse artikulieren. Wir können unseren Lebenszusammenhang nicht<br />

vernünftig organisieren, da die fast stündlich wechselnden Lehrinhalte, die unseren Interessen,<br />

Bedürfnissen <strong>und</strong> Problemen jeweils äußerlich bleiben, unseren Alltag völlig zersplittern. Wir<br />

trösten uns damit, daß wir nach Lektüre einiger Kubikmeter Bücher später einmal an die Stelle<br />

derer treten, die uns heute unterdrücken, um dann unsererseits den Anfängern ihre Ohnmacht<br />

vor Augen zu führen.<br />

Wir haben uns nach langem Suchen in Zimmer pressen lassen, die klein <strong>und</strong> zu teuer sind, die<br />

uns voneinander isolieren, so daß wir abends die Platzangst kriegen, weil wir niemand kennen,<br />

mit dem wir sprechen können...<br />

Von all den Veränderungen, die wir uns von dem Eintritt in die <strong>Uni</strong>versität erhofft haben, ist nichts<br />

oder kaum etwas eingetroffen. Wir werden genauso fremdbestimmt weiter vor uns hinleben wie<br />

bisher, wir werden Prüfungen <strong>und</strong> Examina über uns ergehen lassen, die dazu da sind, zu<br />

überprüfen, wie weit unsere Selbstaufgabe <strong>und</strong> unsere Anpassung an die Gesellschaft gediehen<br />

ist.« (Eisenberg, Thiel, 1973, S. 155 f.).<br />

Dieses Auseinanderklaffen von dem, was eigentlich an der <strong>Uni</strong> möglich sein könnte, <strong>und</strong> dem,<br />

was wirklich während des Studiums passiert, ist das zentrale Problem der <strong>Uni</strong>versität, das<br />

deswegen auch hier im Mittelpunkt stehen soll.<br />

18<br />

Zweites Kapitel<br />

Die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong><br />

Erste Ursache: die Institution<br />

In den meisten Fächern gibt es Studienpläne, die festlegen, wieviel Scheine gemacht <strong>und</strong> welche<br />

Veranstaltungen besucht werden müssen. Und doch ist es durchaus unsicher, ob die dort<br />

erworbenen Kenntnisse dann auch für die Prüfung ausreichen. Was die Institution wirklich fordert,


ist meist trotz aller Studienpläne ungewiß. Die Prüfungsanforderungen sind Kataloge, die dir<br />

ganze Berge von Wissen abfordern. Unterhältst du dich aber einmal mit Leuten, die die Prüfung<br />

schon hinter sich haben, dann findest du bald heraus, daß sie nie so praktiziert wird wie sie auf<br />

dem Papier festgelegt ist. In den meisten Fächern ist es auch völlig unklar, was eigentlich für eine<br />

spätere Berufstätigkeit in dem Bereich des Faches an Anforderungen erfüllt werden soll, um den<br />

Aufgaben gewachsen zu sein, vor die du dann gestellt bist. Die Institution <strong>Uni</strong>versität macht also<br />

normalerweise überhaupt nicht klar, was du über die formalen Minimalanforderungen hinaus<br />

leisten mußt, um in ihr bestehen zu können.<br />

Sie kümmert sich aber auch nicht um die Erwartungen der Studierenden. In einer Umfrage<br />

wurden diese gefragt, was sie sich vom Studium erhofft hatten <strong>und</strong> ob sich diese Hoffnungen<br />

erfüllt hatten. Die drei hauptsächlichen Erwartungen waren: die Hoffnung, auf einen interessanten<br />

Beruf vorbereitet zu werden; diejenige, durch das Studium die persönlichen Fähigkeiten<br />

weiterentwickeln zu können, <strong>und</strong> die Hoffnung auf eine praxisbezogene theoretische Ausbildung<br />

(Infratest, 1974, S. 20 ff.). Alle drei Erwartungen sind nach den Angaben der Befragten bitter<br />

enttäuscht worden.<br />

Überall dort, wo die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden, die Anforderungen der Institution<br />

aber auch unklar sind, muß bei den Studierenden ein Gefühl der Sinnlosigkeit entstehen, denn<br />

die Studieninhalte schweben in der Luft. Auch noch so angestrengte Arbeit läßt ein Gefühl<br />

zurück, eigentlich nichts »Wesentliches geleistet zu haben« (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 139).<br />

Mit den wachsenden Studentenzahlen <strong>und</strong> den gleichzeitigen Mittelstreichungen greift dieses<br />

institutionelle Chaos aber immer mehr um sich. Es erfaßt nach <strong>und</strong> nach auch bisher privilegierte<br />

Fächer in den Naturwissenschaften <strong>und</strong> in der Medizin <strong>und</strong> sogar so abliegende Bereiche wie<br />

Altgriechisch <strong>und</strong> Theaterwissenschaften. Sie alle werden zu »Massenfächern«: ungenügende<br />

Ausstattung, keine klaren wissenschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Anforderungen, keine<br />

individuelle, wissenschaftliche Betreuung <strong>und</strong> Anleitung vom<br />

19<br />

Beginn des Studiums an. Bereits 1969 beschrieb eine Untersuchung den Betrieb in solchen<br />

Fächern: Die Ziellosigkeit <strong>und</strong> Ineffektivität führe zu Unsicherheit <strong>und</strong> Kommunikationsmangel.<br />

Das Studium ziehe sich in die Länge <strong>und</strong> sei durchweg mit <strong>Angst</strong> verb<strong>und</strong>en, weil nie klar würde,<br />

was nun die Anforderungen seien <strong>und</strong> wie sie erfüllt werden könnten. So hätte über die Hälfte der<br />

Befragten das Gefühl, nie ausreichend in die Arbeitsmethoden ihres Faches eingeführt worden zu<br />

sein (Jenne u. a., 1969, S. 316 f.). Unter solchen Bedingungen kann die Studiensituation<br />

tatsächlich nur noch als »Streß-Situation« erlebt werden. Statt Lust an der Arbeit <strong>und</strong> Einsicht in<br />

den Sinn aller Studienschritte erzeugt sie nur das Gegenteil: Entfremdung, Einsamkeit <strong>und</strong> <strong>Angst</strong>.<br />

Die Hauptursache: die <strong>Angst</strong> vor dem<br />

»klugen Gesicht«<br />

So sehr die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> durch die sinnentleerten <strong>und</strong> chaotischen institutionellen Bedingungen<br />

begünstigt wird, die hauptsächliche Ursache für ihr Entstehen liegt im Verhältnis der<br />

Studierenden zueinander. Die erste Sitzung eines Seminars im Semester sieht zum Beispiel für<br />

die meisten so aus: Da kommst du rein in einen Raum voller Gesichter, die dir völlig fremd sind,<br />

über die du nichts weißt, die dich aber angucken, <strong>und</strong> du mußt dich wie selbstverständlich<br />

dazwischen setzen (wenn noch ein Platz frei ist bei dem Gedränge). Sitzt du erst mal, dann<br />

schaust du dir ebenfalls die Gesichter von denen an, die reinkommen <strong>und</strong> auch von denen, die<br />

schon dasitzen. Und es beeindruckt dich, wie selbstbewußt <strong>und</strong> locker die aussehen. Auf den


Gedanken kommst du gar nicht, daß es denen genauso gehen könnte wie dir. Denn du siehst ja<br />

nicht den Eindruck, den du nach außen machst. Du spürst nur deine eigene Unsicherheit.<br />

Dieses Beeindrucktsein ist der Moment, in dem dich die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> anspringt. Du siehst nicht<br />

anders aus als die anderen, <strong>und</strong> doch bist du für sie <strong>und</strong> sind sie für dich »das kluge Gesicht«.<br />

Ein Gesicht, das seine <strong>Angst</strong> nicht zeigt, sondern diese durch betont selbstverständliches,<br />

lockeres <strong>und</strong> sicheres Auftreten überspielt. Es wird sofort zur Projektionsleinwand für all die<br />

unbestimmten Anforderungen <strong>und</strong> Erwartungen, die wir alle in unserer Lebensgeschichte<br />

angesammelt haben. Alle Bereiche, wo du das Gefühl hast, versagt zu haben oder irgendwelchen<br />

wirklichen oder vermuteten Anforderungen nicht gerecht zu werden, all das wird jetzt von dir als<br />

Forderung von den »klugen Gesichtern« abgelesen. Denn die sehen so aus, als ob sie all das<br />

ohne Probleme hinkriegen, wo du zu versagen meinst. Sie werden deshalb als lebendiger Beweis<br />

für die Richtigkeit <strong>und</strong> Gültigkeit dieser Anforderung erlebt.<br />

20<br />

Ist diese Projektion einmal gelaufen, dann hat sich die Situation ganz entscheidend verändert.<br />

Jetzt sind sie nämlich nicht mehr etwas Eigenes, dessen Geschichte - <strong>und</strong> damit auch dessen<br />

Fragwürdigkeit - man auf die Spur kommen könnte, sondern sie sind etwas Selbständiges,<br />

Fremdes <strong>und</strong> Mächtiges geworden: jetzt sind sie die Erwartungen der anderen an dich.<br />

All das passiert noch bevor die »klugen Gesichter« angefangen haben zu reden. Von außen<br />

gesehen hat sich eigentlich noch überhaupt nichts Bedeutendes ereignet. Studentinnen <strong>und</strong><br />

Studenten sind in einen Seminarraum gegangen <strong>und</strong> warten auf den Dozenten oder auf die<br />

Dozentin. Und trotzdem ist die Hauptsache schon gelaufen.<br />

Denn alles, was du in dieser Situation noch sagen kannst - wenn sie dich nicht schon stumm<br />

gemacht hat -, muß sich an den so wahrgenommenen Erwartungen der anderen messen. Daß es<br />

deine eigenen Erwartungen, diejenigen der Eltern <strong>und</strong> Geschwister aus der Vergangenheit <strong>und</strong><br />

ein ganzer Knäuel anderer verinnerlichter Anforderungen sind, die einfach auf die anonymen<br />

Anderen übertragen worden sind, das merkst du nicht mehr. Denn das Verhalten <strong>und</strong> das Denken<br />

in der <strong>Uni</strong> wird nur selten rational bestimmt, sondern durch die <strong>Angst</strong> vor dem »klugen Gesicht«,<br />

von der <strong>Angst</strong> davor, was die anderen über dich denken. Und selbst wenn du es im Kopf weißt,<br />

wie das läuft - bis in den Bauch, dorthin, wo die <strong>Angst</strong> sitzt, reicht dieses Wissen nicht.<br />

Der Gedanke, die anderen könnten dich für naiv oder unwissend halten, ist unerträglich. Schon<br />

zugeben zu müssen, daß du ein Buch nicht gelesen hast, das »man eigentlich drauf haben<br />

müßte«, ist schwer genug <strong>und</strong> halbe Blamage. So sind Gespräche über neue Bücher ein<br />

besonderes Ritual: Einer sagt: »Kennst du das Buch so<strong>und</strong>so? Das mußt du unbedingt lesen, das<br />

ist stark. Ich kann es dir gerne mal leihen.« Dann reicht die Palette der Möglichkeiten, wie du<br />

diese Aussage aufnimmst, vom Ausdruck einer Hilfsbereitschaft bis zum Eindruck, daß der dich<br />

eigentlich etwas dumm findet, weil du das Buch noch nicht kennst (Sienknecht, 1976, S. 37).<br />

Die Situation der Erstsemester<br />

Für sie ist alles fremd <strong>und</strong> bedrohlich an der <strong>Uni</strong>. Weil sie in dieser fremden Welt als<br />

Gleichwertige akzeptiert sein wollen, haben sie ganz besonders <strong>Angst</strong> sich zu blamieren <strong>und</strong><br />

bemühen sich angestrengt, sich wie »normale« Studierende zu verhalten. Dazu müßten sie aber<br />

die Wissenschaftssprache mit ihren unzähligen Fremdwörtern <strong>und</strong> feststehenden<br />

Redewendungen schon können. Sie müßten die vielen Abkürzungen <strong>und</strong> die gegensätzlichen<br />

politischen Richtungen mit ihren Parolen drauf haben <strong>und</strong> auch schon


21<br />

dieses vorsichtig-skeptische Über-alles-reden-können beherrschen. Deshalb wird das erste<br />

Semester eine Zeit, in der sich die Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen von einst mit ungeheurer<br />

Geschwindigkeit in Studentinnen <strong>und</strong> Studenten verwandeln, in den Äußerungsformen, in der<br />

Sprache, in der Kleidung, dem politischen Verständnis, der Wohnungseinrichtung. Der Motor für<br />

diesen erstaunlich schnellen Lernprozeß ist die <strong>Angst</strong> vor der Isolation, in der die Erstsemester<br />

stecken <strong>und</strong> in die sie jedes überlegene Lächeln eines höheren Semesters weiter hineintreibt.<br />

Auch wenn mit der gelungenen Anpassung an das <strong>Uni</strong>-Milieu die Kontakte häufiger werden, so<br />

bleibt die Anonymität <strong>und</strong> die Isolierung doch eines der zentralen Studienprobleme. Über 30 %<br />

aller Studierenden sagen von sich selbst, sie hätten Kontaktschwierigkeiten (Teuwsen, 1975, S.<br />

251). Jedoch auch bei denen, die bei sich selbst solche Schwierigkeiten nicht sehen, verläuft die<br />

Kommunikation in einer für die <strong>Uni</strong>versität spezifischen Form: Weil der Kontakt mit der <strong>Angst</strong> vor<br />

der Blamage <strong>und</strong> der Zurückweisung belastet ist, wird er über »unverdächtige« Umwege gesucht.<br />

»Oft ist die Frage nach der Bibliothek, dem Seminar usw. ein Vorwand, Kontakt aufzunehmen ( ...<br />

) Eigene Ziele <strong>und</strong> Zwecke der Kommunikation bleiben oft im unklaren. Diese Art der<br />

Kontaktaufnahme bringt eine Unverbindlichkeit zwischen den Personen mit sich, die bei<br />

Studienanfängern das Gefühl der Isolation mehr <strong>und</strong> mehr verstärkt. Die sachbezogene<br />

Kommunikation zwischen Studenten hat zur Folge, daß selbst persönliche Probleme <strong>und</strong><br />

Schwierigkeiten auf einer abstrakten, von der eigenen Person abgehobenen Ebene artikuliert<br />

werden« (Bull, Weber-Unger, 1976, S. 59 f.).<br />

Die <strong>Uni</strong>-Kommunikation <strong>und</strong> ihre Folgen<br />

Diese sachlich-distanzierte Art zu reden, mit der die Blamage vermieden werden soll, erlaubt nie<br />

die Erfahrung, daß auch ohne schlimme Folgen auf ganz andere Art geredet werden kann. Die<br />

<strong>Angst</strong> vor dem »klugen Gesicht« <strong>und</strong> vor den projizierten Leistungserwartungen bleibt also auch<br />

dann erhalten, wenn du dich in die <strong>Uni</strong>-Situation eingewöhnt hast. Jede auch noch so belanglose<br />

Gesprächssituation wird so zu einer Prüfung, ob du die Erwartungen der anderen erfüllt hast. Die<br />

<strong>Angst</strong> davor, in dieser Prüfung durchzufallen, ist nur zu verständlich. Scheint es doch so, als ob<br />

das den Verlust auch noch dieser entfremdeten Kommunikationsmöglichkeiten nach sich ziehen<br />

würde. Diese sind aber, so verkrüppelt sie auch sein mögen, für das Selbstbewußtsein, die<br />

Arbeitsfähigkeit, für das psychische Wohlbefinden an der <strong>Uni</strong>versität zentral: Die Arbeit am Stoff<br />

allein kann kaum die notwendige Sicherheit geben. Du brauchst dazu das Gespräch. Erst recht in<br />

solchen<br />

22<br />

Fächern, wo es keine festdefinierten Wahrheiten gibt, sondern der größte Teil des Lernprozesses<br />

über Diskussionen <strong>und</strong> Gespräche läuft. Wer also aus der <strong>Uni</strong>-Kommunikation herausfällt, droht<br />

auch aus der <strong>Uni</strong> insgesamt herauszufallen.<br />

So klagten Studierende, die das Fach gewechselt oder das Studium ganz abgebrochen hatten,<br />

besonders häufig über das schlechte Sozialklima (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 118). Bei all<br />

denjenigen, die in ihrer bisherigen Lebensgeschichte Ansätze von psychischen Labilitäten<br />

herausgebildet haben, kann die Isolation in der <strong>Uni</strong>Kommunikation »wie der Schlüssel ins<br />

Schloß« dieser psychischen Störung passen <strong>und</strong> sie bis zum katastrophalen Zusammenbruch<br />

aufschaukeln (Mahler, 1971, S. 7).


Aber auch ohne solche schwerwiegenden Folgen sind Kontaktschwierigkeiten <strong>und</strong> die Anonymität<br />

der <strong>Uni</strong>-Kommunikation bedrohlich genug. Kaum jemand kann längere Zeit ohne Anerkennung,<br />

Selbstbestätigung <strong>und</strong> Wärme leben, ohne daß sich schwere Störungen im Selbstwertgefühl <strong>und</strong><br />

wachsende Arbeitsschwierigkeiten aus einem Gefühl der Leere <strong>und</strong> Sinnlosigkeit entwickeln<br />

(Moeller, Scheer, 1974, S. 42).<br />

Die Kommunikations-Situation in der Cafeteria oder im scheinbar lockeren Gespräch, das in<br />

Wirklichkeit als Prüfung erlebt wird, ist aber nur die abgeschwächte Folge der eigentlich<br />

traumatischen <strong>Uni</strong>-Situation: der wissenschaftlichen Diskussion im Seminar. Die sieht so aus: Da<br />

sitzen Leute im Kreis um einen Tisch <strong>und</strong> werfen »Diskussionsbeiträge« auf diesen Tisch, sie<br />

»bringen sie ein«, »geben ein Votum ab«. Manche dieser Diskussionsbeiträge werden von<br />

anderen »aufgenommen«, indem sie »darauf eingehen« oder »sich darauf beziehen«. Einige<br />

wenige »kommen ganz besonders gut an«. Alle reden darüber, erwähnen den Beitrag. Es kommt<br />

zu einem »regen Gedankenaustausch«. Andere Diskussionsbeiträge bleiben unbeachtet auf dem<br />

Tisch liegen. Die sie eingebracht haben, konnten ihre Position »nicht gut verkaufen«. Von ihnen<br />

kommen daraufhin auch immer seltener <strong>und</strong> immer kürzere Diskussionsbeiträge, bis sie sich ganz<br />

zurückziehen.<br />

Der gesellschaftliche Hintergr<strong>und</strong> für die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong><br />

Die formale Struktur dieser Seminar-Kommunikation, wo alle versuchen, mit ihrem<br />

Diskussionsbeitrag möglichst gut anzukommen, gleicht auf frappante Weise der Gr<strong>und</strong>struktur<br />

der kapitalistischen Gesellschaft.<br />

23<br />

Die kleinen Kreise - im Seminar die Diskutierenden, die ihren Beitrag auf den Tisch bringen -<br />

bedeuten im vereinfachten Modell der Warengesellschaft die einzelnen Produzenten <strong>und</strong><br />

Warenbesitzer, die ihre Ware auf den Markt bringen - der große Kreis, der im Seminar für den<br />

Tisch steht.<br />

Die äußerliche Übereinstimmung ist, so behaupte ich, kein Zufall. Wer sich in dem Kreis<br />

erfolgreich reproduzieren will, wer es zu etwas bringen will, egal ob an der <strong>Uni</strong> oder auf dem<br />

Warenmarkt, der muß Marktgängiges produzieren <strong>und</strong> in den Kreis einbringen. Weiter behaupte<br />

ich, daß sich aus dieser Übereinstimmung der gesellschaftliche Hintergr<strong>und</strong> für die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong><br />

besser verstehen läßt.<br />

Um diese Behauptungen einsichtig machen zu können, muß ich zuerst auf einige<br />

Gr<strong>und</strong>verhältnisse des Warenaustausches eingehen: Ob es den Warenbesitzern oder<br />

Produzenten gut geht oder schlecht, hängt letztlich davon ab, wie ihre Ware auf dem Markt<br />

ankommt. Sie kann für ihren eigenen Geschmack so gut sein wie sie wollen, nicht sie entscheiden<br />

darüber, wie sie sich verkauft, sondern die anderen Teilnehmer des Marktes. Die<br />

Warenproduzenten müssen also immer versuchen, so gut wie möglich <strong>und</strong> so viel wie möglich zu<br />

produzieren. Ob sie das Zeug dann loswerden <strong>und</strong> damit Erfolg haben, darauf können sie nur<br />

hoffen.<br />

Dabei geschehen zwei Verwandlungen, die sich auch auf andere Bereiche auswirken, die nicht<br />

unmittelbar zum Warenmarkt gehören. Die erste macht aus dem Mann mit der großen roten Nase<br />

<strong>und</strong> vielen anderen persönlichen Eigenschaften einen abstrakten Warenbesitzer. Den Schuster<br />

erkennt man nicht mehr an seiner roten Nase, sondern daran, daß er Schuhe produziert <strong>und</strong>


verkauft. In einer Gesellschaft, in der das Überleben allein durch den Warenaustausch möglich<br />

ist, werden diese Waren zum Wichtigsten.<br />

Diese Verlagerung dessen, wofür man angesehen wird, von der Gesamtheit der persönlichen<br />

Eigenschaften auf das, was man produziert <strong>und</strong> besitzt, gibt es in Europa nun schon seit über<br />

fünfh<strong>und</strong>ert Jahren. In dieser Zeit hat sie sich selbstverständlich auch auf andere<br />

Verhaltensbereiche außerhalb des unmittelbaren Warenmarktes ausgewirkt. Das geht bis hin in<br />

die Erziehung der Kinder: Sie werden für ihre Leistungen belohnt, entweder ganz offen in einer<br />

Art Tausch mit Geschenken oder versteckter mit Zuwendung. Kindergarten, Schule <strong>und</strong> Beruf, sie<br />

alle befestigen dieses Verhalten, bestätigen <strong>und</strong> verstärken es: Du bist das, was du produzierst,<br />

was du bringst. Danach wirst du beurteilt, <strong>und</strong> dafür erhältst du Anerkennung, Selbstbestätigung<br />

<strong>und</strong> schließlich auch die Noten <strong>und</strong> das Geld. Dabei lernst du dann auch gründlich: Ob du das<br />

bekommst oder nicht, hängt keineswegs davon ab, wie du selbst das beurteilst, was du tust;<br />

entscheidend ist, wie die anderen darüber denken, die Eltern, Lehrer, Klassenkameraden. Du<br />

bekommst also mit der Er<br />

24<br />

ziehung das Gr<strong>und</strong>muster einer Verhaltensweise aufgeprägt, das genau dem Verhalten auf dem<br />

Markt entspricht. Diese Entsprechung ist durch jahrh<strong>und</strong>ertelange tagtägliche Praxis <strong>und</strong> durch<br />

die Erziehung von zig Generationen zur »Lebenstüchtigkeit« in einer warenproduzierenden,<br />

kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht worden <strong>und</strong> ist nicht bloße Analogie aus dem<br />

analysierenden Kopf. Sie existiert in der Wirklichkeit!<br />

Die zweite Verwandlung, die, ausgehend vom Marktverhalten, schließlich die universitäre<br />

Kommunikations-Situation prägt, macht die Produzenten in ihrem Verhalten völlig von den<br />

Erwartungen der anderen abhängig: Alle Anerkennung, alle Zuwendung <strong>und</strong> Selbstbestätigung<br />

läuft über das Produkt. Es ist aber durchaus unsicher, ob die einmal erbrachte Leistung sich auf<br />

dem Markt auch bewähren wird, ob die anderen die erwartete Zuwendung <strong>und</strong> Anerkennung<br />

dafür auch geben. Weil dies so unsicher ist, müssen sich die Diskussionsteilnehmer im Seminar<br />

genauso wie die Warenproduzenten in ihrer Leistung voll auf die anderen einstellen.<br />

Der Schuster muß immer damit rechnen, daß er auf seinen Schuhen sitzenbleibt <strong>und</strong> dann in der<br />

nächsten Produktionsperiode in Schwierigkeiten gerät. Er hat also allen Gr<strong>und</strong> zur <strong>Angst</strong> vor den<br />

Veränderungen am Markt. Dieselbe Unsicherheit stellt sich auch in den sozialen Beziehungen<br />

ein. Es ist durchaus ungewiß, ob man mit seiner Leistung ankommt, ob sie auf Anerkennung,<br />

Nichtbeachtung oder gar Ablehnung stößt. Zwar werden im Sozialverhalten keine Waren<br />

getauscht, keine Wertäquivalente in Geld <strong>und</strong> wieder neue Waren verwandelt. Es ist auch nicht<br />

so unmittelbar <strong>und</strong> materiell existenzgefährdend, wenn man mit seiner Leistung nicht ankommt,<br />

essen kann man dann immer noch. Aber ohne die Anerkennung <strong>und</strong> Zuwendung der anderen läßt<br />

sich auf die Dauer schwer leben. Und wenn sich Anerkennung in Ablehnung <strong>und</strong> Zuwendung in<br />

Feindlichkeit verwandelt, ist das Selbstwertgefühl <strong>und</strong> die Ich-Identität meist schwer gefährdet.<br />

Die Abhängigkeit vom Urteil der anderen über das, was ich leiste, erlebe ich immer als Urteil über<br />

mich als ganze Person. Auch ist meine Abhängigkeit von diesem Urteil durchaus der<br />

vergleichbar, in der sich der Warenproduzent gegenüber dem Markt befindet, denn auch ich muß<br />

»Marktgängiges« bringen, sei es im Seminar oder beim scheinbar »lockeren« Quatschen in der<br />

Cafeteria. Deshalb finde ich die Beschreibung von Duhm sehr treffend: »Warenbesitzer sind<br />

existenziell darauf angewiesen, den Tauschwert (d. h. den Gegenwert, W. W.) ihrer Waren zu<br />

realisieren. Zwei Schwierigkeiten sind dabei zu überwinden: Erstens muß die Ware einen Markt<br />

finden, sie muß also gesellschaftlich akzeptiert werden. Zweitens muß die Tauschwertrealisierung


durchgesetzt werden gegen die Konkurrenten, die ebenfalls ihre Tauschwerte realisieren wollen.<br />

Es sind dies zwei Momente existentieller Bedrohung ( ... )<br />

25<br />

Es ist die <strong>Angst</strong>, daß die Verwertung nicht gelingt, daß die soziale Anerkennung, die man sich<br />

einhandeln will, nicht erfolgt, die <strong>Angst</strong> vor gesellschaftlichem Liebes- <strong>und</strong> Existenzverlust (Duhm,<br />

1974, S. 94).<br />

Diese beiden Momente der Leistungsangst treten unter den Bedingungen der <strong>Uni</strong>versität<br />

besonders stark hervor. Die <strong>Angst</strong>, nicht zu wissen, was du leisten sollst, verstärkt <strong>und</strong> verkoppelt<br />

sich mit der <strong>Angst</strong>, das Geforderte nicht bringen zu können. Auf die sowieso meist schon weit<br />

überzogenen institutionellen Anforderungen der <strong>Uni</strong> türmen sich überall noch die vermuteten <strong>und</strong><br />

durch die Projektion auf die »klugen Gesichter« ins Gigantische aufgeblasenen<br />

Leistungserwartungen der Mitstudierenden. Du fühlst dich umstellt.<br />

In dieser Situation lernst du kaum jemals eine Person so gut kennen, daß ihr euch als Person mit<br />

ihren Schwächen <strong>und</strong> Stärken <strong>und</strong> ihrer Geschichte kennen <strong>und</strong> akzeptieren könnt.<br />

Normalerweise wirst du also nach ganz äußerlichen Gesichtspunkten beurteilt: wie du auftrittst,<br />

dich kleidest, was du sagst <strong>und</strong> tust - also nach dem, was du bringst <strong>und</strong> leistest. Die <strong>Angst</strong>, nur<br />

über die Leistung akzeptiert zu werden, ist für die <strong>Uni</strong>versitäts-Situation unvermeidlich. All das<br />

wird an der <strong>Uni</strong>versität aber dadurch zum Alptraum, weil dort noch am wenigsten klar ist, was nun<br />

eigentlich gefordert wird. Denn kaum irgendwo anders ist es so schwierig herauszufinden, was<br />

gerade »marktgängig« ist. Deshalb ist die Leistungsangst auch kaum irgendwo so groß wie an<br />

der <strong>Uni</strong>versität.<br />

26<br />

Drittes Kapitel<br />

Der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong><br />

<strong>Angst</strong> haben ist eine so unangenehme Situation, daß sie niemand lange aushält, ohne dagegen<br />

Abwehrmechanismen zu entwickeln. Meist unbewußt werden Verhaltensweisen aufgebaut, die<br />

eine angstmachende Situation erst gar nicht entstehen lassen sollen. »Die allgemeinste Form der<br />

<strong>Angst</strong>abwehr ist die marktgerechte Ausstaffierung der eigenen Person, also die Anpassung. Die<br />

gesellschaftlich positiv bewerteten Eigenschaften werden herausgeputzt (Imponiergehabe), die<br />

negativen versteckt <strong>und</strong> verschleiert, aus der Kommunikation ausgeklammert, exkommuniziert«<br />

(Duhm, 1974, S. 126).<br />

Die »positiv bewerteten Eigenschaften« an der <strong>Uni</strong> sind: Bescheid wissen, Durchblick haben,<br />

über der Sache stehen, alles hinterfragen <strong>und</strong> einschätzen können. Als <strong>Angst</strong>abwehrfassade zum<br />

Imponiergehabe herausgeputzt geht das Positive, was in solchen Eigenschaften durchaus<br />

stecken kann, immer mehr verloren. Es wird nebensächlich <strong>und</strong> wird durch die Funktion ersetzt, ja<br />

nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, man erfülle die Leistungserwartungen nicht. Um die<br />

<strong>Angst</strong> vor diesen unerfüllbar überzogenen Erwartungen abzuwehren, tut man vielmehr so, als ob<br />

es überhaupt gar kein Problem wäre, sie zu erfüllen. Durch meine Sprache, mein Auftreten, durch<br />

mein ganzes Verhalten signalisiere ich: »Ich weiß Bescheid, beherrsche den Stoff genügend, um<br />

notfalls alles, was du dazu sagst, kritisch zerpflücken zu können. Fordere mich also nicht<br />

heraus!« In diesem - meist unbewußten - Verhalten steckt die Erfahrung, daß diese Fassade von<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Überlegenheit den anderen genügend <strong>Angst</strong> macht. Sie wagen es dann<br />

tatsächlich nicht, mich herauszufordern.


Dieses Verhalten entspricht genau dem »<strong>Bluff</strong>« im Kartenspiel: Ich stelle mich als so stark dar,<br />

daß die anderen gar nicht wagen, nachzufragen, mitzureizen oder mich gar zum Aufdecken<br />

meiner Karten zu zwingen. Ich signalisiere mit meinem Verhalten: Das käme dich teuer zu stehen,<br />

denn ich würde sicher Sieger bleiben. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob meine Karten wirklich<br />

so stark sind oder ob ich nur so tue als ob. Entscheidend ist die Wirkung auf die anderen: Sie<br />

müssen so eingeschüchtert werden, daß sie den Test gar nicht erst wagen.<br />

Beim <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> ist das genauso. Nach meiner Erfahrung wird von denjenigen am meisten <strong>und</strong><br />

nachhaltigsten geblufft, die es eigentlich gar nicht nötig hätten, weil sie in dem Gebiet wirklich<br />

Bescheid wissen. Man nehme sich nur mal eine wissenschaftliche Zeitschrift<br />

27<br />

vor, in der sich die Professoren über Spitzfindigkeiten ihres Spezialgebietes streiten. Da wird in<br />

einer Sprache geschrieben, die vordergründig zwar einen Inhalt mitteilt, die aber vor allem<br />

ausdrückt: Hier bin ich souverän, hier kann mir keiner! Das Wissen wird nicht mit dem - eigentlich<br />

einzig sinnvollen -Ziel dargestellt, sich verständlich zu machen <strong>und</strong> andere lernen zu lassen. Statt<br />

dessen wird die Herrschaft über den Stoff als Mittel eingesetzt, um Herrschaft in der<br />

Kommunikation auszuüben. Diese Form des <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong>s ist am weitesten verbreitet <strong>und</strong> prägt alle<br />

anderen Formen. In ihr wird also keineswegs nur so getan »als ob«. Das wirklich vorhandene<br />

Wissen wird in einer Form präsentiert, die Überlegenheit <strong>und</strong> Unangreifbarkeit signalisiert.<br />

Die Dozenten <strong>und</strong> Dozentinnen haben diese Sprache während ihres eigenen Studiums <strong>und</strong> dann<br />

für ihre wissenschaftliche Karriere so gründlich lernen müssen, daß sie für sie meist zur völlig<br />

unbewußten Gewohnheit geworden ist. Sie benützen sie auch gegenüber Erstsemestern <strong>und</strong><br />

setzen damit für alle Studierenden Maßstäbe, die diese nur noch bewältigen können, wenn sie so<br />

tun, als ob auch sie Bescheid wüßten <strong>und</strong> den großen Durchblick hätten. Aus lauter <strong>Angst</strong> wird<br />

also so getan, als ob man die völlig unerfüllbaren Leistungserwartungen bereits erfüllt hätte.<br />

Dabei entstehen auß~r der bereits beschriebenen Sprache" die Überlegenheit <strong>und</strong><br />

Unangreifbarkeit signalisiert, folgende <strong>Bluff</strong>Formen: Der <strong>Bluff</strong>er formuliert allgemein <strong>und</strong><br />

unbestimmt. Er verweist pauschal durch Einstreuen von Namen auf ganze Wissensgebiete <strong>und</strong><br />

schwierigste theoretische Auseinandersetzungen mit dem Beteuern, daß er aus Platz- oder<br />

sonstigen Gründen leider nicht näher darauf eingehen könne. Oder aber: er beweist seine<br />

Wissenschaftlichkeit, indem er sich nie festlegt <strong>und</strong> sich immer ein Hintertürchen offen hält (»Ins<br />

unreine gesprochen«, »ich würde sagen wollen«). Dieses Offenhalten eines Rückzugweges (»So<br />

eindeutig habe ich das ja auch nicht gesagt!«) ist als <strong>Angst</strong>abwehrfassade im <strong>Bluff</strong> so wichtig,<br />

weil sich diejenigen, die auf diese Weise bluffen, trotz ihrer <strong>Angst</strong> langsam <strong>und</strong> vorsichtig in eine<br />

Kommunikationssituation hineintasten können. Sie können sich nach <strong>und</strong> nach immer mehr auf<br />

die Situation einlassen, Schritt für Schritt selbstbewußter <strong>und</strong> unbekümmerter auftreten wie im<br />

Winter beim ersten Eis auf dem See, wenn man ausprobiert, ob es trägt. Jedes bedenkliche<br />

Augenbrauenzucken des Gesprächspartners ist wie ein Knacken im Eis: schnell zurück ins<br />

Allgemeinere, Unbestimmtere, Vorsichtigere: »Sicher, man muß das differenzierter sehen, aber<br />

als Hypothese meine ich doch . . . «<br />

Ist jemand aber mal unvorsichtig gewesen, hat sich zu weit vorgewagt <strong>und</strong> wird auf einen Fehler<br />

festgelegt, ohne sich zurückziehen zu können, dann reagiert er nur zu leicht mit einer<br />

aggressiven <strong>Bluff</strong>-Form: Wenn er schon als jemand entlarvt ist, der nicht Be<br />

28


scheid weiß, dann zeigt er dem anderen, daß der erst recht nichts weiß! Auf einer Fahrt von<br />

Berlin nach Helmstedt stellte sich zum Beispiel bei einem Anhalter, den ich mitgenommen hatte,<br />

heraus, daß er in Berlin sein Politologie-Examen machen wollte. In dümmlicher Dozentenmanier<br />

fragte ich ihn, ob er denn schon das Kapital von Marx gelesen habe, das sei nämlich wichtig. Er<br />

verneinte das, fügte aber sofort hinzu, er wolle das aber jetzt in den Ferien machen. Voller<br />

grobklotziger Gutwilligkeit empfahl ich ihm daraufhin ein bestimmtes Buch als Begleitliteratur. Und<br />

in die Ecke getrieben antwortete er, der doch gerade eben erklärt hatte, daß er das Kapital nicht<br />

kenne.- Nein, dieses Buch tauge nichts, das interpretiere das Kapital viel zu hegelianisch <strong>und</strong><br />

idealistisch! Und ich begann natürlich sofort, meine Empfehlung zu verteidigen mit: ja, da sei<br />

schon was dran, aber andererseits ... Erst sehr viel später ging mir das Absurde dieser Situation<br />

auf.<br />

Alle Formen des <strong>Bluff</strong>s haben aber eines gemeinsam: Sie verschlimmern die Situation nur noch,<br />

sie verstärken den Leistungsdruck. Denn jetzt erscheinen die in Wirklichkeit unerfüllbaren<br />

Leistungserwartungen doch als »machbar«, <strong>und</strong> mit jedem neuen <strong>Bluff</strong> türmen sich wieder neue<br />

Leistungsdimensionen auf. Das Einschwenken auf den <strong>Bluff</strong> wird immer dringlicher.<br />

Im Augenblick der angstmachenden Situation hilft der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> zwar durchaus als<br />

<strong>Angst</strong>abwehrfassade. Er hilft die Situation überleben. Gleichzeitig bestätigt <strong>und</strong> verstärkt er aber<br />

genau das, was die angstmachende Situation überhaupt erst erzeugt: die überzogenen<br />

Leistungsansprüche <strong>und</strong> die Kommunikationsform, die sich nicht mitteilen will, sondern nur<br />

Überlegenheit <strong>und</strong> Herrschaft darstellt. <strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Angst</strong>abwehrfassade verstärken sich<br />

gegenseitig <strong>und</strong> schaukeln sich hoch bis zu dem Punkt, wo man entweder nur noch fliehen kann -<br />

in Arbeitsschwierigkeiten, in den Fachwechsel oder Studienabbruch, oder gar in Depression <strong>und</strong><br />

Selbstmord. Oder aber man lernt den <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> bis zur Perfektion <strong>und</strong> verinnerlicht die<br />

Verhaltensstrategien der <strong>Angst</strong>abwehrfassade so sehr, daß sie wie selbstverständlich als Teil der<br />

eigenen Persönlichkeit erscheinen: Man ist zum Akademiker oder zur Akademikerin geworden!<br />

Das sind jedenfalls die Alternativen, wenn man sich nicht gegen den <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> wehrt. Bevor ich<br />

darauf eingehe, will ich aber noch weiter untersuchen, wie der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> normalerweise wirkt,<br />

welche Funktion er hat <strong>und</strong> was eigentlich dahinter steckt. Zuerst jedoch muß die Frage<br />

beantwortet werden:<br />

29


Was ist ein Akademiker?<br />

Es gibt darüber eine empirische Untersuchung aus Konstanz. In einer repräsentativen Umfrage<br />

wurde das Bild ermittelt, das sich die Bevölkerung vom »Akademiker« macht, <strong>und</strong> dann mit dem<br />

verglichen, was die von sich selbst denken. Vier Fünftel der Bevölkerung haben ganz besondere<br />

Vorstellungen über die Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten von Leuten mit <strong>Uni</strong>versitätsabschluß:<br />

»Dieses Erwartungsbild konzentriert sich auf drei Komponenten: Bildungsstandard,<br />

Allgemeinbildung (64 %), Denkvermögen, Problemlösung, Urteilsfähigkeit (59 %),<br />

Ausdrucksvermögen, Formulierungsgabe (54 %).« Als weitere Eigenschaften wurden genannt:<br />

»Verantwortungsbewußtsein, bestimmte soziale Fähigkeiten wie Menschenkenntnis,<br />

Kontaktfähigkeit <strong>und</strong> die Fähigkeit Menschen zu führen, Entscheidungs- <strong>und</strong> Handlungsfähigkeit,<br />

dazu auch ein gewisser Stil im Benehmen <strong>und</strong> Umgangsformen (alle etwa 40 %). Aufgr<strong>und</strong><br />

solcher Qualifikationen wird dem Akademiker der Status einer >Führungsfigur< zugewiesen.<br />

Diese Zuweisung ist jedoch nicht gekoppelt mit einer ebenso ausgeprägten Erwartung, nach der<br />

Akademiker ihr Handeln stärker als andere am Allgemeinwohl orientieren würden (nur ca. 20 %).«<br />

(Framhein, 1975, S. 160)<br />

Diese scharfe Zuspitzung im Bild des typischen Akademikers auf elitäres Führungsverhalten, das<br />

sich um gesamtgesellschaftliche Belange kaum schert, wird noch deutlicher, wenn die<br />

Eigenschaften betrachtet werden, die nicht in das allgemeine Bild vom Akademiker eingehen: »Es<br />

sind dies vor allem praktische Momente wie Arbeitstechnik oder Organisationsfähigkeit <strong>und</strong><br />

Haltungen, die zuweilen als >Arbeitstugendem bezeichnet werden, wie etwa Arbeitsmotivation<br />

<strong>und</strong> Einsatzbereitschaft, Pflichtbewußtsein <strong>und</strong> Ehrlichkeit. Schließlich, als Einzelelemente<br />

bemerkenswert, fehlt auch Kreativität <strong>und</strong> Phantasie« (ebda.). Die ganzen nützlichen<br />

Eigenschaften von Wissenschaft fallen heraus. Sie sind im Herrschaftshabitus der<br />

b<strong>und</strong>esrepublikanischen Akademiker offensichtlich nicht zu entdecken. Die Bevölkerung hat also<br />

aus eigener bitterer Erfahrung gelernt, zwischen Akademikern <strong>und</strong> Wissenschaftlern zu<br />

unterscheiden - anders ist das Ergebnis dieser Repräsentativbefragung bei der wohlbekannten<br />

übertriebenen Wissenschaftsgläubigkeit in Deutschland kaum erklärbar.<br />

Bezeichnenderweise stimmen die befragten Akademiker diesem ihrem »Image« voll zu: Ihr Bild<br />

von sich selbst ist dasselbe auch in den nicht genannten Eigenschaften - wie ihr Fremdbild:<br />

»Führungsfigur«. Mit einem wichtigen Unterschied: »Akaderniker fügen diesem Fremdbild jedoch<br />

ganz prononciert Qualifikationen hinzu, die alle in Richtung einer kritisch-autonomen<br />

Intellektualität weisen. Dies sind Qualifikationen wie Kritikfähigkeit,<br />

30<br />

Selbstkritik, Sachlichkeit, Toleranz, Selbständigkeit. Dadurch heben sich Akademiker in ihrem<br />

Selbstbild entscheidend vom Fremdbild ab, in dem sie allgemeine theoretisch-instrumentelle<br />

