16 45 54 74 88 112 2 Editorial <strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong>, <strong>Alexandra</strong> <strong>Karentzos</strong>, <strong>Birgit</strong> Käufer Küssen als Fehlschluss Anmerkungen zum Mysterium des Froschkönigs Annette Tietenberg Die Politik des Küssens Im Tumult der Repräsentation Fanti Baum, Felix Trautmann 28 Bruderkuss und Handschlag Die Inszenierung der Semantik sozialistischer Begrüßungsrituale Nicola Hille »Kiss me, Hardy« Küssen und Sterben in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges Santanu Das Dorothee von Windheim – Basia mille Mona Mollweide-Siegert Andy & Luis Melanie Manchot, Joana Pocock The L. A.Pictures Melanie Manchot 64 Press your lips against : Von Kussabdrücken auf Papier, Foto, Film und in der Radiographie <strong>Birgit</strong> Käufer Du gehörst zu mir Gedanken zum Kuss in der Kunst des 19. Jahrhunderts Thor J. Mednick »Neger« – und »Germanenküsse« Daniela Roth 80 8 50 34 58 »Just want your extra time and your kiss« Iris Dankemeyer For a moment between strangers Melanie Manchot Kiss Melanie Manchot Gelehrte Kusstheorie im 17. Jahrhundert Die Osculologie des Johann Friedrich Heckel <strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong> »Kiss the girl … !« Karin Fenböck 106 78 84 96 82 Zwischen Versenkung und Transgression Über den Kuss im Musikvideo Henry Keazor Kisspop Dingpatenschaft 110 108 Abschiedskuss Jörg Petri, Ulrike Stoltz Biografi en Abbildungsnachweis, Impressum
<strong>Alexandra</strong> <strong>Karentzos</strong> <strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong> <strong>Birgit</strong> Käufer »Jeder Kuss ruft einen weiteren hervor.« KÜSSEN (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) Schneewittchen und der Prinz. Leonid Breschnew und Erich Honecker. Madonna und Britney Spears. Judas Iskariot und Jesus von Nazareth. Die Liste prominenter Persönlichkeiten, deren Küsse Öffentlichkeit und Nachwelt fasziniert haben, ließe sich lange fortsetzen. In den Medien der Gegenwart sind Küsse allgegenwärtig – kaum ein Film, in dem nicht geküsst wird, kaum eine Jugendzeitschrift, die sich dem Thema Küssen nicht ausgiebig widmet, und im Internet florieren Kussratgeber aller Art. Küsse gelten als spontane, impulsive, leidenschaftliche Liebesbekun dugen, aber sie können auch formalisiert werden – der galante Handkuss ebenso wie der sozialistische Bruderkuss –, oder ins Gegenteil verkehrt, bis hin zum heuchlerischen Judas kuss oder dem fatalen Todeskuss der Mafia in Francis Ford Coppolas Godfather. Die Semantik des Küssens ist kom plexer und vielfältiger als die Hollywoodromantik glauben lässt. Abb. 1: Francesco Furini: »Malerei und Poesie«, 1626, Öl auf Leinwand, 180 x143 cm, Palazzo Pitti, Florenz. Das fünfte Heft von Querformat widmet sich dem Küssen in Popkultur, Kunst, Politik und Kulturgeschichte, um den vielfältigen Bedeutungen nachzu- spüren, die dem bevorzugten Lippenbekenntnis unserer Zeit innewohnen. Wir erlauben uns einige historische Rückblicke, aber der inhaltliche Schwerpunkt liegt – wie Sie als Leserinnen und Leser von unserer Zeitschrift erwarten dürfen – auf zeitgenössischer Kunst in den unterschiedlichsten Genres und Ausprägungen: Literatur und Film, bildende Kunst, Popmusik, Videoclips und vieles mehr. Ganz im Sinne unseres Programms begnügen wir uns nicht mit romantischen Konventionen und harmonischen Küssen, sondern nehmen eine quere Perspektive ein, die die subversiven, kontroversen und kritischen Aspekte, die Provokationen und Tabubrüche ins Blickfeld rückt. