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Stefan Donecker, Alexandra Karentzos, Birgit ... - transcript Verlag

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12 Joseph von Eichendorff:<br />

»Mondnacht«. In: Werke, Bd. 1:<br />

Gedichte, Versepen, Dramen,<br />

Autobiographisches. 3. Aufl .,<br />

Düsseldorf/Zürich 1996, S. 285.<br />

13 Eva Illouz: »Tyrannei der Wahl. Die<br />

Fragmentarisierung der romantischen<br />

Liebe in der postmodernen<br />

Konsumkultur«, in: Belinda Grace<br />

Gardner/Michael Buhrs/Dirk Luckow/<br />

Gerald Matt (Hg.): »True Romance.<br />

Allegorien der Liebe von der<br />

Renaissance bis heute«, Ausst.-Kat.<br />

Kunsthalle zu Kiel in Kooperation mit<br />

der Kunsthalle Wien und Museum Villa<br />

Stuck, München. Köln: DuMont 2007,<br />

S. 178 – 186, S. 185. Vgl. zur Semantik<br />

der romantischen Liebe auch Niklas<br />

Luhmann: »Liebe als Passion«<br />

14 E. Illouz: »Tyrannei der Wahl«.<br />

»Es war, als hätt der Himmel<br />

Die Erde still geküßt,<br />

Daß sie im Blütenschimmer<br />

Von ihm nun träumen müßt.« 12<br />

Die Transzendenzerfahrung spielt in Eichendorffs Gedicht eine große<br />

Rolle. Auch der irdischen Liebe kommt so im Kuss eine himmlische<br />

Bedeutung zu. Das schwingt auch noch in heutigen populären Inszenierungen<br />

der Kusshand von Diven und Stars mit, wenn so der Hauch<br />

des Göttlichen das Publikum anweht.<br />

Die semantische Aufladung der romantischen Liebe in der bürgerlichen<br />

Gesellschaft der Moderne seit dem 18. Jahrhundert zeigt, dass »die<br />

Liebe von einer Terminologie der Absolutheit, der Erlösung und Erhö -<br />

h ung eingehüllt ist«. 13 Eva Illouz hebt hervor, dass im Kontrast dazu die<br />

postmoderne Liebe »den Schwellenzustand der Liminalität« anstrebt, das<br />

heißt sie zielt darauf ab, von den alltäglichen Handlungs weisen abzuweichen<br />

und eine »ganzheitliche Verschmelzung von Facetten des<br />

Selbst« zu finden. 14 Der Moment des Kusses in visuellen Medien stellt<br />

eine derartige Schwellensituation dar. Im Hollywood-Film ist der Liebeskuss<br />

der Beweis der ›ewigen‹ Liebe. Im Happy End-Bild des küssenden<br />

Paares schwingt dieses Versprechen mit: Die Zeit wird stillgestellt, damit<br />

das glückliche Ende auch ein vollendetes Glück ist.<br />

In dem Video Tausend Küsse/ Relativ Romantisch (1983) dekonstruieren<br />

Klaus vom Bruch und Ulrike Rosenbach diesen filmischen Topos, indem<br />

sie in einer ironischen »found-footage«-Kompilation historischer Spielfilme<br />

das Motiv des Kusses in einer enzyklopädisch anmutenden Zählung<br />

bis tausend aneinander montieren (Abb. 2). 15 Ein elektronischer<br />

Zähler informiert durchgehend über die aktuelle Zahl der Küsse. Eine<br />

im schnellen Rhythmus wechselnde mise-en-scène wird durch dramatische<br />

Musik begleitet. Im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren erscheint zwischen<br />