Kompetenz in einen kritisch-rationalen Habitus einbinden <strong>und</strong> sich damit - wiederum im Sinne<br />

einer sozialen Figur - eher als Intellektuelle verstehen« (ebda., S. 161). Die konstruieren damit für<br />

sich selbst »ein allgemein >superioreres< Qualifikationsbewußtsein«. Nach den Konstanzer<br />

Untersuchungen spricht bisher nichts dafür, daß dieses Selbstbild auch tatsächlich eingelöst wird:<br />

»Wenn sich dies in weiteren Analyseschritten bestätigt, so würde dies darauf hindeuten, daß es<br />

der <strong>Uni</strong>versität gelingt, ihren Absolventen ein spezifisches Bild des Akademikers im Sinne einer<br />

idealvorstellung zu vermitteln, ohne daß dieses Ideal im Sinne einer Aufgabennorm eingelöst<br />

wird« (ebda., S. 164).<br />

Der »heimliche Lehrplan«


Nach außen hin <strong>und</strong> für alle sichtbar werden an den <strong>Uni</strong>versitäten Inhalte vermittelt, die für eine<br />

spätere Berufstätigkeit qualifizieren sollen. Diese Inhalte sind in einem Lehrplan festgelegt.<br />

Daneben aber - <strong>und</strong> von niemandem bewußt betrieben <strong>und</strong> von den meisten unbemerkt - gibt es<br />

etwas, wofür sich in der pädagogischen Diskussion die Bezeichnung »heimlicher Lehrplan«<br />

eingebürgert hat. Weil die Inhalte des offiziellen Lehrplans in einer Situation der gegenseitigen<br />

<strong>Angst</strong> gelehrt <strong>und</strong> gelernt werden, nimmt dieses Lernen <strong>und</strong> Lehren unversehens die Form von<br />

Herrschaftsverhalten an. Dabei verliert es gleichzeitig den Kern seines Inhalts. Die Form, in der<br />

es betrieben wird, setzt sich gegenüber dem aufklärerischen Inhalt durch <strong>und</strong> macht selbst aus<br />

der emanzipatorischen Wissenschaft Herrschaftswissen. Wenn dieser »heimliche Lehrplan« nicht<br />

bewußt gemacht <strong>und</strong> bekämpft wird, können noch so gesellschaftskritische Inhalte nicht<br />

garantieren, daß sie genauso wie die üblichen Ausbildungsstoffe zum Stoff werden, mit dem vor<br />

allen Dingen ein elitärer Herrschaftshabitus vermittelt wird.<br />

Aber selbst dann, wenn nicht dieser extrem herrschaftsbezogene Führungshabitus herauskommt,<br />

verwandelt die <strong>Uni</strong> die Leute gründlich, wenn sie sich nicht bewußt dagegen wehren. Ich habe in<br />

ungezählten Studienberatungen erlebt, wie sich Studentinnen <strong>und</strong> Studenten beim Gespräch<br />

über ihre bisherige Studienentwicklung <strong>und</strong> ihre Motive für das Studium nach <strong>und</strong> nach daran<br />

erinnerten, wie sie waren <strong>und</strong> was sie wollten, als sie mit dem Studium angefangen haben.<br />

Da war zum Beispiel ein Student, der früher jahrelang in einem Betrieb der Metallbranche<br />

gearbeitet hatte <strong>und</strong> dort gewerk<br />

31<br />

schaftlicher Jugendsprecher gewesen war. Die ständigen Konflikte mit der<br />

Gewerkschaftsbürokratie <strong>und</strong> der Betriebsleitung brachten ihn zur Verzweiflung. Als es nicht mehr<br />

weiter ging, wollte er unbedingt studieren <strong>und</strong> herausfinden, warum das alles so ist <strong>und</strong> ob sich<br />

da nichts Wirksames dagegen tun läßt. Er nahm also die ungeheuren Mühen auf sich, das Abitur<br />

im zweiten Bildungsweg nachzumachen. Als er dann an die <strong>Uni</strong> kam, stürzte er sich hochmotiviert<br />

auf den Stoff <strong>und</strong> in die Theorien. Diese Theorien wurden aber mit dem ganzen <strong>Bluff</strong>-Ballast <strong>und</strong><br />

der ganzen Praxisferne dargeboten, die sie auch dann wie mit einer Staubschicht überziehen,<br />

wenn sie eigentlich von unmittelbar praktischen Problemen handeln. Weil aber die formalen<br />

Scheinanforderungen <strong>und</strong> auch die Art der universitären Kommunikation keine Alternative boten,<br />

paßte er sich dieser Art Theorie zu treiben an. Um mitreden zu können <strong>und</strong> um das Bafög weiter<br />

beziehen zu können, wurde er -ohne es zu merken - immer mehr in die <strong>Uni</strong> hineingezogen <strong>und</strong><br />

von seiner ursprünglichen Motivation weggetrieben. Die praxisbezogene Fragestellung wurde<br />

nach <strong>und</strong> nach durch eine rein inneruniversitäre Theoriedebatte abgelöst, deren Sinn- <strong>und</strong><br />

Zwecklosigkeit ihn aber immer wieder depressiv überrollte. So war er, der einmal ungeheure<br />

Mühen auf sich genommen hatte, allein um an der <strong>Uni</strong> für ihn brennende Fragen zu bearbeiten,<br />

von diesen Fragen unwillkürlich abgekommen <strong>und</strong> in ein akademisches Studium hineingezogen<br />

worden. Weil er aber dessen Sinnlosigkeit wohl spürte, war er zum Zeitpunkt der Studienberatung<br />

dabei, sein Studium abzubrechen <strong>und</strong> »irgend etwas anderes« zu machen.<br />

Ein anderes Beispiel für die Wirkung des »heimlichen Lehrplans«: Eine Studentin erinnerte sich<br />

in dem Beratungsgespräch, wie sie als Schülerin in einer politischen Schülergruppe gearbeitet<br />

hatte.Und als sie so erzählte, ging ihr plötzlich auf, daß sich die Art <strong>und</strong> Weise, politisch<br />

gemeinsam zu arbeiten, gegenüber damals völlig verändert hatte. In der Schülergruppe hatten sie<br />

sich umeinander gekümmert, wußten übereinander Bescheid <strong>und</strong> hatten sich gegenseitig<br />

unterstützt, wenn sie mal durchhingen. An der <strong>Uni</strong> hatte sich das völlig verändert. Jetzt war alles<br />

sehr distanziert <strong>und</strong> unverbindlich geworden. Leute flippten aus, ohne daß es irgend jemand<br />

merkte. Die Arbeit war nicht mehr so sehr durch Gemeinsamkeit <strong>und</strong> den Wunsch bestimmt,<br />

dabei auch Spaß zu haben. Statt dessen lief sie mehr <strong>und</strong> mehr über den Kopf <strong>und</strong> wurde durch


harte Diskussionen voller theoretisierender Konkurrenz bestimmt. Als wir darüber sprachen,<br />

wurde uns klar, daß gerade in linken <strong>Uni</strong>-Gruppen die theoretischen Leistungsanforderungen<br />

besonders hochgeschraubt sind <strong>und</strong> deshalb die <strong>Angst</strong> vor dem »klugen Gesicht« besonders<br />

bedrohlich ist, mitsamt der beinahe automatischen Gegenreaktion, die <strong>Angst</strong><br />

32<br />

abwehrfassade des <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> aufzubauen. Also auch dort, wo oft genug der gegenteilige<br />

Anspruch besteht, wirkt der »heimliche Lehrplan« der <strong>Uni</strong>.<br />

Gilt das für alle Fächer?<br />

Gegen diese These, der »heimliche Lehrplan« bringe den Studierenden, egal welches Fach sie<br />

studieren, mit <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong><strong>Bluff</strong> zusätzlich zum jeweiligen Fachwissen einen elitären<br />

Herrschaftshabitus bei, gibt es den Einwand, dies sei möglicherweise für die Fächer der früheren<br />

Philosophischen Fakultät richtig, aa eerr n der Medizin <strong>und</strong> in den naturwissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

technischen Fächern sei das gar nicht möglich, weil es dort das gesicherte Wissen gar nicht<br />

erlaube, zu bluffen (Reiss, 1975 <strong>und</strong> Apel, Groebel, 1975).<br />

Das wird auch durch die empirischen Beobachtungen gestützt, wonach es in diesen Fächern<br />

erheblich seltener zu schweren psychischen Problemen kommt, die die Studierenden in die<br />

psychotherapeutischen Beratungsstellen führen oder sie gar in den Selbstmord treiben<br />

(Lungershausen, 1968, S. 106 <strong>und</strong> 109). Das erklärt sich aber zum Teil schon allein dadurch, daß<br />

sich bei der Wahl der Fachrichtung eine psychische <strong>und</strong> schichtenspezifische Selektion ergibt:<br />

Technische <strong>und</strong> naturwissenschaftliche Fächer ziehen offensichtlich eher als alle anderen Fächer<br />

Kinder von Arbeitern <strong>und</strong> unteren Angestellten an (Student, 1966, S. 2), die ihre psychischen<br />

Konflikte auf ganz andere Weise verarbeiten als Mittelschichtkinder (Moeller, Scheer, 1974). Bei<br />

ersteren werden im Elternhaus <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>eskreis psychische Konflikte nur schwer als echte<br />

Krankheiten akzeptiert, bevor sie nicht auch in einem physischen Zusammenbruch münden. Die<br />

sachliche Materie dieser Fächer kommt einer solchen Verdrängung entgegen. Es findet also in<br />

den Fächern schon vor Beginn des eigentlichen Studiums eine Art Vorselektion statt (Beckmann<br />

u. a., 1972, S. 38 f.). Das würde den Einwand, es gebe keinen uniweiten »heimlichen Lehrplan«,<br />

gut stützen.<br />

Aber gerade an den Ingenieurwissenschaften - für die im Prinzip ähnliches gilt - läßt sich zeigen,<br />

daß auch dort mit dem technischen Wissen zusammen ein elitärer Herrschaftshabitus mitgelehrt<br />

wird. Die Ingenieure lernen Theorie <strong>und</strong> Methoden, die sie niemals wieder in der Produktion<br />

gebrauchen können, die sie auch nicht dazu befähigen, die praktische Arbeit ihrer Untergebenen<br />

besser zu durchschauen oder gar selbst zu verrichten. Daraus schließt eine Gruppe von<br />

Dozenten an einer Technischen <strong>Uni</strong>versität: »Die Vermittlung wissenschaftlicher Theorien an der<br />

<strong>Uni</strong>versität dient weniger der Qualifizierung für die Erfordernisse des Arbeitsplatzes als<br />

33<br />

der Erzeugung elitär-akademischer >Überlegenheit< <strong>und</strong> Distanz gegenüber den nicht an der<br />

Hochschule ausgebildeten Produzenten <strong>und</strong> der Rechtfertigung hierarchischer Strukturen« (Naef,<br />

Schoembs, Wagemann, 1975, S. 143).<br />

Auch in den theoretischen Naturwissenschaften wie Mathematik <strong>und</strong> Physik wirkt das<br />

Zusammenspiel von <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong><strong>Bluff</strong> als »heimlicher Lehrplan« auf den elitären<br />

Herrschaftshabitus hin. Dort verläuft das aber sehr viel komplizierter als in den<br />

Sozialwissenschaften, weil der <strong>Bluff</strong> in der Form des vorgetäuschten Wissens kaum möglich ist.


Die richtigen Antworten auf bestimmte Probleme stehen fest. Da gibt es kein<br />

Sich-darumHerumreden (Reiss, 1975, S. 218 ff). Auch ist der Spielraum für eigene<br />

Studienentscheidungen viel kleiner. Gerade in den unteren Semestern gibt es meist extrem rigide<br />

<strong>und</strong> arbeitsintensive Studienvorschriften. Da bleibt kaum Zeit für andere Kontakte, <strong>und</strong> vor lauter<br />

institutionellem Leistungsdruck verlieren alle anderen studienbezogenen Fragen an Bedeutung<br />

(ebenda, S. 226 ff.).<br />

Das erklärt, warum es keinen anderen Fachbereich gibt, aus dem Studierende in einem solch<br />

extremen Ausmaß ihr Studium abbrechen, um in ein anderes Studiengebiet zu flüchten (Infratest,<br />

1974, S. 12), <strong>und</strong> warum diejenigen, die übrigbleiben, ihr Studium bereits mit einer ausgeprägt<br />

sachlichen <strong>und</strong> unemotionalen Haltung beginnen <strong>und</strong> diese Haltung während des Studiums<br />

immer ausgeprägter wird (Beckmann, u. a., 1972, S. 14).<br />

Aber genau in dieser »Sachlichkeit« steckt der spezifische <strong>Bluff</strong> der Naturwissenschaften. Das<br />

wird vielleicht am besten an einem Beispiel aus der Schule deutlich: Deutschlehrer müssen die<br />

unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten <strong>und</strong> Probleme eines Textes durch kontroverse<br />

Diskussionen herausarbeiten. Mathematiklehrer führen den einzig richtigen <strong>und</strong> gültigen Beweis<br />

vor <strong>und</strong> können ihre Herrschaft in der Diskussionssituation damit rechtfertigen, daß dies eben in<br />

»der Natur der Sache« liege (Bürmann, 1975, S. 60 ff.).<br />

Vieles in diesen Wissenschaften ist aber gar nicht durch die Natur selbst bestimmt, sondern ist<br />

genauso gesellschaftlich bedingt wie in anderen Wissenschaftsgebieten (vgl. Greiff, 1976, für<br />

Naturwissenschaftler sehr zu empfehlen, weil auch leicht verständlich). Von den<br />

Naturwissenschaften werden aber solche kritischen Überlegungen abgeblöckt. In Schule <strong>und</strong><br />

<strong>Uni</strong>versität verstecken sie ihre gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Forderungen immer wieder<br />

hinter ihrer »Sachlichkeit«. Abgesehen von der arrogant-unverständlichen Sprache, die auch bei<br />

ihnen weitverbreitet ist, besteht die naturwissenschaftliche Form des <strong>Bluff</strong>s darin, zu<br />

signalisieren: Mir kann keiner, denn was ich sage, das kommt nicht von mir als einem<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> darum fehlbaren Wesen, sondern das kommt von der allmächtigen Natur<br />

selbst (Reiss, 1975).<br />

34<br />

In Fächern wie der Juristerei ist der Herrschaftsbezug ganz eindeutig, <strong>und</strong> die Einübung eines<br />

Herrschaftshabitus als wesentlicher Inhalt des Studiums drückt sich schon in den<br />

unvermeidlichen Schauspielerallüren der Anwälte vor den Gerichten, aber auch in der Rede von<br />

der »herrschenden Lehre« aus, die im Gr<strong>und</strong>e genommen das einzige <strong>und</strong> letzte Argument ist<br />

(Branahl, Francke, 1975, S. 265 ff.).<br />

Besonders brutal zeigt sich der »heimliche Lehrplan« bei den Medizinern: Am Anfang ihres<br />

Studiums behaupten sie von sich häufiger als die Erstsemester anderer Fächer, daß sie am<br />

Wohlergehen ihrer Mitmenschen interessiert seien. Das universitäre Milieu ihrer Studienrichtung,<br />

wo nicht mehr von Personen, sondern von »Blinddärmen« oder gar vom »Krankengut« geredet<br />

wird, bringt es jedoch fertig, daß sie gegen Ende ihres Studiums auf die gleiche Frage sehr viel<br />

seltener als die Examenssemester aller anderen Fächer positiv reagieren (Beckmann u. a., 1972,<br />

S. 15 f.).<br />

Es zeigt sich also, daß der heimliche Lehrplan in allen Fächern wirksam ist, wenn auch auf<br />

unterschiedliche Weise. Sein Resultat ist aber überall die Erziehung zum Herrschaftsverhalten.


Nun ist es aber so, daß nicht alle Studienanfänger <strong>und</strong> -anfängerinnen den Lehrplan voll<br />

durchstehen. Viele fallen vor dem Ende des Studiums heraus. Darunter sind weit überproportional<br />

Frauen, Kinder aus der Unterschicht <strong>und</strong> Ausländer. Um noch genauer herauszukriegen, wie der<br />

<strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> zustande kommt <strong>und</strong> was seine Rolle in dieser Gesellschaft ist, will ich jetzt zuerst<br />

einmal diese drei Gruppen, die im besonderen Maße herausfallen, danach untersuchen, was sie<br />

gemeinsam haben <strong>und</strong> was sie von denjenigen unterscheidet, die an der <strong>Uni</strong> ohne größere<br />

Schwierigkeiten bestehen können. Dabei ist die Situation der Frauen an der <strong>Uni</strong> ganz besonders<br />

bezeichnend. Ich will sie deshalb ausführlich beschreiben <strong>und</strong> versuchen, soweit mir das möglich<br />

ist, zu erklären.<br />

Die Situation der Frauen an der <strong>Uni</strong><br />

Solange sie sich nicht gemeinsam dagegen wehren, gilt für Frauen an der <strong>Uni</strong>versität<br />

offensichtlich ein ganz anderer »heimlicher Lehrplan« als für Männer. Das zeigt eine<br />

Untersuchung über die Selbsteinschätzung von Studierenden am Anfang <strong>und</strong> am Ende ihres<br />

Studiums:<br />

»Die Männer befinden sich zu Beginn des Studiums - wie sie angeben - stark mit inneren<br />

Schwierigkeiten beschäftigt, aber das läßt bei ihnen nach, während die Studentinnen genau den<br />

umgekehrten Verlauf erleben. Sie erleben sich als Studienanfängerinnen sehr viel unbeschwerter<br />

als kurz vor Studienabschluß. Am Ende finden sie viel mehr Anlaß, über innere Probleme<br />

nachzugrübeln,<br />

35<br />

<strong>und</strong> fühlen sich wesentlich häufiger bedrückt als die männlichen Studierenden. Man könnte grob<br />

sagen: Die Männer gewinnen, die Frauen verlieren während ihres Studiums an Unbekümmertheit<br />

<strong>und</strong> stimmungsmäßiger Ausgeglichenheit. Die männlichen Studierenden werden - so ihre eigenen<br />

Angaben - sorgenfreier, weniger anfällig für Niedergeschlagenheit <strong>und</strong> zugleich<br />

konkurrenzfreudiger. Für die weiblichen Studierenden gilt in allen Merkmalen das Gegenteil«<br />

(Beckmann u. a., 1972, S. 22). Gleichzeitig beobachteten die Autoren eine andere Veränderung<br />

zwischen den Frauen <strong>und</strong> Männern an der <strong>Uni</strong>: Bei den Männern »überholen allmählich die<br />

Rivalitätsgefühle die fürsorglichen Gefühle, während bei den Studentinnen die Tendenz zum<br />

Rivalisieren zugunsten eines Anwachsens fürsorglicher Gefühle zurücktritt« (ebenda, S. 21). Am<br />

Ende des Studiums fühlt sich die Studentin an der <strong>Uni</strong> verloren <strong>und</strong> unsicher <strong>und</strong> sucht den<br />

Kontakt zu anderen. Sie leidet unter der Institution <strong>Uni</strong>versität. »Die Studentin erhält ja nicht nur<br />

für ihre höhere Angewiesenheit auf menschliche Beziehungen keine höhere Zuwendung, man<br />

kommt ihr im Gegenteil weniger entgegen« (Moeller, Scheer, 1974, S. 64). Studentinnen sind sich<br />

unsicher »in bezug auf die Richtigkeit ihrer Arbeit <strong>und</strong> deren Erfolg <strong>und</strong> haben es häufig noch<br />

schwerer, den Anfang zu finden, als männliche Studenten« (Beckmann u. a., 1972, S. 33). Vor<br />

Prüfungen haben sie »wesentlich mehr <strong>Angst</strong>« <strong>und</strong> eine ausgeprägtere körperliche Symptomatik<br />

als Studenten (Scheer, Zenz, 1973, S. 71 f.). Die Abbruchquoten liegen bei Studentinnen in allen<br />

Fächern um 100 % höher als bei Studenten, <strong>und</strong> in den Geisteswissenschaften bricht sogar die<br />

Hälfte aller Studentinnen ihr Studium vorzeitig ab (Hervé, 1973, S. 83). Die<br />

psychotherapeutischen Beratungsstellen müssen sie auch häufiger besuchen, insbesondere die<br />

verheirateten Studentinnen: »Kein anderer Schluß scheint uns möglich, als daß eine höhere<br />

psychische Belastung der Studentin durch die Ehe, eine Entlastung des Studenten durch die Ehe<br />

vorliegt« (Moeller/Scheer, 1974, S. 53 f.). Schließlich haben Studentinnen ein sehr viel höheres<br />

Selbstmordrisiko als Studenten.<br />

Gleichzeitig sind Frauen an der <strong>Uni</strong>versität weit unterrepräsentiert, <strong>und</strong> zwar je weiter nach oben<br />

es in der Bildungshierarchie geht: Der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung ist 49 %, ihr


Anteil an den Abitursabschlüssen ist bereits auf 37,3 % reduziert, bei den Studienanfängern <strong>und</strong><br />

-anfängerinnen auf 32,6 %, beim Examen auf 26,7 % <strong>und</strong> bei den Promotionen auf 16,5 %<br />

(Weber, 1973, S. 108 - Zahlen von 1967). Unter den Lehrenden reduziert sich dann der Anteil auf<br />

einstellige Prozentzahlen, unter den Ordinarien sogar auf weniger als 1 % Und diese wenigen<br />

Frauen, die es bis an die <strong>Uni</strong> schaffen, sind dann noch weit überwiegend auch nur diejenigen, die<br />

aus, ihrem Elternhaus die besten Voraussetzungen für ein Studium mitbringen: Studentinnen<br />

kommen noch häufiger als Stu<br />

36<br />

denten aus der städtischen Oberschicht (Berger, 1970, S. 14, <strong>und</strong> Wilcke, 1976, S. 214). Das<br />

liegt wohl daran, daß es immer noch überwiegend nur in wohlhabenderen <strong>und</strong><br />

bildungsbeflisseneren Familien als sinnvoll angesehen wird, die Töchter auf die <strong>Uni</strong> zu schicken.<br />

Die <strong>Uni</strong> verhält sich auch bei Männern diskriminierend gegen die Mitglieder aus der<br />

Arbeiterklasse <strong>und</strong> gegenüber der Landbevölkerung (1974 waren 10 % der Studierenden<br />

Arbeiterkinder, obwohl die Arbeiterschaft 39 % der Wahlbevölkerung ausmachte - Infratest, 1974,<br />

S. 36), aber für die Tochter eines Arbeiters oder Bauern ist es geradezu unwahrscheinlich, daß<br />

sie es jemals bis an die <strong>Uni</strong> schafft (Weber, 1973, S. 111). Diejenigen Frauen, die also schließlich<br />

an die <strong>Uni</strong> kommen, haben meistens die besten Voraussetzungen für diese Situation<br />

mitbekommen, die bei Frauen in dieser Gesellschaft überhaupt möglich sind. Und trotzdem spielt<br />

selbst ihnen die <strong>Uni</strong>versität dermaßen übel mit.<br />

Woran liegt das? Frauen - auch diejenigen aus den Gesellschaftsschichten, aus denen die<br />

meisten Studentinnen kommen - sind in ihren Erwartungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen in der<br />

Kommunikation geprägt durch eine andere Art der Erziehung <strong>und</strong> durch gr<strong>und</strong>sätzlich andere<br />

Erfahrungen als Männer. In der Erziehung setzt sich beinahe überall die gesellschaftliche<br />

Arbeitsteilung durch, in der den Frauen eben nicht nur das Gebären der Kinder, sondern auch<br />

noch ihre Erziehung <strong>und</strong> Versorgung zugeteilt ist. Die meisten Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten,<br />

die bei uns als »typisch weiblich« gelten, sind durch diese Arbeitsteilung bedingt <strong>und</strong> werden teils<br />

durch die vorgegebenen Erziehungsmuster, teils durch das Vorbild der anderen Frauen<br />

weitergegeben. Dazu gehören: Geduld, Einfühlungsvermögen, Behutsamkeit, Angewiesensein<br />

auf Wärme <strong>und</strong> Zuwendung, Emotionalität etc. Selbstverständlich gibt es Frauen, bei denen diese<br />

»typisch weiblichen« Eigenschaften weniger stark ausgeprägt sind als bei manchen Männern.<br />

Aber in der Regel hat sich die Jahrh<strong>und</strong>erte alte Arbeitsteilung bei der Aufzucht der nächsten<br />

Generation so in Erziehung <strong>und</strong> Alltagsverhalten festgesetzt, daß sie häufiger bei Frauen als bei<br />

Männern anzutreffen sind. Solche Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten müßten eigentlich besonders<br />

günstig sein für die Kommunikation, denn sie sind vornehmlich auf die Mitmenschen bezogen. In<br />

der universitären Kommunikation sind sie aber offensichtlich ein Hindernis <strong>und</strong> lassen besonders<br />

viele Frauen scheitern. In der akademischen Kommunikation sind eher die gegenteiligen<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten erforderlich: distanzierte Aggressivität, Sachbezogenheit <strong>und</strong><br />

Bestätigung per Leistung in der Konkurrenz. Solche Fähigkeiten <strong>und</strong> Eigenschaften sind aber<br />

keineswegs naturgesetzlich »typisch männlich


sich also bei den Männern außer den spezifischen Fähigkeiten, die der jeweilige Arbeitsprozeß<br />

erforderlich machte, allgemeine Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten herausbilden. Diese wurden<br />

durch die Anforderungen des Warenmarktes geprägt (Ludmilla Müller, 1976). Das sind vor allem:<br />

- Sachlichkeit, denn auf dem Markt geht es um Dinge, nicht um Emotionen, -<br />

Abstraktionsvermögen, denn beim Kaufen <strong>und</strong> Verkaufen geht es um abstrakte Gegenwerte, ums<br />

Geld, <strong>und</strong> nicht um die Qualität der Dinge, - der Wille zur Selbstbehauptung, denn auf dem Markt<br />

muß jeder für sich sorgen, - das Genügen an der Bestätigung über Leistung <strong>und</strong> Konkurrenz,<br />

denn nur wenn sich die Produkte gegen die der anderen durchsetzen <strong>und</strong> wenn man genügend<br />

produziert hat, klappt die Reproduktion.<br />

Im zweiten Kapitel habe ich gezeigt, daß sich an der <strong>Uni</strong>versität die Marktsituation in einer<br />

irrational verzerrten Form, aber zugleich in ihren Zwängen noch verstärkt wiederholt: Die<br />

Leistungsangst ist so stark, daß sie alle universitären Verhaltensbereiche, Seminar, schriftliche<br />

Arbeit <strong>und</strong> selbst die Versuche zur emanzipatorischen Politik, beherrscht <strong>und</strong> prägt. Der <strong>Bluff</strong>, die<br />

Abwehrfassade gegen diese <strong>Angst</strong>, ist also letztlich nichts anderes als eine Flucht in besonders<br />

ausgeprägte, besonders krasse Marktverhaltensweisen.<br />

Weil der Kern der <strong>Angst</strong> gerade darin liegt, daß man auf dem universitären Leistungsmarkt mit<br />

seiner Leistung nicht »ankommen« könnte, muß man all das an Bemühungen, Techniken,<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten mobilisieren, was üblicherweise <strong>und</strong> nach jahrh<strong>und</strong>ertelanger<br />

Übung die Durchsetzungsfähigkeit am Markt erhöht. Weil solche Fähigkeiten bei Männern durch<br />

den in der Arbeitsteilung der Geschlechter herausgebildeten Erziehungsstil normalerweise<br />

stärker ausgebildet sind, erscheint die <strong>Uni</strong>versität als eine besonders frauenfeindliche Institution.<br />

In Wirklichkeit ist ihre Frauenfeindlichkeit nur Ausdruck <strong>und</strong> Ergebnis ihres Angepaßtseins an die<br />

Erfordernisse des Warenmarktes: Man lernt an ihr, wie man sich selbst am besten verkauft <strong>und</strong><br />

wie man das, was man zu verkaufen hat, in die durchsetzungsfähigste Verpackung bringt! Und<br />

»man«, das ist nun mal in dieser Gesellschaft vorwiegend der Mann.<br />

Außer dieser Diskrepanz zwischen »Markteigenschaften« der Männer <strong>und</strong> »Mutterfähigkeiten«<br />

der Frauen wirkt auf die universitäre Situation der Frauen noch ganz besonders stark der<br />

Sexismus die<br />

38<br />

ser Gesellschaft. Das mag auf den ersten Blick völlig absurd klingen, denn ich kann mir kaum<br />

etwas sexualfeindlicheres, oder besser - nachdem sich Sexualität seit ihrer »Befreiung« auf mehr<br />

oder weniger mechanische Zusammenhänge reduziert hat - kaum etwas unerotischeres<br />

vorstellen als die <strong>Uni</strong>versitätsatmosphäre.<br />

Trotzdem sehe ich da einen Zusammenhang: Frauen erfahren schon längst vor ihrer<br />

Geschlechtsreife, daß sie Objekte sind für den »Genuß« der Männer. Das kriegen sie schon als<br />

Kinder zur Genüge vermittelt. Später erleben sie es bewußt durch die Werbung, durch die<br />

Tanzst<strong>und</strong>e <strong>und</strong> durch all die anderen ritualisierten Instanzen unserer abendländischen<br />

Zivilisation -<strong>und</strong> viel zu häufig müssen sie es auch noch körperlich durchmachen, in zweifelhaften<br />

Liebschaften oder gar Vergewaltigungen. Der Status eines Objektes, das »schön« zu sein hat,<br />

wenn es akzeptiert sein will, ist so allgegenwärtig in der Werbung, in den anderen Frauen, in den<br />

Frauenzeitschriften <strong>und</strong> in den Blicken der Männer, aber auch <strong>und</strong> vor allem -in den Blicken der<br />

anderen Frauen. Da bleibt für das eigene minimale Selbstwertgefühl nichts übrig, als sich<br />

wenigstens nach den Minimalanforderungen an ein solches »Objekt« auszustatten, denn sonst<br />

besteht die Gefahr, weder von Männern noch auch von Frauen akzeptiert zu werden (Achterberg,<br />

1974, S. 29 ff.). Oberflächlich gesehen entspricht das genau den marktbezogenen


Leistungsängsten der Männer: Aber zusätzlich zu dem »<strong>Wie</strong> rede ich möglichst klug?» ist da das:<br />

»Sehe ich gut genug aus, um anzukommen?« (Und zwar nicht bei den Männern, sondern<br />

überhaupt.) »Das ist dann auch genau wieder die Ebene, wo du mit dir selbst in Konflikt gerätst.<br />

Wo du dich eigentlich distanzieren willst von deiner Rolle als Frau: Nur was zu sagen, wenn du<br />

keine fettigen Haare hast <strong>und</strong> dich wirklich gut fühlst. Alles schon 100mal <strong>und</strong> öfter durchgekaut.<br />

Aber das läuft nur über den Kopf. In der Situation selbst hast du dann einfach nur <strong>Angst</strong>,<br />

abgelehnt zu werden. Über den Kopf ist alles klar: Was hast du denn groß von der Anerkennung<br />

der Deppen, die über deine duftig fallenden Locken läuft, deine großen strahlenden Augen. ( ... )<br />

Indem ich mich distanziere, habe ich aber noch keine andere Ebene gef<strong>und</strong>en, auf der ich mich<br />

stark fühlen kann, auf die ich mich beziehen kann« (Klöckner, 1977, S. 367).<br />

So gibt es für Studentinnen eine doppelte Diskrepanz: Einmal die zwischen den von der <strong>Uni</strong><br />

geförderten männlichen Marktverhaltensweisen <strong>und</strong> den eigenen, zwar anerzogenen, aber doch<br />

vorhandenen »weiblichen« Eigenschaften. Und dann die zwischen der voller Kränkung erlebten<br />

<strong>und</strong> abgelehnten Objektrolle einerseits, die aber in der angstbesetzten <strong>Uni</strong>-Situation wenigstens<br />

noch ein Minimum an Sicherheit gibt. Und andererseits dem Leiden unter dieser Kränkung, unter<br />

der allgegenwärtigen Verobjektivierung <strong>und</strong> der deswegen unvermeidlichen Auflehnung gegen<br />

dieses eigene Verhal<br />

39<br />

ten. Diese doppelte Diskrepanz macht es verständlich, warum Frauen unter der <strong>Uni</strong>-Situation<br />

besonders leiden.<br />

Die Reaktionen auf diese Diskrepanzen <strong>und</strong> die doppelte Überforderung samt der dazugehörigen<br />

viel bedrohlicheren <strong>Angst</strong> ist bei Frauen an der <strong>Uni</strong> sehr unterschiedlich. Einmal gibt es die<br />

verschiedenen, mehr oder weniger schlimmen Fluchtverhaltensweisen. Dann kommt es auch<br />

häufig vor, daß Frauen zwar in politischen Gruppen <strong>und</strong> Studienkollektiven mitmachen, aber dort<br />

eben auch wieder die Rolle spielen, die Männer, die mackerhaft herumwirbeln, zu unterstützen,<br />

ihnen voller Sensibilität zuzuhören, wenn sie mal durchhängen, <strong>und</strong> sie wieder aktionsfähig zu<br />

machen. Oft genug reagieren Frauen auf die universitäre Drucksituation auch damit, daß sie die<br />

<strong>Angst</strong>abwehrfassade <strong>Bluff</strong> in besonders aggressiver Form erlernen. Meist aber schwanken die<br />

Studentinnen zwischen diesen unterschiedlichen <strong>und</strong> zum Teil gegensätzlichen Reaktionsweisen<br />

hin <strong>und</strong> her, weil keine eine Lösung anbietet <strong>und</strong> das wird von vielen Männern als besonders<br />

»typisch weiblich« empf<strong>und</strong>en. Erst der Entschluß, ohne <strong>und</strong> unter Umständen auch gegen die<br />

Männer - gerade auch die »gutwilligen« - die besondere Betroffenheit der Frauen durch die<br />

universitäre Situation zu untersuchen <strong>und</strong> gezielt dagegen zu kämpfen, hat an dieser scheinbar<br />

ausweglosen Situation etwas geändert <strong>und</strong> wird für viele Männer auch zum Vorbild - trotz aller<br />

Probleme dabei -, wie sie ihre <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> angehen könnten. Doch dazu im nächsten Kapitel. Hier<br />

geht jetzt die Untersuchung der Gruppen weiter, die aus der universitären Situation besonders<br />

häufig herausfallen.<br />

Die Situation der Arbeiterkinder<br />

Außer Frauen haben Studierende aus den unteren Sozialschichten - <strong>und</strong> bei ihnen wieder<br />

verstärkt die Frauen - besondere Schwierigkeiten mit dem Studium. Ihre Abbrecherquote liegt in<br />

allen Fächern höher als die Studierender anderer Herkunft (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 32,<br />

<strong>und</strong> Goldschmidt, 1969, S. 55), <strong>und</strong> bei genauer Betrachtung sind sie auch bei den psychisch<br />

gefährdeten Studierenden deutlich überrepräsentiert (Moeller, Scheer, 1974, S. 1001. Dabei gilt<br />

auch für sie, daß sie an den b<strong>und</strong>esrepublikanisehen <strong>Uni</strong>versitäten weiterhin kaum vertreten sind:<br />

Zwar ist ihr Anteil von 1966 bis 1974 von 5 % (Student, 1966, S. 2) auf 10 % gestiegen, an den<br />

Fachhochschulen sogar auf 24 %, aber weiterhin gilt, daß Kinder ungelernter <strong>und</strong> angelernter<br />

Arbeiter ganz selten <strong>und</strong> Kinder von Facharbeitern immer noch nur mit einer Chance von eins zu


drei an die <strong>Uni</strong> kommen (Infratest, 1974, S. 36 f.). Der zweite Bildungsweg kann daran kaum<br />

etwas ändern (Weber, 1973, S. 102 ff.). Diese extremen Verhältnisse sind keineswegs notwendi<br />

40<br />

ges Produkt der kapitalistischen Produktionsweise, sondern zeigen eher, daß sich die BRD zu<br />

den besonders rückständigen Ländern auf diesem Gebiet zählen muß.<br />

Aber egal, ob es ganz wenige sind oder mehr, diejenigen Kinder aus der Arbeiterklasse, die es<br />

bis an die <strong>Uni</strong> schaffen, haben dort besonders große Schwierigkeiten. Woran liegt das?<br />

Zuerst einmal gibt es dafür eine Reihe naheliegender ökonomischer Gründe: Es ist allgemein<br />

bekannt, daß auch die Höchstsätze beim Bafög nicht zum Leben ausreichen. Studierende, die<br />

also auf das Bafög angewiesen sind, weil sie nicht wie die anderen 62 % vom Geld der Eltern<br />

leben (Infratest, 1974, S. 32), müssen in den Seinesterferien <strong>und</strong> häufig genug im Semester<br />

einen Job suchen. Mit dem Ergebnis, daß ihr Studium sich verlängert, wodurch sich die<br />

Geldschwierigkeiten verschärfen. Sie können erheblich weniger intensiv studieren <strong>und</strong> sind<br />

deshalb weniger erfolgreich (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 78: Studienabbrecher haben am<br />

wenigsten Geld gehabt!). Und oft genug fallen sie unter eine zweite Form des Numerus clausus,<br />

selbst dann, wenn sie die Hürde ZVS geschafft haben: Sie finden keine Wohnung oder keine<br />

»Bude«, die sie bezahlen könnten. Oder aber eine so schlechte, daß schon dadurch das Studium<br />

erheblich beeinträchtigt wird (Möller, Korte, 1972). Das genügt aber noch nicht zur Erklärung.<br />

Das Studienverhalten der Kinder aus Arbeiterfamilien kann man auch so erklären: »Häufiges<br />

Fehlen eines elterlichen Vorbildes für selbständige geistige Arbeit, geringere Vertrautheit mit dem<br />

akademischen Milieu, niedrigere Bildungsaspirationen, geringe sprachliche Fähigkeiten« (Wilcke,<br />

1976, S. 215). Das würde auch zu meiner These passen, daß entscheidend für den Studienerfolg<br />

vor allem das Erlernen der sprachlichen Techniken ist, die den <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> ausmachen. Die<br />

bekannten schichtenspezifischen Unterschiede im Sprachverhalten würden demnach bis auf die<br />

Erfolgschancen beim Studium durchschlagen.<br />

Dagegen spricht aber: Die sek<strong>und</strong>äre Sozialisation durch Gymnasium <strong>und</strong> durch die Gruppe der<br />

Gleichaltrigen wirkt so stark, daß sich bis zur <strong>Uni</strong>versität die Prägung durch die Sprachsituation in<br />

der Familie meist verliert oder sich nur in einer Art Zweisprachigkeit neben der Hochsprache<br />

erhält. Dafür sorgt allein schon der schulisehe Ausleseprozeß. Proletarisches Sprachverhalten<br />

<strong>und</strong> intellektuelle Prägung durch die Arbeitswelt dürften also nur bei denjenigen Studierenden so<br />

stark sein, daß sie zum Studienproblem werden können, die nach Lehre <strong>und</strong> Berufstätigkeit über<br />

den zweiten Bildungsweg an die <strong>Uni</strong>versität kommen. Die haben aber am Studienanfang eine so<br />

ausgeprägte Studienmotivation - sei es aus konkret inhaltlichen Fragestellungen oder um des<br />

sozialen Aufstiegs willen - <strong>und</strong> haben in dem schwierigen Weg bis an die <strong>Uni</strong> eine so hohe<br />

Frustrationstoleranz beweisen müssen, daß sie sich<br />

41<br />

auch an der <strong>Uni</strong> meist unter widerwärtigsten Bedingungen durchbeißen können. In den<br />

Examensergebnissen unterscheiden sie sich dann auch nicht von den anderen Studierenden.<br />

Dies gilt auch für die anderen Unterschichtenkinder, die es bis zum Examen schaffen (Ottwaska,<br />

1971, S. 32).<br />

Die Frage, warum Arbeiterkinder an der traditionellen <strong>Uni</strong> besonders häufig herausfallen, bleibt<br />

also noch ungeklärt. Um sie beantworten zu können, will ich zuerst eine andere Gruppe<br />

untersuchen, die ebenfalls besonders häufig an der deutschen <strong>Uni</strong> scheitert <strong>und</strong> bei der die<br />

Sprache unbestreitbar ein zentrales Problem ist.