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge fragen angesichts ganz unterschiedlicher Kuss-Darstellungen unter anderem nach den Geschlechterkonstruktionen, den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und nicht zuletzt nach den Beziehungen zwischen Betrachter/ innen und Bild. Die Reaktionen auf die Kuss-Szenarien können zwischen Faszination und Verstörung changieren. Die Darstellung oder auch die Beschreibung eins Kusses kann Projektionen zurückgeben und traditionelle Vorstellungen von Beziehung und Geschlecht verändern. Die intime Geste ist immer in mehrere, entgegengesetzte Richtungen zu lesen. Die Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen des Kusses ziehen sich als roter Faden durch die Kulturgeschichte. 1 Bereits in den ältesten erhaltenen Schriftzeugnissen der Weltliteratur spielt der Kuss die volle Bandbreite seiner unterschiedlichen Bedeutungsinhalte aus: In den sumerischen und babylonischen Gilgamesch-Epen ist von den zärtlichen Küssen eines Vaters an seine Kinder die Rede, vom Kuss zwischen Liebenden und Freunden und vom devoten Ritus des Fußküssens, durch den die Untertanen ihrem Herrscher die Reverenz erweisen. Aber schon Gilgamesch demonstriert, wie selbst die schönste Geste missbraucht werden kann: Um seinen Widersacher, den monströsen Huwawa, abzulenken tut der Held so, als wolle er seinem Gegner einen Kuss geben – und nutzt diesen Moment, um dem verwirrten Riesen den entscheidenden Schlag zu versetzen. 2 Doppeldeutigkeiten dieser Art begleiten den Kuss durch die Jahrhunderte: In seinen ersten Versen bringt das alttestamentarische Hohelied die Sehnsucht der Liebenden zum Ausdruck : »Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich./Süßer als Wein ist deine Liebe«. 3 Catull erbittet von seiner Lesbia basia mille, tausend Küsse, 4 »ein kus […] von ir rôten munde« verheißt Walther von der Vogelweide Glück, Freude und die Linderung allen Leides, 5 und Paul Fleming spielt in den 1630er Jahren mit der entscheidenden Frage – »Wie er wolle geküsset seyn?«. 6 Auch abseits der erotischen Zweisamkeit entfaltet der Kuss seine Wirkung: Seit dem frühen Christentum steht der Friedenskuss für Vergebung und Versöhnung, im Mittelalter besiedeln der Lehnsherr und sein Untergebener ihr Vertrauensverhältnis mit einem formellen Kuss. 7 Aber die Schattenseiten bleiben ebenso präsent : Judas verrät Jesus mit dem wohl berühmtesten und berüchtigtsten Kuss der Menschheitsgeschichte, in der Frühen Neuzeit huldigen Hexen und Häretiker ihrem Meister, dem Teufel, angeblich mit dem osculum infame, dem schändlichen Kuss auf den Anus. 8 Der römische Kaiser Tiberius geht im ersten nachchristlichen Jahrhundert sogar soweit, das Küssen durch ein Edikt gänzlich verbieten zu lassen9 1 Zu historischen Betrachtungen des Kusses vgl. Alain Montandon: »Der Kuss. Eine kleine Kulturgeschichte.« Berlin 2006; Karen Harvey (Hg.): »The Kiss in History.« Manchester/New York 2005; Julie Enfield: »Kiss and Tell. An Intimate History of Kissing.« Toronto 2004; Otto F. Best: »Die Sprache der Küsse. Eine Spurensuche.« München/ Berlin 2001; Ders.: »Der Kuss. Eine Biographie.« Frankfurt am Main 1998; Kristoffer Nyrop: »The Kiss and its History.« London 1901. 2 Sylva Harst: »Der Kuss in den Religionen der Alten Welt«, ca. 3000 v. Chr.- 381 n. Chr. Münster 2004, v. a. S. 209, 366, 433, 472. 3 Hld 1, 2. 