Die Situation der ausländischen Studierenden<br />

Ihre Studiendauer liegt weit über der deutscher Studierender. Über die Hälfte von ihnen bricht<br />

das Studium ohne Examen ab. Damit liegt ihre Abbruchquote um das Doppelte höher als bei<br />

deutschen Studierenden. Für psychische Störungen sind sie ebenfalls anfälliger (Jahnke, Ziolko,<br />

1969, S. 251 f.), <strong>und</strong> auch ihr Selbstmordrisiko ist deutlich höher (Lungershausen, 1968, S. 22<br />

ff.).<br />

Auf den ersten Blick scheint das die Erklärung von Studienschwierigkeiten durch Probleme der<br />

Sprache eindrucksvoll zu bestätigen. Gliedert man die Statistiken aber genauer auf, dann zeigt<br />

sich, daß die Sprachschwierigkeiten nicht der entscheidende Gr<strong>und</strong> sein können: Denn es gibt<br />

einen ausgeprägten Unterschied zwischen den Studierenden aus industrialisierten <strong>und</strong><br />

unterentwickelt gehaltenen Ländern (Pätzoldt, 1972). Beide Gruppen haben<br />

Sprachschwierigkeiten, aber die Studierenden aus der armen Welt haben darüber hinaus sehr<br />

viel größere Probleme mit dem Studium (ebenda, S. 147 ff.). Untersucht man ihre Situation<br />

genauer, dann zeigt sich, daß sie unter sehr viel höherem Erwartungsdruck stehen als<br />

Studierende aus industrialisierten Ländern: Sie kommen zwar meist aus den traditionellen<br />

Oberschichten ihrer Heimat - ein Ergebnis der gezielten Förderung durch die BRD-Regierung, die<br />

auf diese Weise die Führungsschichten an sich binden will (ebenda, S. 108 f.) -, aber sie stehen<br />

unter erheblichem Erfolgsdruck von daheim. Wenn sie dort etwas gelten wollen, müssen sie auf<br />

jeden Fall irgendein Diplom, irgendeinen Titel mit zurückbringen. Zugleich sind die Stipendien<br />

meist als Erfolgsprämien ausgezeichnet - ohne Abschluß müssen sie zurückgezahlt werden<br />

(ebenda, S. 110 ff.). Aber nicht der Druck ist das entscheidende, sondern wie sie darauf<br />

reagieren: Eben nicht zuversichtlich, daß es mit einiger Anstrengung zu schaffen sei, sondern in<br />

der Konfrontation mit der völlig fremden Kultur, in der sie als offensichtlich Fremde durch die<br />

Vorurteilsstruktur der einheimischen Bevölkerung auch noch als minderwertig diskriminiert<br />

werden (sie haben z. B. größte Schwierigkeiten,<br />

42<br />

ein Zimmer zu finden). In dieser für sie völlig ungewohnten Situation reagieren sie mit einer sehr<br />

verständlichen Verhaltensstrategie: Sie tun alles, um Mißerfolge zu vermeiden, jeder Situation,<br />

die ein Scheitern möglich macht, weichen sie aus.<br />

Wer den Erfolg erwartet, erlebt ihn auch!<br />

Diese <strong>Angst</strong> vor dem Mißerfolg ist aber genau das, was alle Gruppen gemeinsam haben, die im<br />

Studium besonders häufig herausfallen: Frauen, Arbeiterkinder, ausländische Studierende aus<br />

der armen Welt. Dazu auch noch all diejenigen, die wegen psychischer Störungen die<br />

psychotherapeutischen Beratungsstellen der <strong>Uni</strong>versitäten beanspruchen mußten (Moeller,<br />

Scheer, 1974). Diese »Mißerfolgsängstlichkeit« ist bei Studierenden, die das Studium ohne<br />

Examen abgebrochen oder das Fach gewechselt haben, das hervorstechende gemeinsame<br />

Merkmal (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 32 f., 43 <strong>und</strong> 148 f.).<br />

Für die Kinder aus Arbeiterfamilien erklären Saterdag <strong>und</strong> Apenburg das so: »Durch die<br />

überwiegend tadelnde Reaktion der Eltern auf schlechte Schulnoten wird eine positive Haltung zu<br />

Leistungszielen außerordentlich erschwert. Es entsteht statt dessen bei den Kindern die<br />

Tendenz, Aufgaben möglichst so anzugehen, daß Mißerfolge vermieden <strong>und</strong> Risiken<br />

ausgeschaltet werden können« (ebenda, S. 33).


ich meine aber, daß die richtig beschriebenen Verhaltensstrategien nicht allein aus der Haltung<br />

der Eltern erklärt werden können. Dazu gehört das immer wiederholte Erlebnis in allen Bereichen,<br />

daß der Erfolg fraglich ist, daß er nicht so sehr von der eigenen Leistung als von der<br />

Einschätzung <strong>und</strong> der Gewogenheit einzelner Personen abhängig ist. Daß es folglich letztlich<br />

besser ist, das wenige, was man sicher hat, zu schützen ünd zu sichern, als auch das noch durch<br />

gewagte Aktionen zu gefährden. Solche Erfahrungen machen Arbeiterkinder, die trotz größter<br />

Anstrengung nur mit Glück über alle schichtenspezifischen Klippen des Ausbildungssystemes<br />

hinweggekommen sind. Frauen machen diese Erfahrung, auch wenn sie aus der Oberschicht<br />

kommen, weil die Zuwendung, die sie erleben, weniger von ihrer intellektuellen oder sonstigen<br />

Arbeitsleistung abhängt, <strong>und</strong> mehr von äußerlichen oder zufälligen Eigenschaften, deren<br />

Beständigkeit <strong>und</strong> Wertschätzung schwer beeinflußbar scheint <strong>und</strong> stark an einzelne Personen<br />

geb<strong>und</strong>en ist. Ausländer aus den unterentwickelt gehaltenen Ländern der armen Welt können<br />

sich zu einer ihnen fremden <strong>und</strong> oft genug feindlichen Welt nur schwer verhalten. Sie tasten sich<br />

voran wie im dichten Nebel <strong>und</strong> schrecken zurück, wenn sie auf ein Hindernis stoßen.<br />

Bei Personen mit psychischen Schwierigkeiten, familiengeschicht<br />

43<br />

lich bedingten Neurosen, Minderwertigkeitsgefühlen <strong>und</strong> <strong>Angst</strong>psychosen gilt es sowieso als<br />

klassisches Kennzeichen, daß sie alle Situationen, die einen Mißerfolg mit sich bringen können,<br />

voller Panik vermeiden (Krohne, 1976). »Das Studienverhalten der hoch Mißerfolgsängstlichen<br />

zeugt von geringer Leistungsorientierung, geringer Selbsteinschätzung, geringem<br />

Anspruchsniveau, geringerer Zukunftsperspektive <strong>und</strong> geringerer Fähigkeit zur Selbstregulation<br />

des eigenen Verhaltens im Leistungsbereich; sein Hauptkennzeichen ist eine geringere<br />

sachbezogene Eigenaktivität« (Wilcke, 1976, S. 215).<br />

Dieses Unterscheidungsmerkmal wird durch Untersuchungen über die beiden wichtigsten Phasen<br />

des Studiums bestätigt, den Studienanfang <strong>und</strong> die Abschlußprüfung. Beim Studienanfang<br />

zeichnen sich die Jugendlichen, die sich für ein Studium entschlossen haben, im Gegensatz zu<br />

denjenigen Abiturienten, die gleich ins Berufsleben eintreten, so aus: »Sie erleben sich deutlich<br />

zurückhaltender im Kontaktbereich. Man hat den Eindruck, daß sie es teils schwerer haben,<br />

engen Kontakt zu finden, teils sich aber auch bewußt mehr von ihrer Umgebung abgrenzen. ( ... )<br />

Sie fühlen sich dabei instabiler in ihrer Gemütsverfassung. Denn sie glauben, daß sie häufiger<br />

bedrückt sind <strong>und</strong> leichter in ihrem Befinden von außen beeinflußt werden können. Dieser<br />

Introvertiertheit <strong>und</strong> emotionellen Labilität steht eine Betonung ihres Eigenwillens <strong>und</strong> eines<br />

gewissen Anspruchs zum Dominieren gegenüber. Sie glauben, eher eigensinnig zu sein <strong>und</strong><br />

lieber zu lenken als gelenkt zu werden« (Beckmann u. a., 1972, S. 11 f.).<br />

Die Prüfung: Was wird da eigentlich geprüft?<br />

Bei denjenigen, die das Abschlußexamen erfolgreich <strong>und</strong> ohne besondere Schwierigkeiten<br />

durchstehen, haben sich die Unsicherheiten verloren, <strong>und</strong> das Bedürfnis, zu dominieren, sich<br />

durchzusetzen, hat vollständig die Oberhand gewonnen: »Hoch Leistungsmotivierte bringen<br />

bessere Leistungen im Rahmen langfristig beruflicher oder akademischer Zielsetzungen; sie<br />

bringen kurzfristig immer dann bessere Leistungen, wenn einsichtig ist, daß mit der Tätigkeit ein<br />

Bedürfnis, sich auszuzeichnen, befriedigt werden kann« (Scheer, Zenz, 1973, S. 25).<br />

Diejenigen Studierenden aber, die besondere Schwierigkeiten mit dem Studium hatten <strong>und</strong> dabei<br />

nicht gelernt haben, sich gegen die <strong>Uni</strong>-Situation zu wehren, die werden zuletzt durch die<br />

Prüfungsangst aus der Bahn geworfen. Diese <strong>Angst</strong> haben in Wirklichkeit alle. Der


entscheidende Punkt ist nicht, ob man sie hat oder nicht. Aber je nachdem, ob man<br />

mißerfolgsängstlich oder erfolgszuversichtlich ist, verhält man sich ganz anders zu ihr: Mißerfolgs<br />

44<br />

ängstliche »sind gekennzeichnet durch Zentrierung der Gedanken auf die eigene Person,<br />

schwaches Selbstwertgefühl <strong>und</strong> erhöhte Bereitschaft sich selbst zu kritisieren <strong>und</strong> in Frage zu<br />

stellen. ( ... ) Korrespondierend scheinen sie von ihrer Umgebung auch weniger positiv beurteilt<br />

zu werden als Nichtängstliche« (Gärtner-Harnach, 1972, S. 102). Dieses Verhalten ist besonders<br />

typisch für Kinder aus Arbeiterfamilien <strong>und</strong> Frauen (ebenda, S. 124).<br />

Der entscheidende Punkt ist aber, daß die erfolgszuversichtlichen Studierenden die<br />

Prüfungsangst im Moment der Prüfungssituation selbst überwinden, sie schütteln das für die<br />

Prüfungsangst kennzeichnende »allgemeine Unterlegenheitsgefühl« (Scheer, Zenz, 1973, S. 51<br />

<strong>und</strong> 56) ab <strong>und</strong> mobilisieren in der Prüfung sogar noch zusätzliche Energien: »Bei<br />

Erfolgszuversichtlichen können durch Streß unter Umständen erst die letzten Reserven zu einer<br />

positiven Leistung mobilisiert werden« (<strong>Wagner</strong>, 1., 1969, S. 17).<br />

Und genau in dieser zugespitzten Extrernsituation zeigt sich, wofür die <strong>Uni</strong>versität unabhängig<br />

vom einzelnen Fachinhalt qualifizieren soll, warum die Einstellung zum Erfolg das Trennkriterium<br />

ist, an dem sich entscheidet, ob das Studium zum Erlebnis des Scheiterns oder zum Schlüssel für<br />

einen gehobenen gesellschaftlichen Status wird. Die fächerübergeifende Untersuchung von<br />

akademischen Prüfungen hat nämlich ergeben: Dasjenige Verhalten, das in der Prüfung Erfolg<br />

brachte, war »im großen <strong>und</strong> ganzen gekennzeichnet durch selbstsicheres, optimistisches,<br />

anspruchsvolles Auftreten. Wir können daher davon ausgehen, daß dieses Verhalten genau das<br />

war, was die Prüfer von den Prüfungskandidaten erwartet haben. Die Prüfung wirkt wie eine<br />

Probe auf ein späteres Interaktionsverhalten. Nimmt man die vor der Prüfung von der Mehrheit<br />

der Studenten erlebte <strong>Angst</strong> hinzu, dann stellt sich folgendes heraus: Gefordert wird nicht, daß<br />

die Prüfungskandidaten <strong>Angst</strong> zeigen, daß sie sich, gleichsam am Boden zerstört, den Prüfern<br />

unterwerfen, sondern im Gegenteil: vielleicht vor der Prüfung <strong>Angst</strong> haben, diese aber<br />

überw<strong>und</strong>en haben, wenn sie in die Prüfung gehen, bzw. ... demonstrieren oder zumindest den<br />

Eindruck erwecken können, daß sie die <strong>Angst</strong> überw<strong>und</strong>en haben. Bei der Mehrzahl der<br />

Studierenden spielt sich das spätere berufliche Leben in gehobenen Positionen ab, die in<br />

größerem oder geringerem Maße Entscheidungsfähigkeit <strong>und</strong> fast immer Machtausübung über<br />

andere Leute verlangen. Wer sich in der Prüfung selbst ängstlich, gedrückt <strong>und</strong> selbstunsicher<br />

verhält, der zeigt, daß er die in seinen Berufspositionen erwarteten Führungsqualitäten nicht in<br />

erwünschter Weise besitzt. Mit anderen Worten: Das Prüfungssystem will den Kandidaten nicht<br />

das Rückgrat brechen, es will keine gebrochenen Individuen, sondern es will zukünftige<br />

Führungskräfte erzeugen, die die <strong>Angst</strong> kennen, sie aber überw<strong>und</strong>en haben. Prüfungen<br />

scheinen tatsächlich eine Art von Mutproben zu sein <strong>und</strong> ähneln hierin noch<br />

45<br />

heute den Initiationsriten sogenannter primitiver Völker. Ihre Funktion besteht heute wie damals<br />

in der Vermittlung eines neuen, gehobenen Statusbewußtseins« (Scheer, Zenz, 1973, S. 66).<br />

Diese für die spätere gesellschaftliche Herrschaftsfunktion entscheidende Qualifikation wird<br />

allerdings nicht erst durch das Prüfungssystem erzeugt, wie die Autoren der Untersuchung<br />

meinen, sondern durch das gesamte Studium. Die permanente <strong>Angst</strong>situation in der alltäglichen<br />

Kommunikation zwischen Studierenden, die für die <strong>Uni</strong>-Situation so kennzeichnend ist, wird durch<br />

das Erlernen der <strong>Angst</strong>abwehrfassade <strong>Bluff</strong> genauso überw<strong>und</strong>en wie später die Prüfungsangst.


Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg: Was bedeutet das?<br />

Die bisherige Analyse hat ergeben, daß der »heimliche Lehrplan« an der <strong>Uni</strong> über das<br />

Zusammenspiel von <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> die Studierenden in zwei Gruppen trennt: solche, die<br />

es schaffen, <strong>und</strong> die anderen, die während des Studiums herausfallen. Solange es keine<br />

kollektive <strong>und</strong> solidarische Gegenwehr gibt, entscheidet über Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg im Studium ein<br />

absurder Kreisschluß nach Art der sich selbst bestätigenden Prophezeihung: Die voller <strong>Angst</strong> auf<br />

den Mißerfolg starren, scheitern am Studium; die anderen, die voller Zuversicht den Erfolg<br />

erwarten, erleben ihn auch. Der Verlauf des Studiums entscheidet sich also - so scheint es jetzt -<br />

an der Einstellung zum Erfolg.<br />

Woran mißt sich aber der Erfolg? Was bestimmt den Mißerfolg? Aus sich selbst heraus geht das<br />

nicht. Es stellt sich also die Frage: Was bedeutet Erfolg? An welcher gesellschaftlichen Größe<br />

mißt sich das?<br />

Dazu muß ich wieder auf das Bild zurückgreifen, das die Gr<strong>und</strong>struktur der kapitalistischen<br />

Gesellschaft als eine warenproduzierende Gesellschaft erfaßt: die zersplitterten Produzenten, die<br />

voneinander nichts wissen <strong>und</strong> nur über den Umweg der von ihnen für den Verkauf auf dem Markt<br />

produzierten Dinge, über ihre Waren <strong>und</strong> das Geld, miteinander in Verbindung treten lind erst<br />

dadurch eigentlich zu einer Gesellschaft werden.<br />

Ich habe im zweiten Kapitel bereits gezeigt, wie diese Struktur weit über die unmittelbaren<br />

ökonomischen Warenbeziehungen unsere<br />

46<br />

Kornmunikationsformen <strong>und</strong> Verhallensweisen geprägt hat. Sie hat aber nicht immer gegolten:<br />

Vor dem Kapitalismus hat es Gesellschaftsformen gegeben, in denen zwar auch Waren<br />

produziert <strong>und</strong> ausgetauscht wurden, aber eben nur zum geringsten Teil. Das Überleben der<br />

Gesellschaft wurde vor allem dadurch gesichert, daß die Menschen diejenigen Produkte, die sie<br />

zum Überleben brauchten, selbst produzierten. Damals war das Erfolgskriterium ein ganz<br />

anderes als heute: Damals war an den Produkten, die man produzierte <strong>und</strong> mit denen<br />

umgegangen wurde (Werkzeuge) oder die man konsumierte (Lebensmittel), ihre Nützlichkeit<br />

entscheidend, also diejenigen Eigenschaften, die ein Problem lösen oder ein Bedürfnis<br />

befriedigen konnten. Wichtig war also die Qualität, die konkret nützliche Eigenschaft der Taten<br />

<strong>und</strong> der Dinge <strong>und</strong> nicht primär die Frage, wieviel Geld die einbringen würden. Erfolg <strong>und</strong> die<br />

gesellschaftliche Anerkennung, die mit dem Erfolg auch damals einherging, entstand aus der<br />

bewiesenen Fähigkeit, Probleme zu lösen, Nützliches zu tun, oder wie Marx das nennt:<br />

Gebrauchswerte zu produzieren.<br />

Dieses am Gebrauchswert orientierte Erfolgskriterium gilt auch heute noch in vielen Bereichen.<br />

Dort ist es aber reduziert auf einen Bereich der unmittelbaren mitmenschlichen Kommunikation,<br />

der einer gesamtgesellschaftlich gültigen Bewertung weitgehend entzogen ist: Im »privaten«<br />

Bereich, zwischen Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> in der Familie gibt es das noch, daß<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Erfolg auf der Lösung konkreter Probleme basiert.<br />

Ansonsten aber ist das gebrauchswert-orientierte Erfolgskriterium überlagert <strong>und</strong> verdrängt<br />

worden durch ein Urteil über Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg, das mit dem jeweils konkret zu lösenden<br />

Problem, mit den Bedürfnissen der betroffenen Menschen <strong>und</strong> der Nützlichkeit der zu<br />

beurteilenden Handlung nur sehr vermittelt <strong>und</strong> eben auch sehr wenig zu tun hat: Zuerst einmal


ist die Austauschbarkeit entscheidend, d. h., daß die Leistung verkauft werden kann, daß sie sich<br />

über den Markt gegen anderes Produkt austauscht.<br />

Nutzloses kann man nicht verkaufen. Also müssen die Waren doch irgendwie Gebrauchswert<br />

haben; welchen, das ist aber egal. Entscheidend für die kapitalistische Gesellschaft ist letztlich,<br />

was dabei herausspringt <strong>und</strong> nicht die konkrete Nützlichkeit der verkauften Ware. Allein das gilt<br />

als Erfolg, wo am meisten Profit gemacht worden ist, <strong>und</strong> wenn dafür Nervengift <strong>und</strong><br />

Napalmbomben produziert worden sind. In der kapitalistischen Gesellschaft ist also das Kriterium<br />

für den Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg nicht so sehr das konkret Nützliche, sondern der Gegenwert, das,<br />

was man dafür kriegt oder wie Marx das nennt: der Tauschwert.<br />

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft wird das Erfolgskriterium deshalb auch<br />

immer gleichgültiger gegenüber dem konkreten Inhalt der Tätigkeit, die den Erfolg oder Mißerfolg<br />

be<br />

47<br />

gründet, genauso wie es für den Kapitalisten egal ist, woraus er seinen Profit zieht. Beim Erfolg<br />

oder Mißerfolg in der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es kein so einfach in Quantität<br />

<strong>und</strong> in Geld ausdrückbares Erfolgskriterium, aber trotzdem gilt auch da: Entscheidend ist nicht so<br />

sehr, was du machst, sondern das, was du dafür kriegst.<br />

Damit stellt sich das in unserer Gesellschaft dominierende Erfolgskriterium direkt in denselben<br />

Zusammenhang wie die im zweiten Kapitel dargestellte Leistungsangst. Sie war in der<br />

Übertragung: die <strong>Angst</strong> davor, daß sich die Waren vielleicht nicht verkaufen lassen. Klar: in der<br />

universitären Kommunikation wird nichts wirklich verkauft oder getauscht, <strong>und</strong> die aufgewandte<br />

Arbeitskraft <strong>und</strong> durchschnittlich notwendige Arbeitszeit spielt hier überhaupt keine Rolle. Und<br />

doch: genauso wie sich die Leistungsangst auf alle Bereiche überträgt, die nicht direkt mit dem<br />

Marktgeschehen zusammenhängen, so entwickelt sich auch überall neben dem<br />

gebrauchswert-orientierten ein tauschwert-orientiertes Erfolgskriterium als die notwendige andere<br />

Seite der Leistungsangst. Derjenige, der die marktgerechten Fähigkeiten <strong>und</strong> Verhaltensweisen<br />

erlernt hat, sich den gängigen Konkurrenzerwartungen immer hat anpassen können, kann sich<br />

auch in der angstbesetzten <strong>Uni</strong>versitätssituation leicht gegen die aufkommende Leistungsangst<br />

wehren. Er braucht nur die bewährten Verhaltensweisen zu betonen, ihnen die Form zu geben,<br />

wie sie in der universitären <strong>Angst</strong>abwehrfassade <strong>Bluff</strong> tagtäglich vorexerziert wird, <strong>und</strong> die<br />

Anpassung an die <strong>Uni</strong>versität ist gelungen. Die Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, habe ich<br />

vorhin bereits benannt: Sachlichkeit, Abstraktionsvermögen, distanzierte Aggressivität <strong>und</strong> - vor<br />

allem - Bestätigung des Selbstwertgefühls über Konkurrenz <strong>und</strong> Leistung. Das sind alles<br />

klassische Verhaltensweisen des Marktes: Sie beziehen sich auf Sachen <strong>und</strong> nicht auf Personen<br />

<strong>und</strong> setzen sich über das tauschwertorientierte Erfolgskriterium durch.<br />

So gesehen bekommt das Trennkriterium für das Überleben an der <strong>Uni</strong> ein ganz anderes Gesicht:<br />

Die <strong>Uni</strong> selektiert nicht mehr oder weniger zufällig nach den jeweils individuellen Erfahrungen der<br />

bisherigen Erziehung. Sondern da wird dasjenige Verhalten gefördert <strong>und</strong> belohnt, das in dieser<br />

Gesellschaft herrschaftskonform ist <strong>und</strong> dasjenige bestraft <strong>und</strong> unterdrückt, was sich diesem<br />

Kriterium des Marktes <strong>und</strong> damit dem Kriterium des Erfolges <strong>und</strong> der Herrschaft in dieser<br />

Gesellschaft nicht fügen kann oder nicht fügen will. Es ist deshalb keineswegs ein Zufall, daß die<br />

an der <strong>Uni</strong>versität Erfolgreichen gewöhnlich Menschen der Art sind, die in dieser Gesellschaft<br />

sowieso schon die Herrschaft ausüben: Männer, deren Väter zu oberen Gesellschaftsschichten<br />

gehören. Sie - die nicht ohne Gr<strong>und</strong> Erfolgszuversichtlichen - lernen im <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> den letzten<br />

Schliff einer Erfolgsfassade.


48<br />

Die gesellschaftliche Funktion des <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong>s<br />

Die Verhaltensweisen, die dazu selbst noch in den alltäglichen Situationen notwendig sind, z. B.<br />

im Restaurant, in der Oper oder beim Gartenfest, das selbstverständlich gewordene Auftreten,<br />

das überall Erfolgsgewohnheit, Überlegenheit <strong>und</strong> Sicherheit signalisiert, dieser<br />

Herrschaftshabitus wird an der <strong>Uni</strong>versität als »heimlicher Lehrplan« vermittelt, egal in welchem<br />

Fach.<br />

Wer dabei herausfällt, dient sogar noch als Sündenbock <strong>und</strong> Rechtfertigung für den Aufstieg der<br />

anderen <strong>und</strong> wird für das Scheitern an der <strong>Uni</strong> auch noch bestraft, wenn es ihm nicht gelingt, sich<br />

zu wehren (Moeller, Scheer, 1974, S. 103 f.). Das zeigt sich besonders deutlich an der<br />

Einstellung vieler Professoren <strong>und</strong> Studenten, die hohe Durchfallquoten in Prüfungen <strong>und</strong> hohe<br />

Abbruchquoten beim Studium als Beweis ansehen für ein besonders hohes »Niveau« des<br />

Studienganges <strong>und</strong> für die hervorragende Begabung der wenigen, die es geschafft haben<br />

(Eckstein, 1975, S. 172).<br />

Dabei zeigen alle empirischen Untersuchungen, daß der Studienerfolg keinesfalls von den<br />

intellektuellen Fähigkeiten abhängt (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 139). Entscheidend ist allein<br />

die soziale Fähigkeit, sich zuerst in der universitären Kommunikation zurechtzufinden <strong>und</strong> dabei<br />

die universitäre Herrschaftssprache so gründlich einzuüben, daß sie zur Gewohnheit wird - zu<br />

einem Teil des eigenen Verhaltens, das dann auch in der Bewährungssituation Prüfung gebracht<br />

<strong>und</strong> dort als Beweis des hohen Niveaus geprüft <strong>und</strong> honoriert wird. Der Studienerfolg ist also<br />

davon abhängig, ob es gelingt, sich den <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> zu eigen zu machen, auf die angsterzeugende<br />

<strong>Uni</strong>-Situation immer ganz automatisch mit einer Fassade der Überlegenheit, der Selbstsicherheit<br />

<strong>und</strong> der Erfolgszuversicht zu reagieren.<br />

In England wird dieser eigentliche Inhalt der akademischen Ausbildung besonders deutlich: Dort<br />

wird die zukünftige Herrschaftselite nicht in einem unmittelbar ökonomisch, juristisch oder<br />

politisch wichtigen Fach ausgebildet. Das lernen sie später in einem zusätzlichen Studium <strong>und</strong> in<br />

der praktischen Berufstätigkeit selbst. Ihre eigentliche Gr<strong>und</strong>ausbildung erwerben sie in Oxford<br />

oder Cambridge, wo sie Griechisch oder Philosophie studieren. Was sie dabei wirklich lernen, ist<br />

der selbstsichere <strong>und</strong> erfolgszuversichtliche Herrschaftshabitus, den sie für alle ihre späteren<br />

Positionen benötigen. Die einzelnen, konkreten Anforderungen der späteren Berufstätigkeit<br />

werden sich sowieso ständig verändern. Auf sie kann das Studium nur zufällig vorbereiten.<br />

Wichtiger ist, daß auf Situationen, die in ihren Anforderungen unklar <strong>und</strong> im Gr<strong>und</strong>e<br />

angsteinflößend sind, mit der immer gleichen erfolgszuversichtlichen <strong>Angst</strong>abwehrfassade des<br />

<strong>Bluff</strong>s reagiert wird: Eigentlich kann ich<br />

49<br />

das schon <strong>und</strong> werde es jedenfalls bald besser machen als andere, weil ich eine kritische <strong>und</strong><br />

kreative Haltung habe. Der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> als Herrschaftshabitus wird auch bei uns als der »heimliche<br />

Lehrplan« in allen Fächern beigebracht. Sein Lernziel ist die Produktion »des Akademikers«.<br />

Bei dieser Form der Herrschaftsreproduktion fallen aber sehr viele heraus, die mit hohen Kosten<br />

bis in die <strong>Uni</strong>versität gebracht worden sind. Ein Einwand könnte deshalb lauten: Das ist doch<br />

unökonomisch, reine Verschwendung. Das ist doch gegen alle Gesetze des Kapitalismus.<br />

Dagegen muß man sich vor Augen führen: Der Kapitalismus ist nur innerhalb des einzelnen<br />

Betriebes voll durchrationalisiert. Gesamtgesellschaftlich verläuft er chaotisch <strong>und</strong> behält alle


möglichen historischen Merkwürdigkeiten bei, solange sie nicht die betriebliche<br />

Kapitalreproduktion beeinträchtigen.<br />

Für die <strong>Uni</strong>versität ist deshalb die folgende Beschreibung sehr plausibel, in der die Rolle des<br />

universitären »heimlichen Lehrplans« bei der Aufrechterhaltung <strong>und</strong> Rechtfertigung der<br />

bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufgezeigt wird:<br />

»Kurz, die vergeudete Zeit (<strong>und</strong> das vergeudete Geld) ist zugleich der Preis für die<br />

Verschleierung der Relation zwischen sozialer Herkunft <strong>und</strong> Studienerfolg; denn, wollte man<br />

billiger <strong>und</strong> schneller vollziehen, was das System ohnehin leistet, würde man eine Funktion<br />

offenlegen <strong>und</strong> damit hinfällig machen, die nur im verborgenen wirken kann. Das Bildungswesen<br />

legitimiert die Machtübergabe von einer Generation auf die andere immer um den Preis einer<br />

Vergeudung von Geld <strong>und</strong> Zeit ( . ) Mit den durch seine relative Autonomie bedingten Ideologien<br />

<strong>und</strong> Auswirkungen ist das Bildungswesen für die bürgerliche Gesellschaft in ihrer heutigen Phase<br />

das, was andere Formen der Legitimierung der Sozialordnung <strong>und</strong> der Vererbung der Privilegien<br />

für Gesellschaften waren, die sich in der Form ihrer Klassenbeziehungen <strong>und</strong> Antagonismen <strong>und</strong><br />

in der Art des vererbten Privilegs unterschieden: Trägt es nicht dazu bei, jede soziale Gruppe<br />

davon zu überzeugen, daß es das beste für sie ist, an dem Platz zu bleiben, der ihr von Natur<br />

zukommt, <strong>und</strong> sich daran zu halten ( . )? Der Erbe bürgerlicher Privilegien kann sich nicht auf das<br />

Recht der Geburt berufen - das seine Klasse der Aristokratie historisch aberkannt hat -, noch<br />

kann er sich auf das Naturrecht berufen - diese früher gegen aristokratische Unterscheidung<br />

gerichtete Waffe könnte sich nur allzu leicht auch gegen die bürgerliche >Distinktion< richten -,<br />

ebensowenig kann er sich auf die asketischen Tugenden berufen, die den Unternehmern der<br />

ersten Generation erlaubten, Erfolg durch Verdienst zu rechtfertigen. Er kann sich also nur auf<br />

seine Schulerfolge berufen, die zugleich seine Fähigkeiten <strong>und</strong> seinen Verdienst bescheinigen. (<br />

... ) In einer Gesellschaft, in der der Erwerb sozialer Privilegien<br />

50<br />

immer enger vom Besitz eines akademischen Diploms abhängt, hat das Bildungswesen nicht nur<br />

die Funktion, auf diskrete Weise die Erbfolge bürgerlicher Rechte, die man nicht mehr direkt <strong>und</strong><br />

offen weitergeben kann, abzusichern. Als privilegiertes Instrument ( ... ), das den Privilegierten<br />

jenes höchste Privileg verschafft, nicht als Privilegierte zu erscheinen, überzeugt sie die<br />

Unterprivilegierten um so leichter davon, daß ihr soziales Schicksal <strong>und</strong> ihr Bildungsschicksal auf<br />

ihrem Mangel an Fähigkeiten oder Verdienst beruhen, ( ... » (Bourdieu, Passeron, 1971, S. 226<br />

ff.).<br />

Damit wird die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> mit ihrer Abwehrfassade <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> zu einem wichtigen Mittel der<br />

Herrschaftsreproduktion in der b<strong>und</strong>esrepublikanischen Gesellschaft. Zwar liegt die eigentliche<br />

Basis der Herrschaft in einer kapitalistischen Gesellschaft in der Verfügung über die<br />

Produktionsmittel. Diese in der ökonomischen Verfügungsgewalt begründete Herrschaft muß sich<br />

aber gesellschaftlich über das Verhalten von Individuen in den verschiedensten Bereichen<br />

durchsetzen. Das Kapital als akkumuliertes Geld <strong>und</strong> als privat besessene Produktionsmittel ist<br />

für sich allein nichts als Papier <strong>und</strong> Maschinen. Es muß durch die handelnden Individuen im<br />

gesellschaftlichen Verkehr vertreten <strong>und</strong> als Herrschaft durchgesetzt werden. Dazu erzieht die<br />

<strong>Uni</strong>.<br />

Klar auch: Niemand steuert das bewußt oder hat sich in einer genialen Verschwörung diesen<br />

raffinierten Mechanismus von <strong>Uni</strong><strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> ausgedacht. Dieser erfüllt seine Funktion,<br />

ohne daß das auch nur einem der Träger dieser Funktion je bewußt werden muß. Und solange


sie als ständiges Nebenprodukt der inhaltlichen Ausbildung abfällt, gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, etwas<br />

zu verändern.<br />

... <strong>und</strong> wie ist das an der Massenuniversität?<br />

Wenn man die Prognosen über die Akademikerarbeitslosigkeit der achtziger Jahre kennt, dann<br />

kann man als Betroffener oder Betroffene wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln bringen für die<br />

These, an der <strong>Uni</strong> würden die Führungskader von morgen herangezüchtet. Schauen wir uns<br />

Großbritannien, die USA oder auch Schweden an, wo die sprunghafte Ausdehnung der<br />

Ausbildungskapazitäten vor langer Zeit gelaufen ist (dort besuchen über 30 % eines Jahrganges<br />

die <strong>Uni</strong>versität, bei uns immer noch unter 10 %!).Nimmt man diese Länder als Modell für die<br />

mögliche Entwicklung in der B<strong>und</strong>esrepublik, dann wird folgendes deutlich: Die<br />

Akademikerarbeitslosigkeit ist wahrscheinlich eine Übergangserscheinung, bis sich die<br />

Differenzierung der <strong>Uni</strong>versitätsausbildung in Elitenreproduktion <strong>und</strong> Ausbildung normaler,<br />

höherqualifizierter Arbeitskräfte mit hoher Mobilität durchgesetzt hat.<br />

51<br />

Jetzt meinen noch beinahe alle Studierenden, das Studium berechtige sie zu einer gehobenen<br />

Stellung im spezifischen Bereich ihrer Ausbildung. In den USA berechtigt inzwischen der<br />

<strong>Uni</strong>versitätsBesuch zu irgendeinem Job auf der Angestelltenebene, mehr nicht. Nur die Leute, die<br />

über die erste Abschlußprüfung hinaus studieren oder in eins der berühmten Elite-Colleges<br />

gehen, haben Anspruch auf eine der sogenannten »höheren Stellungen«. Ich vermute, daß auch<br />

bei uns nach <strong>und</strong> nach die Unterscheidung in Rezeptemacher <strong>und</strong> Rezepteanwender sich<br />

durchsetzen wird. Das Vehikel dazu dürfte die Regelstudienzeit sein: Alle, die sich mit diesem<br />

Abschluß zufriedengeben, stellen das akademische Fußvolk. Die zukünftige Herrschaftselite läßt<br />

sich dann wohl über diejenigen rekrutieren, die ein Aufbaustudium weitertreiben, den Magister<br />

oder Doktor machen wollen.<br />

In der Zwischenzeit, bis sich dieser wahrscheinliche Wandel nach dem Vorbild der USA vollzogen<br />

hat, wird die deutsche <strong>Uni</strong>versität aber immer unerträglicher, wenn es nicht gelingt, aus der<br />

eigenen Lebensgeschichte <strong>und</strong> aus den eigenen Zukunftsvorstellungen für sich selbst in einer<br />

Gruppe einen Sinn für das Studium neu zu bestimmen. (Das wird das Hauptthema des nächsten<br />

Kapitels sein.) So wie sie jetzt ist, verliert die <strong>Uni</strong>versität für die meisten Studierenden immer<br />

mehr jeden Sinn: Die Führungspositionen, zu denen sie den passenden Habitus liefert, gibt es<br />

nur noch für ganz wenige. Viele wollen <strong>und</strong> können auf solche Positionen auch gar nicht mehr<br />

spekulieren. Die Alternative: ein sinnvolles, inhaltlich fruchtbares Studium, kann unter den<br />

chaotischen <strong>und</strong> bedrückenden gegenwärtigen Studienbedingungen auch nur ausnahmsweise<br />

gelingen. Es ist deshalb nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn sich immer mehr Studierende sagen: Diese<br />

<strong>Uni</strong>versität muß sich ändern, <strong>und</strong> zwar gründlich, sonst ist sie es nur noch wert, lahmgelegt zu<br />

werden.<br />

Jetzt im Herbst 1978 sind die wahrscheinlichen Entwicklungen in der Hochschulreform viel<br />

deutlicher geworden als sie es damals waren, als ich den ursprünglichen Text geschrieben habe.<br />

Der Wissenschaftsrat <strong>und</strong> das B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft stellen sich das<br />

so vor: Die Masse aller Studierenden soll schon nach einem nur dreijährigen Kurzstudium für<br />

mittlere Positionen im Berufsleben qualifiziert sein - ohne die bisherigen Ansprüche an eine<br />

Akadermikerstellung. Das Studium dazu wird entsprechend verschult <strong>und</strong> in<br />

unzusammenhängende Paukeinheiten aufgeteilt. Dabei ist Flexibilität <strong>und</strong> Anpassungsfähigkeit<br />

an neue Problemlagen oberstes Ziel. Gleichzeitig sollen die Absolventen dieses Kurzstudiums<br />

ihre Berufsansprüche entsprechend herunterschrauben. Denn nur die Besten \%erden zu einem<br />

weiterführenden Studium zugelassen, das aber auch wieder unter das Fallbeil der


Regelstudienzeit gelegt ist. Aus diesen wenigen wird dann die neue Herrschaftselite ausgewählt,<br />

die sich im völlig unreglementierten Aufbaustudium zum Vollakademiker mit Doktortitel<br />

qualifizieren darf.<br />

52<br />

viertes Kapitel<br />

<strong>Wie</strong> sich wehren?<br />

Nach dem, was ich bis hierher geschrieben habe, sieht es so aus, als gebe es nur zwei<br />

Entwicklungsmöglichkeiten im Studium. Entweder du fällst irgendwann heraus auf mehr oder<br />

weniger schlimme<br />

Weise, oder du veränderst dich so, daß du dich an die <strong>Uni</strong> anpaßt, den <strong>Bluff</strong> erlernst <strong>und</strong><br />

Akademiker wirst. Beides sind aber nur verschiedene Weisen, sich im Studium selbst zu<br />

verlieren. <strong>Wie</strong> also studieren <strong>und</strong> sich nicht verlieren?<br />

ich kann hier jetzt selbstverständlich nicht das große Zauberkaninchen aus dem Hut ziehen, das<br />

alle Probleme löst. Was ich tun will ist folgendes: Ich versuche, alles darzustellen <strong>und</strong> in einen<br />

Zusammenhang zu bringen, was ich an möglichen Ansatzpunkten für Gegenwehr an der <strong>Uni</strong><br />

erlebt, gehört <strong>und</strong> gelesen habe. Dabei will ich mich bemühen, auch gleich etwas über die<br />

Schwierigkeiten zu sagen, die dabei entstehen, damit ich nicht zu allem anderen auch noch den<br />

Frust über zerstörte Hoffnungen hinzufüge. Vieles von dem, was ich hier vorschlage, stammt also<br />

gar nicht aus meiner eigenen Erfahrung, sondern ich habe davon gehört oder habe es mir<br />

ausgedacht, ohne es bisher selbst probieren zu können. Das mußt du bedenken, wenn beim<br />

Selberprobieren Schwierigkeiten auftauchen, von denen hier gar nicht die Rede war. Da mußt du<br />

zusammen mit anderen genauso wie ich gucken, ob euch nicht etwas Besseres einfällt.<br />

Das Ziel: die <strong>Angst</strong> überwinden<br />

Für die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> gibt es viele Gründe, die mit dem Verhältnis zwischen den Studierenden nichts<br />

zu tun haben: der Prüfungsdruck, die Konkurrenz um Noten <strong>und</strong> Stipendien, das Ordnungsrecht<br />

<strong>und</strong> die um sich greifenden Eingriffe des Staates <strong>und</strong> die immer durchschlagendere<br />

Reglementierung des Studiums. Vor allem aber übt die Ungewißheit, ob es nach dem Studium<br />

eine sinnvolle Berufsperspektive geben kann, einen ungeheuren Druck aus, der alles in Frage<br />

stellt, was du während des Studiums machst.<br />

Und doch wird der größte Teil dieser <strong>Angst</strong>, die dann den <strong>Bluff</strong> erzeugt gar nicht durch diese<br />

äußerliche Wirklichkeit erzeugt, sondern durch das Verhalten der Studierenden zueinander:<br />

unausgesprochene Konkurrenz <strong>und</strong> projizierte Leistungsanforderungen selbst in Bereichen, wo<br />

es gar niemanden gibt, der Noten oder ähnliches vergibt, produzieren Isolation <strong>und</strong> <strong>Angst</strong> auch<br />

dort, wo sie von<br />

53<br />

der äußerlichen Wirklichkeit her gar nicht erklärlich ist. Der erste Schritt beim Sichwehren muß<br />

also sein, diese überschüssige, auch angesichts der beschissenen Wirklichkeit unnötige <strong>Angst</strong><br />

abzubauen. Denn sie ist eines der entscheidenden Hindernisse für eine Solidarität, ohne die<br />

auch die beschissene Wirklichkeit nicht verändert werden kann.


Diese überschüssige <strong>Angst</strong> kann aber nur abgebaut werden, wenn wir aufhören, uns gegenseitig<br />

Stärke vorzuspielen; wenn wir die Erfahrung machen können, daß wir auch mit dem, was wir als<br />

»Schwäche« ansehen, akzeptiert werden. Der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> ist nur die universitäre Spielart dieses<br />

sich <strong>und</strong> anderen Stärke Vorspielens. Wenn es also gelingt, das, was dir an der <strong>Uni</strong> <strong>Angst</strong> macht,<br />

auszusprechen <strong>und</strong> mit den anderen zu diskutieren, dann verschwindet mit der <strong>Uni</strong><strong>Angst</strong> auch die<br />

Notwendigkeit der <strong>Bluff</strong>-Fassade.<br />

Daß so etwas an der <strong>Uni</strong> durchaus geht, zeigt ein Erfahrungsbericht eines Studenten, der<br />

zusätzlich zu den spezifischen <strong>Uni</strong>Ängsten auch noch fürchten mußte, wegen seines Schwulseins<br />

abgelehnt zu werden: »Es weiß ja keiner, daß ich schwul bin, <strong>und</strong> ich traue mich auch nicht, es zu<br />

erzählen. Da ist sie wieder, diese <strong>Angst</strong>, ausgestoßen zu werden, nicht als vollwertig zu gelten,<br />

allein weiterstudieren zu müssen.« Diese Situation änderte sich für ihn völlig, nachdem er in<br />

Diskussionen bei der Homosexuellen Aktion Hamburg gelernt hatte, zusammen mit anderen<br />

Schwulen an der <strong>Uni</strong> auch über sein Schwulsein offen zu reden: Das Beispiel ermutigte andere<br />

dazu, auch von ihren Problemen zu reden, ȟber die sie vorher nicht sprechen mochten oder<br />

konnten. Es ist also nicht nur für mich, sondern auch für andere vorteilhaft gewesen, daß ich mein<br />

Versteckspiel aufgegeben habe. Ich kann jetzt auch in der <strong>Uni</strong> über meine Probleme offener<br />

reden, weshalb ich mich dort wohler fühle als früher« (aus: Rosa 7, Zeitschrift für Homosexuelle<br />

Aktion Hamburg).<br />

Die andere Voraussetzung für die Erfahrung, daß die <strong>Angst</strong> gar nicht nötig ist, kann nur mit<br />

großen Schwierigkeiten hergestellt werden, ist aber besonders wichtig. Du brauchst eine<br />

solidarische Gruppe von Leuten, bei denen du weißt, die kritisieren dich schon auch mal ganz<br />

schön scharf, aber sie wollen dich nie fertig machen. Nur dann kannst du nämlich nach <strong>und</strong> nach<br />

versuchsweise deine Ängste herauslassen. So kannst du dann die Erfahrung machen, daß du<br />

auch weiterhin akzeptiert bist, auch wenn du nicht all das weißt, was du meinst wissen zu<br />

müssen. Danach kannst du langsam freiere, offenere <strong>und</strong> selbstbewußtere Verhaltensweisen<br />

einüben. Zuerst geht das sicherlich nur in dem schützenden Klima der Gruppe, weil dir die klugen<br />

Gesichter der anderen immer noch <strong>Angst</strong> einjagen <strong>und</strong> weil du noch nicht gelernt hast, dich<br />

gegen die Diskussionsterroristen wirksam zu wehren. Das kommt aber vielleicht auch noch, wenn<br />

ihr als Gruppe euch gegenseitig in solchen Diskus<br />

54<br />

sionen unterstützt nach einem Plan, den ihr vorher ausgearbeitet habt.<br />

Bei mir lief das so: <strong>Wie</strong> gesagt, ich war vor der Studentenbewegung in der CDU <strong>und</strong> hing sehr<br />

vereinsamt, verkrampft <strong>und</strong> bis oben voll mit Ängsten <strong>und</strong> den entsprechenden<br />

<strong>Angst</strong>abwehrfassaden an der <strong>Uni</strong> herum. Ich hatte gerade eine Phase extremer Depressionen,<br />

die ich durch Leistung zu überwinden suchte, was selbstverständlich schief ging. In dieser Zeit<br />

stieß ich in einem Seminar zu einer Arbeitsgruppe, die sich nicht nur einfach mit dem<br />

wissenschaftlichen Thema beschäftigte. Darüber hinaus unterhielten wir uns in der Gruppe sehr<br />

intensiv über unsere persönliche Vergangenheit mit dem Ziel, herauszufinden, was uns in<br />

unseren Verhaltensweisen <strong>und</strong> politischen Einstellungen geprägt hatte. Damals zu Beginn der<br />

Studentenrevolte hatte nämlich die Entdeckung der Sozialwissenschaftler eine große Wirkung,<br />

daß der deutsche Faschismus sehr eng mit den autoritären Einstellungen zusammenhing, die in<br />

der traditionellen Kleinfamilie erlernt werden. Die Gruppen nannten sich damals vor allem<br />

deshalb antiautoritär, weil sie diesem Strickmuster autoritären Verhaltens, das den<br />

Nationalsozialismus mit möglich gemacht hatte, auf die Spur kommen <strong>und</strong> bekämpfen wollten.<br />

Dies nur zur Erklärung, wie wir in der Arbeitsgruppe überhaupt dazu gekommen waren, über<br />

unsere persönliche Entwicklung zu diskutieren. Deshalb konnten wir auch über unsere


Schwierigkeiten <strong>und</strong> »Schwächen« in einer solidarischen Weise offen reden, denn bei diesem<br />

Verständnis von Politik entlarvten wir nicht uns selbst, wenn wir unsere Macken offenlegten,<br />

sondern die Gesellschaft.<br />

Ich wurde in dieser Gruppe wegen meiner manchmal sehr verschrobenen Einstellungen <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen nicht persönlich abgelehnt, wenn auch fre<strong>und</strong>lich, aber unnachgiebig darüber<br />

diskutiert wurde. So war es mir überhaupt möglich, mich nicht auf meine Positionen bockig zu<br />

versteifen, um so wenigstens mir selbst gegenüber mein Selbstwertgefühl zu retten. Ich konnte<br />

über mich selbst lernen, wie ich zu den Positionen gekommen war, sie kritisch diskutieren, ohne<br />

daß damit ich als Mensch insgesamt zur Diskussion stand. Und deshalb konnte ich wohl auch<br />

viele dieser Positionen aufgeben ohne das Gefühl der Kapitulation, sondern mit dem.<br />

Selbstbewußtsein, daß ich ungeheuer viel gelernt hatte. Dabei waren die Diskussionen gar nicht<br />

einmal so sehr »politisch« in dem Verständnis, das sich inzwischen wieder eingebürgert hat. Wir<br />

redeten mehr über Sexualität, Erziehungsprobleme, Schulerfahrungen, Elternkonflikte als über<br />

Vietnam. Über das redeten wir aber selbstverständlich auch.<br />

Ich glaube übrigens, daß die universitäre Linke Ende der sechziger Jahre vor allem darum den<br />

Sprung zur Massenbewegung an der <strong>Uni</strong> geschafft hat, weil sie dieses breite Verständnis von<br />

Politik ent<br />

55<br />

wickelt hatte. Dadurch wurde es in ganz vielen Bereichen plötzlich so wie bei mir möglich, die<br />

Isolation <strong>und</strong> Kälte der <strong>Uni</strong>versität zu durchbrechen <strong>und</strong> über seine eigenen Probleme mit<br />

anderen zusammen offen <strong>und</strong> solidarisch zu reden <strong>und</strong> dabei ungeheuer viel über sich <strong>und</strong> die<br />

Gesellschaft zu lernen. Gleichzeitig konnte man die Wut in den radikalen Veranstaltungen nach<br />

außen wenden, die sich aus dem Begreifen entwickelte, was einem selbst <strong>und</strong> anderen in dieser<br />

Gesellschaft angetan wird, ohne daß man es davor richtig bemerkt hatte. Diese Möglichkeit, die<br />

in diesem Politikverständnis steckte, kam den dringenden Bedürfnissen der meisten Studierenden<br />

entgegen <strong>und</strong> löste dann bei vielen anderen wie bei mir einen rasenden Lerntaumel aus.<br />

Besonders wichtig für die Bewältigung der <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> war an dieser Gruppe damals, daß wir diese<br />

Diskussionen nicht auf die Gruppe beschränkten. Wir schrieben ein ausführliches Protokoll<br />

unseres eigenen Lernprozesses <strong>und</strong> brachten das dann als Vorspann zum Papier über das<br />

wissenschaftliche Thema in das Seminar ein. Das war damals unerhört. Es war ein richtiges<br />

Seminar mit hochgestochener Theorie <strong>und</strong> höchstem Niveau, wie immer wieder vom Professor<br />

betont wurde. Es war mir kaum jemals möglich gewesen, dort etwas zu sagen, ohne daß ich<br />

Schweißausbrüche bekam <strong>und</strong> so stockend <strong>und</strong> verkürzt sprach, daß mich nie jemand verstand.<br />

Und jetzt kamen wir in diesen Tempel der Wissenschaft <strong>und</strong> bestanden darauf, über unsere<br />

persönliche Entwicklung zu reden <strong>und</strong> unsere Probleme mit dem Seminar im Seminar selbst zu<br />

diskutieren. Für mich bedeutete es ein Schlüsselerlebnis <strong>und</strong> so etwas wie eine Wende in<br />

meinem Verhältnis zur <strong>Uni</strong>, als der Prof <strong>und</strong> seine Jünger zuerst über den »Niveauverlust«<br />

rumbrüllten <strong>und</strong> schließlich mit hochrotem Kopf aus dem Raum stürzten, als wir ihm die<br />

Diskussionsleitung entzogen hatten, weil er sich geweigert hatte, unser Papier diskutieren zu<br />

lassen. Ich hatte damals das Gefühl: Das ist eine neue <strong>Uni</strong> geworden, wir haben sie sozusagen<br />

enteignet. Jetzt war es unsere <strong>Uni</strong> geworden <strong>und</strong> nicht mehr die von dem Prof.<br />

Das ist heute alles sehr viel schwieriger geworden. Nicht nur weil es inzwischen das<br />

Ordnungsrecht gibt <strong>und</strong> weil die Verschulung der Studiengänge oft kaum noch Spielraum läßt für<br />

solche Gruppenprozesse, die ja unvorstellbar viel Zeit kosten. Zusätzlich erschwert wird so etwas<br />

heute durch die Vertreter der verknöcherten politischen Organisationen an den <strong>Uni</strong>s mit ihrem


Verständnis von Politik als Haupt- <strong>und</strong> Staatsaktion. Sie haben ungeheure <strong>Angst</strong> davor, über<br />

persönliche Probleme zu reden, weil das angeblich entpolitisiere. Das befürchten sie zu Recht.<br />

Denn wenn sie tatsächlich ernsthaft sich selbst einbringen würden, könnten sie ihre Art<br />

Stellvertreterpolitik <strong>und</strong> Selbstverleugnung nicht mehr lange machen.<br />

Trotz all dieser erschwerenden Bedingungen ist ein solcher Lernprozeß in solidarischen Gruppen<br />

noch möglich. Das wird sehr ein<br />

56<br />

drucksvoll von vielen Frauengruppen demonstriert, die sich innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der <strong>Uni</strong><br />

zusammengeschlossen haben, um ihre bedrückende <strong>und</strong> angsteinflößende Situation gemeinsam<br />

zu diskutieren <strong>und</strong> zu verändern. Ich verstehe ihre Weigerung, dort auch zusammen mit Männern<br />

zu arbeiten, unter anderem als den Versuch, eine Atmosphäre zu schaffen, in der es leichter ist,<br />

bestimmte Ängste offenzulegen <strong>und</strong> anderes Verhalten zu versuchen. Das halte ich für<br />

außerordentlich wichtig. Davon sollten auch andere, gemischte Gruppen lernen: Wenn sich<br />

einzelne Personen oder Gruppen so terroristisch aufspielen <strong>und</strong> sich davon auch nicht durch<br />

Diskussionen abbringen lassen, daß eine angstabbauende solidarische Diskussion unmöglich<br />

wird, dann meine ich, ist es gerechtfertigt, sie notfalls auch mit Gewalt aus der Gruppe<br />

hinauszuwerfen.<br />

So brutal das klingt, es geht nicht anders. Die langsam wachsende Sicherheit in einem<br />

alternativen Verhalten, das aus der Erfahrung kommt, daß die <strong>Angst</strong> gar nicht notwendig ist, kann<br />

sich in der Gruppe nur entwickeln, wenn eine Gr<strong>und</strong>stimmung des sich gegenseitig Akzeptierens<br />

da ist auch dann, wenn es noch so harte inhaltliche Diskussionen gibt. Es ist dann immer noch<br />

schwierig genug, diese Verhaltensweisen <strong>und</strong> diese Sicherheit gemeinsam auch nach außen zu<br />

vertreten.<br />

Die entscheidenden Schwierigkeiten bei der Überwindung der <strong>Uni</strong><strong>Angst</strong> stecken aber ganz<br />

woanders: Einmal haben diese Ängste gesellschaftliche Ursachen, die sich nicht einfach durch<br />

Selbsterfahrung in solidarischen Gruppen überwinden <strong>und</strong> wirkungslos machen lassen. Ich will<br />

deshalb zuerst versuchen, diese Ursachen zu benennen, um daraus Konsequenzen für eine<br />

Gegenstrategie zu ziehen. Die andere Schwierigkeit besteht darin, daß diese Ängste <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen im Verlauf der Lebensgeschichte tief in die Köpfe eingeprägt sind <strong>und</strong> sich<br />

nicht so leicht verändern lassen. Es muß also dann ein Konzept für eine lang anhaltende<br />

Gruppenarbeit entwickelt werden, die einen solchen Prozeß trotz aller Rückschläge <strong>und</strong><br />

Schwierigkeiten durchstehen hilft.<br />

Gesellschaftliche Ursachen - oder: Wo es langgehen soll<br />

In den beiden vorangegangenen Kapiteln stellte sich immer wieder als letztliche Ursache sowohl<br />

für die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> wie für den <strong>Uni</strong><strong>Bluff</strong> die Gr<strong>und</strong>struktur der kapitalistischen Gesellschaft heraus.<br />

Bei der <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> zeigte sich, daß sie nur die besondere universitäre Erscheinung der<br />

Leistungsangst ist. Beim <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> war es das tauschwertorientierte Erfolgskriterium, das ihn zum<br />

Hauptträger des »heimlichen Lehrplans« macht. Diese Orientierung am Tauschwert verschiebt in<br />

allen Bereichen den Sinn aller Handlungen auf<br />

57<br />

das, was man dafür kriegt - Profit, Prestige oder Wählerstimmen. <strong>Wie</strong> <strong>und</strong> wofür man das kriegt,<br />

spielt kaum eine Rolle.


An der <strong>Uni</strong> führt dieses dem Inhalt äußerliche Kriterium für Sinn <strong>und</strong> Erfolg des Handelns dazu,<br />

daß die nützlichen Eigenschaften von Wissenschaft in den Hintergr<strong>und</strong> treten <strong>und</strong> sie ebenfalls<br />

nur noch zum Mittel wird, um sich Titel, Stellen <strong>und</strong> Prestige einzuhandeln. Wissen verliert seinen<br />

problemlösenden Charakter <strong>und</strong> wird nur noch angehäuft, um es ganz ähnlich in den<br />

Konkurrenzkampf einzubringen, wie die Bauern auf der Schwäbischen Alb ihre Stellung im Dorf<br />

an der Größe ihres Misthaufens vor dem Haus mes- sen. Indem der nützliche Charakter von<br />

Wissen in den Hintergr<strong>und</strong> tritt <strong>und</strong> es zunehmend nur noch Vehikel für Prestige <strong>und</strong> Aufstieg<br />

wird, verschiebt sich die eigentliche Funktion der <strong>Uni</strong>versität von der Ausbildung inhaltlicher<br />

Fähigkeiten auf die Vermittlung eines bestimmten Herrschaftshabitus, der für die entsprechenden<br />

Herrschaftspositionen qualifiziert. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, daß der<br />

Studienerfolg keinesfalls von den intellektuellen Fähigkeiten der Studierenden abhängt<br />

(Saterdag, Apenburg, 1972, S. 139). Entscheidend ist allein die soziale Fähigkeit, sich in der<br />

universitären Kommunikation zurechtzufinden <strong>und</strong> dabei die universitäre Herrschaftssprache so<br />

gründlich einzuüben, daß sie zur Gewohnheit wird, zu einem Teil des eigenen Verhaltens, das<br />

dann auch in der Bewährungssituation Prüfung gebracht <strong>und</strong> dort als Beweis des hohen Niveaus<br />

geprüft <strong>und</strong> honoriert wird.<br />

Aber nicht nur in der <strong>Uni</strong> prägt das tauschwertorientierte Erfolgskriterium die eigentliche Funktion<br />

der Institution. Marx hat mit seiner Kapitalismusanalyse gezeigt, daß diese Dominanz des<br />

Tauschwerts über den Gebrauchswert das entscheidende Kennzeichen für die kapitalistische<br />

Gesellschaft ausmacht <strong>und</strong> sie in allen ihren spezifischen Erscheinungsweisen <strong>und</strong><br />

Widersprüchen prägt. Ich meine deshalb, daß jeder Versuch der Gegenwehr, jede Strategie<br />

gegen diese Dominanz sich ganz an diesem Gegensatz zwischen Tauschwert <strong>und</strong><br />

Gebrauchswert entwickeln muß. Sie muß ihr Ziel darin sehen, gebrauswertorientierte Sinn- <strong>und</strong><br />

Erfolgskriterien zu bestärken, bedürfnisorientierte Verhaltensweisen, Zusammenhänge <strong>und</strong><br />

Kommunikation zu entwickeln <strong>und</strong> sie immer wieder mit den tauschwertorientierten<br />

Verhaltensweisen (die eigenen eingeschlossen) zu konfrontieren.<br />

Was heißt das nun konkret für die <strong>Uni</strong>?<br />

Gebrauchswert, das sind alle diejenigen Eigenschaften eines Dings, die menschliche Bedürfnisse<br />

befriedigen. Was kann dann der Gebrauchswert des Studiums sein? Ich meine, das ist die<br />

entscheidende Frage für eine Gegenstrategie.<br />

Das wird bestätigt durch die Tatsache, daß sich unter den Studienabbrechern <strong>und</strong> den<br />

Studierenden mit extrem langer Studienzeit überproportional viele fanden, die sehr vage<br />

Vorstellungen über ih<br />

58<br />

re Studienziele hatten (Saterdag, Apenburg, 1972, S. 60). Es ist also tatsächlich der<br />

entscheidende Punkt bei der Gegenwehr gegen die <strong>Uni</strong>-Strukturen, sich eine langfristige<br />

Zielsetzung zu verschaffen, was nichts anderes bedeutet als sich über den Gebrauchswert des<br />

Studiums klar zu werden. Erst dann ist es möglich, gezielt zu studieren, sich aus der chaotischen<br />

<strong>Uni</strong>-Situation selbst einen sinnvollen Studienplan zusammenzustellen <strong>und</strong> die sinnentleerten<br />

Situationen zu beenden.<br />

Der Sinn des Studiums darf sich aber nicht allein darin erschöpfen, daß man damit später einen<br />

Job bekommt, denn damit wird die Studienzeit zum bloßen Mittel, wird bloße Übergangssituation.<br />

Es lohnt gar nicht richtig, sich auf sie ernsthaft einzulassen, an der Verbesserung der<br />

Studiensituation zu arbeiten. Das Studium erhält dann einen Stellenwert wie es der Wehrdienst


für die Männer hat: eine Zeit, die man hinter sich bringen muß mit möglichst wenig<br />

Reibungswiderstand. Bedenkt man aber, daß ein Studium im Schnitt vier bis fünf Jahre dauert,<br />

läuft das darauf hinaus, fünf Jahre seines Lebens abzuschreiben - erst recht dann, wenn der<br />

Arbeitsmarkt nachher den erhofften Job nicht bereithält! Normalerweise, wenn es nicht um das<br />

Studium ginge, sondern um einen befristeten Arbeitsvertrag auch nur für zwei oder drei Jahre,<br />

würdest du dich auf den Arbeitsplatz voll einlassen <strong>und</strong> versuchen, das Beste daraus für dich <strong>und</strong><br />

deine Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen zu machen.<br />

Es ist also absurd <strong>und</strong> verhängnisvoll, wenn der Sinn des Studiums <strong>und</strong> die Probleme, an denen<br />

du arbeiten willst, allein oder auch nur vor allem über die je nach Arbeitsmarktlage zugänglichen<br />

Jobs bestimmt wird. Der Sinn des Studiums muß so viel mit dir selbst zu tun haben, daß es dir<br />

etwas bringt, auch wenn es dir keinen Job bringt.<br />

Ein wichtiger Teil im Gebrauchswert des Studiums kann es deshalb auch sein, Erfahrungen zu<br />

machen, wie sie B. Möller in einem Auf, satz mit dem Titel »Widersprüche überleben« seht<br />

sinnlich beschreibt: »In Akten der Verweigerung, in der Erfahrung, einmal den Mut zum<br />

Aufmucken gehabt zu haben, in Erfahrungen unerwarteter Solidarität, in Erfahrungen von Zorn<br />

<strong>und</strong> Abscheu, die einem den eigenen Willen zum Widerstand gewiß machen, in Erfahrungen<br />

befreiter Körperlichkeit, von Zärtlichkeit, die Besitzdenken ausschließt; auch <strong>und</strong> nicht zuletzt die<br />

Erfahrung glückenden Denkens. Die Erfahrung, einmal wirklich für sich selbst ein Stück<br />

>Schleier< zerrissen zu haben, ist als sinnliche Erfahrung des Denkenden nicht dauerhaft, kann<br />

es nicht sein. Aber sie allein erhält die Lust am Denken oder doch die Hoffnung auf diese Lust«<br />

(Möller, 1974 S. 48).<br />

59<br />

Gebrauchswert des Studiums: eigene Probleme lösen!<br />

In den Diskussionen über den Sinn des Studiums, die du in deiner Gruppe führst, genügen solche<br />

sinnlichen Erfahrungen nicht zur Beschreibung dessen, was mit dem Studium erreicht werden<br />

soll. Trotzdem setzt das Zitat an der richtigen Stelle an, wie ich meine, nämlich an der eigenen<br />

Person, den eigenen Erfahrungen <strong>und</strong> Bedürfnissen. Das Studium <strong>und</strong> das, was du dabei tust,<br />

muß etwas mit dir zu tun haben, muß Probleme lösen, die deine eigenen sind, wenn es dir etwas<br />

nützen soll. Es ist deshalb für eine Gegenwehr entscheidend, daß ihr in der Gruppe eure<br />

Lebensgeschichte bearbeitet, sie euch gegenseitig unter dem Gesichtspunkt erfragt <strong>und</strong> erzählt,<br />

wie ihr dazu gekommen seid, euch durch die reformierte Oberstufe oder das Abendgymnasium<br />

bis an die <strong>Uni</strong> durchgeschlagen habt. Und warum ihr dann gerade dieses Fach gewählt habt.<br />

Allein geht das auch, ist aber sehr viel schwieriger: z. B. der Student, über den ich vorhin<br />

berichtet habe, der früher gewerkschaftlicher Jugendvertreter in einem Metallbetrieb gewesen war<br />

<strong>und</strong> dem der Studienbetrieb seine ganze anfängliche inhaltliche Motivation zugeschüttet hat,<br />

hätte ohne das Studienkollektiv mit den ausführlichen Diskussionen über den Sinn des Studiums<br />

seine eigene Geschichte sehr viel schwerer begreifen können. Die Fragen der anderen zwingen<br />

zum Nachdenken <strong>und</strong> brechen Verdrängungen viel eher auf.<br />

Ein anderes Beispiel: In meine Sprechst<strong>und</strong>e kam eine Studentin <strong>und</strong> sagte, sie wolle ihre<br />

Diplomarbeit über Griechenlands Integration in den Gemeinsamen Markt schreiben. Zuerst flippte<br />

ich, wie sie es auch getan hatte, voll auf die Wissenschaftlichkeit ein, <strong>und</strong> wir unterhielten uns<br />

über Literatur, Themenabgrenzung etc. Bis ich schließlich fragte: Warum willst du denn über<br />

dieses Thema arbeiten? Es stellte sich heraus, daß sie in Griechenland gewesen war <strong>und</strong> sich<br />

das erste Mal seit ganz langer Zeit wieder` wohl gefühlt hatte zwischen den Menschen dort, <strong>und</strong><br />

deshalb wollte sie über etwas arbeiten, was mit denen etwas zu tun hat. Die EWG war ihr


eigentlich herzlich wurscht. Darauf war sie nur gekommen, weil das Thema ja irgendwie<br />

politologisch sein mußte. Nachdem wir uns lange unterhalten hatten, was sie in Griechenland<br />

erlebt hatte, kamen wir zu folgendem Ergebnis: Sie solle nach Griechenland runterfahren <strong>und</strong> die<br />

Verhältnisse auf einer kaum vom Tourismus berührten Insel mit denen auf einer voll touristisch<br />

erschlossenen Insel vergleichen, <strong>und</strong> zwar ökonomisch, kulturell <strong>und</strong> vom Bewußtsein der<br />

Einwohner her. Vorher solle sie schauen, was es zu dieser Fragestellung an Literatur gibt <strong>und</strong><br />

das mal durchgucken. Aus dem »wissenschaftlichen« Thema war eines geworden, das mit ihr<br />

selbst <strong>und</strong> ihrer Geschichte etwas zu tun hat, das für sie Gebrauchswert haben kann.<br />

60<br />

Dieses Beispiel macht vielleicht deutlicher, was ich damit meine, den Gebrauchswert des<br />

Studiums herausfinden. In den Sozialwissenschaften <strong>und</strong> der Psychologie ist es vom Stoff her<br />

leichter als in anderen Fächern, Fragestellungen zu bearbeiten, die direkt mit der eigenen<br />

Lebensgeschichte zu tun haben. So bin ich zu den Sozialwissenschaften gekommen: Ich hatte<br />

mich seit der Pubertät immer sehr unsicher gefühlt <strong>und</strong> wollte herausfinden, was eigentlich mit mir<br />

los ist, wer ich bin - nach der philosophischen Devise: Erkenne dich selbst. Ich las ungeheuer viel<br />

Psychologie <strong>und</strong> studierte Philosophie <strong>und</strong> drehte beinahe durch dabei, denn bei jeder<br />

Falldarstellung oder jeder philosophischen Kritik überprüfte ich mein Inneres, ob das bei mir auch<br />

da sei, was da kritisiert oder analysiert wurde. Und an Tagen, an denen ich mich wohl fühlte,<br />

beantwortete ich die Frage mit nein. Wenn ich mich aber einsam <strong>und</strong> depressiv fühlte, erkannte<br />

ich mich in all dem wieder. Gelernt habe ich dabei kaum etwas über mich, sondern habe mich nur<br />

ins Bockshorn jagen lassen.<br />

Später habe ich gelernt, daß Erkenntnis ein Wechselprozeß zwischen erkennendem Subjekt <strong>und</strong><br />

dem betrachteten Objekt ist, wobei sich vor allem das erkennende Subjekt in dem Prozeß<br />

verändert. Bei meiner Methode des Erkenne-dich-selbst hatte ich diese Beziehung zu einem<br />

Kreis kurzgeschlossen: Das erkennende' Subjekt bezieht sich nur auf dieses Subjekt selbst. Da<br />

war klar, daß ich mich als »schlecht« erkennen mußte, wenn ich mich schlecht fühlte, <strong>und</strong> umgek<br />

ehrt als »gut«, wenn es mir gut ging. So konnte ich nur durchdrehen. Wenn ich also wirklich<br />

etwas über mich herausfinden wollte, durfte ich nicht in solche Nabelschau verfallen. Gültige<br />

Erkenntnisse über mich selbst konnte ich nach dieser Einsicht nur gewinnen, wenn ich meinen<br />

Blick als erkennendes Subjekt auf die Objektwelt richtete <strong>und</strong> mich dort wiederfinde. D. h. wenn<br />

ich zum Beispiel die politische Wirklichkeit der BRD untersuche, weiß ich, daß ich damit ein Stück<br />

meiner eigenen Wirklichkeit analysiere. Erst recht gilt das für Themen wie Sozialisationstheorie<br />

oder wie hier: Analyse der <strong>Uni</strong>versität. In diesem Prozeß der Selbsterkenntnis, die über die<br />

Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit läuft, um meine Rolle in ihr zu bestimmen, spielt<br />

Wissenschaft eine wichtige Rolle. Denn Wissenschaft ist dort, wo sie etwas taugt, Bericht über<br />

Erfahrungen mit Wirklichkeit <strong>und</strong> stellt sie in einen verallgemeinerungsfähigen Rahmen. Auf diese<br />

Weise hat für mich das Studium <strong>und</strong> die Beschäftigung mit Wissenschaft einen sehr persönlichen<br />

Sinn, einen Gebrauchswert bekommen.<br />

Einen solchen Stellenwert, wenn auch wahrscheinlich noch weniger unmittelbar, kann das<br />

Studium auch in anderen Fächern haben. Es erfordert dort sicher schwierigere Diskussionen <strong>und</strong><br />

führt vielleicht zu einer Akzentverschiebung im Studium, z. B. daß du als Jurist/in eben doch auch<br />

stärker als vorgeschrieben auf Rechtssoziologie<br />

61<br />

einsteigst oder als Biologe/Biologin dich auch mit der gesellschaftlichen Verwendung des<br />

Fachwissens beschäftigst.


Entscheidend für den Kampf gegen die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> ist, daß es gelingt, in ausführlichen <strong>und</strong> immer<br />

neuen Diskussionen herauszufinden, weshalb du studierst, was es dir ganz persönlich bringen<br />

soll, welche Probleme das Studium für dich lösen soll, selbst dann, wenn du hinterher keinen Job<br />

kriegst, in dem du das verwenden kannst. Die fünf Jahre sollst du dann nicht als verschwendete<br />

Zeit abbuchen müssen. Wenn sich ein solcher persönlicher Sinn für das Studium auch nach<br />

intensiven Bemühungen nicht finden läßt, dann solltest du ohne schlechtes Gefühl dich dazu<br />

entschließen, mit dem Studieren aufzuhören <strong>und</strong> nur noch solange an der <strong>Uni</strong> zu bleiben, bis<br />

deine Suche nach etwas anderem geklappt hat. Denn bei einem Studium ohne richtigen Sinn<br />

kannst du nur durchhängen <strong>und</strong> bist allem kriterienlos ausgeliefert. Ein Studienabbruch ist ja<br />

dann auch keine Katastrophe, wenn er nicht unbegriffene <strong>und</strong> verzweifelte Flucht vor etwas<br />

bedrohlich Unbewältigbarem ist, das einen auch danach noch weiterverfolgt. Wenn du merkst,<br />

daß dir das Studium nichts bringt <strong>und</strong> deshalb abbrichst, ist das etwas ganz anderes, ist nicht<br />

Scheitern, sondern bewußte Entscheidung gegen die ganzen Aufstiegszwänge <strong>und</strong> für eine<br />

Tätigkeit, mit der du dich identifizieren kannst.<br />

Das ist von mir nicht als Rat gemeint, sich eben resignierend der schlechten Wirklichkeit<br />

anzupassen. Im Gegenteil: mit der Frage nach dem Gebrauchswert des Studiums stellt sich ganz<br />

zwangsweise eine viel tiefergehende Frage, nämlich die, was du mit deinem Leben anfangen<br />

willst, wofür du arbeiten <strong>und</strong> dich einsetzen willst. Erst von einer solchen Fragestellung her läßt<br />

sich bestimmen, ob ein Studium <strong>und</strong> eine bestimmte Berufstätigkeit ein sinnvolles Mittel dazu sein<br />

kann oder ob ein Studium bloße Zeitverschwendung wäre (wie z. B. bei dem Ziel, sich dauerhaft<br />

in der gewerkschaftlichen Arbeit zu engagieren, wo die betriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />

Voraussetzung, ein Studium ohne direkten Gewerkschaftsauftrag eher Hindernis ist). Ich kenne<br />

viele Studierende der Gesellschaftswissenschaften, die sagen, »das Studium soll mir gerade<br />

dabei helfen, die Frage zu klären, was ich in dieser Gesellschaft mit meinem Leben anfangen<br />

kann«. Ich halte das für sehr sinnvoll, wenn ich auch bezweifle, ob das institutionell organisierte<br />

Studium bei der Beantwortung dieser Frage nützlich sein kann. Diese Frage kann wohl nur<br />

zusammen mit anderen gegen die <strong>Uni</strong>versität gestellt <strong>und</strong> beantwortet werden, denn die ist darauf<br />

angelegt, Leute für Jobs <strong>und</strong> wissenschaftliche Karrieren - also für's konkurrenzbestimmte,<br />

individuelle Glück -zu präparieren. Wenn ich aber sage, ich will dafür kämpfen, daß ich nicht<br />

unterdrückt werde <strong>und</strong> auch selbst niemanden unterdrücke, daß die Unterdrückung insgesamt<br />

abgebaut wird, dann steht das quer zur Institution <strong>Uni</strong>versität, denn sie ist selbst<br />

62<br />

Unterdrückungsinstanz. Die Gegenqualifikation gegen die <strong>Uni</strong>versität <strong>und</strong> gegen die<br />

herrschenden gesellschaftlichen Zwänge mußt du zusammen mit anderen aus der <strong>Uni</strong><br />

herausholen wie die nützlichen Teile aus einem Autowrack, ihr müßt sie ausschlachten. Und wie<br />

man ein Autowrack nur ausschlachten kann, indem man es zerstört, so muß auch die <strong>Uni</strong>versität<br />

in ihrer gegenwärtigen Form durch die radikale Kritik zerstört werden.<br />

Noch einmal Gebrauchswert des Studiums:<br />

Praxisbezug <strong>und</strong> Befreiung<br />

Studienkollektive können das, was sie als den persönlichen Sinn ihres Studiums gef<strong>und</strong>en haben,<br />

nur durchsetzen, wenn sie sich im Kampf an der Hochschule gegen die Verschulung des<br />

Studiums <strong>und</strong> die ganze obrigkeitsstaatliche Entwicklung beteiligen. Dazu müssen sie sich mit<br />

anderen Gruppen über alle Differenzen hinweg immer wieder zu Aktionen zusammenschließen<br />

<strong>und</strong> den Bezug zur hochschulpolitischen Praxis nicht den verknöcherten Organisationen<br />

überlassen.


Genausowenig kann auf den Bezug zur späteren Berufspraxis verzichtet werden, denn durch ihn<br />

bekommt dein Studium überhaupt erst seinen gesellschaftlichen Bezug <strong>und</strong> seine persönliche<br />

Zukunftsperspektive. Zu wissen, was du mit dem später machen willst, was du jetzt lernst, ist<br />

sicherlich eine außerordentlich wichtige Sache für den Gebrauchswert des Studiums. Ich habe<br />

vorhin diese Seite zurückgestellt, weil das - meine ich - nicht der einzige Sinn des Studiums sein<br />

darf <strong>und</strong> weil ich vor dem Schielen nach den Lücken des Arbeitsmarktes <strong>und</strong> dem Sichanpassen<br />

an die gegebenen Anforderungen warnen wollte. In einer kapitalistischen Gesellschaft ändern die<br />

sich nämlich dauernd <strong>und</strong> sind weder steuerbar noch vorherzusehen.<br />

Wegen dieser unvorhersehbaren Arbeitsmarktschwankungen halte ich es auch für wenig sinnvoll,<br />

nach einer kollektiven Berufsperspektive zu suchen, die dann sozusagen massenhaft verfolgt<br />

wird. Im gegebenen Arbeitsmarkt kann man nur individuell unterschlupfen. Damit daraus aber<br />

kein zielloses Anpassen wird, mußt du gemeinsam mit anderen für alle Mitglieder der Gruppe<br />

herausfinden, was für einen Beruf du ausüben möchtest, <strong>und</strong> zwar völlig unabhängig von der<br />

Arbeitsmarktlage <strong>und</strong> allen anderen pragmatischen Überlegungen. <strong>Wie</strong>der solltest du das allein<br />

auf Basis deiner eigenen Lebensgeschichte, aus deinen Überlegungen heraus bestimmen, was<br />

du für gesellschaftlich sinnvoll <strong>und</strong> persönlich befriedigend hältst. Wenn du das herausgef<strong>und</strong>en<br />

hast <strong>und</strong> dich durch<br />

63<br />

ein Praktikum in dem Bereich oder wenigstens durch Besuche <strong>und</strong> Gespräche überzeugt hast,<br />

daß es tatsächlich das ist, was du mal machen willst, dann setz alles daran, daß du das dann<br />

auch machen wirst. Sicher: Vielleicht klappt es nicht, <strong>und</strong> wahrscheinlich klappt es nicht auf<br />

Anhieb. Aber: Dein Studium sieht ganz anders aus, wenn du weißt, was du dabei lernen willst, um<br />

später etwas Bestimmtes arbeiten zu können - du hast damit den Praxisbezug selbst hergestellt,<br />

den die <strong>Uni</strong> wohl nie leisten wird. Deine Arbeitslosigkeit sieht ganz anders aus, wenn du weißt,<br />

welche Stelle du haben willst, denn du kannst dich weiter qualifizieren, kannst Umwege suchen,<br />

Beziehungen anknüpfen, um reinzukommen, <strong>und</strong> hängst nicht perspektivlos wartend mit einem<br />

Gefühl der Sinnlosigkeit durch; <strong>und</strong> selbst wenn du schließlich in einem anderen Job landest,<br />

kannst du den als Übergang oder Wartezeit für das betrachten, was du eigentlich machen willst.<br />

Auf diese Weise kann es möglich werden, sich gegenüber der Arbeitsmarktsituation <strong>und</strong><br />

Berufsperspektive genauso zu verhalten wie gegenüber der Institution <strong>Uni</strong>: aus ihr herausholen,<br />

was sinnvoll <strong>und</strong> befriedigend ist, statt sich ihr anzupassen.<br />

Gebrauchswert des Studiums heißt damit aber auch, das Studium dazu benützen, gegen das<br />

anzugehen, worunter du zusammen mit anderen in dieser Gesellschaft leidest, der zunehmenden<br />

Enge, der Pressehetze, dem Konsumterror, der Familienpolitik <strong>und</strong> all der anderen Scheiße.<br />

Zugleich bedeutet es aber auch gesellschaftliche Verantwortung: Im ersten Kapitel habe ich<br />

gezeigt, wie die Studierenden im Vergleich zu gleichaltrigen Industriearbeitern trotz aller<br />

staatlicher Restriktion doch noch privilegiert sind <strong>und</strong> in der Regel auch eine angenehmere<br />

Lebensperspektive haben. Ich halte es für absurd, deswegen etwa ein schlechtes Gewissen zu<br />

haben. Umgekehrt: Diese Privilegien müssen dazu benützt werden, dafür zu kämpfen, daß sie<br />

Allgemeingut werden <strong>und</strong> aufhören, auf wenige beschränkt zu sein. Anders ist es mit dem, was<br />

mit dem »heimlichen Lehrplan« an herrschaftsbezogenen Verhaltensweisen <strong>und</strong> Positionen<br />

bezweckt ist: Das ungerechtfertigt hohe Einkommen kann nicht ohne Diskussion einfach so<br />

individuell verbraten werden; die Herrschaftspositionen, die das Studium immer noch für viele<br />

eröffnet, müssen in ihrer gesellschaftlichen Wirkung diskutiert <strong>und</strong> durch einen über das Studium<br />

hinausreichenden Gruppenzusammenhang kontrolliert werden; das Prestige <strong>und</strong> die


Selbstsicherheit, die aus einem Gefühl der Überlegenheit gezogen werden, müssen schon<br />

während des Studiums in Frage gestellt <strong>und</strong> zerbrochen werden.<br />

Gebrauchswert des Studiums kann also nicht bloß heißen, individuell Spaß am Studieren haben.<br />

Da kommen notwendigerweise Infragestellungen <strong>und</strong> Orientierungen auf gesellschaftliche<br />

Aufgaben dazu, die oft sehr unbequem sein können, viel Arbeit machen <strong>und</strong><br />

64<br />

oft genug halt keinen Spaß mehr machen <strong>und</strong> doch getan werden müssen. Es ist wichtig, sich das<br />

klarzumachen. Oft genug meinen die Mitglieder eines frisch gegründeten Studienkollektivs voller<br />

Enthusiasmus, jetzt könnten sie sich im Gegensatz zu ihrer Isolierung davor voll verwirklichen,<br />

voll in eine solidarische Kollektivität aufgehen lassen <strong>und</strong> nur noch Spaß haben. Wenn sich dann<br />

herausstellt, daß es da oft mehr Frust <strong>und</strong> mehr Konflikte gibt als wenn man allein ist, brechen die<br />

Gruppen nur zu häufig gleich wieder auseinander. Deshalb will ich hier ietzt über diese<br />

Schwierigkeiten reden:<br />

Über Schwierigkeiten beim Sichwehren<br />

So einleuchtend das hier dargestellte Konzept klingen mag, so selten gelingt es. Die meisten<br />

Gruppen, die ich kenne, sind sehr schnell wieder auseinandergefallen. Die gesteckten Ziele<br />

wurden auch nicht annähernd ereicht. Oder aber: Sie haben sich mit der Zeit bei einzelnen<br />

Gruppenmitgliedern so gründlich verändert, daß ein gemeinsames Arbeiten nicht mehr möglich<br />

ist. Häufiger noch gehen sich die Gruppenmitglieder bald so auf die Nerven, entwickeln sich<br />

solche Konflikte, daß die meiste Zeit <strong>und</strong> Energie dabei draufgeht, sie einigermaßen in Griff zu<br />

kriegen - bis die Gruppe auseinanderläuft, weil sich die Leute nicht mehr sehen können. Ohne<br />

irgendwelche Rezepte geben zu wollen, meine ich, daß es zwei Hauptursachen für diese<br />

Schwierigkeiten gibt: einmal die »linke Überforderung« <strong>und</strong> zum anderen die Tatsache, daß die<br />

gebrauchswertorientierte Arbeit nicht nur gegen die Institution <strong>Uni</strong>versität, sondern auch gegen<br />

die in uns selbst hineinerzogenen tauschwertorientierten Verhaltensweisen <strong>und</strong> Erfolgskriterien<br />

durchgesetzt werden muß.<br />

Die »linke Überforderung« (Möller, 1974) entsteht sofort, wenn du etwas über den Kapitalismus<br />

als System kapiert hast. Du merkst, daß alle repressiven Erscheinungen zusammenhängen <strong>und</strong><br />

sich gegenseitig absichern <strong>und</strong> stützen, daß sie einzeln genommen nicht gr<strong>und</strong>sätzlich verändert<br />

werden können. Die Folgerung daraus, die sich geradezu aufdrängt, ist schon das Hauptelement<br />

der Überforderung: Man muß das ganze System bekämpfen, muß es in allen seinen<br />

Erscheinungsweisen <strong>und</strong> in seinem Wesen erfassen <strong>und</strong> überall, wo es verw<strong>und</strong>bar ist, treffen.<br />

So wird man schnell zum Hans-Kampf in allen Gassen, springt von den Mieterbewegungen in die<br />

Umweltbewegung, von dort in die Antiatomkraftbewegung etc., <strong>und</strong> nirgendwo bleibt man lange<br />

genug, um dort sinnvolle <strong>und</strong> langfristig wirksame Arbeit leisten zu können, ist aber scheinbar<br />

immer auf dem höchsten Stand der Bewegung. Dieses Mitmachen aller politischen<br />

Konjunkturschwankungen <strong>und</strong> Modetrends ent<br />

65<br />

steht aus der Überforderung, ständig durch den eigenen individuellen Einsatz die Klassenkämpfe<br />

vorantreiben zu wollen. Es macht jedes Kollektiv kaputt <strong>und</strong> jede langfristige Problemlösung<br />

unmöglich.