4 Catull, Carmina V. 5 Christoph Cormeau (Hg.): »Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche.« Berlin/New York 1996, S. 236. 6 Julius Tittmann (Hg.): Gedichte von Paul Fleming. Leipzig 1870, S. 158f. – ohne sich damit aber durchsetzen zu können. Der Kuss lässt sich, in seiner ganzen Vielschichtigkeit, nicht unterkriegen. Für die Kunst ist der Kuss seit der Antike von besonderer Bedeutung, so initiiert der Musenkuss erst den künstlerischen Akt. Bereits Homer, etwa in der Odysee, und später Hesiod in der Theogonie berufen sich zu Beginn ihrer Dichtungen auf die Musen. Der Glaube an die Inspiration durch eine göttliche Instanz war lange Zeit maßgeblich. In Francesco Furinis Gemälde Malerei und Poesie aus dem Jahr 1629 wird der Musenkuss wörtlich als gleichgeschlechtlicher Kuss der weiblichen Allegorien von Malerei und Dichtkunst inszeniert (Abb. 1), was sehr ungewöhnlich ist, verglichen mit den gängigen Darstellungen eines heterosexuellen Kusses zwischen Muse und Künstler. 10 Die beiden allegorischen Körper umarmen sich innig und verschmelzen emblematisch zu einer Figur : Die Frauen sind wie Zwillingsschwestern, so dass die beiden Künste untrennbar erscheinen, wie Eva Struhal es beschreibt. 11 Wenn die Dichtkunst ihren Arm zudem noch um die Malerei legt und sie sich mit dem Stift gleichsam in den Arm der Malerei einschreibt, bildet das einen Höhepunkt in der Verschränkung beider Künste. Dieses Bild, das Furini für die Accademia del disegno malte, zeugt von der Lust des 17. Jahrhunderts an rätselhaften Emblemen, die es von den Mitgliedern der Akademie aufzuschlüsseln galt. Dabei wird der Musenkuss sinnlich erotisch ins Bild gesetzt. Der Kuss der Musen unterstreicht auf diese Weise die gegenseitige Inspiration der Künste untereinander, die durchaus auch mit Lust im doppelten Sinne verbunden ist. Der Kuss ist quasi metaphysisch, spirituell aufgeladen. In der orthdox-christlichen Tradition wird dem Kuss als haptischem Element eine große religiöse Bedeutung zugeschrieben, wenn man beim Küssen der Ikonostase mit dem Göttlichen in Berührung kommt. Das Er regende, Aktivierende erlangt eine ›höhere‹ Bedeutung, so etwa auch in dem Wachküssen Dornröschens. Joseph von Eichendorff erhebt den Kuss in seinem volksliedhaften Gedicht gar zum Himmelskuss : 11 Vgl. zu einer Kontextualisierung von Furinis Bild mit Cesare Ripas Iconologia: Eva Struhal: »A Visual Riddle, in: Cornelia Logemann/ Michael Thimann (Hg.): »Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit.« Berlin 2011, S. 335 – 360, S. 344ff. 7 L. Edward Phillips: The Ritual Kiss in Early Christian Worship. Cambridge 1996; Kiril Petkov: The Kiss of Peace. Ritual, Self, and Society in the High and Late Medieval West. Leiden 2003. 8 Jonathan Durrant: »The osculum infame: heresy, secular culture and the image of the witches‹ sabbath«. In: Karen Harvey (Hg.): The Kiss in History. Manchester/New York 2005, S. 36 – 59. 9 Sueton, De vita caesarum III, 34. 10 Vgl. in Bezug auf Auguste Rodins Skulpturen dazu: Anne-Marie Bonnet: »Der Künstler und der Kuss der Muse oder Inspiration als Versuchung«. In: Le Maraviglie dell’Arte, Kunsthistorische Miszellen für Anne Liese Gielen-Leyendecker zum 90. Geburtstag, hrsg. von A.-M. Bonnet, R. Kanz, H.- J. Raupp, G. Satzinger, B. Schellewald, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 109 – 122. Abb. 2: Ulrike Rosenbach/Klaus vom Bruch: Relativ Romantisch (Tausend Küsse), 1983/84 Video, Farbe (22 Minuten), Privatsammlung München. Querformat 2012 3