Die andere Überforderung entsteht aus dem Anspruch jeder antikapitalistischen Bewegung, den<br />

Kapitalismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungsbereichen theoretisch erfassen <strong>und</strong><br />

erklären zu können. Dieser Anspruch ist an der <strong>Uni</strong>versität für den solidarischen Zusammenhang<br />

besonders gefährlich, denn er hängt sich an die sowieso schon bestehenden angsterzeugenden<br />

Ansprüche <strong>und</strong> steigert sie ins Ungeheure: Zu allem muß man eine Einschätzung haben, <strong>und</strong><br />

zwar eine »materialistische« <strong>und</strong> »dialektische« - auch wenn man nicht so recht weiß, was das<br />

ist. Gleichzeitig muß man die marxistische Gesellschaftsanalyse samt ihrer historischen<br />

Entwicklung in unzähligen Schattierungen kennen. Darüber hinaus auch noch die bürgerliche<br />

Theorie nicht nur kennen, sondern auch noch kritisieren können, <strong>und</strong> dabei auch noch erklären<br />

können, warum <strong>und</strong> wie das Kritisierte notwendig aus dem kapitalistischen<br />

Gesellschaftszusammenhang entsteht. All das muß man »drauf« haben <strong>und</strong> es auch noch<br />

gekonnt gegen die Anhänger an, derer Ansichten <strong>und</strong> Organisationen verteidigen können, egal in<br />

welchem Semester man ist oder ob man eigentlich mit dem Fachstudium schon genug um die<br />

Ohren hat. Weil das aber ganz offensichtlich nicht geht, ist der <strong>Bluff</strong> gerade unter den linken<br />

Studierenden besonders weit verbreitet <strong>und</strong> zerstört dadurch gerade dort die Möglichkeit zur<br />

solidarischen <strong>und</strong> angstfreien Kommunikation besonders nachhaltig. Und das ausgerechnet dort,<br />

wo sie von der theoretischen Einsicht der Teilnehmer her noch am ehesten möglich sein müßte.<br />

<strong>Wie</strong> kann diese »linke Überforderung« abgewehrt werden? Ich meine nur dadurch, daß sich die<br />

Gruppe ganz ausführlich darüber unterhält <strong>und</strong> darauf einigt, was für die nächste Zeit<br />

gemeinsames Ziel sein soll. Danach müssen alle Ansprüche, ob sie nun von außen oder aus der<br />

Gruppe selbst kommen, darauf überprüft werden, ob sie sich konkret-inhaltlich aus der gestellten<br />

Aufgabe ergeben <strong>und</strong> ob sie in der zur Verfügung stehenden Zeit ausgeführt werden können. Alle<br />

anderen Ansprüche, die dieses Kriterium nicht erfüllen, sollten auch durchaus aggressiv<br />

zurückgewiesen werden. Keine Gruppe kann den gesellschaftsverändernden Weltgeist spielen.<br />

Und doch wird sich dieses Problem immer wieder einschleichen, denn als Linke sind wir gerade<br />

in der BRD durch die bloße allgegenwärtige Willkür der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />

überfordert. Vielleicht hilft in solchen Situationen doch ein sehr schönes BrechtZitat, sich wieder<br />

auf das Machbare zu besinnen:<br />

»Tu kam zu Me-ti <strong>und</strong> sagte: Ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich. Me-ti sagte:<br />

Setz dich. Tu setzte sich <strong>und</strong><br />

66<br />

fragte: <strong>Wie</strong> soll ich kämpfen? Me-ti lachte <strong>und</strong> sagte: Sitzt du gut? ich weiß nicht, sagte Tu<br />

erstaunt, wie soll ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin<br />

nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte Me-ti geduldig, aber<br />

dazu mußt du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen <strong>und</strong> sitzend lernen wollen. Tu sagte: Wenn man<br />

immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen <strong>und</strong> aus dem Bestehenden das Beste<br />

herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuß strebt, wie soll man da kämpfen? Me-ti sagte: Wenn<br />

man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen <strong>und</strong> nicht die<br />

beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?« (Brecht, Werke 12, S. 576).<br />

Die andere große Schwierigkeit beim Sichwehren stammt aus uns selber, aus den<br />

Verhaltensweisen, die wir anerzogen bekommen haben. Mit »wir« meine ich tatsächlich uns alle,<br />

die wir an der <strong>Uni</strong> sind. Als Intellektuelle sind wir zu einem Individualismus <strong>und</strong> meist auch<br />

intellektuellem Narzismus erzogen worden, so daß kollektives Arbeiten besonders schwierig ist.<br />

Voller Hoffnungen stürzen wir uns immer wieder in Gruppen. Ermutigende Erlebnisse werden<br />

aber permanent verhindert, weil es in den Gruppen nicht klappt, weil da Frust, Konkurrenz,


Ziellosigkeit, Aneinandervorbeireden vorherrschen. Aus guter theoretischer <strong>und</strong> politischer<br />

Einsicht nimmst du immer wieder einen Anlauf zur kollektiven Arbeit <strong>und</strong> prallst regelmäßig an<br />

denselben Schwierigkeiten ab: der <strong>Angst</strong>, dem Haß <strong>und</strong> der Unzuverlässigkeit in der Gruppe. Das<br />

kommt in seiner Zerrissenheit zwischen Erfahrung <strong>und</strong> Hoffnung in folgendem Text schlagend<br />

zum Ausdruck:<br />

»Ich könnte Seiten füllen mit Berichten über Zuspätkommen, Nichtkommen - ohne jegliche<br />

Entschuldigung oder Erklärung -, über haarsträubende Entschuldigungen beim nächsten<br />

Zusammentreffen, über lustlose Gruppensitzungen, die sich quälend hinzogen <strong>und</strong> mit müden<br />

Witzen gespickt waren. Am deprimierendsten war aber das Endergebnis: ein<br />

zusammengestoppeltes Referat, für das sich absolut keiner verantwortlich fühlte. Dieser oft<br />

vergebliche Zeitaufwand bei Gruppenarbeiten veranlaßte mich ab dem 2. Semester dazu, wenn<br />

möglich Gruppenarbeit zu vermeiden. Ich arbeitete fortan mit einem Fre<strong>und</strong> zusammen, den ich<br />

seit meiner Lehrzeit kenne <strong>und</strong> zu dem ich auch eine fre<strong>und</strong>schaftliche emotionale Beziehung<br />

habe. Dennoch halte ich Gruppenarbeit an der <strong>Uni</strong>versität für die einzige Möglichkeit, sinnvoll zu<br />

lernen. Nur in der Gruppenarbeit besteht die Chance, die nicht-intendierten, ungeplanten<br />

Lernprozesse zu thematisieren, die neben geplanten, intendierten immer auch stark das<br />

Geschehen beeinflussen« (Sienknecht, 1976, S. 13).<br />

Ich meine, diese Schwierigkeiten beim Versuch, den Gebrauchswert des Studiums zu<br />

verwirklichen, liegen vor allem in der<br />

67<br />

Illusion, man könne sich durch die gute Einsicht <strong>und</strong> den guten Willen gegen die<br />

tauschwertorientierten Verhaltensweisen <strong>und</strong> Erfolgskriterien entscheiden <strong>und</strong> das dann auch<br />

durchhalten, indem man sich eben solidarisch gegen diese äußeren Zwänge wehrt. Der Punkt ist:<br />

Im Prozeß unserer eigenen Sozialisation, also dem Erlernen gesellschaftlicher Verhaltensweisen,<br />

haben wir die für die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnenden Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />

Normen erlernt <strong>und</strong> zum Teil unserer eigenen Persönlichkeit gemacht. Es ist nun mal nicht so,<br />

daß sich Proletariat <strong>und</strong> Bourgeoisie in offener Feldschlacht gegenüberstehen, <strong>und</strong> man braucht<br />

sich nur zu entscheiden, auf welcher Seite man kämpft, auf der Seite der Befreiung oder auf<br />

derjenigen der Unterdrücker. Diese Gesellschaft ist ein völlig in sich verwobenes System von<br />

inneren Abhängigkeiten, aus dem man nicht so leicht heraus kann.<br />

Auch in unseren Köpfen <strong>und</strong> Verhaltensweisen gibt es nicht die sauber getrennte<br />

Schlachtordnung zwischen den Unterdrückern <strong>und</strong> den Unterdrückten. Gerade wir, die wir es in<br />

der bürgerlichen Sozialisation immerhin bis zur <strong>Uni</strong> geschafft haben, mußten dabei viel<br />

Unterdrückung hinnehmen <strong>und</strong> haben sie nur überlebt, weil wir gelernt haben, sie in uns<br />

aufzunehmen <strong>und</strong> sie weiterzugeben. Den Unterdrücker <strong>und</strong> das unterdrückerische Prinzip gibt<br />

es nicht nur draußen in der Gesellschaft, sondern auch in unseren Köpfen <strong>und</strong> in unseren<br />

Gruppen. Wir können es draußen nur bekämpfen, indem wir es auch in uns bekämpfen. Aber<br />

auch umgekehrt: Der Kampf gegen den verinnerlichten Unterdrücker ist nur als gleichzeitiger<br />

Kampf gegen äußere gesellschaftliche Unterdrückung möglich (vgl. Freire, 1974).<br />

Letzteres ist deshalb so wichtig, weil beim Aufarbeiten der eigenen Sozialisationsgeschichte <strong>und</strong><br />

bei Versuchen der Verhaltensveränderung in Gruppen der gesamtgesellschaftliche<br />

Unterdrückungszusammenhang oft aus dem Blick gerät.<br />

Die andere Seite aber, daß die äußere Unterdrückung nicht bekämpft werden kann, wenn nicht<br />

die Unterdrückung in uns selbst erkannt <strong>und</strong> bekämpft wird, ist Voraussetzung dafür, daß die<br />

eigene Existenz auch an der <strong>Uni</strong> gesellschaftlich <strong>und</strong> politisch sinnvoll <strong>und</strong> gleichzeitig persönlich


efriedigend werden kann. Die Entscheidung, fürs Proletariat <strong>und</strong> für die<br />

Gebrauchswertorientierung zu kämpfen <strong>und</strong> sich dafür zu organisieren, genügt eben nicht, denn<br />

sie kann nur gelingen, wenn wir uns dabei selbst verändern im Verhalten zu uns selbst <strong>und</strong> zu<br />

den anderen. »Die Gruppe kann ihren Weg erst finden <strong>und</strong> gehen, wenn sie über sich selbst <strong>und</strong><br />

ihre eigenen inneren Widerstände <strong>und</strong> einander widersprechenden Tendenzen Erfahrungen<br />

gesammelt hat« (Mahler, 1971, S. 48). Um diese Selbststeuerung im Gruppenverhalten erreichen<br />

zu können, sind gruppendynamische <strong>und</strong> selbstanalytische Mittel unverzichtbar. Dafür gibt es<br />

auch wieder keine Rezepte, doch will ich das dar<br />

68<br />

stellen, was ich aus der Literatur <strong>und</strong> aus meinen eigenen Erfahrungen mit Gruppen für machbar<br />

<strong>und</strong> vernünftig halte.<br />

Entscheidend ist der Anfang, denn da werden die meisten Fehler gemacht, schon indem zu<br />

weitgehende Ziele gesetzt werden <strong>und</strong> gemeint wird, es müßte schon am Anfang alles<br />

ausdiskutiert sein. Es ist deshalb wichtig, sich zu Anfang leicht erreichbare Zwischenziele zu<br />

setzen, z. B. zuerst einmal das Problem genau beschreiben oder Literatur heraussuchen <strong>und</strong> auf<br />

die Gruppenmitglieder verteilen, damit sie dann referiert werden kann. Kollektive Arbeit ist ja<br />

ohne individuelle Vorbereitung dieser kollektiven Phasen gar nicht möglich. Viele Schwierigkeiten<br />

in Gruppen entstehen aus dem unbewußten Vertrauen aller darauf, die Gruppe werde die<br />

gestellte Aufgäbe irgendwie von selbst als Gruppe lösen, ohne daß sich irgend jemand individuell<br />

dafür einsetzen muß. Alle warten darauf, daß etwas geschieht, <strong>und</strong> ärgern sich, daß nichts<br />

geschieht. Das kann leicht dadurch vermieden werden, daß von jeder Gruppensitzung zur<br />

nächsten Aufgaben verteilt werden. Dabei ist es wichtig, die in der Gruppe genau<br />

durchzudiskutieren, damit allen klar ist, was genau gefordert wird <strong>und</strong> wozu das notwendig ist.<br />

Wichtig ist auch: Keine großen Aufgaben vergeben, die erst-in wochenlanger Einzelarbeit<br />

erfüllbar sind. Solche Brocken sprengen das Kollektiv, weil es in ein Expertenteam zerfällt. Dazu<br />

kommt aber noch, daß die Gruppe in der Zeit der jeweiligen arbeitsteiligen Einzelarbeit stagniert.<br />

Also lieber die große Arbeit in kleine Einzelschritte zerlegen, die immer wieder kollektiviert<br />

werden können durch gegenseitige Berichte.<br />

Die andere Schwierigkeit entsteht daraus, daß niemand wagt, strukturierend einzugreifen, um<br />

sich nicht zu exponieren. Ich halte es deshalb für sehr sinnvoll, gerade am Anfang den<br />

gruppendynamischen Totalfrust dadurch zu vermindern, daß bestimmte Tätigkeiten einfach auf<br />

die einzelnen Mitglieder verteilt werden, wobei man sich immer wieder abwechseln kann, bis sie<br />

vielleicht überflüssig geworden sind (Clemens-Lodde, Sader, 1972, S. 43 f.). Eine solche<br />

Funktion ist die eines Diskussionsleiters. Das mag vielen absurd erscheinen, in einer Gruppe von<br />

5 oder 6 Leuten (größer sollte sie nicht sein). Aber gerade am Anfang wirkt eine solche formell<br />

festgelegte Funktion der Herausbildung eines »geheimen« Diskussionsleiters entgegen. Der ist<br />

dann in seiner hierarchischen Stellung nur noch schwer abzuschaffen. Wenn die Funktion<br />

jedesmal wechselt, lernen alle wie das gemacht wird.<br />

Eine weitere ständig wechselnde Funktion ist die des »Spiegels«. Das ist eine Person, die stärker<br />

als die anderen darauf achtet, was in der Gruppe läuft, <strong>und</strong> immer dann, wenn ihr etwas<br />

Besonderes auffällt, nicht etwa wertende Interpretationen gibt, sondern einfach erzählt,<br />

zurückspiegelt, was in ihrer Wahrnehmung passiert ist. Die Gruppe muß dann herausfinden, ob<br />

dies von allen so wahr<br />

69


genommen worden ist, <strong>und</strong> wenn es für die weitere Arbeit wichtig genug scheint, muß sie<br />

analysieren, woher »die Störung« kommt <strong>und</strong> wie sie abgestellt werden kann. Mit der Zeit lernen<br />

das alle, <strong>und</strong> man braucht die Funktion nicht mehr bewußt festzulegen.<br />

Was ist eine »Störung«? Die Gruppe diskutiert zuerst die Lebens<strong>und</strong> Lerngeschichte der<br />

einzelnen Mitglieder, um nach <strong>und</strong> nach das zu bestimmen, was für sie den Gebrauchswert des<br />

Studiums ausmacht. Dabei ist »Störung« all das, was die Atmosphäre des sich gegenseitig<br />

Akzeptierens <strong>und</strong> Zuhörens stören könnte. Denn die ist Voraussetzung dafür, daß alle so<br />

vorbehaltlos über sich erzählen wie möglich. Aggressive oder moralisch verurteilende Kritik,<br />

dominierendes Verhalten, Unterbuttern, ständiges Zwischenreden, all das sind hierbei Störungen,<br />

die auf ihre Ursachen untersucht werden müssen. Dazu gehört aber auch, wenn der »Spiegel«<br />

das Gefühl hat, daß sich ein Gruppenmitglied verkrampft oder aus der Diskussion zurückzieht.<br />

Das muß dann angesprochen werden, ohne daß aber jemand zum Mitdiskutieren gezwungen<br />

werden soll.<br />

Danach, wenn die Gruppe ein gemeinsames Projekt sucht, ist »Störung« wieder etwas anderes:<br />

Jetzt ist es wichtig, daß alle frei assoziieren, damit möglichst viele überschaubare <strong>und</strong><br />

einschätzbare Alternativen vorliegen, aus denen ausgewählt werden kann. Ungeduldiges<br />

Drängen oder wenn sich jemand schon vor der Phase für ein Projekt stark macht, bevor<br />

überhaupt an die Auswahl gegangen wird, das sind Beispiele dafür.<br />

Besonders schwierig wird es dann bei der Entscheidung, welches Projekt von der Gruppe<br />

bearbeitet wird, ob z. B. in der Antiatomkraftbewegung mitgearbeitet werden soll, ob ein<br />

theoretischwissenschaftliches Problem (<strong>und</strong> welches) oder ob z. B. eine berufspraktische<br />

Erk<strong>und</strong>ung angegangen werden soll. Hier ist es besonders wichtig, daß alle ihre Interessen<br />

aussprechen <strong>und</strong> daß es klar ist: Niemand wird überredet oder sonstwie untergebuttert. Es ist auf<br />

die Dauer besser, eine Gruppe aufzuteilen, als per Mehrheitsabstimmung eine Aufgabenstellung<br />

durchzusetzen, an der nicht alle Teilnehmer direkt interessiert sind. Gegen Ende dieser<br />

Entscheidungsphase müssen die gegensätzlichen Erwartungen <strong>und</strong> Bedürfnisse voll raus- <strong>und</strong><br />

klar gegeneinandergestellt werden. Hier ist also »Zurückhaltung« <strong>und</strong> Lavieren eine »Störung«,<br />

die ausgesprochen <strong>und</strong> auf ihre Ursachen hin diskutiert werden muß.<br />

Bei der Arbeit schließlich an dem gewählten Projekt schlage ich die Regeln der themenzentrierten<br />

Interaktion vor, die ich gleich darstellen werde. Allgemein gilt dabei als »Störung« alles, was es<br />

einem Gruppenmitglied schwierig macht, am Thema mitzuarbeiten. Es muß dann ausgesprochen<br />

<strong>und</strong> diskutiert werden bis klar ist, ob es abgestellt werden kann. Manchmal führt die erste<br />

Erfahrung mit gruppendynamischen Prozessen <strong>und</strong> das Ausprobieren angstfreier<br />

70<br />

Verhaltensweisen dazu, daß dicke Verdrängungsmauern plötzlich in sich zusammenbrechen <strong>und</strong><br />

die ganzen bisher dahinter aufgestauten Ängste hervorbrechen. So etwas läßt sich nicht auf die<br />

Schnelle lösen. Es kostet sehr viel Zeit <strong>und</strong> Energie, auf diese Situation geduldig <strong>und</strong> einfühlsam<br />

so lange immer wieder neben der Arbeit am Thema einzugehen, bis eine neue Sicherheit in der<br />

Gruppe gewonnen ist.<br />

Schließlich sollte jede Gruppe in jeder Sitzung eine Person bestimrnen, die so etwas wie ein<br />

Protokoll schreibt. Das ist für zwei Zwecke wichtig: einmal verhilft es der Gruppe zu einem<br />

Gedächtnis über den eigenen Lernprozeß, zum anderen trägt es dazu bei, die laufenden<br />

Sitzungen zu straffen, denn in dem Protokoll sollen immer nur die Probleme festgehalten werden<br />

<strong>und</strong> ihre Lösung. Das zwingt die protokollierende Person aber dazu, in der Diskussion immer


wieder nachzufragen: Was ist jetzt eigentlich das Problem? <strong>und</strong>: Haben wir eigentlich jetzt dieses<br />

Problem gelöst <strong>und</strong> wie? Nur so bleibt die Gruppe am Ball. Denn das Wohlfühlen in der Gruppe<br />

ist zwar eine der wichtigsten Voraussetzungen, daß die Arbeit an der gemeinsamen<br />

Problemstellung gelingen kann <strong>und</strong> daß die Gruppe über mehrere Semester zusammenhält, also<br />

ein Studienkollektiv wird. Aber entscheidendes Kriterium für Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg muß doch<br />

immer die inhaltliche Arbeit am Thema sein.<br />

Dazu gibt es eine recht gut bewährte Arbeitsmethode: die themenzentrierte Interaktion (Cohn,<br />

1974). Sie geht von der Erkenntnis aus, daß die Arbeit an einem Thema in einer Gruppe nur dann<br />

erfolgreich sein kann, wenn die emotionalen Schwierigkeiten ausgesprochen werden, wenn es zu<br />

einem Gleichgewicht zwischen Thema, dem Gruppenzusammenhang <strong>und</strong> dem persönlichen<br />

Wohlbefinden kommt. Dazu haben sich einige Gr<strong>und</strong>regeln bewährt: Beim Reden solltest du<br />

immer mit dazusagen, warum du das fragst oder sagst, was es für dich selbst bedeutet. Dadurch<br />

soll vermieden werden, sich hinter allgemeinen Formulierungen, Lavierereien <strong>und</strong> <strong>Bluff</strong>-Fassaden<br />

zu verstecken: also statt vom »man« oder »wir« zu reden, erzähle deine eigene Reaktion, <strong>und</strong><br />

statt zu interpretieren <strong>und</strong> zu verallgemeinern, erzähle, wie du die Situation erlebst <strong>und</strong> was dir<br />

zum Thema einfällt <strong>und</strong> warum es dir einfällt. Die Interpretation <strong>und</strong> ihre Verallgemeinerung kann<br />

erst dann kommen, wenn sich alle geäußert haben. Schweigen ist noch lange nicht als<br />

Zustimmung zu werten. Deshalb sollte an wichtigen Punkten ein »Blitzlicht« gemacht werden:<br />

Dabei sagen alle nacheinander r<strong>und</strong>um in höchstens ein, zwei kurzen Sätzen, wie sie zu der<br />

anstehenden Frage stehen. Diskutiert wird erst, wenn alle durch sind. Auf diese Weise können<br />

sich alle an solchen wichtigen Punkten über den Stand in der Meinungsbildung <strong>und</strong> über den<br />

Unterschied in der eigenen Wahrnehmung <strong>und</strong> derjenigen der anderen klar werden.<br />

Die wichtigste Regel der themenzentrierten Interaktion ist aber:<br />

71<br />

Störungen haben Vorrang. »Sieh unser Thema von deiner Warte, <strong>und</strong> wenn du nicht beim Thema<br />

bleiben kannst, <strong>und</strong> dir etwas anderes sehr viel wichtiger ist, sage es. Ich werde das gleiche tun«<br />

(Cohn, 1974, S. 151). Wenn der »Spiegel« also eine Störung bemerkt, oder wenn du selbst vom<br />

Thema abkommst oder wenn plötzlich jemand ausklinkt, dann muß die Diskussion zum Thema<br />

sofort unterbrochen werden. Die Gefühle <strong>und</strong> Assoziationen, die mit der »Störung« verb<strong>und</strong>en<br />

sind, sollen ausgesprochen <strong>und</strong> diskutiert werden, bis damit umgegangen werden kann. Auf diese<br />

Weise kommen Konflikte <strong>und</strong> Schwierigkeiten zu einem Zeitpunkt heraus, wo sie noch bearbeitet<br />

<strong>und</strong> bewältigt werden können. Sie werden nicht verdrängt, bis sie sich so aufgestaut haben, daß<br />

sie nur noch durch einen Ausbruch oder eine reinigende Katastrophe geäußert werden können.<br />

Wenn sich ein solcher Konflikt, eine solche »Störung« als besonders schwerwiegend erweist, sei<br />

es für ein einzelnes Gruppenmitglied, sei es für die Weiterarbeit am Thema insgesamt, dann muß<br />

dieser Konflikt gründlich aufgearbeitet werden, sowohl in bezug auf die Bedeutung für die Gruppe<br />

hier <strong>und</strong> jetzt, wie auch in seiner gesellschaftlich vermittelten Geschichte. Dazu gibt es eine<br />

Reihe sehr hilfreicher Instrumente, die über das rein verbale <strong>und</strong> kognitive Aufarbeiten<br />

hinausgehen <strong>und</strong> deshalb eher geeignet sind, die ganze beteiligte Emotionalität herauszubringen<br />

(sehr nützlich dafür ist das Buch von Lutz Schwäbisch <strong>und</strong> Martin Siems: Anleitung zum sozialen<br />

Lernen für Paare, Gruppen <strong>und</strong> Erzieher; rororo 6846, Reinbek 1974). Ich will hier nur die beiden<br />

wichtigsten Methoden nennen: die erste ist das Zurückspiegeln (feedback) des Konfliktes. Die<br />

Beteiligten stellen jeweils dar, wie sie die Situation erlebt <strong>und</strong> was sie dabei gefühlt <strong>und</strong> gedacht<br />

haben. Aus dem Unterschied zwischen Eigen<strong>und</strong> Fremdwahrnehmungen ergeben sich immer<br />

wichtige Anhaltspunkte über die möglichen individualgeschichtlichen Gründe für solch<br />

unterschiedliches Erleben. Die andere Methode ist das Psychodrama oder Rollenspiel: Die am


Konflikt Beteiligten spielen jeweils die Rolle des Gegners, dann spielen andere<br />

Gruppenmitglieder den Konflikt noch einmal aus ihrer Wahrnehmung vor, also z. B. typische <strong>und</strong><br />

eingefahrene Reaktionen auf eine bestimmte Situation, <strong>und</strong> erst dann wird darüber diskutiert.<br />

Solche Rollenspiele zwingen dazu, sich in die Verhaltensweisen des »Konfliktgegners«<br />

einzufühlen, sich selbst über die Relativität des eigenen Verhaltens klarer zu werden, <strong>und</strong> sind so<br />

besonders geeignet, eingefahrene Vorurteile abbauen zu helfen (Metzel-Göckel, 1975, S. 64 f.).<br />

In solchen Rollenspielen können auch Frustrationen mit dem aktuellen Geschehen positiv<br />

überw<strong>und</strong>en werden, wenn es gelingt, im Rollenspiel nicht nur die frustrierende Gegenwart,<br />

sondern auch ihr positives Gegenbild vorzuspielen. Wichtig ist dabei aber vor allem, daß die<br />

Spiele nicht nur<br />

72<br />

sprachlich, sondern mit der Emotionalität des ganzen Körpers <strong>und</strong> mit aller übertriebenen<br />

karikierenden Rachsucht ausgespielt werden, die sich in der Gruppensituation entwickelt hat<br />

(Lentz, 1975). Solche Methoden zur Bewältigung von Störungen <strong>und</strong> zur Sensibilisierung<br />

gegenüber der verinnerlichten Unterdrückerrolle wie auch der genauso verinnerlichten Rolle der<br />

erlittenen Unterdrückung, all das darf aber nie Selbstzweck werden, sondern muß sich daran<br />

messen lassen, ob es dazu beiträgt, den Gebrauchswert des Studiums zu finden <strong>und</strong> ihn gegen<br />

sich selbst <strong>und</strong> gegen die Institution <strong>Uni</strong>versität durchzusetzen.<br />

73<br />

Fünftes Kapitel<br />

Hochschuldidaktik auch für Lehrende<br />

Wenn ich zu Beginn des Semesters in meine erste Veranstaltung gehe, überfällt mich lähmende<br />

<strong>Angst</strong>. Da sitzen vierzig, sechzig oder vielleicht sogar noch mehr Leute <strong>und</strong> warten auf mich, den<br />

Dozenten. Ich weiß nicht, was sie tatsächlich von mir erwarten. Aber die Vorstellung von ihren<br />

kritischen <strong>und</strong> klugen Gesichtern stürzt mich in einen Taumel sich überschlagender<br />

Anforderungen: Alle Schwächen <strong>und</strong> Lücken in meinem Veranstaltungskonzept, alle möglichen<br />

Einwände, alle ungelesenen Titel, alles was an schlechtem Ge- wissen in mir drinsteckt, all das<br />

kommt in mir hoch <strong>und</strong> wird von mir auf die klugen Gesichter projiziert <strong>und</strong> als von ihnen<br />

ausgehende Erwartung an mich erlebt.<br />

Meine Reaktion darauf ist, Schotten dicht, keine Angriffsflächen bieten. Die Sache muß so<br />

überzeugend sein, daß niemand was dagegen sagen kann.<br />

Diese Reaktion ist aber dann das Lähmendste an meiner <strong>Angst</strong>. Denn es geht dabei immer<br />

weniger um Inhalte oder konkretes Verhalten auf gegebene Situationen, sondern um so etwas<br />

wie »Niveau.«, »Originalität«, um »den Stand der Diskussion«... lauter Formeln, die nichts<br />

anderes sagen als: Du mußt anders <strong>und</strong> besser sein als du jetzt bist! <strong>Wie</strong> anders <strong>und</strong> warum<br />

anders, das wird nicht gesagt - nur: streng dich an! <strong>und</strong>: so nicht! Die Folge ist: Verkrampfung<br />

<strong>und</strong> immer größere <strong>Angst</strong>. So kommt es dann, daß ich ein Einführungsreferat auf »höchstem<br />

Niveau« halte - ich erkläre nichts, setze all das voraus, was in der Veranstaltung erst erarbeitet<br />

werden soll, <strong>und</strong> verteidige mich gegen mögliche Gegenargumente schon bevor ich überhaupt<br />

das ausgeführt habe, worauf die Einwände kommen könnten. Selbstverständlich versteht dann<br />

niemand etwas. Die Studenten <strong>und</strong> Studentinnen können das aber nicht mehr zeigen, weil ich in<br />

so einer Situation vor lauter <strong>Angst</strong> so rede, als ob das alles einfach <strong>und</strong> sonnenklar wäre. Sie<br />

können nur mit gelangweilten oder resignierten Gesichtern reagieren, die ich vielleicht wieder als<br />

Kritik erlebe. So kann es nur zu leicht geschehen, daß wegen meiner <strong>Angst</strong> die Veranstaltung


schon nach wenigen Minuten gelaufen ist. Eine unerträgliche Arbeitsatmosphäre hat sich für das<br />

ganze Semester festgesetzt.<br />

Genausowenig wie die <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> ist der <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> allein das Problem der Studierenden. Die<br />

Lehrenden haben während ihres Studiums mit dem »heimlichen Lehrplan« die<br />

<strong>Angst</strong>abwehrfassade perfekt gelernt. Ihre Karriere an der Institution <strong>Uni</strong>versität zeigt auch -<br />

hoffentlich nicht nur -, daß sie sich dem Wissenschaftsbetrieb<br />

74<br />

besonders erfolgreich angepaßt haben. Aber das geschieht bei ihnen genauso unbewußt als<br />

Reaktion auf die eben beschriebene <strong>Angst</strong> wie bei den Studierenden. (Bei den Lehrenden kommt<br />

noch als wichtige <strong>Angst</strong>ebene die vor dem vernichtenden Urteil der Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen<br />

dazu. So kann es vorkommen, daß ein Dozent vor einer Prüfung, die er zusammen mit einem<br />

gefürchteten Professor abnehmen muß, manchmal mehr <strong>Angst</strong> hat als der Prüfling!) Jetzt, nach<br />

erfolgreichem Studium <strong>und</strong> gelungenem Sprung in die Hochschullehrerlaufbahn geben die<br />

Dozenten den »heimlichen Lehrplan« oft genug selbst dann weiter, wenn sie von ihren bewußt<br />

gewählten Zielen her das genaue Gegenteil erreichen wollen. Auch noch so emanzipatorisch<br />

gemeinte Inhalte werden nur zu leicht zum Lehrstoff für die Vermittlung von angsteinflößendem<br />

Herrschaftsverhalten.<br />

Dazu ein schlagendes Beispiel aus der Literatur zur Hochschuldidaktik, um die es hier ja geht.<br />

Die Passage, die ich gleich wörtlich zitieren werde, endet mit den Worten: »Eine Didaktik, die<br />

angstfrei genuine Freude am Lernen entwickeln <strong>und</strong> erhalten will..« Alles, was davor kommt,<br />

widerspricht dieser Forderung jedoch total:<br />

Wir können »hier aus lern- <strong>und</strong> motivationspsychologischer Sicht Hochschuldidaktik<br />

folgendermaßen charakterisieren: Didaktische Überlegungen transformieren über symbolische<br />

Mediatoren die Struktur einer Sache in die kognitiven Strukturen der Studierenden, die durch die<br />

Integration der Sache erweitert oder umstrukturiert werden, <strong>und</strong> wodurch auch die Sache<br />

gegebenenfalls einen neuen Aspekt erhält. Lernen führt wesentlich zu Redefinition <strong>und</strong><br />

Umstrukturierung von Erfahrungen durch kognitive Bewertungen. Optimale Strukturierung <strong>und</strong><br />

optimale Stimulation werden nach den Erkenntnissen der Anreizmotivation <strong>und</strong> unter<br />

Berücksichtigung spontan explorativer Verhaltensweisen <strong>und</strong> epistemischer Neugier zu zentralen<br />

Prozeßkategorien einer Didaktik, die angstfrei genuine Freude am Lernen entwickeln <strong>und</strong><br />

erhalten will« (Metz-Göckel, 1975, S. 113).<br />

Hochschuldidaktik ist ein ziemlich neuer Zweig der <strong>Uni</strong><br />

Wissenschaften. <strong>Wie</strong> alle anderen Fächer ist auch er Resultat einer<br />

politischen Machtfrage. In diesem ' Falle Resultat der Studentenbe<br />

wegung der sechziger Jahre. Damals wurde der Skandal zu offen<br />

sichtlich, daß von den an den Hochschulen Lehrenden niemand ge<br />

lernt hatte, wie man das Lehren eigentlich macht.. Statt aber nun<br />

damit anzufangen, den Dozentinnen <strong>und</strong> Dozenten das beizu<br />

bringen, besonders denen, die ganz neu anfangen, wurde ein neuer<br />

Wissenschaftsbereich eingerichtet, in dem solche klugen Bücher<br />

veröffentlicht werden. Von diesem Fach können also weder die<br />

Lehrenden noch die Studierenden gegenwärtig viel Hilfe erwarten.<br />

In den einzelnen Fächern bleibt es derweil beim alten. Für die Leh<br />

75


e völlig unausgebildete Leute werden einfach auf die Studierenden losgelassen, um - wie es im<br />

Hochschullehrergesetz so schön heißt -Erfahrungen in der Lehre zu sammeln. In aller Regel<br />

besteht das dann darin, daß sie eben denselben Stiefel abziehen wie sie ihn selbst als<br />

Studierende in den Seminaren erlebt haben. Es ist für sie auch nicht weiter schlimm, wenn eine<br />

Veranstaltung nach der anderen völlig schief geht <strong>und</strong> die Teilnehmer frustriert abhauen. Selbst<br />

wenn es sie psychisch belastet, für ihre Karriere hat es keinerlei Konsequenzen. Da entscheidet<br />

allein die Forschung in Form der Veröffentlichungsliste. Die Lehre spielt inhaltlich so gut wie<br />

keine Rolle dabei. Die Lehrerfahrung wird dadurch nachgewiesen, daß man einige Semester lang<br />

Lehrveranstaltungen angeboten hat. Das, was sich groteskerweise Hochschul»lehrer« nennt, hat<br />

mit der Lehre nichts im Sinn, sondern forscht. Die Lehre ist auch danach.<br />

Lehrveranstaltungen werden meist geplant wie ein wissenschaftlicher Aufsatz: Die einzelnen<br />

Sitzungen sind wie Kapitel, in denen die Elemente entwickelt werden, die dann im letzten Kapitel<br />

die große Lösung bringen. Diese Lösungsschritte hängen aber nur im Kopf der Lehrperson<br />

zusammen. Für die Studierenden zerfällt alles in einzelne Referate <strong>und</strong> unzusammenhängende<br />

Diskussionsbeiträge. Zwischen den einzelnen Plenumssitzungen liegen so viele andere Termine,<br />

daß schon von dort her kein Zusammenhang hergestellt werden kann. Gewöhnlich wird nur das<br />

Thema bewußt <strong>und</strong> mit einiger Kontinuität wahrgenommen, das in der eigenen Arbeitsgruppe<br />

oder in einem Referat bearbeitet wurde. Schlimmer aber noch ist: das Thema der Veranstaltung<br />

stammt entweder aus einem obligatorischen Studienplan, der in irgendwelchen<br />

Wissenschaftlergremien beschlossen worden ist, oder aus dem Kopf der Lehrperson. Dort kommt<br />

sie meist über das gerade vorherrschende Forschungsthema hinein: woran man gerade arbeitet,<br />

darüber wird gelehrt. Ob dieses Problem auch ein Problem der Studierenden ist, kümmert kaum<br />

jemanden. »Wen es nicht interessiert, soll wegbleiben« ist die verbreitete Einstellung. Der Frust<br />

<strong>und</strong> die Apathie, die bei solchen Lehrveranstaltungen notwendigerweise für alle Beteiligten<br />

entstehen, werden von den Lehrenden nur zu oft einfach dadurch verarbeitet, daß sie die<br />

Faulheit <strong>und</strong> Apathie der Studierenden dafür verantwortlich machen (Hagemann-White, 1976).<br />

Von den Lehrenden können sich die Studierenden also nur in Ausnahmefällen eine Verbesserung<br />

der Situation erhoffen. Folglich müssen sie selbst dafür sorgen, daß sich die Art <strong>und</strong> Weise zu<br />

lernen in den Übungen <strong>und</strong> Seminaren gründlich verändert: Die Lehre muß kommunikativ <strong>und</strong><br />

kooperativ werden <strong>und</strong> muß sich am Problemverständnis der Studierenden orientieren.<br />

Dafür halte ich ein pädagogisches Konzept für besonders geeignet, das aus der<br />

politisch-pädagogischen Arbeit mit südamerikanischen Landarbeitern <strong>und</strong> Slumbewohnern<br />

entwickelt worden ist. Paulo<br />

76<br />

Freire hatte die Erfahrung gemacht, daß die üblichen Konzepte nichts fruchteten, mit denen den<br />

Bauern <strong>und</strong> Arbeitern das Lesen beigebracht wurde, weil die Inhalte, die da gelesen werden<br />

sollen, nichts zu tun hatten mit dem, was das Leben dieser Menschen ausmacht, mit den<br />

Widersprüchen, in denen sie leben müssen. Diese üblichen Konzepte nennt er<br />

»Bankierskonzepte«, weil die Lehrenden, oft genug, auch wenn sie sich als links verstehen, sich<br />

dabei zu den Lernenden verhalten wie Bankiers: »So wird Erziehung zu einem Akt der<br />

>SpareinlageAnlage-Objekt( sind, der Lehrer aber der >AnlegerBankiersKonzept< der Erziehung, in dem der den Schülern zugestandene<br />

Aktionsradius nur so weit geht, die Einlagen entgegenzunehmen, zu ordnen <strong>und</strong> aufzustapeln«<br />

(Freire, 1973, S. 57 f.). Die Gegenkonzeption dazu nennt er »problemformulierend« (103). In ihr<br />

haben die Lehrenden die Aufgabe, bei der Formulierung der Probleme <strong>und</strong> Ziele behilflich zu<br />

sein, die sowohl für sie selbst wie für die Lernenden wichtig sind. Ihre Lösung kann nicht von den


Lernenden vorweg »gewußt« werden, weil es immer Lösungen für die beteiligten Personen selbst<br />

sein müssen <strong>und</strong> sie deshalb von diesen gemeinsam mit den Lehrenden erarbeitet werden<br />

müssen, die dabei selbst in die Rolle der Lernenden geraten. Entscheidend für eine Pädagogik<br />

als Praxis der Freiheit ist also genau das, was auch an der Hochschule Bedingung der<br />

Möglichkeit für kommunikativen <strong>und</strong> kooperativen Unterricht ist: Die Lernenden müssen<br />

zusammen mit den Lehrenden aus ihrem eigenen Lebenszusammenhang eine Fragestellung <strong>und</strong><br />

langfristige Zielperspektive entwickeln, in der ihnen das, was sie lernend bearbeiten, erfahrbar<br />

weiterhilft, sie müssen also selbst den Gebrauchswert dessen bestimmen, was sie lernen.<br />

Pädagogik <strong>und</strong> Hochschuldidaktik ist nach dieser Auffassung nicht mehr ein mehr oder weniger<br />

trickreiches <strong>und</strong> raffiniertes Mittel, mit dem die Lehrperson die Lernziele, die sie aus ihrem<br />

umfassenden Wissen oder aus den bürokratischen Vorschriften entwickelt hat, in die Lernenden<br />

hineinbringt. Didaktik ist nicht Manipulation auf noch so gut gemeinte <strong>und</strong> »emanzipatorische«<br />

Ziele hin, wie das nur allzu oft selbst in linken Lehrveranstaltungen verstanden wird <strong>und</strong> wie das<br />

auf jeden Fall das Selbstverständnis der bei uns herrschenden Erziehungswissenschaften ist.<br />

Statt dessen ist es nach dem problemformulierenden Konzept der Didaktik Aufgabe der<br />

Lehrpersonen, den Studierenden dabei zu helfen herauszufinden, was ein Thema, das der<br />

Dozent oder die Dozentin aus ihrem eigenen Lernprozeß heraus als wichtig erfahren hat, mit dem<br />

Lebenszusammenhang der Studierenden zu tun hat, welchen Gebrauchswert es für sie hat <strong>und</strong><br />

welches Problem es für sie lösen kann. Wenn die Rolle des Problems, sein Gebrauchswert<br />

einmal klar geworden ist, dann ist es die gemeinsame Aufgabe der Lehren<br />

77<br />

den, <strong>und</strong> Studierenden, einen für alle akzeptablen Weg zu seiner Lösung zu finden.<br />

Mit dieser Konzeption von Didaktik hört sie auch auf, Monopol der Lehrenden zu sein. Vielmehr<br />

wird Pädagogik zu einem Verhalten, das einem selbst <strong>und</strong> den anderen das Problem klar macht<br />

<strong>und</strong> mögliche Lösungsversuche verdeutlicht, zur gleichwertigen Aufgabe aller Beteiligten. Die<br />

folgenden Überlegungen, wie <strong>Uni</strong>Veranstaltungen besser gestaltet werden könnten, richten sich<br />

deshalb keineswegs vor allem an Dozenten <strong>und</strong> Dozentinnen, sondern sind im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen ein Teil des vorangegangenen Kapitels: <strong>Wie</strong> ist es für ein Studienkollektiv möglich,<br />

möglichst viel aus dem Studium herauszuholen. Es sind Vorschläge, die genauso von einer<br />

Gruppe Studierender kommen können, die darauf bestehen, die Bedingungen der Lehre so zu<br />

verändern, daß sie befriedigender werden. Wenn sie von den Lehrenden kommen, ist das<br />

einfacher, weil diese mit einem solchen Autoritäts- <strong>und</strong> Vertrauensvorsprung erlebt werden, daß<br />

ihnen solche Vorschläge nicht als eine besondere Form des <strong>Bluff</strong>s <strong>und</strong> der Profilisierungssucht<br />

übel genommen werden. Studienkollektive, die eine Veränderung des Lehrverhaltens<br />

durchsetzen wollen, müssen deshalb sehr viel vorsichtiger <strong>und</strong> offener in der Darstellung ihrer<br />

Ängste <strong>und</strong> Interessen auftreten als das für Lehrende notwendig ist. Für die ist lediglich wichtig<br />

zu verstehen, daß die Alternative in ihrem Lehrstil nicht die zwischen autoritär oder demokratisch<br />

ist - ganz zu schweigen von einem laisser-faire-Stil -, sondern die zwischen dozentenzentriert<br />

oder studentenzentriert (Metz-Göckel, 1975, S. 80 f.).<br />

Das Wichtigste ist, daß zu Anfang des Studiums, also wenigstens im ersten Semester, ganz<br />

gründlich <strong>und</strong> ausführlich diskutiert wird, weshalb jeder <strong>und</strong> jede einzelne gerade dieses Fach<br />

studieren. Dabei ist es gar nicht so wichtig, daß deshalb vielleicht im ersten Semester kaum Stoff<br />

behandelt werden kann. Die Überkonzentration auf die »Sache« oder den »Stoff« ist sowieso<br />

Kennzeichen der stoff- <strong>und</strong> nicht personenorientierten <strong>Uni</strong>-Situation, denn vor lauter Stoff geraten<br />

die sozialpsychologische Situation der Lehrveranstaltung <strong>und</strong> der Sinn des Stoffes für die<br />

Studierenden ganz aus dem Blick.


Aber auch zu Beginn einer jeden Lehrveranstaltung sollte festgestellt werden, was das Thema für<br />

die Teilnehmer bedeutet, <strong>und</strong> zwar nicht in der normativen Weise: was versprichst du dir von dem<br />

Thema, wie willst du, daß es angegangen wird, sondern in der erfahrungsbezogenen Frage: was<br />

hat das Thema mit dir zu tun, welche Erfahrungen hast du bisher mit dem Themenbereich<br />

gemacht, was hat dich dazu gebracht, dich näher damit zu beschäftigen? Ein sehr<br />

unkonventionelles, aber zugleich einleuchtendes Mittel zur Beantwortung dieser Frage ist es, vor<br />

der vertieften Beschäftigung mit der Literatur einfach mal zu sammeln, etwa durch Zei<br />

78<br />

tungsausschnitte, Fotos, kurze Papiere mit Interviews der anderen Studierenden, welche<br />

Eindrücke <strong>und</strong> Erfahrungen mit der Fragestellung des Themas schon vorhanden sind. Das ist<br />

selbst bei mathematischen Themen möglich (natürlich nicht mit Fotos!), weil alle Studierenden<br />

entweder schon in der Schule oder in vorangegangenen Semesterstufen schon einen Vorbegriff<br />

von dem haben, was sie in bestimmten Themenbereichen erwartet. Dabei ist es immer sinnvoller,<br />

die Veranstaltung in lauter Zweier- oder Vierergruppen aufzuteilen, die sich gegenseitig<br />

interviewen <strong>und</strong> dann gemeinsam darüber Bericht erstatten, als wenn die Teilnehmer unvermittelt<br />

aufgerufen werden, vor dem Plenum zu legitimieren, warum sie in die Veranstaltung gekommen<br />

sind. Eine andere Möglichkeit ist es, vor der eigentlichen Bildung von themenorientierten<br />

Arbeitsgruppen nur von einer Sitzung zur nächsten ad-hoc-Gruppen zu bilden, die gemeinsam<br />

vorklären, was sie von dem Seminar erwarten <strong>und</strong> was 'für Erfahrungen sie bisher mit dem<br />

Gegenstand gemacht haben.<br />

Wenn ich hier von Veranstaltungen rede, dann meine ich damit selbstverständlich nicht<br />

Vorlesungen. Die sind nach allgemeinem Urteil der Hochschuldidaktik bestenfalls am Ende des<br />

Hauptstudiums zur Informationsübermittlung als Buchersatz geeignet, <strong>und</strong> dann auch nur, wenn<br />

die monologische Vortragszeit des hier tatsächlich Dozierenden fünfzehn Minuten am Stück nicht<br />

überschreitet <strong>und</strong> zwischen diese Monologe jeweils Frage- <strong>und</strong> Diskussionsperioden geschaltet<br />

sind. Dann gilt für die Vorlesung: »Für bereits motivierte <strong>und</strong> an der Sache engagierte Lerner hat<br />

sie eine kognitive Verstärkerfunktion« (Metz-Göckel, 1975, S. 91). Für Studierende im<br />

Gr<strong>und</strong>studium ist die Vorlesung klassischen Stils meist ein Totschlaginstrument, wie es<br />

wirkungsvoller nicht ausgedacht werden könnte.<br />

Entscheidend ist also in der üblichen Diskussionsveranstaltung das solidarische Herausarbeiten<br />

dessen, was den Gebrauchswert der Veranstaltung für die Teilnehmer ausmacht. Die<br />

berühmtberüchtigte Semestervorbereitung der Lehrenden reduziert sich damit auf das Sammeln<br />

von Material <strong>und</strong> den Überblick über den Stoff. Das Durchplanen jeder einzelnen Sitzung bis zum<br />

Ende des Semesters erübrigt sich nicht nur, sondern wird unter solchen Voraussetzungen<br />

geradezu zum lernfeindlichen Akt: Die genaue Problemformulierung <strong>und</strong> die Schritte zu ihrer<br />

Lösung sind erst richtig möglich, wenn sich alle Teilnehmer klar geworden sind <strong>und</strong> sich geäußert<br />

haben, was für sie das relevante Problem der Veranstaltung ist, worauf sie neugierig sind<br />

(Metz-Göckel, 1975, S. 108 ff.).<br />

Vor einem Jahr habe ich eine solche studentenzentrierte Seminarveranstaltung versucht. Sie ist<br />

mir so mißlungen wie schon lange keine Veranstaltung mehr. Das ging so weit, daß ich einmal<br />

mehrere Minuten schweigend dasaß <strong>und</strong> voller Verzweiflung das ebenfalls schweigende Plenum<br />

anschaute. Heute glaube ich, daß dafür<br />

79<br />

zwei Gründe verantwortlich waren: am wichtigsten war, daß ich beim Auftauchen der ersten<br />

Schwierigkeiten nicht sofort darauf bestand, darüber ausführlich im Plenum zu reden, so lange,


is sich eine einverständige Lösung ergeben hätte. Statt dessen reagierte ich mit einem<br />

Verantwortungstaumel <strong>und</strong> entwickelte immer neue Aktivitätsschübe, schleppte immer neue<br />

theoretische Texte an <strong>und</strong> führte ein wahres Feuerwerk von Medieneinsätzen vor <strong>und</strong> was es<br />

sonst an pädagogischen Tricks gibt. Resultat: ich hatte den Rest an Initiative totagiert. Der<br />

andere Gr<strong>und</strong> war: die Studierenden sind in den konventionellen Veranstaltungen so überlastet,<br />

daß sie dort mit knapper Not ihre Referate durchziehen, sich sonst aber apathisch verhalten <strong>und</strong><br />

am Referat für eine andere Veranstaltung arbeiten. Veranstaltungskonzepte wie die hier<br />

vorgestellte Konzeption vom studentenzentrierten Lernen können da leicht zu einer<br />

Überforderung werden, auf die erst recht mit Apathie reagiert wird.<br />

In dieser Situation ist es für die Lehrenden wie für die Studierenden entscheidend, von der ersten<br />

Sitzung an darauf zu bestehen, daß in jeder Sitzung auch über das geredet wird, was an<br />

gruppendynamischen Prozessen <strong>und</strong> Lernschwierigkeiten auftritt. Das kann auch bei großen<br />

Veranstaltungen durch eine Methode geschehen, die ich »Großblitz« nenne: wenn ein<br />

inhaltliches oder gruppendynamisches Problem auftritt, das sich nicht so leicht lösen läßt, wird<br />

die Veranstaltung in lauter Sitzgruppen von vier bis sechs Leuten aufgeteilt. Die müssen dazu nur<br />

ihre Stühle ein wenig umstellen. In diesen Gruppen kann dann unter Beteiligung aller das<br />

Problem vorbesprochen werden. Nachdem die Ergebnisse von Berichterstattern ins Plenum<br />

gebracht worden sind, kann dann eine zusammenfassende Diskussion geführt werden. Das klingt<br />

zunächst etwas ungewöhnlich, ist aber kein Problem, denn die Situation in der Cafeteria mit den<br />

Gesprächsgruppen an den Tischen ist auch nicht anders (Diepold, 1975). Solche Phasen der<br />

Gruppenarbeit im Plenum entschärfen auch das Problem der Sprechschwelle im Plenum. Dem<br />

kommt man aber am besten bei, wenn schon in der ersten Sitzung ein richtiges »Blitzlicht«<br />

gemacht wird: alle sagen so kurz wie möglich, wer sie sind <strong>und</strong> was sie machen. Bei kleineren<br />

Seminaren kann man das auch vor der zusammenfassenden Diskussion statt der Sitzgruppen<br />

öfter machen. Die Beiträge sind so gleichmäßiger verteilt, <strong>und</strong> alle lernen die <strong>Angst</strong> vor dem<br />

Sprechen abzubauen. Eine weitere wichtige Hilfe dafür ist es auch, wenn die Person, die die<br />

Diskussion leitet, nicht stur nach Rednerliste vorgeht, sondern Studierende, die sich das erstemal<br />

melden oder sehr selten reden, sofort außerhalb der zeitlichen Reihenfolge drannimmt.<br />

Ein weiterer Hinweis für Lehrende: aus der Situation, die ich am Anfang dieses Kapitels<br />

beschrieben habe, ergaben sich für mich zwei Folgerungen. Die erste hat etwas mit meinem<br />

Körper zu tun.<br />

80<br />

jemand, der mich sonst nur außerhalb des Seminars kannte, sagte nach einer solchen Sitzung,<br />

daß er mich gar nicht wiedererkannt habe, so verkrampft <strong>und</strong> hart sei ich da aufgetreten, <strong>und</strong> er<br />

habe richtig gespürt, wie sich diese Verkrampfung sogar auf ihn übertragen habe, wo er doch gar<br />

kein eigentlicher Teilnehmer der Veranstaltung war. Danach habe ich probiert, mich selbst dazu<br />

zu zwingen, bewußt auch durch die Körpersprache zum Ausdruck zu bringen, also durch betont<br />

entspanntes Sitzen <strong>und</strong> Stehen (ich sitze z. B. auf dem Tisch <strong>und</strong> schlenkere mit den Beinen),<br />

daß ich in dieser Veranstaltung nicht gedenke, alle Verantwortung zu übernehrnen, sondern daß<br />

ich mich so einbringe, wie ich bin. Die zweite Folgerung ergab sich mit Notwendigkeit daraus: ich<br />

erzähle, was mit mir vorgeht, daß es mir gar nicht so leicht fällt, mich so locker zu geben. Ich<br />

zeige aber auch, daß ich auf eine Entwicklung in der Seminaratmosphäre hoffe, die es mir <strong>und</strong><br />

allen Teilnehmern ermöglicht, ohne Anstrengung entspannt zu sein.<br />

Dieses studentenzentrierte Lernen bringt aber eine ganze Menge Schwierigkeiten mit sich,<br />

besonders am Anfang. Die meisten Studierenden sind sich durchaus im unklaren darüber, warum<br />

sie ein bestimmtes Fach studieren oder warum sie eine bestimmte Lehrveranstaltung besuchen,


<strong>und</strong> reagieren ausweichend bis sauer, wenn sie durch den Veranstalter oder durch<br />

Mitstudierende genauer befragt werden (Oehler, 1974). Die Verdrängungen <strong>und</strong><br />

Versachlichungen, die während der Gymnasialzeit mühsam erlernt worden sind, funktionieren<br />

nun als Schutzwall gegen Betroffenheit durch ein wissenschaftliches Thema <strong>und</strong> gegen die<br />

verunsichernde Frage nach dem Gebrauchswert des Faches <strong>und</strong> des jeweiligen Themas. Sie<br />

kann anfangs zu Lernwiderständen <strong>und</strong> Spannungen führen, mit denen schwer umzugehen ist<br />

(Metz-Göckel, 1975, S. 140 f.). Denn durch die Schule <strong>und</strong> viele andere Sozialisierungsinstanzen<br />

ist gegenüber dem Lernen eine Haltung eingeübt worden wie gegenüber dem Fernsehprogramm:<br />

mal sehen, was interessant sein könnte, <strong>und</strong> hinterher drüber meckern! Die unmittelbare<br />

Identifikation mit einem Stoff, sogar die Frage, was dieser Stoff mit mir selbst zu tun hat, wird<br />

meist schon als ein unzulässiges Eindringen in die Intimsphäre empf<strong>und</strong>en. Dagegen hilft meiner<br />

Erfahrung nach nichts als das geduldige Insistieren auf der Berechtigung der eigenen<br />

Bedürfnisse <strong>und</strong> das Appellieren an die Toleranz der anderen. Tutoren, lange Zeit das<br />

Allheilmittel aller hochschuldidaktischen Diskussionen, sind unter den gegebenen Verhältnissen<br />

eher schädlich als nützlich. Es sei denn, es gibt die Möglichkeit, sie ausführlich in<br />

Intensivseminaren mit gruppendynamischen Übungen auf ihre Aufgabe vorzubereiten <strong>und</strong> sie<br />

permanent während der Veranstaltung unter der Kontrolle der anderen Teilnehmer zu<br />

beraten (so auch: Eckstein, 1972). Sonst ist nämlich die Gefahr zu groß, daß die Tutoren<br />

wahre Orgien der Selbstbestätigung feiern <strong>und</strong> sich als<br />

81<br />

allwissende Superdozenten ausgeben (Bull, Weber-Unger, 1976, S. 124 ff.). Ich meine, daß es<br />

stattdessen viel besser ist, in der Veranstaltung möglichst homogene (in bezug auf das inhaltliche<br />

Interesse <strong>und</strong> die Fächerkombination - das ist wichtig wegen der unterschiedlichen<br />

Zeitanforderungen) Gruppen von maximal acht ernsthaft interessierten Teilnehmern ohne Tutor<br />

oder sonstwie formal bestimmter Führungsperson zu bilden, die sich dann - nach einer langen<br />

<strong>und</strong> intensiven Diskussion über den Gebrauchswert ihres Studiums - vielleicht zu den<br />

Studienkollektiven entwickeln können, die ich im vorangegangenen Kapitel angesprochen habe.<br />

(Solche Gruppen kann man technisch am einfachsten dadurch bilden, daß jede Person, die eine<br />

Wohung hat, in der eine solche Gruppe tagen könnte, ihre Adresse <strong>und</strong> ihre Terminvorschläge<br />

mit den persönlichen Gebrauchswertinteressen an die Tafel schreibt <strong>und</strong> dann sechs bis sieben<br />

Interessenten/innen abgezählt werden, die sich nach Aufruf aus dem Plenum zu dieser Adresse<br />

melden!) Damit sich so etwas in einer Veranstaltung herausbilden kann, ist es für die<br />

Veranstaltung selbst unverzichtbar, daß ein Minimum an gruppendynamischen Kriterien in ihr<br />

angewandt wird, denn erst damit entsteht die Atmosphäre von Solidarität <strong>und</strong> Sensibilität, die<br />

eine solche Kollektivperspektive überhaupt erst glaubwürdig <strong>und</strong> möglich erscheinen läßt.<br />

Die Rückspiegelung des sozialen Geschehens kann sehr sinnvoll in einer regelmäßigen<br />

nachbereitenden Sitzung durchgeführt werden, wo Vertreter aus allen Gruppen, Interessierte, vor<br />

allem aber diejenigen, die in der Plenumssitzung durch Referate oder ähnliches besonders<br />

hervorgetreten sind, zusammenkommen <strong>und</strong> berichten, wie sie die Sitzung erlebt haben, welche<br />

Ängste sie dabei entwickelt haben,welche Erwartungen sie gehabt haben <strong>und</strong> welche<br />

Enttäuschungen sie erfahren haben. Daraus können dann gemeinsame Vorschläge für die<br />

nächste Sitzung entwickelt werden (Kisten, Mente, 1975). Solche nachbereitende Sitzungen<br />

werden dann besonders fruchtbar, wenn eine vorher bestimmte Gruppe dieselbe Funktion für das<br />

Plenum übernommen hat, die der »Spiegel« in der Kleingruppe hat. Eine solche<br />

»Feedbackgruppe« muß nach einem gemeinsam vorher ausgearbeiteten Fragenkatalog den<br />

Verlauf der Plenumssitzung beobachten <strong>und</strong> hinterher Bericht erstatten (Anregungen für solche<br />

Fragen bei: Doerry, 1972; zur Organisation: Tübinger Autorenkollektiv, 1976).


Solche Methoden müssen nicht erst vom Dozenten oder der Dozentin eingeführt werden, sie<br />

können auch von einer Teilnehmergruppe vorgeschlagen werden. Entscheidend bei solchen<br />

Metakommunikationen, also Kommunikation über die Kommunikation, ist aber meiner Meinung<br />

nach, daß Teilnehmer, die bluffen, nicht einfach denunziert werden. Das verstärkt nur die <strong>Angst</strong><br />

<strong>und</strong> macht die <strong>Angst</strong>abwehrfassade noch notwendiger <strong>und</strong> dichter. Statt dessen<br />

82<br />

sollten die anderen Teilnehmer, also die geblufften, zeigen, wie ihnen die <strong>Bluff</strong>sprache des<br />

Teilnehmers in der Sitzung <strong>Angst</strong> gemacht hat, wie sie selbst versucht waren zurückzubluffen.<br />

Dann kann man sich gemeinsam darüber unterhalten, welche unsinnigen Lern<strong>und</strong><br />

Kommunikationsschwierigkeiten dadurch aufgebaut werden. Eine noch bessere Möglichkeit, den<br />

<strong>Bluff</strong> ohne Diskriminierung einzelner zu problematisieren, ist die Methode »Schere <strong>und</strong> Leim«.<br />

Dabei wird ein typisch aufgeblasener <strong>Bluff</strong>text mit der Schere so bearbeitet, daß nur noch die<br />

verständlichen <strong>und</strong> aussagekräftigen Zeilen übrigbleiben, die dann zu einem neuen Text<br />

zusammengeklebt werden. Mit dieser Methode kann gleichzeitig die Aggression gegen den<br />

<strong>Bluff</strong>er gerichtet werden, die man sonst meist gegen sich selbst richtet, wenn man etwas nicht<br />

versteht.<br />

Auch die Ergebnisse von Arbeitsgruppen können ohne Schaden auf <strong>Bluff</strong>-Figuren hin<br />

durchleuchtet <strong>und</strong> in ihrer Lernfeindlichkeit kritisiert werden: Warum wird so getan, als sei alles<br />

gelöst, anstatt offengebliebene Fragen <strong>und</strong> Arbeitsprobleme mit zu benennen? Warum machen<br />

sich die Gruppen fast nie Gedanken über die Vermittlung ihres Papiers im Plenum? Warum<br />

schreiben sie meist nur für die Lehrenden?<br />

Auf diese Weise erleben alle, daß das <strong>Bluff</strong>en nicht Ausdruck eines persönlichen Versagens ist<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig stellt sich mehr <strong>und</strong> mehr eine Situation her, in der es nicht mehr notwendig ist zu<br />

bluffen. Die pädagogische Haltung gegenüber den Teilnehmern darf also nicht auf den Dozenten<br />

oder die Dozentin beschränkt bleiben, sondern muß zur Haltung aller Teilnehmer einer<br />

Veranstaltung zueinander werden. Wenn jemand redet, dann muß das hauptsächliche<br />

Beurteilungskriterium sein, ob er oder sie sich dabei deutlich <strong>und</strong> verständlich macht <strong>und</strong> ob es<br />

auf die Redebeiträge anderer bezogen ist <strong>und</strong> nicht, ob es glänzend formuliert ist <strong>und</strong> von<br />

Wissen strotzt etc. Nur dann kann Hochschuldidaktik zu dem beitragen, was auch in den<br />

Veranstaltungen der Angelpunkt im Kampf gegen <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> ist: den Gebrauchswert<br />

des Studiums zu erkennen <strong>und</strong> gegen die eigenen Tauschwertstrukturen <strong>und</strong> gegen<br />

diejenigen der <strong>Uni</strong> durchzusetzen.<br />

83<br />

Sechstes Kapitel<br />

<strong>Wie</strong> wissenschaftliches Arbeiten<br />

Spaß machen kann<br />

Selbst wenn all das Wirklichkeit würde, was ich in den beiden vorangegangenen Kapiteln<br />

vorgeschlagen habe, so wäre damit immer noch nicht das Problem gelöst, wie du mit der<br />

Wissenschaft umgehen sollst. Auch wenn du durch lange Diskussionen zusammen mit anderen<br />

herumdiskutiert hast, was du vom Studium haben willst, was du später damit machen willst,<br />

welchen Sinn es also für dich hat, so bleibt doch noch das Problem, wie du aus dem sperrigen<br />

<strong>und</strong> unzugänglichen Wissenschaftskram das herausholen kannst, was dich interessiert. Und<br />

selbst dann, wenn du in einem funktionierenden Studienkollektiv gelandet bist, kommst du ohne


individuelle wissenschaftliche Arbeit nicht aus, nicht nur wegen der Prüfungen, sondern vor allem,<br />

weil auch du dich nützlich machen mußt für das Kollektiv.<br />

Normalerweise vermittelt der Hochschulunterricht keine Kenntnisse über selbständige, fürs<br />

Studium notwendige Arbeitstechniken, sondern setzt sie als vorhanden voraus. Oft genug kommt<br />

das erst im Hauptstudium oder gar vor der Prüfung zum Vorschein, weil es bis dahin gelungen ist,<br />

sich allen Situationen zu entziehen, wo sie ernstlich notwendig gewesen wären. Dann ist die<br />

Bedrohungssituation aber schon perfekt. Kommen da noch irgendwelche zusätzliche<br />

Schwierigkeiten, z. B. Probleme in der Zweierbeziehung, dann ist die Katastrophe da.<br />

In diesem Kapitel will ich deswegen versuchen, einige Hinweise zur Arbeitstechnik zu geben, die<br />

vielleicht die Chance verbessern können, Spaß am wissenschaftlichen Arbeiten zu gewinnen.<br />

Dazu muß ich aber zwei wichtige Hinweise geben:<br />

1. Was ich hier beschreibe, ist meine individuelle Arbeitsweise, die sich bei mir in den<br />

vergangenen zehn Jahren entwickelt hat. Sie ist also noch geprägt durch die Studienorganisation<br />

der frühen sechziger Jahre. Damals liefen z. B. alle Studierenden mit Karteikarten herum. Ich<br />

halte diese Technik für die beste, sonst würde ich sie ja auch nicht selbst praktizieren. Es gibt<br />

aber auch viele andere Weisen, mit der Wissenschaft umzugehen. Ich kenne Hochschullehrer,<br />

die in ihrem ganzen wissenschaftlichen Leben noch nie eine Karteikarte beschriftet haben. Wenn<br />

du andere Techniken entwickelst, weil du dich zum Beispiel nicht so leicht selbst austricksen<br />

kannst wie ich, dann helfen dir diese Tips aber vielleicht dabei, dir klar darüber zu werden, was<br />

du anders machen willst <strong>und</strong> warum.<br />

2. Das Kapitel zerfällt in zwei Teile, einen für Studierende im Gr<strong>und</strong>studium <strong>und</strong> einen für das<br />

Hauptstudium (wobei Studieren<br />

84<br />

de in, Hauptstudium den ersten Teil unbedingt auch lesen müssen!) Der erste Teil reicht bis dort,<br />

wo es losgeht mit: »Die Arbeit an einein größeren Thema« auf S. 93. Studierende, die noch gar<br />

keine größeren selbständigen Arbeiten schreiben,. sollten nur bis dorthin lesen. Sobald du dich<br />

aber an eine solche Arbeit machst, sei es aus eigenem Interesse oder weil du sie für einen<br />

Schein oder eine Prüfung machen mußt, dann solltest du den Rest des Kapitels durcharbeiten.<br />

Dabei ist klar: Nicht die Technik des Arbeitens bringt die Befriedigung. Entscheidend ist, ob der<br />

Inhalt als Problem für dich spannend ist, ob dieser Inhalt für dich ein Problem lösen soll, das dir<br />

selbst wichtig ist. Die hier beschriebene Arbeit stechnik hilft nur unnötige Schwierigkeiten zu<br />

vermeiden.<br />

Bevor ich aber auf solche technischen Details komme, will ich anhand meiner häufigsten<br />

Arbeitsschwierigkeiten die drei Gr<strong>und</strong>prinzipien beim wissenschaftlichen Arbeiten darstellen, die<br />

mir bisher immer geholfen haben, schließlich doch Spaß am wissenschaftlichen Arbeiten zu<br />

haben.<br />

Drei Gr<strong>und</strong>prinzipien:<br />

Erstens - den Respekt vor der Wissenschaft verlieren<br />

Meine erste Schwierigkeit: das ständige schlechte Gewissen, ich hätte nicht genug gelesen <strong>und</strong><br />

wisse über nichts richtig Bescheid, dieser Minderwertigkeitskomplex hängt direkt mit dem<br />

unsinnigen Respekt zusammen, den mir die Wissenschaft immer wieder aufs neue einflößt. Für<br />

mich ist es ungeheuer wichtig, mir diesen Respekt ebensooft aus dem Kopf herauszuwaschen.


Normalerweise reagiere ich auf ein Buch, das ich nicht verstehe, mit der üblichen<br />

eingeschüchterten Selbstaggression, mit dem Gefühl, ich sei zu dumm, das zu verstehen. Ich<br />

müsse mich eben hinsetzen <strong>und</strong> alle Bücher lesen, die in dem unverständlichen zitiert werden,<br />

mich also auf den Stand des Autors hinaufarbeiten. Dann würde ich schon verstehen. Meist fand<br />

ich nach unendlichen Mühen dann schließlich heraus, daß sich das alles viel einfacher hätte<br />

sagen lassen, wenn der Typ nicht vor allem für seine hochgestochenen Kollegen geschrieben<br />

hätte.<br />

Mit der Zeit habe ich also gelernt, immer öfter die Aggression von mir weg auf den Autor zu<br />

wenden, den ich nicht verstehe: nicht ich bin doof, sondern er, wenn er es bei all seiner Bildung<br />

nicht schafft, sich verständlich auszudrücken. Wenn ich mir das klarmache, dann schüchtert mich<br />

der Text auch schon nicht mehr so sehr ein, <strong>und</strong> ich überspringe einfach die unverständlichen,<br />

komplizierten <strong>und</strong> fremdwortgespickten Passagen <strong>und</strong> lese nur die halbwegs verständlichen<br />

Abschnitte, ich suche also nach dem inhaltlichen Kern unter der verhüllenden Sprachkruste.<br />

Bietet sich beim Ober85


fliegen kein solcher Kern an, dann lege ich das Buch weg, ordne es unter die unzähligen<br />

anderen, die nur aus Kruste bestehen <strong>und</strong> bloß der Karriere wegen geschrieben worden sind. Es<br />

kann durchaus sein, daß ich bei dieser respektlosen Manier, mit Büchern umzugehen, hin <strong>und</strong><br />

wieder ein geniales Werk mit auf den Misthaufen werfe. Wenn es aber so akademisch<br />

geschrieben ist, dann ist mir das auch egal. Ein solches souveränes Verhältnis zur Wissenschaft,<br />

das es ermöglicht, sie von den gängigen Akademismen zu unterscheiden, ist aber nur möglich,<br />

wenn du dich auf den Stoff voll einläßt, dich also nicht äußerlich zu ihm verhältst, sondern an der<br />

Sache dran bleibst, bis sie zu sprechen beginnt.<br />

Für mich bedeutet das zweierlei: einmal heißt es, daß ich alles erreichbare Material zu dem<br />

Thema oder der Fragestellung sammle, um einfach zuerst einmal herauszufinden, was los ist.<br />

Wenn ich beim Lesen das Gefühl kriege, es wiederholt sich alles nur noch, das kennst du alles<br />

schon, dann weiß ich, daß ich genug gesammelt habe. Dann heißt es, daß ich an diesem<br />

gesammelten Material so lange arbeite, bis es sich in einen stimmigen Zusammenhang bringen<br />

läßt, bis ich es mit seinen Widersprüchen <strong>und</strong> Verästelungen für mich einleuchtend <strong>und</strong><br />

befriedigend erklären kann. Meiner Erfahrung nach läßt sich das bei jedem Thema (außer den<br />

»Lebenswerken«, die man sowieso lieber bleiben lassen sollte) mit ein bis zwei Monaten<br />

regelmäßiger Arbeit erreichen.<br />

Wenn du in dieser Weise eine Fragestellung durcharbeiten kannst, dann hast du damit viel mehr<br />

von der Methodik <strong>und</strong> den Zusammenhängen deines Faches begriffen, als wenn du überall mal<br />

kurz hineinschnüffelst, um möglichst das ganze Fach abdecken zu können. Wenn du mit deiner<br />

Fragestellung in den Problemberg deines Faches hineingestochen hast, bis deine Frage für dich<br />

befriedigend beantwortet ist, dann hast du die meisten wichtigen methodischen <strong>und</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Probleme deines Faches drauf stecken wie auf einem Schaschlikspieß.<br />

Mit welcher Fragestellung aus welchem Themenbereich du dabei anfängst, ist meist ziemlich<br />

egal. Die Hauptsache ist, daß sie mit dem, was du für den Sinn des Faches hältst, <strong>und</strong> mit deinen<br />

eigenen Erfahrungen wenigstens ein bißchen was zu tun hat - <strong>und</strong> wenn es auch auf noch so<br />

verschlungenen Umwegen ist, wenn also dabei wenigstens mittelbar ein Problem gelöst wird, das<br />

du als dein eigenes betrachten kannst. Das Gefühl, das in der Regel entsteht, wenn du einen<br />

Stoff ganz erfaßt <strong>und</strong> ein für dich relevantes Problem für dich befriedigend gelöst hast, das ist<br />

dann das, was ich meine mit: wissenschaftliches Arbeiten kann Spaß machen!<br />

86<br />

Drei Gr<strong>und</strong>prinzipien:<br />

Zweitens - die geistige Arbeit in Handarbeit verwandeln<br />

Selbst wenn es gelungen ist, den Respekt vor der Wissenschaft abzubauen , bleibt das Problem<br />

des Anfangens. Ständig meine ich, ei<br />

gentlich etwas anderes, ein anderes Buch, ein anderes Gebiet bearbeiten zu müssen, weil es<br />

wichtiger oder Voraussetzung für das ist, was ich gerade mache. Gleichzeitig meine ich, mich<br />

ungeheuer anstrengen zu müssen, das was ich gerade lese, auch vollständig zu erfassen. Das<br />

Ganze wird dann mehr <strong>und</strong> mehr zu einem Knäuel von gleichzeitiger Anstrengung <strong>und</strong> Fahrigkeit,<br />

Konzentration <strong>und</strong> Abschweifen - die Arbeitsschwierigkeiten sind da.<br />

Dagegen hat sich bei mir mit der Zeit das Konzept herausgebildet, daß ich meine Arbeit mit<br />

anderen Maßstäben messen muß, als sich das normalerweise aus der geistigen Arbeit ergibt.


ich sage mir dabei: wissenschaftliche Arbeit ist zu einem großen Teil wie Detektivarbeit. Du hast<br />

einen »Fall«, sammelst Material, entwickelst daraus eine Theorie zur Lösung des »Falles« <strong>und</strong><br />

suchst nun Aussagen <strong>und</strong> Indizien, die deine Theorie stützen oder widerlegen oder ihm ein »ganz<br />

neues Gesicht« geben. Und wie es in englischen Krimis heißt, ist die Hauptsache bei der<br />

Detektivarbeit »legwork« - Fußarbeit -, das Suchen nach den Zeugen, das Abklappern von<br />

Adressen etc., oder wie es dann in deutschen Krimis bezeichnet wird »Routine«... - das<br />

systematisch gegliederte Nacheinander der einzelnen Untersuchungsschritte ohne geniale<br />

Sprünge. Dieselbe Art Routine versuche ich auch für die geistige Arbeit zu entwickeln-. Literatur<br />

suchen, beschaffen, auswerten, Material ordnen <strong>und</strong> schließlich schreiben. Das Prinzip liegt aber<br />

nicht so sehr in der Reihenfolge, entscheidend ist vielmehr das handwerkliche Herangehen: in<br />

der Lesephase, also beim Auswerten der Literatur gehe ich z. B. nicht nach der vermutlichen<br />

Wichtigkeit der Titel vor, sondern nach ihrer alphabetischen Reihenfolge oder nach ihrer<br />

Erreichbarkeit <strong>und</strong> lege zu jedem Titel in derselben handwerklichen Manier Karteikarten an, für<br />

jeden irgendwie für das Thema möglicherweise interessanten Gedanken bzw. jede Information<br />

jeweils eine eigene Karteikarte. Wenn ich mit dem Artikel oder dem Buch fertig bin, habe ich dann<br />

einen - je nachdem, wie gut es war - dünneren oder dickeren Stapel Karteikarten vor mir. Die<br />

kann ich zusammen mit der Titelkarte wegpacken: der Titel ist »untergepflügt«, ich kann ihn<br />

abhaken <strong>und</strong> beruhigt bis später vergessen. Das schlechte Gewissen, das ich früher beim<br />

wissenschaftlichen Arbeiten ständig hatte, egal wieviel ich tatsächlich an einem Tag gearbeitet<br />

hatte, hängt eng damit zusammen, daß ich die geistige Arbeit nicht wie eine »normale« Arbeit<br />

behandelte. Ich richtete mir damals daheim in meinem Zimmer einen Arbeitsplatz zwischen<br />

Büchern, Bett <strong>und</strong> Küche ein mit dem Ergebnis, daß ich<br />

87<br />

auch dann an meinem Arbeitsplatz war, wenn ich im Bett lag - die unerledigte Arbeit schaute mich<br />

an. Und umgekehrt lockte mich das Bett (<strong>und</strong> meist auch der Kühlschrank in der Küche), wenn die<br />

Arbeit nicht so richtig lief <strong>und</strong> ich deshalb müde wurde. Ich legte mich hin <strong>und</strong> wachte nach zwei<br />

St<strong>und</strong>en mit entsprechend schlechtem Gewissen auf. Weiter wurde mein schlechtes Gewissen<br />

dadurch angestachelt, daß ich mir immer zum Ausgleich des schlechten Gewissens viel zuviel<br />

vorgenommen hatte <strong>und</strong> dazu noch in der Form: heute werde ich so <strong>und</strong> so viele Seiten oder das<br />

Buch vollends fertig lesen. Wenn es dann schwierig wurde <strong>und</strong> es ganz offensichtlich war, daß<br />

ich auch nicht einmal in die Nähe meiner guten Vorsätze kommen würde, wurde ich fahrig <strong>und</strong><br />

nervös, verlor immer mehr die Lust, wurde müd <strong>und</strong> müder <strong>und</strong> verfiel wieder in das<br />

Verdrängungsverhalten, das wiederum mein schlechtes Gewissen anstachelte. So saß ich<br />

eigentlich mit dem Kopf immer bei der Arbeit, Tag <strong>und</strong> Nacht, wochentags <strong>und</strong> am Wochenende,<br />

selbst wenn ich nicht am Schreibtisch saß. Ich konnte weder arbeiten noch faulenzen. Daraus<br />

habe ich gelernt: Ich muß die geistige Arbeit nicht nur in konkrete, machbare Arbeitsschritte<br />

aufgliedern, sondern muß darüber hinaus zu ihr ein Verhältnis wie zu einer bezahlten Büroarbeit<br />

herstellen. Ich muß sie nicht nur zu Handarbeit, sondern auch zu einer richtigen, »normalen«<br />

Arbeit machen: ich habe aufgehört, bei längeren Arbeiten zu Hause zu arbeiten. Ich suchte mir<br />

von den vielen <strong>Uni</strong>-Bibliotheken diejenige heraus, in der es mir am besten gefiel, mit der besten<br />

Arbeitsatmosphäre, mit Mensa- <strong>und</strong> KaffeeStube in der Nähe.<br />

Ich orientiere mich also seither an den Bürozeiten, mache meine Mittagspause <strong>und</strong> höre pünktlich<br />

mit der Arbeit auf. Dazwischen mache ich auch immer wieder meine Pausen, schaue zum Fenster<br />

hinaus <strong>und</strong>, weil ich beim Lesen sehr leicht ermüde, schlafe immer wieder den berühmten<br />

Büroschlaf: vor dem Buch sitzend nicke ich ein <strong>und</strong> werde nach wenigen Minuten durch irgendein<br />

Geräusch aufgeschreckt. Ohne schlechtes Gewissen <strong>und</strong> durchaus wieder hellwach arbeite ich<br />

dann weiter bis zu meinem »Feierabend«. Den halte ich sehr strikt ein: die Bücher <strong>und</strong><br />

Karteikarten bleiben in der Bibliothek. Dasselbegilt fürdasWochenende: Samstag<strong>und</strong>Sonntag


mache ich wie alle anderen, die »normal« arbeiten, nichts was mit meiner wissenschaftlichen<br />

Arbeit zusammenhängt. Das habe ich auch bei Prüfungsarbeiten durchgehalten - bis auf die<br />

hektische Schlußphase.<br />

88<br />

Drei Gr<strong>und</strong>prinzipien:<br />

Drittens - sich Erfolgserlebnisse verschaffen<br />

Für mich ist das größte Problem beim wissenschaftlichen Arbeiten, daß es so schwer<br />

abzuschätzen ist, was ich gemacht habe <strong>und</strong> was noch vor mir liegt. Beim Arbeiten im Garten z.<br />

B. ist das ganz anders: wenn man ein Stück Land umzugraben hatte, da sah man jeden<br />

Spatenstich, wie es voranging, <strong>und</strong> konnte in den Pausen stolz auf das bereits Geleistete<br />

zurückblicken <strong>und</strong> etwa abschätzen, wie lange man noch für den Rest brauchen würde. Bei<br />

wissenschaftlicher Arbeit ist das alles anders: was zurückliegt, erscheint ungewiß <strong>und</strong> kaum<br />

bemerkenswert, was vor einem liegt, scheint unendlich <strong>und</strong> kaum zu übersehen. Dagegen hat<br />

sich bei mir die Strategie herausgebildet, nicht immer an die insgesamt zu leistende Arbeit zu<br />

denken, sondern nur an das, was ich an dem jeweiligen Tag machen will. Wichtiger aber noch:<br />

ich nehme mir ganz bewußt für den Tag deutlich weniger vor als dasjenige Arbeitsquantum, von<br />

dem ich ganz sicher bin, daß ich es ohne große Anstrengung schaffe. Dadurch schaffe ich immer<br />

das, was ich mir vorgenommen habe <strong>und</strong> oft sogar noch mehr. Dafür belohne ich mich dann: ich<br />

gehe in der Mittagspause in einen Buchladen <strong>und</strong> schau mir Kunstbände an oder lese Comics.<br />

Nachmittags belohne ich mich mit einem ausführlichen Kaffee <strong>und</strong> abends schwelge ich in den<br />

Belohnungsmöglichkeiten. Die Leistungsmaßstäbe, in denen ich meine Vorsätze <strong>und</strong> Erfolge<br />

ausdrücke, sind immer solche, die aus der Verwandlung geistiger Arbeit in Hand-Arbeit<br />

entstanden sind, also nicht »ein wichtiges Problem lösen«, sondern »20 Karteikarten<br />

produzieren« oder »3 Titel unterpflügen« oder »5 St<strong>und</strong>en an der Arbeit bleiben« oder »3 Seiten<br />

des ersten Textentwurfes schreiben«. Das sind alles Arbeitskriterien, die ein wenig so sind wie<br />

die beim Umgraben im Garten: ich sehe, was ich geleistet habe <strong>und</strong> weiß genau, was ich noch<br />

vor mir habe.<br />

Vieles von diesen drei Gr<strong>und</strong>prinzipien ist vielleicht wirklich meine besondere Marotte. Probier sie<br />

jedenfalls mal aus, wenn du kannst. Wer weiß, vielleicht klappen sie bei dir auch <strong>und</strong> helfen dir<br />

tatsächlich, Spaß am wissenschaftlichen Arbeiten zu haben.<br />

Jetzt will ich auf einige unterschiedliche Techniken wissenschaftlichen Arbeitens eingehen <strong>und</strong><br />

fange mit der Haupttätigkeit von Intellektuellen an:<br />

<strong>Wie</strong> lesen?<br />

Wenn du mit einem ganz neuen Gebiet anfängst, von dem du noch überhaupt keine Ahnung hast,<br />

dann mußt du zuerst einmal einige Bücher ganz gründlich dazu durcharbeiten. Am besten nimmst<br />

du<br />

89<br />

dafür etwas Einführendes. Erk<strong>und</strong>ige dich aber bei unterschiedlichen Leuten, ob es wirklich auch<br />

etwas taugt, ob es einigermaßen leicht lesbar ist.<br />

Für diese Art lesen, also das Durcharbeiten von Lehrbüchern, hat sich eine Lesemethode<br />

bewährt, die von einem amerikanischen Pädagogen entwickelt worden ist (Robinson, 1961). Ich


finde sie ganz toll, weil sie einem dazu verhilft, sehr schnell zu arbeiten, <strong>und</strong> das Gelesene doch<br />

im Gedächtnis bleibt.<br />

Im Englischen heißt sie SQ3R-Methode nach den Anfangsbuchstaben ihrer fünf Arbeitsschritte.<br />

Ich habe sie übersetzt <strong>und</strong> um des Gags willen in die »Fünf-S-Methode« verwandelt, was sich<br />

sowohl auf die Anfangsbuchstaben wie auf die fünf Schritte beziehen kann. Die Schritte sind:<br />

sichten, sich fragen, suchen, schreiben, sichern. Ich werde sie jetzt nacheinander einzeln<br />

beschreiben:<br />

- Bevor du ein Buch, einen Aufsatz oder auch nur ein Kapitel anfängst zu lesen, solltest du es<br />

sichten, d. h. du solltest es durchblättern, das Inhaltsverzeichnis <strong>und</strong> die Überschriften, den<br />

Klappentext angucken, <strong>und</strong> wenn es Zusammenfassungen oder Schlußbemerkungen gibt, die<br />

zuerst lesen. Dadurch kannst du dir einen Überblick verschaffen, worüber das Buch geht, was die<br />

zentralen Thesen sind <strong>und</strong> auf was der Autor oder die Autorin letztlich hinauswill.<br />

- Aber auch danach sollte noch nicht gleich mit dem Lesen angefangen werden. Vielmehr sollte<br />

man sich fragen: worauf will der Abschnitt, den ich jetzt lesen will, eine Antwort geben? Mit Hilfe<br />

der vorher gesichteten Elemente (also Kapitalüberschriften oder Zwischentitel,<br />

Zusammenfassungen, Einleitungen) läßt sich so die Fragestellung des betreffenden Abschnitts<br />

oder Kapitels formulieren.<br />

- Den nächsten Schritt könnte man nun einfach »lesen« nennen. Zusammen mit den beiden<br />

vorangegangenen Schritten ist es aber mehr, es ist ein Suchen nach der Antwort auf die<br />

Fragestellung des Abschnitts, ist also aufmerksames, aktives <strong>und</strong> kritisches Lesen <strong>und</strong> nicht bloß<br />

passives Aufnehmen.<br />

- Mit schreiben ist gemeint, daß du dir diese Antwort dann in eigenen Worten aufschreibst. Dabei<br />

ist dieses »in eigenen Worten« zentral wichtig, denn erst wenn du sie selbst formulieren kannst,<br />

also nicht einfach Kernsätze des Titels abschreibst, zeigt sich, ob du den Text verstanden hast.<br />

Schon oft habe ich beim Lesen eines Textes im Bauch so ein warmes Gefühl des Verstehens<br />

entwickelt, war mir sicher, daß alles klar ist <strong>und</strong> daß der Text <strong>und</strong> ich in vollem Einverständnis<br />

sind. Als ich dann aber gezwungen war, anderen zu erzählen, was ich gelesen hatte, stellte sich<br />

heraus, daß es nur ein warmes Gefühl war, ich in Wirklichkeit aber nichts verstanden hatte, denn<br />

ich mußte immer wieder zum Text greifen <strong>und</strong> noch ein<br />

90<br />

mal nachlesen mit den Worten: »Hier steht es doch, ich lese mal vor!« Daran zeigt sich: kapieren<br />

heißt nachkonstruieren! Dieses Nachkonstruieren soll im Aufschreiben der Antwort auf die<br />

Fragestellung geschehen. Wichtig ist dabei nicht die Ausführlichkeit (im Gegenteil, sie sollte so<br />

knapp wie möglich sein), sondern daß du selbst den Eindruck hast, es ist die vom Text gegebene<br />

Antwort. Um das zu überprüfen, ist es sinnvoll, die Antwort an einem Beispiel durchzuspielen.<br />

Wenn sich dabei Schwierigkeiten ergeben, ist es notwendig, noch einmal nachzuprüfen, ob du<br />

den Text richtig verstanden hast <strong>und</strong> wie der Autor oder die Autorin zu der Antwort kommt, die dir<br />

so problematisch geworden ist. Damit hast du dann bereits ein wichtiges Stück Kritik an dem Text<br />

geleistet.<br />

- Der letzte Schritt ist das Sichern des Textes: Dazu liest du dir die gesammelten Antworten durch<br />

<strong>und</strong> versuchst, mit ihnen den Gang der Gesamtargumentation zu rekonstruieren <strong>und</strong> die zentrale<br />

These in ihrer Entwicklung <strong>und</strong> Begründung herauszuarbeiten. Das Ganze kommt dann in einen<br />

Aktenordner oder in den Karteikasten unter dem entsprechenden Stichwort. So kannst du dir den


Inhalt des Buches, seine Argumentation <strong>und</strong> seine kritischen Punkte selbst dann sehr schnell für<br />

andere Referate oder Prüfungen wieder vergegenwärtigen, falls du es im Laufe der Zeit<br />

vergessen solltest. Ein Text, der nach der »Fünf-S-Methode« (oder »Fünf-SchritteMethode


Oft genug passiert es mir beim Lesen eines solchen Titels, daß mir selbst Gedanken zum Thema<br />

kommen, die ich für die Arbeit festhalten will. Ich lege dazu dann einfach auch eine Karteikarte an<br />

<strong>und</strong> packe sie zu den anderen.<br />

In jedem Fach gibt es einige wenige gr<strong>und</strong>sätzliche Werke, um die sich die meisten theoretischen<br />

Kontroversen, methodischen Überlegungen <strong>und</strong> Publikationen herumstreiten. Sie kommen in<br />

nahezu allen Titeln vor, <strong>und</strong> zwar immer so in einem Nebensatz, als ob es selbstverständlich<br />

wäre, sie zu kennen.<br />

Wenn du nicht dauerhaft gezwungen sein willst, in theoretischen <strong>und</strong> methodischen Fragen<br />

deines Faches voller Unsicherheit zu<br />

92<br />

bluffen, dann mußt du dich dran machen <strong>und</strong> diese gr<strong>und</strong>sätzlichen Werke deines Faches<br />

durcharbeiten.. Oft sind diese Bücher aber so schwierig, daß du sie alleine gar nicht schafftst,<br />

sondern nur zusammen mit anderen in einer Diskussionsgruppe.<br />

Diese Bücher mußt du dir auf jeden Fall anschaffen, denn mit denen wirst du immer arbeiten<br />

müssen, wenn du mit deinem Fach zu tun hast. Sie müssen auch anders bearbeitet werden als<br />

alle anderen Bücher: nach der Lektüre sehen sie bei mir im Unterschied zu den anderen Büchern<br />

durch <strong>und</strong> durch bunt aus. Ich streiche die zentralen Passagen nämlich je nach ihrer Wichtigkeit<br />

in unterschiedlichen Farben an. Das hilft mir, mich beim Lesen zu konzentrieren, <strong>und</strong> später finde<br />

ich bestimmte Stellen leicht wieder, weil jede Seite anders aussieht. Wichtiger aber: das, was in<br />

der Fünf-S-Methode für ganze Abschnitte oder Kapitel gemacht wird, wende ich hier auf jeden<br />

Absatz an <strong>und</strong> schreibe die zentralen Argumentationspunkte in eigenen Worten auf den Rand<br />

des Buches neben den entsprechenden Absatz. Wenn sich beim »sichern« der Absätze neue<br />

Gesichtspunkte ergeben, schreibe ich diese unten an den Rand der Seite oder an das Ende des<br />

Kapitels. Auch das hat einen Vorteil für sofort <strong>und</strong> einen für später: beim Lesen selbst zwingt es<br />

mich zu überprüfen, ob ich wirklich verstanden habe, worum es geht; später brauche ich, wenn<br />

ich eine Argumentation aus einem solchen Buch verwenden will, nur die entsprechenden<br />

Passagen aufzuschlagen <strong>und</strong> meine Randbemerkungen zu lesen <strong>und</strong> habe dann schon wieder<br />

den Zusammenhang im Kopf.<br />

Die Arbeit an einem größeren Thema<br />

Auf den folgenden Seiten will ich meine Arbeitstechnik beim Arbeiten an einem größeren Thema<br />

darstellen. Ich habe sie zum Beispiel auch für dieses Buch angewandt. Das Allerwichtigste an der<br />

ganzen Technik ist aber, daß du nicht nur einfach einen Themenbereich hast, sondern eine<br />

Fragestellung. <strong>Wie</strong> die für Arbeiten gef<strong>und</strong>en wird, die mit dir selbst etwas zu tun haben, die also<br />

direkt einen Gebrauchswert darstellen <strong>und</strong> nicht vor allem für die Prüfung geschrieben sind, das<br />

habe ich im vierten Kapitel versucht klar zu machen. Aber auch bei Arbeiten für Prüfungen ist<br />

eine Fragestellung entscheidend wichtig, weil du sonst nur zu leicht in eine unkontrollierbare<br />

Breite gerätst.<br />

Eine Möglichkeit dazu habe ich bei der Fünf-S-Methode schon genannt: das Thema in eine Frage<br />

umformulieren. Eine andere Möglichkeit ist es, wenn du aus der einführenden Literatur eine<br />

Hypothese bildest. Daraus kannst du dann die Frage bilden: stimmt das so?<br />

93


Die Fragestellung muß jedenfalls zum gliedernden Prinzip deiner Arbeit werden: Alle Literatur, die<br />

du heraussuchst <strong>und</strong> durcharbeitest, <strong>und</strong> jeden Satz, den du schreibst, mußt du dann einzig <strong>und</strong><br />

allein darauf prüfen, ob die Fragestellung dadurch beantwortet wird. Meiner Meinung nach ist das<br />

das Allerwichtigste beim Arbeiten an einem wissenschaftlichen Thema! Aus dieser Frage <strong>und</strong><br />

ihrer Beantwortung ergibt sich auch nachher meist ganz logisch <strong>und</strong> einfach die Gliederung beim<br />

Schreiben. Ohne eine solche Frage wird jedes Fitzelchen <strong>und</strong> jeder Nebenweg des<br />

Themenbereiches irgendwie <strong>und</strong> möglicherweise wichtig <strong>und</strong> du hängst unweigerlich völlig<br />

kriterienlos durch.<br />

Die Literatursuche<br />

Es ist klar: für eine Examensarbeit brauche ich eine ganz andere Literatur<strong>und</strong> Materialbasis als<br />

für eine Erstsemesterarbeit. Während der ersten Semester genügt es immer, die von den<br />

Lehrenden angegebene <strong>und</strong> empfohlene Literatur durchzuschauen - <strong>und</strong> die ist oft zu viel <strong>und</strong> zu<br />

schwierig, so daß man sich von höheren Seinestern beraten lassen muß.<br />

Sobald du aber an eine Fragestellung herangehst, die dich wirklich interessiert <strong>und</strong> aus der du<br />

etwas für dich herausholen willst, dann ist es wichtig, möglichst viel von der Literatur<br />

durchzugucken. (<strong>Wie</strong> das ohne viel Aufwand gemacht werden kann, dazu komme ich gleich.)<br />

Denn wenn du das befriedigende Gefühl haben willst, die Sache wirklich im Griff zu haben, dann<br />

mußt du sozusagen mit einem Schleppnetz durch den Teil des Literaturmeeres durchgehen, der<br />

zu deinem Thema gehört, <strong>und</strong> die wenigen wertvollen Informationen, die darin verborgen sind,<br />

herausfischen <strong>und</strong> anlanden.<br />

Das klingt zuerst wieder einmal wie eine Selbstüberforderung. Da gibt es aber einige ganz<br />

einfache Tricks, wie diese unüberschaubar klingende Aufgabe leicht handhabbar gemacht<br />

werden kann. Der erste ist: du nimmst nur die Titel der letzten Zeit auf. Wenn es sehr viel<br />

Literatur zu deiner Fragestellung gibt, dann vielleicht nur die aus dem letzten bereits in den<br />

Bibliographien <strong>und</strong> Katalogen erfaßten Jahr. Gibt es wenig dazu, ist es sinnvoll, ein wenig weiter<br />

zurückzugreifen. Dabei gehe ich davon aus, daß es immer wenigstens einen oder zwei Titel gibt,<br />

deren Autor oder Autorin sich ebenfalls ernsthaft mit dem Thema beschäftigt hat, also auch die<br />

vorher erschienene Literatur gesichtet hat. Aus diesem Titel erfährst du dann zum einen die<br />

wichtigsten Informationen aus der davor erschienenen Literatur <strong>und</strong> zum anderen merkst du an<br />

der Häufigkeit der Zitate, welche Titel so gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong> umfassend sind, daß du sie dir doch<br />

selbst vornehmen mußt. Der zweite Trick ist: sammle vor allem Zeitschriftenaufsätze. Der<br />

Wissenschaftsbetrieb<br />

94<br />

zwingt nämlich die Leute dazu, aus einer Sache, die sie sich einmal mühsam erarbeitet haben,<br />

möglichst viele Titel für ihre Liste der Veröffentlichungen herauszuschlagen, denn damit<br />

bewerben sie sich um Stellen, <strong>und</strong> oft wird die Länge der Literaturliste mit dem Grad der<br />

Qualifikation gleichgesetzt. Also müssen sie das, was sie in ihrer Doktorarbeit oder in einem Buch<br />

gesagt haben, mindestens noch einmal in einem Artikel verbraten. Und das ist deine Chance,<br />

zuerst die Zeitschriftenaufsätze anzugucken <strong>und</strong> aus diesen Kurzfassungen dann darauf zu<br />

schließen, ob es sich lohnt, auch das Buch durchzuschauen.<br />

Welches ist der beste Weg, die Literatur zu finden? Ich meine, es ist am sinnvollsten, mit den<br />

Schlagwortkatalogen anzufangen. Die haben nämlich den Vorteil, daß auf den Katalogkarten oft<br />

die Signaturen draufstehen, unter denen die Titel in der betreffenden Bibliothek ausgeliehen oder<br />

(bei Präsenzbibliotheken) gef<strong>und</strong>en werden können, du mußt also nicht erst mühsam alle


alphabetischen Kataloge durchsuchen oder die Fernleihe beanspruchen. Dabei ist der einzige<br />

Nachteil der Fernleihe, daß sie so lange dauert. Sie hat allerdings den großen Vorteil, daß du<br />

Zeitschriftenaufsätze oft gegen eine kleine Schutzgebühr als Fotokopien erhältst.<br />

Schlagwortkataloge mußt du übrigens benützen wie ein Lexikon: wenn du unter dem<br />

naheliegendsten Schlagwort nichts findest, dann mußt du unter verwandten suchen (gute<br />

Kataloge haben übrigens ein Verzeichnis der Schlagworte <strong>und</strong> verweisen auf der ersten oder<br />

letzten Karte auf andere Schlagworte, wo zum selben Thema etwas gef<strong>und</strong>en werden kann).<br />

Nun gibt es aber die Schwierigkeit, daß die meisten Schlagwortkataloge nur Monographien<br />

erfassen, das sind selbständige Bücher, also keine Zeitschriften oder Reihen. Mein Rat, zuerst<br />

mit den Zeitschriftenaufsätzen anzufangen, stößt also auf Hindernisse. Es gibt zwei Wege, dieses<br />

Hindernis zu überwinden. Der erste heißt »Dokumentation«: in den meisten Fächern gibt es<br />

Stellen, die alle wichtigen Zeitschriften des Faches auswerten <strong>und</strong> nach Themengebieten<br />

aufschlüsseln, die aber leider meist sehr viel gröber eingeteilt sind als die der<br />

Schlagwortkataloge. Dafür haben sie einen großen Vorteil: sie enthalten kurze<br />

Zusammenfassungen der Hauptaussagen des erwähnten Aufsatzes, mindestens aber<br />

Präzisierungen des behandelten Gebietes. Auf diese Weise kann schon von vornherein eine<br />

große Zahl vielversprechend klingender Titel ausgeschieden werden. Der andere Weg heißt<br />

»Dietrich«, so wie das bekannte Einbrecherwerkzeug: es ist ein vielbändiges Werk, das in den<br />

Bibliographieräumen aller Bibliotheken steht <strong>und</strong> einstmals von einem Menschen namens Dietrich<br />

angefangen worden ist. (Inzwischen heißt es offiziell »BIZ« - Bibliographie der Internationalen<br />

Zeitschriftenliteratur - die meisten Leute sagen aber immer noch »Dietrich« dazu.) Heute werden<br />

über 60000 Zeitschriften, Zeitun<br />

95<br />

gen <strong>und</strong> Schriftenreihen aus aller Welt <strong>und</strong> aus allen Fachgebieten unter einer Unzahl von<br />

detailliert aufgeschlüsselten Schlagwörtern ausgewertet <strong>und</strong> in mehreren Jahresbänden<br />

gesammelt hera usgegeben. Unter jedem Schlagwort sind die Autoren mit dem Titel des<br />

Aufsatzes alphabetisch aufgeführt <strong>und</strong> den Angaben über Jahrgang, Erscheinungsjahr, Heft <strong>und</strong><br />

Seitenzahlen. Nur der Titel der Zeitschrift fehlt. Der ist in einer Nummer, einer Sigel verschlüsselt,<br />

unter der du im jeweils ersten Band die ausführlichen Titelangaben finden kannst.<br />

Da es für ganz viele Gebiete auch noch Spezialbibliographien gibt, die auch die<br />

Zeitschriftenliteratur auswerten, empfiehlt es sich in allen Fällen, die Fachkräfte in den<br />

Bibliotheken um Rat zu fragen. Meist macht es denen sogar Spaß, dich in die Geheimnisse der<br />

Bibliothekskunst einzuweihen.<br />

Schreib die Titel aber um Himmels willen nicht in irgendein Heft oder auf Blätter. Da gerätst du<br />

völlig durcheinander <strong>und</strong> notierst dir denselben Titel immer wieder. Statt dessen kauf dir oder<br />

mach dir kleine Karteikarten, die du alphabetisch nach den Autoren ordnest <strong>und</strong> mit allen<br />

Angaben versiehst, die f ür das spätere Literaturverzeichnis notwendig sind. Auf dieselbe Karte<br />

schreibe ich mir soweit möglich - auch noch den Verlag, falls ich das Buch vielleicht doch einmal<br />

kaufen will. Da braucht man das nämlich! Auch sagt der Verlag oft schon einiges über das Buch<br />

aus.<br />

Alle weiteren Arbeitsschritte, die ich danach mit dem Titel mache, werden ebenfalls auf der<br />

Karteikarte vermerkt: die Signatur <strong>und</strong> Bibliothek, die Anzahl Karteikarten <strong>und</strong> Photokopien, die<br />

ich über den Titel angefertigt habe, <strong>und</strong> eine kurze, deftig subjektive Charakterisierung des<br />

Inhaltes.


<strong>Wie</strong> lesen, ohne zu lesen<br />

Vielleicht ist aufgefallen, daß ich nie davon gesprochen habe, daß die Literatur zu lesen sei,<br />

sondern daß ich sie »angucke«, »durchgehe« oder »sichte«. Sobald du anfängst die ganzen Titel<br />

lesen zu wollen, in dem Sinne, daß du mit der ersten Seite anfängst <strong>und</strong> mit der letzten Seite<br />

aufhörst, bist du verloren. Du mußt statt dessen lernen, mit wissenschaftlicher Literatur<br />

umzugehen wie mit einer Illustrierten. Die blätterst du auch durch <strong>und</strong> holst dir nur das heraus<br />

zum Lesen, was dich interessiert.<br />

Ich lese wissenschaftliche Literatur immer von hinten nach vorn. Am Schluß wird immer gesagt,<br />

was herausgekommen ist <strong>und</strong> worum es eigentlich ging. Daraus kann ich dann ersehen, ob mich<br />

das überhaupt interessiert, ob es mit meiner Fragestellung etwas zu tun hat. Wenn ja, kann ich<br />

mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses gezielt die Kapitel heraussuchen, die für mich besonders<br />

relevant sein<br />

96<br />

könnten. Auch die lese ich wieder von hinten nach vorn, <strong>und</strong> zwar so, daß ich jeweils den Anfang<br />

<strong>und</strong> Schluß der Absätze überfliege. Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß am Anfang eines<br />

Absatzes der Gedanke benannt wird, um den es dabei geht <strong>und</strong> am Schluß das zugespitzte<br />

Ergebnis der Überlegungen steht. Nahezu alle wissenschaftliche Literatur ist tatsächlich so<br />

aufgebaut, daß es ohne weiteres möglich ist, jedes einzelne Kapitel wie das ganze Buch von<br />

hinten nach vorn zu lesen: man kann vom Ergebnis her durch Überfliegen den Gang der<br />

Argumentation sehr schnell herausfinden <strong>und</strong> die zentralen Passagen lokalisieren, in denen. der<br />

Kern der Überlegungen steckt. Die muß man dann sehr sorgfältig lesen. Das sind dann auch die<br />

zitierfähigen Stellen, die fotokopiert werden müssen <strong>und</strong> über die ich Karteikarten anlege.<br />

Auf diese Weise ist es mit einiger Übung möglich, jedes durchschnittliche Buch in wenigen<br />

St<strong>und</strong>en »unterzupflügen«. Bei Aufsätzen geht das sogar noch viel schneller. Da genügt es meist,<br />

den Schluß <strong>und</strong> den Anfang zu lesen, denn meist stecken da alle Informationen drin. Nur bei<br />

ganz wenigen lohnt es sich auch, die Mitte in derselben Weise durchzugehen, wie ich das eben<br />

für Bücher beschrieben habe. So ist es möglich, in relativ kurzer Zeit große Mengen von Literatur<br />

zu sichten, mit dem Schleppnetz die für die eigene Fragestellung wichtigen Informationen aus<br />

dem Literaturmeer anzulanden.<br />

All das bringt aber überhaupt nur dann etwas, wenn du dabei mit Karteikarten arbeitest. Mit ihnen<br />

müssen nämlich die Gedanken <strong>und</strong> Informationen festgehalten werden, die du aus dem ganzen<br />

Wust von Literatur herausgef<strong>und</strong>en hast.<br />

Ich mache das so: wenn ich ein Buch durcharbeite, habe ich vor mir außer der kleinen Titelkarte<br />

zum Buch immer auch einen Stapel Karteikarten in Postkartengröße vor mir liegen (in einer<br />

Buchbinderei kann man die sich aus normalem Papier zurechtschneiden lassen). Wenn ich<br />

beispielsweise über Arbeitsbelastung arbeite, finde ich auf Seite 68 einige Zahlen über die<br />

Zunahme von Schichtarbeit in der B<strong>und</strong>esrepublik. Ich nehme eine Karteikarte <strong>und</strong> schreibe<br />

zuerst eine Kurzfassung des Titels oben links in derselben Weise wie hier die Titel kurz zitiert<br />

werden (also: Schmiede, Schudlich, 1976). Darunter schreibe ich noch ein Stichwort, damit ich<br />

die Karteikarte <strong>und</strong> die kleine Titelkarte immer als zusammengehörig wiedererkenne (z. B. aus<br />

dem Titel: »Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland« nur das Stichwort<br />

»Leistungsentlohnung«). Damit habe ich die Quelle identifiziert. Jetzt schreibe ich rechts oben<br />

das hin, über das der Gedanke oder die Information geht (hier: »Schichtarbeit«). Dabei mache ich


mir keine großen Überlegungen zu einer Systematik. Die verändert sich sowieso ständig. Ich<br />

versuche nur die Information auszudrücken, wie sie mir vorliegt. In die Mitte der Karte schreibe<br />

ich die Seitenzahl (also 68) <strong>und</strong> setze ein »K« dahinter,<br />

97<br />

wenn ich vorhabe, die Seite zu kopieren (nur wenn es zu lange dauern würde, den Text auf die<br />

Karte zu übertragen). Darunter schreibe ich dann so kurz wie möglich, was da steht: In diesem<br />

Fall nur: »Gute Zahlen zur neueren Entwicklung der Schichtarbeit.« Wenn auf derselben Seite<br />

ein neues Thema kommt, das für mich wichtig ist (z. B. Verbreitung von Akkordlöhnen), dann<br />

nehme ich eine neue Karteikarte, die ich nun unter dem Stichwort »Akkordlöhne« anlege.<br />

Beim weiteren Lesen des Buches nehme ich jedesmal, wenn eine interessante Stelle zu<br />

Schichtarbeit auftaucht, die Karte »Schichtarbeit« <strong>und</strong> trage dort unter der jeweiligen Seitenzahl<br />

den möglichst kurzgefaßten Inhalt dieser Stelle ein (genauso bei »Akkordarbeit«, »Akkordlohn«<br />

etc.). So habe ich dann am Schluß des Buches alle Informationen zur »Schichtarbeit«, die darin<br />

interessant waren, auf Karteikarten unter diesem Stichwort beieinander. (Für die anderen<br />

Informationen habe ich entsprechende Karten zu »Akkordlöhnen«, »Leistungslohn« etc.) Danach<br />

trage ich diese Stichworte auf der Rückseite der Titelkarte ein, damit ich weiß, welche<br />

StichwortKarten ich zu dem Buch angelegt habe. Wichtig: beim Fotokopieren nicht vergessen,<br />

den Titel gleich auf die Kopie zu schreiben, sonst ist die Information verloren. (Die Kopien hefte<br />

ich dann alphabetisch nach den Autorennamen ab.) Jetzt kann ich den Stapel Karteikarten<br />

wegpacken, an dessen Dicke ich sehe, wieviel mir das Buch gebracht hat, <strong>und</strong> mache auf der<br />

kleinen Titelkarte befriedigt das Kreuzchen, das mir zeigt: das Buch ist »untergepflügt«.<br />

Das Schreiben<br />

Wenn ich alle Bücher <strong>und</strong> Aufsätze zu meinem Thema so durchgearbeitet habe, dann ist das<br />

Schreiben kein großes Problem mehr. Alle Informationen <strong>und</strong> Gedanken etwa zur »Schichtarbeit«<br />

sind jetzt auf Karteikarten, die ich nur noch aus den zu den einzelnen Büchern gehörigen Stapeln<br />

heraussortieren muß. Ich brauche also nur eine erste grobe Gliederung schreiben, wie ich die<br />

Fragestellung meines Themas schrittweise beantworten will - sozusagen in Kapitelüberschriften,<br />

nach denen ich die Karten sortieren kann. Ich habe dann alle Karten zur Schichtarbeit beeinander<br />

<strong>und</strong> damit auch alle interessanten Informationen zu diesem Punkt aus der gesamten Literatur, die<br />

ich durchgearbeitet habe. Bei Karten, bei denen ich mich nicht mehr so richtig erinnern kann, was<br />

ich mir dabei gedacht habe, kann ich die entsprechenden Stellen in den Fotokopien nachlesen.<br />

Karten, die in mehreren Kapiteln Verwendung finden könnten, ordne ich in das frühste ein <strong>und</strong><br />

stecke sie dann um. Dieses erste Ordnen macht mir das ganze Material wieder gegenwärtig <strong>und</strong><br />

führt vielleicht schon zu Umstellungen in der Gliederung. Danach ordne ich die Karten innerhalb<br />

eines jeden einzelnen Kapitels solange, bis alle Karten<br />

98<br />

gleichen Gedanken beieinander sind <strong>und</strong> in einer sinnvollen Reihenfolge liegen. Für die<br />

Hauptpunkte der Gliederung <strong>und</strong> eigene Überlegungen lege ich extra Karteikarten dazwischen.<br />

Am Schluß habe ich die gesamte Arbeit in ihrer Feingliederung vor mir liegen als einen Stapel<br />

Karteikarten. Danach fange ich einfach mit der ersten Karteikarte an <strong>und</strong> schreibe den<br />

dazugehörigen Gedanken auf. In der Karteikarte habe ich den Beleg dazu, brauche also nicht<br />

lange herumzusuchen.


Wenn ich einmal ein Zitat bringen will, dann habe ich den Text auch gleich in der Fotokopie zur<br />

Hand. Ich schreibe also von einer Karteikarte zur nächsten, bis ich bei der letzten Karte<br />

angekommen bin. Dann ist die Arbeit fertig! Jetzt muß ich nur noch die kleinen Titelkarteikarten<br />

nehmen <strong>und</strong> sie abschreiben, dann ist auch das alphabetische Literaturverzeichnis fertig, das<br />

sonst so ungeheuer viel Mühe macht, gerade dann, wenn man am wenigsten Lust hat, noch groß<br />

herumzusuchen, weil man eigentlich das Gefühl hat, fertig zu sein.<br />

Bei dieser Arbeitsweise stecken die einzigen Schwierigkeiten, die beim Schreiben übrigbleiben, in<br />

den Ansprüchen an die eigenen Formulierungen, in der Anstrengung um einen verständlichen<br />

<strong>und</strong> zugleich präzisen Stil. Die lassen sich aber dadurch reduzieren, daß ich mir sage: ich<br />

schreibe jetzt einen ersten Entwurf, den ich hinterher noch mehrfach überarbeiten <strong>und</strong> vielleicht<br />

ganz umschreiben werde. Das reduziert die Anspannung <strong>und</strong> macht das Umarbeiten oft genug<br />

unnötig. (Ich habe mir übrigens angewöhnt, alles gleich mit Durchschlag in die Schreibmaschine<br />

zu schreiben.)<br />

Das ist anfangs schwierig, hat aber eine Menge Vorteile: 1. Lesbarkeit <strong>und</strong> Übersichtlichkeit des<br />

Manuskriptes, 2. der Durchschlag kann an einem sicheren Ort aufbewahrt werden <strong>und</strong> das<br />

Manuskript geht weniger leicht verloren - was ein übler Frust ist! 3. das Umarbeiten wird eine<br />

Arbeit mit Schere <strong>und</strong> Klebstoff, <strong>und</strong> man erspart sich, ganze Teile noch einmal abschreiben zu<br />

müssen.<br />

Nachdem ich diese Arbeitsweise entwickelt hatte, fing das wissenschaftliche Arbeiten an, mir<br />

Spaß zu machen. Ich empfand die Arbeit am Schreibtisch oder in der Bibliothek auch nicht mehr<br />

wie zuvor als isoliert <strong>und</strong> vereinsamend. Weil ich ja nur tagsüber <strong>und</strong> wochentags arbeite, kann<br />

ich die politischen <strong>und</strong> sonstigen Kontakte <strong>und</strong> Termine weiterhin wahrnehmen (früher hatte ich<br />

mich in solchen Arbeitsperioden von allem zurückgezogen). Darüber hinaus<br />

abe ich aber durch diese Arbeitsweise ein sehr entspanntes Verhältnis zur Literatur entwickelt<br />

<strong>und</strong> kommuniziere oft regelrecht beim Lesen mit den Büchern, stelle mir vor, wie die Autoren <strong>und</strong><br />

Autorinnen aussehen, was sie so in ihrer Freizeit machen etc.: wenn ich auf eine besonders<br />

aufschlußreiche Stelle stoße, juble ich, <strong>und</strong> wenn einer das Wissenschaftsritual <strong>und</strong> den <strong>Bluff</strong> so<br />

richtig durchzieht <strong>und</strong> dabei letztlich nichts sagt, dann stöhne <strong>und</strong> schimpfe ich<br />

99<br />

in mich rein, oder schreibe bissige Kommentare auf die Karteikarte. Und mit der fortschreitenden<br />

Durchdringung des Themas fühle ich mich immer mehr verb<strong>und</strong>en mit den wenigen Leuten, deren<br />

Schriften mich dabei weitergebracht haben.<br />

(Als weiterführende Literatur zur Arbeitsmethode empfehle ich Gerd Junne, Kritisches Studium<br />

der Sozialwissenschaften, UrbanTaschenbücher 244, Kohlhammer, 1976; es ist nicht nur für<br />

Sozialwissenschaftler, sondern bringt sehr gute Tips für alle Wissenschaftsbereiche.)<br />

<strong>Wie</strong> Prüfungen überstehen<br />

»Spaß an der wissenschaftlichen Arbeit haben«, das ist leicht gesagt <strong>und</strong> wäre vielleicht auch<br />

möglich, wenn man es nicht für Prüfungen machen müßte. Das ist ein naheliegender Einwand<br />

gegen all das, was ich hier geschrieben habe.<br />

Entscheidend bei der ganzen Prüfung ist es, sich klar zu machen, daß es sich dabei um eine<br />

irrationale <strong>und</strong> theaterhafte Situation handelt, die vorbereitet werden muß wie eine einmalige


Theateraufführung: die Rolle muß auswendig gelernt <strong>und</strong> eingeübt werden. Aber es ist eben nur<br />

eine Rolle, die du da zu spielen hast. In der Prüfung geht es nicht um deine Person oder dein<br />

wirkliches Denken, Handeln <strong>und</strong> Wissen, sondern um die Erfüllung einer durch <strong>und</strong> durch<br />

ritualisierten Rollenerwartung: du mußt die »gute Studentin« oder den »guten Studenten«<br />

spielen. Die <strong>Angst</strong> vor dieser Premiere ist verständlich - alle Theatermenschen haben sie. Aber<br />

danach kannst du wieder du selbst sein. Die <strong>Angst</strong> verliert jedoch jeglichen Zusammenhang zur<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> entwickelt sich zur blockierenden Panik, wenn du das vergißt, daß es hier um ein<br />

Theaterstück geht <strong>und</strong> du statt dessen das Gefühl entwickelst, du als Person würdest daraufhin<br />

geprüft, was du bisher geleistet hast. Dann kommen nämlich alle in dir verborgenen Ängste hoch,<br />

verbinden sich mit dem Prüfungsgeschehen <strong>und</strong> summieren sich zur neurotischen Prüfungsangst.<br />

In einer umfangreichen Untersuchung über, mündliche Prüfungen in einer Reihe von Fächern an<br />

der <strong>Uni</strong>versität zeigte sich, daß nicht so sehr das Wissen über Verlauf <strong>und</strong> Ergebnis der Prüfung<br />

entscheidet, sondern das Auftreten der geprüften Person, also wie sie ihre Rolle in der Premiere<br />

spielt. Aus dieser Erkenntnis entwickelten die Autoren der Untersuchung folgende<br />

Regieanweisungen: »Es ist ratsam, auch dann in der Prüfung die Rolle eines zukünftigen<br />

Angehörigen einer entscheidungsbefugten Gruppe einzunehmen, wenn man sich mit der Rolle<br />

eines Führungskaders nicht identifizieren kann oder will. Dazu gehört, daß man in mündlichen<br />

Prüfungen durchaus viel redet, zugleich aber vermeidet, ei<br />

100<br />

gene subjektive Aspekte ins Spiel zu bringen, zumal wenn sie unvorteilhaft erscheinen könnten.<br />

So sollte ein Prüfungskandidat an dem Zeitpunkt, zu dem die Prüfungen beginnen, ob zu Recht<br />

oder zu Unrecht, die Oberzeugung <strong>und</strong> Zuversicht in sich gefestigt haben, daß er vorbereitet ist,<br />

zufriedenstellende Arbeit geleistet <strong>und</strong> hinreichende Mühe aufgebracht hat. Eventuell<br />

aufkommende Unsicherheit während der Prüfung hinsichtlich dieses Komplexes sollte unterdrückt<br />

werden, erst recht, wenn es dem Prüfer seinerseits einfallen sollte, die vorausgegangenen<br />

Vorbereitungen als unzureichend in Zweifel zu ziehen. Jedes Eingeständnis dem Prüfer<br />

gegenüber, wenn dieser Komplex berührt wird, vergrößert die Wahrscheinlichkeit einer negativen<br />

Beurteilung. Falsch wäre es schließlich, davon auszugehen, daß normalerweise jeder Prüfer vom<br />

Prüfling die Aufgabe seines eigenen Willens erwartet. ( . ) Je deutlicher vielmehr der<br />

Prüfungskandidat seine Fähigkeit beweist, seine Interessen durchsetzen zu können, um so mehr<br />

wird dieses eben auch zur Prüfung anstehende Verhalten honoriert.« (Scheer, Zenz,1973, S. 79<br />

f.)<br />

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen also eines sehr deutlich: Die Rolle, die da gespielt<br />

werden soll, macht keine Unterwerfung oder politische Maskerade als Anpassung erforderlich. Es<br />

geht vielmehr darum, Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Sicherheit züi demonstrieren - eben auch bei eigener<br />

Einschätzung eines Problembereichs. Dabei ist aber wichtig, daß du die Begriffe, die du<br />

verwendest, erklären <strong>und</strong> verteidigen kannst. Entscheidender aber ist: man muß unterscheiden<br />

zwischen dem schriftlichen <strong>und</strong> dem mündlichen Teil der Prüfung. Im schriftlichen Teil, vor allem<br />

aber in der Hausarbeit, ist es möglich, tatsächlich ein Problem so anzugehen, daß du selbst noch<br />

lange etwas davon hast. Insbesondere dann, wenn du in irgendeiner Form auf die<br />

Themenstellung Einfluß nehmen kannst <strong>und</strong> es so vielleicht schaffst, ein Thema zu bearbeiten,<br />

das mit dem etwas zu tun hat, was du als den Sinn deines Studiums bestimmt hast. Der<br />

mündliche Teil ist so sehr Schauspiel, daß es manchmal auc in ein sadistisches Tribunal gegen<br />

den Prüfling auszuarten droht, daß es tatsächlich nur noch zynisch behandelt werden kann.<br />

Viel wichtiger aber ist die Konsequenz dieser Prüfungskritik für die N twendigkeit kollektiver<br />

Absprachen: das Prüfungssystem hat keine absoluten Maßstäbe, sondern vergleicht nur


zwischen den auftretenden Prüflingen. Der Durchschnitt bekommt die Durchschnittsnote, egal, ob<br />

er in diesem Jahr objektiv gesehen den Einserleuten der vorangegangenen Prüfung entspricht.<br />

Deshalb ändert es an der Notenverteilung nicht das geringste, wenn sich alle in Konkurrenz<br />

zueinander ausstechen. Sie machen sich nur selbst kaputt. Folglich muß es der entscheidende<br />

Punkt der Gegenwehr gegen das Prüfungssystem sein, möglichst alle Prüfungskandidaten <strong>und</strong><br />

Kandidatinnen zu erfassen <strong>und</strong> gemeinsam auf Konkurrenzbe<br />

101<br />

schränkungen festzulegen: »Niemand schreibt mehr als 15 Seiten de nach Schrift) in den<br />

Klausuren <strong>und</strong> niemand mehr als 120 Seiten in der Diplomarbeit!« Ohne einen solchen<br />

Zusammenschluß gegen die Konkurrenz ist die Gefahr wirklich sehr groß, daß alle positiven<br />

Ansätze der Gegenwehr auf dem Umweg über die Prüfung wieder kaputt gemacht werden!<br />

102<br />

(Nachtrag zur 8. Auflage.,)<br />

Siebtes Kapitel<br />

Chaos als Prinzip<br />

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich immer wieder gezeigt, daß <strong>Uni</strong>-<strong>Angst</strong> <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong><br />

vor allem durch das Chaos an den Hochschulen produziert werden. Niemand weiß, was wirklich<br />

gewußt werden muß, um ein Fach zu beherrschen. So erscheinen die Anforderungen unendlich<br />

<strong>und</strong> können nur noch dem Schein nach durch das gravitätische Niveaugehabe des <strong>Bluff</strong>s erfüllt<br />

werden. Wenn es klar aufgebaute Studiengänge gäbe, in denen die Studierenden Schritt für<br />

Schritt in die Methoden <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>probleme ihres Faches eingeführt würden, <strong>und</strong> sie deutlich<br />

erkennen könnten, welche Bereiche unverzichtbar <strong>und</strong> welche eher exotisch sind, dann wäre<br />

vieles leichter,<br />

Es hat unzählige Versuche gegeben, solche Studiengänge einzurichten. Zuerst kämpften die<br />

hochschulpolitischen Gruppen der Studenten <strong>und</strong> Assistenten darum <strong>und</strong> scheiterten an der<br />

Professorenschaft. Mit ganz anderen Motiven setzte sich dann das Hochschulrahmengesetz das<br />

gleiche Ziel: Das chaotische Studium dauerte zu lange <strong>und</strong> bereitete die Abgänger nicht<br />

genügend auf die Berufsanforderungen vor. Deshalb sollten die <strong>Uni</strong>versitäten mit<br />

Regelstudienzeit <strong>und</strong> Zwangsexmatrikulation dazu gezwungen werden, das Studium zu<br />

»entrümpeln« <strong>und</strong> »auf das Wesentliche« zu beschränken.<br />

Außer an einigen neugegründeten Hochschulen, die samt Studiengängen auf dem Reißbrett<br />

geplant worden sind, bevor es die dazugehörigen Studierenden <strong>und</strong> Lehrenden gab, sind auch<br />

die technokratischen Reformversuche des Hochschulrahmengesetzes sämtlich gescheitert. Zwar<br />

gibt es allenthalben neue Studiengänge <strong>und</strong> große Reformen. Bei ihnen ist aber kaum etwas von<br />

Entrümpelung oder Beschränkung auf das Wesentliche zu merken. Statt dessen lief es überall<br />

dort, wo die bereits vorhandenen Professoren die Reform selbst durchführen <strong>und</strong> in den Gremien<br />

absegnen mußten, so: Jeder Vertreter eines Teilgebietes wehrte sich mit Händen <strong>und</strong> Füßen<br />

dagegen, daß sein Spezialgebiet als »unwesentlich« <strong>und</strong> »entrümpelungswürdig« aus dem<br />

neuen Studiengang herausgeworfen werden könnte, denn damit wären seine Anträge auf<br />

Hilfskräfte, Sekretärinnen <strong>und</strong> Sachmittel für alle Zukunft schwer bedroht. Deshalb sehen die<br />

»reformierten« Studiengänge nahezu überall gleich aus: Zu dem ganzen alten Stoff kamen neue<br />

Sachgebiete hinzu; das alles wurde mit mehr Leistungsdruck <strong>und</strong> schärferen Kontrollen in den<br />

neu vorgeschriebenen Zeitrahmen hineingestopft - wie in einen zu knappen Sack.


103<br />

Es kam, wie es kommen mußte: Der Sack platzte, kaum jemand konnte die Regelstudienzeit<br />

einhalten. Die Zwangsexmatrikulation, die als Schnur zum Zubinden des Sacks gedacht war,<br />

mußte deshalb schon 1980 wieder abgeschafft werden. Gleich einem zu vollen Sack, aus dem<br />

alles herausquillt, wenn man ihn nicht zubindet, so zerfloß auch das Studium wieder in seine alte<br />

chaotische Länge <strong>und</strong> Breite. Die »technokratische Hochschulreform« des<br />

Hochschulrahmengesetzes war an den Professoren gescheitert. Das Chaos herrscht weiter.<br />

Die Schuld daran hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht. Es hat in seinem Urteil gegen das<br />

Niedersächsische Landeshochschulgesetz mit einer recht seltsamen Argumentation die<br />

Hochschulen, die rechtlich <strong>und</strong> haushaltstechnisch öffentliches Eigentum sind, der<br />

Professorenschaft zur privaten Nutzung übereignet. An den Hochschulen gehe es in der Lehre<br />

<strong>und</strong> Forschung um die Wahrheit, <strong>und</strong> die sei kein Gegenstand für Abstimmungen. So weit, so gut.<br />

Anstatt nun aber die Freiheit von Lehre <strong>und</strong> Forschung jedes einzelnen Hochschulmitglieds<br />

gegen Eingriffe der Verwaltung zu sichern, erklärte das Gericht die Professorenschaft insgesamt<br />

(sozusagen als Stand) zu Trägern der Wahrheit - <strong>und</strong> das nicht nur in fachlichen Fragen, sondern<br />

auch in allen Personal- <strong>und</strong> Verwaltungsfragen, die irgend etwas mit Forschung <strong>und</strong> Lehre zu tun<br />

haben. Bei der Studienreform, bei Berufungen <strong>und</strong> in Entscheidungen über Forschung läuft<br />

seither nichts mehr gegen die Prof essorenschaft.<br />

Da die Professoren als Stand solche allentscheidende Macht an den Hochschulen innehaben, ist<br />

es für das Verständnis dessen, was an den Hochschulen läuft, von möglicherweise zentraler<br />

Bedeutung, zu überlegen, wie eigentlich jemand Professor wird. Dabei geht es nicht so sehr um<br />

die ehrwürdigen Großen der Wissenschaft, die immer wieder Rufe erhalten <strong>und</strong> sie benützen<br />

können, um an ihrer Heimatuniversität zusätzliche Vergünstigungen auszuhandeln. Die Masse<br />

der Professorenschaft als Stand sind Männer <strong>und</strong> ganz wenige Frauen, die irgendwann einmal in<br />

eine Professorenstelle hineingekommen sind <strong>und</strong> dort auch sehr lange bleiben. Es sind also nicht<br />

die großen wissenschaftlichen Leuchten wie Max Weber, Einstein, Heisenberg, die diesen Stand<br />

kennzeichnen, sondern die Laufbahnbeamten wie in anderen Bereichen des öffentlichen<br />

Dienstes auch. Um die heutige Hochschule zu verstehen, ist es also wichtig, zu untersuchen, wie<br />

jemand in die professorale Beamtenlaufbahn eintreten kann, denn das »<strong>Wie</strong>« gibt auch Auskunft<br />

über das »Wer«.<br />

Die Aufnahmeprüfung der Professoren ist nicht etwa die Habilitation, die formale Prüfung der<br />

Befähigung zum Professorenstand, die inzwischen wieder zur unverzichtbaren Vorbedingung für<br />

einigermaßen erfolgversprechende Bewerbungen auf Professo<br />

104<br />

renstellen geworden ist. Sie ist wie die Promotion zur notwendigen, aber keinesfalls<br />

hinreichenden Bedingung geworden.<br />

Die eigentlichen Aufnahmebedingungen setzt die Berufungskommission für die erste<br />

Professorenstelle. In dieser Kommission spielen aber zwei recht seltsame Kriterien die<br />

entscheidende Rolle, die mit fachlicher Qualifikation recht wenig zu tun haben. Das erste<br />

Kriterium ist, daß man sich in seinem Fach einen »Namen« gemacht hat über die<br />

Habilitationsprüfung hinaus. In der Wissenschaft macht man sich solch einen »Namen«, indem<br />

man zu seinem normalen bürgerlichen Meier, Schulze oder Müller ein Fachwort des<br />

Wissenschaftszweiges hinzugewinnt, in dem man Karriere machen will. Man wird dann zum<br />

»Krisen-Meier«, »Sozialstaats-Schulze« oder »Dingsbumsda-Müller«. Dieses wissenschaftliche


Vorwort zum normalen Namen erwirbt man sich, indem man sich eine relativ unbearbeitete<br />

Nische in seinem Fachgebiet heraussucht <strong>und</strong> sie dann in einer möglichst langen Serie von<br />

Kongreßbeiträgen <strong>und</strong> Aufsätzen solange beackert, bis alle Kollegen den eigenen Namen mit<br />

dieser Nische verbinden. Hilfreich sind auch komplizierte Fragen auf Fachkongressen, mit denen<br />

man alle möglichen Referenten darauf stößt, daß sie den Aspekt dieser Nische bisher<br />

unverantwortlicherweise vernachlässigt haben. Hilfreicher noch ist eine griffige These, die<br />

unermüdlich wiederholt, wenn auch leicht variiert - sich tief in das Gedächtnis jedes Zuhörers<br />

einprägt. So wird man selbst bei denjenigen, die sich nie die Mühe gemacht haben, die Texte zu<br />

lesen, allgemein als der Schöpfer dieser zitierfähigen These bekannt. Da es in der Wissenschaft<br />

üblich ist, alle unterschiedlichen »Ansätze« zu einem Gegenstand zu referieren, kann man so<br />

selbst mit einer ziemlich unsinnigenThese zu beachtlichem Ruhm gelangen.<br />

Für eine Berufungskommission um eine Eingangsstelle in die Professorenlaufbahn genügt aber<br />

diese Art Bekanntheit keineswegs. Sie ist zwar eine gute Voraussetzung, mit der sich ein<br />

Kandidat von der Masse der habilitierten Mitbewerber abheben kann, doch das professorale<br />

Kollegium hat noch andere Gesichtspunkte zu bedenken. Denn der jetzige Bewerber wird im Falle<br />

seiner Berufung zum wahrscheinlich langjährigen Kollegen. Außer in den Fällen eindeutiger <strong>und</strong><br />

öffentlich bekanntgewordener Genialität müssen die Professoren unter den Bewerbern, die sich<br />

einen »Namen« erworben haben, denjenigen aussuchen, den sie auch als Kollegen erträglich<br />

finden. Dabei machen sich nach meiner über zehnjährigen Erfahrung nur selten irgendwelche<br />

Mitglieder der Kommissionen die Mühe, wenigstens die zentralen Schriften der Bewerber zu<br />

lesen. Die meisten gehen nach dem Eindruck bei der mündlichen Anhörung; sie haben bei all<br />

ihren Belastungen auch gar nicht die Zeit, die wissenschaftlichen Werke<br />

105<br />

all der Bewerber in all den Kommissionen zu lesen, in die sie hineingewählt werden. Unter diesen<br />

Umständen setzt sich nur zu leicht eine Tendenz durch, die in allen Gremien vorherrscht, in<br />

denen eine etablierte Elite sich selbst die neuen Mitglieder aussuchen muß, die zugleich die<br />

neuen Konkurrenten sein werden: Es werden diejenigen bevorzugt, von denen sich die meisten<br />

Mitglieder die geringsten Schwierigkeiten versprechen.<br />

Bei solch einem Kriterium fallen die profilierten, mutigen <strong>und</strong> eigenständigen Bewerber tendentiell<br />

durch <strong>und</strong> die grauen Mäuse, die sich in einer geschützten Nische zu einem »Namen«<br />

hochgearbeitet haben, werden bevorzugt. Solche grauen Mäuse in ihren Nischen sind die<br />

geringste Gefahr - hochschulpolitisch in den Kämpfen der Fraktionen, stellenpolitisch im Kampf<br />

um die Haushaltspositionen <strong>und</strong> auch im normalen Kampf der Eitelkeiten. Dieser<br />

Auswahlmechanismus sorgt dafür, daß unkonventionelle Wissenschaftler, politisch unangepaßte<br />

Stimmen <strong>und</strong> selbstbewußte Persönlichkeiten unter den Bewerbern kaum jemals zum Zuge<br />

kommen <strong>und</strong> eher die profilose Normalität, das handwerkliche Können <strong>und</strong> die aufstiegsbewußte<br />

Anpassungsfähigkeit den Zugang zur Professorenlaufbahn findet. Von wenigen Ausnahmen<br />

abgesehen, etabliert sich so im Professorenstand eine Ansammlung <strong>und</strong> damit auch eine<br />

Herrschaft der »grauen Mäuse«, die sich in irgendwelchen mehr oder weniger exotischen<br />

Nischen des Wissenschaftsbetriebes hochgearbeitet haben <strong>und</strong> ihre Studenten <strong>und</strong> Assistenten<br />

immer wieder neu auf diese Nischen ansetzen werden.<br />

Das ist mit ein Gr<strong>und</strong> dafür, daß sich beinahe alle Fächer immer weiter ausdehnen <strong>und</strong> in immer<br />

neuen Spezialgebieten verzetteln. Vermutlich sind ganze Wissenschaftsgebiete auf diese Weise<br />

entstanden - weniger aus inhaltlich-sachlichen Gründen als aufgr<strong>und</strong> der inneren Gesetze einer<br />

Bürokratie beamteter Stelleninhaber, die keinen Konkurrenten neben sich dulden, es sei denn, er<br />

steigt in einer neuen, ungefährlichen Nische neben ihnen auf.


Wichtiger aber <strong>und</strong> folgenreicher noch: Die Inhaber der unterschiedlichen Nischen nehmen sich<br />

gegenseitig fachlich kaum noch zur Kenntnis. Die Zeiten sind längst vorbei, als die Professoren<br />

eines großen Sachgebietes alle Publikationen ihrer Kollegen begierig lasen <strong>und</strong> kritisch<br />

kommentierten. Heute sind die Professoren so überlastet, daß sie gerade noch die Entwicklungen<br />

in ihrer Nische verfolgen können, aber kaum eine Ahnung haben von dem, was ihre Kollgen<br />

fachlich leisten, mit denen sie in Verwaltung, Forschung <strong>und</strong> Lehre in den Gremien kooperieren<br />

müssen - sie kennen nur das bekannte Präfix zu deren »Namen«. Das Ergebnis ist, daß es<br />

keinen einheitlichen Begriff von »Fach« mehr gibt <strong>und</strong> daß sich die professoralen Kollegen<br />

untereinander über ihre Nische hinaus kaum mehr fachlich auseinandersetzen können,<br />

106<br />

ohne <strong>Angst</strong> davor zu haben, als »unfähig« entlarvt zu werden. Das ist aber im Kern die gleiche<br />

<strong>Angst</strong>, die der Student oder die Studentin im ersten Semester hat: sich in Gegenwart von anderen<br />

Studierenden über irgend ein Thema zu äußern, über das sie oder er nicht genau Bescheid weiß.<br />

Für Professoren ist die Situation aber einfacher, weil in den Gremien kaum jemals fachliche<br />

Details zur Sprache kommen. Es geht um Allgemeines. Und in der Kommunikation zwischen<br />

diesen Kollegen, die fachlich kaum etwas übereinander wissen, aber alles befürchten müssen,<br />

entsteht dann ein inhaltsleerer Jargon, der allgemeine Kompetenz <strong>und</strong> hohes Niveau signalisiert.<br />

Solches Niveau wird zum gravitätischen Habitus des Professorenstandes. Es wird zur zweiten<br />

Natur, da allen Menschen, die in der Nische nicht zu Hause sind, die Wissenschaftlichkeit <strong>und</strong> die<br />

fachliche Qualifikation nicht durch inhaltliche Stellungnahmen bewiesen werden kann, sondern<br />

eben nur durch das gravitätisch niveauvolle Gehabe. Ohne dieses Gehabe wäre im Kampf um<br />

Stellen, Aufstieg <strong>und</strong> Gelder bei den Kollegen kein Blumentopf zu gewinnen, denn über die<br />

wirkliche Qualifikation weiß kaum einer Bescheid. So wird der <strong>Bluff</strong>, das inhaltsleere Geklingel mit<br />

Niveau <strong>und</strong> Qualifikation, schon bevor er zwischen den Studierenden in ihrer besonderen<br />

Konkurrenz entsteht, von den Professoren als den Spitzen der Institution Hochschule modellhaft<br />

vorgelebt.<br />

<strong>Wie</strong> weit das geht, kann ich an einem Beispiel deutlich machen, das mich 1971 überhaupt erst<br />

auf die ganzen Überlegungen zum <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong> gebracht hat. Damals saß ich als<br />

Assistentenvertreter in einer Kommission zur Ausbildungsreform. Auf dem Weg zu einer der<br />

unendlich langweiligen Wochenend-Marathonsitzungen mit hohem wissenschaftlichem Niveau<br />

<strong>und</strong> tiefschürfenden Ausführungen meiner Kollegen kam ich mit einer befre<strong>und</strong>eten<br />

Studentenvertreterin an einem Schaufenster einer naturwissenschaftlichen Buchhandlung vorbei.<br />

Da war eine ganze Ecke der Holographie gewidmet. Damals war für diese räumliche<br />

Darstellungsweise mit Laserstrahlen noch kein Nobelpreis vergeben worden, <strong>und</strong> ich wußte nicht,<br />

was das Wort bedeutete. Durch die vorherigen Sitzungen der Kommission war ich bereits so<br />

aufgebracht, daß ich mit der Studentin eine Wette abschloß: Ich würde in der Sitzung des Wort<br />

Holographie dreimal einbringen, <strong>und</strong> alle Professoren würden mir zustimmend zunicken oder<br />

schweigen, ohne mir eine Erklärung abzuverlangen. Ich habe die Wette nicht gewonnen, weil ich<br />

beim drittenmal so sehr lachen mußte, daß doch jemand nachfragte. Davor aber war es mir<br />

zweimal gelungen, mit diesem Begriff allgemeines Kopfnicken oder zustimmendes Schweigen zu<br />

ernten. Als jemand sagte, man müsse den kybernetischen Aspekt (oder ähnliches)<br />

berücksichtigen, hatte ich mit klopfendem Herzen hinzugefügt, daß man dabei aber den<br />

holographischen Ansatz<br />

107


nicht vernachlässigen dürfe. Ich hatte mit etwas, von dem ich selbst nicht wußte, was es war, in<br />

einem überwiegend professoralen Fachbereichsgremium vollen Erfolg gehabt, nur weil es aus<br />

einer Nische stammte die keiner der anwesenden Kollegen kannte.<br />

Diese niveauvoll gravitätische Toleranz aus <strong>Angst</strong> vor der Entlarvung ist letztlich der Gr<strong>und</strong> für<br />

das Scheitern aller Studienreformversuche an Hochschulen, an denen es bereits einen Stamm<br />

von Professoren gibt. Jeder Kollege kann seine Forderungen unterbringen, weil kein anderer sie<br />

als unwesentlich oder als nicht zum Kern gehörig angreifen kann <strong>und</strong> will. Es fehlt die fachliche<br />

Kompetenz. Es fehlt aber auch das Interesse. Das Hauptinteresse liegt nämlich darin, durch<br />

Forschungsaufträge <strong>und</strong> Stellenerweiterungen die eigene Nische auszubauen. Die Lehre ist dazu<br />

eine notwendige, aber eher störende Voraussetzung. Denn würde der Nische die Berechtigung<br />

zur Lehre im Kernbereich des Studiums abgesprochen, wäre sie gleichzeitig zur<br />

Bedeutungslosigkeit auch in allen anderen Anträgen auf Sach<strong>und</strong> Personalmittel verdammt.<br />

Dennoch bleibt die Lehre auch für den fertigen Professor so uninteressant für die weitere<br />

Karriere, wie sie vorher für den promovierenden oder habilitierenden Assistenten war. Wer eine<br />

weitere Karriere machen will, schafft sie auch jetzt nur durch Veröffentlichungen <strong>und</strong><br />

Kongreßbesuche, ob sie aus eigener Feder stammen oder nur über seine Assistenten von ihm<br />

gemanagt werden. Ob er sich mit dem Professorentitel seinen weiteren Aufstieg in Forschung,<br />

Wirtschaft oder Politik erkämpfen will, die Lehre bleibt dafür eher hinderliche Belastung. Und<br />

doch muß er in ihr vertreten sein: denn kein Lehrstuhl ohne Lehre.<br />

Das sind die Gründe, weshalb die meisten Professoren zwar darauf drängen, daß ihre spezielle<br />

Nische gleichwertig mit den anderen als unverzichtbar in den Pflichtteil des Studiums<br />

aufgenommen wird, aber sich in der Lehre doch nie so weit engagieren, daß sie zu zuverlässigen<br />

Trägern einer rationalen Reform <strong>und</strong> zum Organ einer sinnvollen Ausbildung werden könnten. An<br />

allen Hochschulen, wo es schon vor der Reform Professoren gab <strong>und</strong> sie nicht wie an den<br />

Neugründungen erst hinterher in vorgegebene Lehrpläne hineinberufen wurden, ist das Ergebnis<br />

entsprechend: erhöhter Leistungsdruck bei Fortbestehen des Chaos. Denn die bloße Addition<br />

von Nischen kann nichts anderes ergeben.<br />

So bleibt Chaos das Prinzip, das die Hochschulen regiert. Der Witz daran ist aber, daß dieses<br />

herrschende Prinzip die Ziele, die einstmals mit der technokratischen Hochschulreform des<br />

Hochschulrahmengesetzes angestrebt worden waren, überhaupt nicht gefährdet, wie eigentlich<br />

anzunehmen wäre. Im Gegenteil: Ich glaube, daß durch das Chaos diese Ziele sogar besser<br />

erreicht werden, als es die aufwendigen Maßnahmen der Bildungsplaner je ermöglicht hätten.<br />

Diese Ziele waren:<br />

108<br />

- ökonomisierung der Ausbildung, d. h., möglichst großen<br />

Ausstoß bei geringsten Kosten;<br />

- Flexibilität <strong>und</strong> Multifunktionalität als Ausbildungsziele, da nicht mehr bestimmte Inhalte <strong>und</strong><br />

Berufsbilder über ein ganzes Berufsleben gültig bleiben <strong>und</strong> deshalb Anpassungsfähigkeit die<br />

wichtigste Qualifikation ist;<br />

- differenzierte Elitenbildung, d. h., die frühere Akademikerschicht mit garantiertem Zugang zu<br />

den höchsten Berufsmöglichkeiten muß sich differenzieren nach den Möglichkeiten des<br />

Arbeitsmarktes, von den mittleren Verwaltungstätigkeiten bis zur führenden Spitzenstellung.


Das Chaos als herrschendes Prinzip scheint auf den ersten Blick das genaue Gegenteil vom<br />

ersten Ziel, der Ökonomisierung, zu bewirken. Die Kultusministerien haben sich aber inzwischen<br />

darauf eingestellt <strong>und</strong> regieren selbst mit dem Mittel des Chaos, indem sie einfach in den<br />

Bereichen, in denen zuviele Absolventen produziert werden oder die Kosten unvertretbar steigen,<br />

die Sachmittel streichen <strong>und</strong> die Stellen blockieren. Die betroffenen Bereiche protestieren zwar<br />

heftig, müssen dann aber doch lernen, mit den geringeren Mitteln <strong>und</strong> Stellen auszukommen. Das<br />

Chaos wird dadurch immer größer, doch das fällt nach außen kaum noch auf.<br />

Es ist sogar das ideale Mittel, um das zweite Ziel zu erreichen, das Ausbildungsziel Flexibilität<br />

<strong>und</strong> Multifunktionalität. Denn die Ökonomisierung, die so auf die Lehrkräfte <strong>und</strong> von denen auf<br />

die Studierenden abgewälzt wird, erzeugt an den Fachbereichen die Bedingungen eines<br />

sozialdarwinistischen Dschungels, in dem nur die Anpassungsfähigsten <strong>und</strong> Stärksten überleben,<br />

die sich dann auch allen Berufsbedingungen stellen könne, ob sie mit dem bisherigen Studium<br />

etwas zu tun haben oder nicht.<br />

Das Prinzip Chaos sorgt in der gleichen Weise dafür, daß das dritte Ziel, die differenzierte<br />

Elitenbildung, erreicht wird. Da nur die Anpassungsfähigsten <strong>und</strong> Selbständigsten das Studium<br />

schaffen <strong>und</strong> sogar noch ein weiterführendes Studium bis zum Doktortitel durchstehen, kann die<br />

weitere Elitenauswahl beruhigt dem Arbeitsmarkt überlassen werden. Wenn die Absolventen<br />

lange genug arbeitslos <strong>und</strong> ohne Unterstützung durchgehangen haben, werden sie sich schon<br />

dazu bequemen, auch weniger gut bezahlte <strong>und</strong> renommierte Jobs anzunehmen.<br />

Da das Prinzip Chaos also die Ziele des Hochschulrahmengesetzes mit weniger<br />

Verwaltungsaufwand <strong>und</strong> für den Staat letztlich sogar billiger durchsetzt, gibt es für die<br />

staatlichen Stellen immer weniger Anlaß, direkt in die Entwicklung der Fächer <strong>und</strong> in ihren<br />

Studienaufbau einzugreifen. Es genügt, die Gesamtentwicklung der Fächer finanziell zu steuern,<br />

sie auszudehnen oder einzu<br />

109<br />

schränken. Alles andere regelt sich von selbst in seinem gewohnten chaotischen Gang - auf<br />

Kosten der Studierenden.<br />

Genau betrachtet, ist diese Art Reform auch viel kapitalismuskonformer als die »große<br />

Planifikation«, »die Unterwerfung unter das Kapital« oder die »technokratische Reform«, wie sie<br />

jahrelang in den Flugblättern prophezeit worden ist, denn nichts entspricht dieser<br />

Gesellschaftsform so sehr wie das Chaos des Warenmarkts mit seinem »jeder für sich selbst <strong>und</strong><br />

gegen alle anderen«.<br />

Das Chaos als herrschendes Prinzip der Hochschulpolitik steigert aber die Probleme für die<br />

Studierenden ins schier Unerträgliche. Trotz aller Studienordnungen <strong>und</strong> Vorschriften ist es allein<br />

ihre Erfingungsgabe, ihr Kraftaufwand, ihr Einsatz von Zeit <strong>und</strong> Geld, wodurch die Hochschulen<br />

überhaupt noch weiterfunktionieren. Sie werden sozusagen von der Institution <strong>Uni</strong>versität selbst<br />

gegen alle offiziellen Pläne <strong>und</strong> Vorschriften zum subversiven Studium verpflichtet. Denn die<br />

Pläne <strong>und</strong> Vorschriften spiegeln nur vor, sinnvolles Studieren zu ermöglichen. Dieser Anspruch<br />

selbst ist <strong>Bluff</strong>, da sie nur die weniger oder besser arrangierte Addition der vorhandenen Nischen<br />

sind. Die Herrschaft des <strong>Uni</strong>-<strong>Bluff</strong>s wird aber auch ansonsten durch die grauen Mäuse in ihren<br />

Nischen stetig befestigt. Da sie kaum etwas übereinander fachlich wissen <strong>und</strong> auch kaum jemals<br />

fachlich miteinander kommunizieren, gibt es statt inhaltlicher Auseinandersetzungen nur noch das<br />

inhaltsleere, gravitätische Gehabe vom hohen Niveau, das der bloßen Verwaltung des Chaos den<br />

schönen Schein von Sinn <strong>und</strong> Wissenschaftlichkeit gibt. Tatsächlich nützliche Wissenschaft <strong>und</strong>


sinnvolles Studium kann in den Hochschulen, wie sie gegenwärtig konstruiert sind, nur gegen die<br />

Institution verwirklicht werden, gegen ihre Vorschriften <strong>und</strong> Pläne, gegen ihre Ansprüche <strong>und</strong> vor<br />

allem gegen ihr »Niveau«.<br />

(Januar 1982)<br />

110<br />

Verzeichnis der angeführten Literatur<br />

Achterberg, 1974; Bernhard: »<strong>Angst</strong> - Erfahrung« in: <strong>Angst</strong>, Erfahrungsberichte, Analysen <strong>und</strong><br />

Kritik zu »<strong>Angst</strong> im Kapitalismus«; Lampertheim, S. 9-47.<br />

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Professoren <strong>und</strong> Dozenten; Tübingen.<br />

Appel, Groebel, 1975: »Sozialisationseffekte in Ingenieurstudiengängen. Ausbildung <strong>und</strong><br />

Ausprägung von Haltungen <strong>und</strong> Einstellungen mit Bedeutung für spätere Berufsausübung« in:<br />

Sozialisation in der Hochschule, Blickpunkt Hochschuldidaktik 37; Hamburg, S. 230-238.<br />

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Medizin 14.<br />

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19, H. 4, S. 137-153.<br />

Bourdieu, Passeron, 1971; Pierre <strong>und</strong> Jean-Claude: Die Illusion der Chancengleichheit -<br />

Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs; Stuttgart.<br />

Branahl, Francke, 1975; Udo <strong>und</strong> Robert: »Hochschulsozialisation <strong>und</strong> Berufspraxis von Juristen«<br />

in: Sozialisation in der Hochschule; Blickpunkt Hochschuldidaktik 37; Hamburg, S. 260-274.<br />

Bürmann, 1975; Jörg: »Kritische Anmerkungen zum gegenwärtigen Interesse der<br />

Hochschuldidaktik an Problemen der Hochschulsozialisation« in: Sozialisation in der Hochschule,<br />

Blickpunkt Hochschuldidaktik 37; Hamburg, S. 48-69.<br />

Bull, Weber-Unger, 1976; Monika <strong>und</strong> Steffi: Übergangsprobleme von Schule zu Hochschule bei<br />

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Gruppen« in: Lernen in der Hochschule, Blickpunkt Hochschuldidaktik 22; Hamburg, S. 31-57.<br />

Cohn, 1974; Ruth C.: »Zur Gr<strong>und</strong>lage des themenzentrierten interaktionellen Systems« in:<br />

Gruppendynamik, Jg. 5, H. 3, S. 150-159.


Diepold, 1975; Peter: »Gruppendynamik in wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Massenveranstaltungen« in: Gruppenarbeit <strong>und</strong> Tutorenausbildung, Blickpunkt Hochschuldidaktik<br />

38; Hamburg, S. 60-64.<br />

Doerry, 1972; Gerd: »Gruppendynamische Prozeßanalyse in Seminaren« in:<br />

Gruppendynamische Experimente im Hochschulbereich, Blickpunkt Hochschuldidaktik 24;<br />

Hamburg, S. 12-28.<br />

Duhm, 1974; Dieter: Warenstruktur <strong>und</strong> zerstörte Zwischenmenschlichkeit; Köln.<br />

Eckstein, 1972; Brigitte: »Gruppendynamische Arbeit mit Tutoren an der Hochschule« in:<br />

Gruppendynamische Experimente im Hochschulbereich, Blickpunkt Hochschuldidaktik 24;<br />

Hamburg, S, 29-34.<br />

Eckstein, 1975; Brigitte: »Zur Sozialisation der Hochschullehrer« in: Sozialisation in der<br />

Hochschule, Blickpunkt Hochschuldidaktik 37; Hamburg, S. 167-174.<br />

Eisenberg, Thiel, 1973; Götz <strong>und</strong> <strong>Wolf</strong>gang: Fluchtversuche - Über Genesis, Verlauf <strong>und</strong><br />

schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung; Gießen.<br />

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Freire, 1973; Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit; Reinbek.<br />

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Gärtner-Harnach, 1972; Viola: <strong>Angst</strong> <strong>und</strong> Leistung; Weinheim.<br />

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Ziolko; Stuttgart.<br />

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Gorz, 1975; Andrè: »Zerschlägt die <strong>Uni</strong>versität!« in: Sozialistisches Jahrbuch 3; Berlin.<br />

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Jahnke, Ziolko, 1969; S. <strong>und</strong> H.-U.: »Untersuchungen an ausländischen Studenten bei<br />

neurotischen Störungen« in: Psychische Störungen bei Studenten; Stuttgart, S. 245-256.<br />

Jenne, u. a., 1969; Michael; Krüger, Marlis; Müller-Plantenberg, Urs: Student im Studium -<br />

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Stuttgart.<br />

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Kirsten, Mente, 1975; Herbert <strong>und</strong> Arnold: »Ein Modell für partnerzen<br />

112<br />

trierte Gruppenarbeit als Beitrag zur Hochschuldidaktik« in: Gruppendynamik, Jg. 6, H. 4, S.<br />

256-260.<br />

Klöckner, 1977; Beate: »Unter lauter Männern« in: Frauen, Kursbuch 47-1 Berlin, Seite 27-42.<br />

Krohne, 1976; Heinz W.: Theorien zur <strong>Angst</strong>; Stuttgart.<br />

Kudera, Graeßner, 1974; Werner <strong>und</strong> Dietrich-Eckart: Projekt-. Hochschuldidaktik; Hannover.<br />

Leutz, 1975; Grete A.: »Imagination <strong>und</strong> Psychodrama« in: Gruppendynamik, Jg. 6, S. 97-104.<br />

Lungershausen, 1968; E.: Selbstmorde <strong>und</strong> Selbstmordversuche bei Studenten; Heidelberg.<br />

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Mahler, 1971; Eugen: Psychische Konflikte <strong>und</strong> Hochschulstruktur Gruppenprotokolle; Frankfurt<br />

a. M.<br />

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5, S. 319-329.<br />

Metz-Göckel, 1975; Sigrid: Theorie <strong>und</strong> Praxis der Hochschuldidaktik Modelle der Lehr- <strong>und</strong><br />

Lernorganisation; Frankfurt a. M.<br />

Möller, 1974-, B.: Widersprüche überleben!, hektographiertes Manuskript; Tübingen.<br />

Möller, Korte, 1972: Elke <strong>und</strong> Hermann: Sozialer Numerus clausus: studentisches Wohnen;<br />

Hannover - HIS-Brief 25.


Moeller, 1971; M. L.: »Die Prüfung als Kernmodell psychosozialer Konflikte« in.<br />

Hochschulprüfungen - Rückmeldung oder Repression, Blickpunkt Hochschuldidaktik 13;<br />

Hamburg, S. 28-34.<br />

Moeller, Scheer, 1974; Michael L. <strong>und</strong> Jörn W.: Psychotherapeutische Studentenberatung -<br />

Probleme der Klienten, Problematik der Institution; Stuttgart.<br />

Morgenstern, 1972; W. X.: »Botschaft - Appell - Flucht, Selbstmord <strong>und</strong> Selbstmordversuch bei<br />

Studenten« in: Analysen - Zeitschrift für Wissenschafts<strong>und</strong> Berufspraxis, Jg. 2, Nr. 1, S. 28.<br />

Müller, 1976; Ludmilla: »Kinderaufzucht im Kapitalismus - wertlose Arbeit; über die Folgen der<br />

Nichtbewertung der Arbeit der Mütter für das Bewußtsein der Frauen als Lohnarbeiterinnen« in:<br />

Prokla 22, S. 13-65.<br />

Neef u. a., 1975; <strong>Wolf</strong>gang; Schoembs, Harald; Wagemann, Carl-Hellmuth: »Fünf Thesen zum<br />

Thema >Sozialisation in der Hochschule in: Sozialisation in der Hochschule, Blickpunkt<br />

Hochschuldialektik 37, Hamburg.<br />

Oehler, 1974; Christoph: Student <strong>und</strong> Studienberatung - Bericht über die Befragung von<br />

Studienanfängern <strong>und</strong> Vorschläge zum Aufbau eines Studienberatungssystems an einer<br />

Großstadtuniversität; Frankfurt a. M,<br />

Oelschläger, Müller, 1973; Dieter <strong>und</strong> C. <strong>Wolf</strong>gang: »<strong>Wie</strong> man sein Studium organisieren kann«<br />

in: Der andere Studienführer hrsg. Lothar Schweim; Weinheim.<br />

Ottwaska, 1971; Gertrud: Studienbedingungen - Prüfungsleistungen Berufserfolg, Eine<br />

Untersuchung zur Effektivität des Studiums der<br />

113<br />

Wiftschaftswissenschaften an der <strong>Uni</strong>versität Mannheim in den Jahren 1958 <strong>und</strong> 1966; Blickpunkt<br />

Hochschuldidaktik 15, Hamburg.<br />

Pätzold, 1972; Bjorn: Ausländerstudium in der BRD - Ein Beitrag zur Imperialismuskritik; Köln.<br />

Piontkowski, 1973; Ursula: Interaktion <strong>und</strong> Wahrnehmung in Unterrichtsgruppen; Münster.<br />

Prior; 1972; Harm: »Gruppendynamik <strong>und</strong> politisches Lernen« in: Gruppendynamische<br />

Experimente im Hochschulbereich, Blickpunkt Hochschuldidaktik 24; Hamburg, S. 92-98.<br />

Reiss, 1975; Veronika: »Die theoretischen Naturwissenschaften als Sozialisationsumwelt für<br />

Studenten« in: Sozialisation in der Hochschule, Blickpunkt Hochschuldidaktik 37; Hamburg, S.<br />

214-229.<br />

Robinson, 1961; F. P.: Effective Study; New York, Evanston, London.<br />

Saterdag, Apenburg, 1972; Hermann <strong>und</strong> Eckhard: 0-ientierungsprobleme <strong>und</strong><br />

Erfolgsbeeinträchtigungen bei Studierenden - Saarbrükker Studien zur Hochschulentwicklung 14;<br />

Saarbrücken, hektographiertes Manuskript.


Scheer, Zenz, 1973; Jörn W. <strong>und</strong> Helmuth: Studenten in der Prüfung Eine Untersuchung zur<br />

akademischen Initiationskultur; Stuttgart.<br />

Scholz, 1975; Gudrun: Selbsterfahrungsgruppen in pädagogischen Studiengängen; Blickpunkt<br />

Hochschuldidaktik 36; Hamburg.<br />

Sienknecht, 1976; Jens: Selbsterfahrung im Lehrerstudium; München, Berlin <strong>und</strong> <strong>Wie</strong>n.<br />

Sperlin, Jahnke, 1974; Eckhard <strong>und</strong> Jürgen: Zwischen Apathie <strong>und</strong> Protest, 2 Bände. Band 1:<br />

Studentenprobleme <strong>und</strong> Behandlungskonzepte einer ärztlich-psychologischen Beratungsstelle;<br />

Bern, Stuttgart, <strong>Wie</strong>n.<br />

Student, 1966; Der Spiegel legt vor: Der deutsche Student - Situation, Einstellungen <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen. Ergebnisse einer Repräsentativerhebung an 26 deutschen <strong>Uni</strong>versitäten <strong>und</strong><br />

Hochschulen, durchgeführt im Auftrag des Spiegel vom Institut für Demoskopie Allensbach<br />

1966/67. Broschüre.<br />

Teuwsen, 1975; E.: »Klientenzentrierte Selbsterfahrungsgruppen in der Studentenberatung« in:<br />

Gruppendynamik, Jg. 6, H. 4, S. 250-255.<br />

Tübinger Autorenkollektiv, 1976; Selbstorganisation <strong>und</strong> Politisches Lernen, Versuche zur<br />

Initiierung selbstgesteuerter Lernprozesse in der Lehrerbildung; Blickpunkt Hochschuldidaktik 41;<br />

Hamburg.<br />

<strong>Wagner</strong>, 1., 1969; »Über den Einfluß von Situationsfaktoren in Leistungsprüfungen« in:<br />

Psychische Störungen bei Studenten, Stuttgart, S. 170-182.<br />

Weber, 1973; Norbert: Privilegien durch Bildung. Über die Ungleichheit der Bildungschancen in<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland; Frankfurt a. M.<br />

Wilcke, 1976; Bernd-Achim: Studienmotivation <strong>und</strong> Studienverhalten; Göttingen, Toronto, Zürich.<br />

114<br />

Nachtrag<br />

Hier will ich mit Auszügen aus den Studienberichten von drei Studentinnen, denen es gelungen<br />

ist, sich trotz großer Schwierigkeiten an der <strong>Uni</strong> zurechtzufinden, zeigen, wie so etwas im<br />

wirklichen Studienverlauf aussehen kann. Die Studienberichte sind so zusammengestrichen, daß<br />

sich keine Rückschlüsse auf die Personen ziehen lassen.<br />

»Der Sprung von der Schule, aus einem relativ sicheren sozialen Umfeld, an die <strong>Uni</strong> <strong>und</strong> in eine<br />

Stadt, in der ich, außer einigen Verwandten, niemand kannte, war nicht einfach, <strong>und</strong> das erste<br />

Semester war beansprucht durch die Suche nach einer Wohnung <strong>und</strong> den Versuch, die (auch<br />

durch die <strong>Uni</strong>-Atmosphäre verursachte) Verunsicherung loszuwerden. Ich konnte mit den beiden<br />

Gr<strong>und</strong>kursen nicht viel anfangen, wohl auch deshalb, weil ich viel zu sehr mit mir selbst<br />

beschäftigt war, als daß ich für irgend etwas anderes hätte Interesse aufbringen können.<br />

Der Streik gegen die Berufsverbote hat die Unbetroffenheit <strong>und</strong> das Abgehobene der <strong>Uni</strong>versität<br />

(es fällt mir schwer, diesen Zustand, in dem ich mich der <strong>Uni</strong> gegenüber befand, näher zu


eschreiben) aufgebrochen, gerade auch durch Diskussionen über Anonymität im Studium <strong>und</strong><br />

Organisationsstrukturen desselben.<br />

Die Schwierigkeit, mich bei Diskussionen in den Massenveranstaltungen zu beteiligen, hatte ich<br />

verloren, als es um den Streik ging, wohl auch deshalb, weil es mir leichter fällt, Hemmungen zu<br />

überwinden, wenn es um Dinge geht, die mich betroffen machen. ( ... ) Die<br />

Arbeitsgruppenerfahrung im 2. Semester war die, daß wir uns zwar persönlich näherkamen,<br />

unsere gemeinsamen Aktivitäten sich aber auch darauf beschränkten, einige dufte Erfahrungen<br />

miteinander zu machen - immerhin, wir dem Anspruch aber, unsere Gruppenarbeit gemeinsam zu<br />

erstellen <strong>und</strong> zu diskutieren, nicht gerecht werden konnten <strong>und</strong> jeder seinen Teil individuell<br />

erstellte. ( ... )<br />

Das dritte Semester brachte insofern einen entscheidenden Einschnitt, als sich hier Kontakte an<br />

der <strong>Uni</strong> verfestigten, die in ihrer Entwicklung zu einem Studienkollektiv führen sollten.<br />

Das Gefühl, daß sich mein Leben tatsächlich immer mehr in Berlin abspielte, <strong>und</strong> auch<br />

entscheidende Veränderungen meiner selbst veranlaßten mich, den ehemals sehr verlockenden<br />

Plan aufzugeben, mit Fre<strong>und</strong>en, die ich noch aus der Schulzeit kannte, eine Wohngemeinschaft<br />

in Tübingen aufzubauen. Gespräche über Studieninhalte, politische Arbeit, Alltagssituationen<br />

ließen mich Erfahrungen viel bewußter erleben, brachten Auseinandersetzungen über unsere<br />

eigene Geschichte, unsere Berufswünsche <strong>und</strong> unser durch gesellschaftliche Normen geprägtes<br />

Sein mit sich. Daraus resultierte die Fähigkeit, vieles in Frage zu stellen oder einfach bewußt zu<br />

leben.«<br />

115


»Zwischen Bergen von Literatur, mehr oder weniger chaotischen Arbeitsgruppensitzungen <strong>und</strong><br />

trockenen Seminaren konnte ich im 1. Semester weder die Seminare in Zusammenhang bringen,<br />

geschweige denn mich mit eben diesen.<br />

Dermaßen desorientiert, war ich nicht nur an der <strong>Uni</strong>, sondern auch bezüglich der Stadt Berlin,<br />

denn ich hatte bis zu meinem Eintreffen hier keinerlei soziale Kontakte.<br />

Viel mehr als die Seminare (Inhalt <strong>und</strong> Form) berührte mich der Streik gegen die Berufsverbote.<br />

Im Streikrat, als Streikposten <strong>und</strong> als eifriger VV-Besucher gewann ich Einblick in die<br />

Hochschulpolitik - lernte z. B. die diversen politischen Hochschulgruppen kennen <strong>und</strong><br />

unterscheiden. Nicht zuletzt schloß ich auch in der StreikCafeteria die ersten Fre<strong>und</strong>schaften.<br />

Angesichts der Auseinandersetzung mit den Berufsverboten, den direkten Erfahrungen mit den<br />

parteilichen Medien <strong>und</strong> schlagkräftigen Polizeiknüppeln, änderte oder präzisierte sich mein<br />

politisches Selbstverständnis. Das hatte vor allem Auswirkungen auf das Verhältnis zu meinen<br />

Eltern <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en aus Westdeutschland (Bayern!) ( ... )<br />

Eigentlich hat mein Studium erst mit dem 3. Semester begonnen, d. h. es hat sich soweit entfaltet,<br />

daß es mir zur Befriedigung gereicht. Es lassen sich inhaltliche Bezüge zwischen den Seminaren<br />

herstellen, <strong>und</strong> vor allem bietet sich mir die Möglichkeit der Identifikation. Die Kombination von<br />

theoretisch-philosophischen Aspekten, theoretisch-ökonomischen <strong>und</strong> praktisch anschaulichen<br />

vermittelt mir das Gefühl, in einen Themenbereich in seiner ganzen Komplexität vorzudringen.<br />

Neben dieser >thematischen Geborgenheit< spielt auch die persönliche eine große Rolle, die,<br />

obgleich schon in den ersten Semestern aufgebaut, jetzt erst zum Tragen kommt. Gruppenarbeit<br />

ist nicht mehr nur Postulat, sondern läßt sich realisieren.«<br />

»Recht zuversichtlich trat ich meinen Weg ins erste Semester an. Dieses Seminar entsprach vom<br />

Thema her voll meinem Interesse. Da ich mich zusammen mit einem Kommilitonen gleich für das<br />

erste Referat gemeldet hatte, mußte ich mich sofort in die Arbeit stürzen. Auf diesem Weg lernte<br />

ich in kürzester Zeit Gruppenarbeit, die gut funktionierte, die <strong>Uni</strong>versitätsbibliothek, richtiges<br />

Zitieren <strong>und</strong> >den M<strong>und</strong> aufmachen müssen< kennen. Mit meinem Einstieg war ich zufrieden,<br />

bald jedoch kam ich mit den weiteren Sitzungen, mit der oft abgehobenen Diskussionsweise nicht<br />

mehr zurecht. Ober meine eigenen Papiere hinaus glaube ich nichts hinzugelernt zu haben;<br />

Zusammenhänge gingen verloren, <strong>und</strong> z. T. wußte ich gar nicht mehr, was das eine Thema mit<br />

dem anderen zu tun hatte.<br />

116<br />

Auch wenn durch die langen Semesterferien Kontinuität oft schwer gemacht wird, trafen wir uns<br />

zu Beginn des Wintersemesters, um im Vorlesungsverzeichnis ein Seminar zu finden, das<br />

unseren gemeinsamen Interessen entsprach.<br />

Uns als Studienkollektiv zu bezeichnen, obwohl wir ein solches werden wollten, wäre übertrieben.<br />

Teile unsererdamaligen Arbeitsgruppe sowie der >harte Kern< sindjedoch nach wie vor der<br />

Meinung, daß es unbedingt notwendig ist, über mehrere Semester hinweg mit denselben Leuten<br />

zusammenzuarbeiten. Persönlich kamen wir uns zwar in den Gruppensitzungen näher,<br />

andererseits haben wir allzu oft die einfachsten Entschuldigungen für Nichtstun akzeptiert, so daß<br />

wir inhaltlich zu unserem Arbeitsthema kaum vorwärts kamen. Ferner unterbrachen der Streik<br />

gegen das HRG -jeder von uns wollte aktiv daran teilnehmen - <strong>und</strong> die Weihnachtsferien unsere<br />

Gruppensitzungen. In der anstehenden konkreten Arbeitsphase waren,dann nur noch drei Leute


auf sich zurückgeworfen. Für mich war diese Situation sehr unbefriedigend, weil der Reflexions-<br />

<strong>und</strong> Diskussionsprozeß Überhaupt nicht stattfand. Wir restlichen drei hatten das Gefühl, ein total<br />

oberflächliches Papier abgeliefert zu haben, obwohl wir gerade dies verhindern wollten. Nach<br />

einigen selbstkritischen Gesprächen ist uns klar geworden, daß wir persönliches Interesse <strong>und</strong><br />

intensive inhaltliche Arbeit mit ein wenig Selbstdisziplin verbin<br />

den müssen, um ein gutes Gruppengesarntgefühl zu erreichen. ( ... ) Innerhalb des Kapitalkurses,<br />

den ich in diesem Semester begonnen hatte, <strong>und</strong> während des Streiks habe ich an vielen<br />

Gesprächen über Kommunikationsschwierigkeiten <strong>und</strong> den vielzitierten <strong>Uni</strong>-Frust teilgenommen.<br />

So wichtig ich diese Diskussionen für das Aufknacken von verkrampften<br />

Seminarzusammenhängen finde <strong>und</strong> sie auch für mich zuweilen sind, entstand bei mirjedoch<br />

mehr <strong>und</strong> mehr der Eindruck, daß viele Leute sich in diesen Frust hineinreden, ohne<br />

daß dabei deutlich wird, ob alle Möglichkeiten zu einer Änderung der Situation ausgeschöpft<br />

worden sind. Im Streik hatte ich an der Arbeitsgruppe für OSI-interne Informationen, die die<br />

Arbeitsberichte der Streikarbeitsgruppen sammelte <strong>und</strong> mit einer riesigen Wandzeitung die<br />

verschiedensten Aktivitäten transparent machen wollte, teilgenommen. Dort habe ich gespürt, wie<br />

wenig solche Angebote überhaupt wahrgenommen werden, <strong>und</strong> wie selten die Leute vor ihren<br />

eigenen Füßen mit einer Veränderung beginnen. Solange Privatsphäre <strong>und</strong> <strong>Uni</strong>sphäre bei den<br />

meisten von uns so getrennt nebeneinander existieren, wird es schwer sein - neben den anderen<br />

schlechten <strong>Uni</strong>bedingungen - diesen Gegensatz zu durchbrechen. Für mich meine ich ihn schon<br />

einigermaßen aufgehoben zu haben. Unser Institut ist für mich nicht der Hort des notwendigen<br />

Übels, sondern ein Ort, an dem ich auch Fre<strong>und</strong>e treffen kann.«

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