den Küssen immer wieder das Gesicht des Künstlers, der so zum<br />

Voyeur der Szenerie wird. Durch die extreme Häufung des immer ähnlichen<br />

Motivs wird die romantische Liebe ad absurdum geführt und als<br />

stereotype Handlungskonvention sichtbar.<br />

Abb. 3: ProT: »Küssende Fernseher« (3:30<br />

Minuten), 10. Juli 1987, documenta 8, Kassel<br />

(Erstaufführung 1983).<br />

15 Vgl. Rudolf Frieling: »Klaus<br />

vom Bruch und Ulrike Rosenbach:<br />

›Tausend Küsse/Relativ Romantisch‹«,<br />

in: http://www.medienkunstnetz.<br />

de/werke/tausend-kusse/video/1/<br />

(Stand: 30.5.2012)<br />

16 Alexeij Sagerer: »ProT:<br />

Küssende Fernseher”. In: http://<br />

www.medienkunstnetz.de/werke/<br />

kuessende-fernseher/(Stand:<br />

30.5.2012). Gezeigt wurde die Arbeit<br />

u.a. 1987 auf der documenta 8.<br />

17 Angelika Hild: »›Queer Kissing<br />

Flashmob‹ bei Papstbesuch.<br />

›Warum ist ein Kuss heute noch<br />

revolutionär?‹«, in: Süddeutsche<br />

Zeitung vom 6.11.2010, http://www.<br />

sueddeutsche.de/politik/queerkissing-flashmob-bei-papstbesuchwarum-ist-ein-kuss-heute-nochrevolutionaer-1.1019648<br />

(Stand: 10.6.2012).<br />

Einen Bildersturm des Kusses inszeniert die Gruppe pro T in ihrer installativen<br />

Arbeit Küssende Fernseher aus dem Jahr 1983 (Abb. 3). 16<br />

In einer riesigen dunklen Halle sind 50 Bildröhren-Fernsehapparate<br />

aufgebaut. Einige hängen von der Decke herab, einige stehen oder<br />

liegen. Auf den Bildschirmen flackern die Bilder, sie leuchten im Dunkeln<br />

besonders hell, und Musik ist zu hören. Die Fernseher pendeln hin<br />

und her : In einem Höhepunkt prallen die Bildschirme mit lautem Knall<br />

gegeneinander. Der Kuss der beiden Fernseher entfaltet eine zerstörer<br />

ische Kraft und lässt die Bilder regelrecht implodieren.<br />

In den letzten Jahren hat das Küssen nach wie vor Schlagzeilen gemacht –<br />

etwa in Form von Flashmob-Aktionen, wenn Aufrufe zu gemeinschaftlichem<br />

›Queer Kissing‹ angesichts des Papstbesuches in Barcelona für<br />

Aufruhr sorgen. »Warum ist ein Kuss heute noch revolutionär ?« titelt<br />

die Süddeutsche Zeitung. 17 Das friedliche Massenküssen gleichgeschlechtlicher<br />

Menschen, die sich vorher via Internet verabreden und scheinbar<br />

spontan zusammenkommen, kann offenbar im Kontext des Katholizismus<br />

auch im Jahr 2010 noch zu einem politischen Akt werden.<br />

Aber auch die Diskussionen um das Denkmal von Michael Elmgreen und<br />

Ingar Dragset für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen<br />

in Berlin haben verdeutlicht, wie groß die symbolische Bedeutung<br />

ist, die der intimen Geste des Küssens im öffentlichen Raum zugeschrieben<br />

wird. Das Denkmal am Berliner Tiergarten wurde am 27. Mai<br />

2008 eingeweiht (Abb. 4). In einen schiefen Betonquader (3,60 hoch<br />

und 1,90 breit) ist ein Fenster eingelassen. Eine Seite des Fensters ist so<br />

abgeflacht, dass der Blick auf einen Kuss zwischen zwei Männern gelenkt<br />

wird: »Es kann immer nur ein Besucher […] durch die kleine Öffnung<br />

des Quaders schauen, um die Videoprojektion zu sehen. Sie<br />

oder Er wird dann dem Bild zweier Personen in einem ›Ewigen Kuss‹<br />

gegenübergestellt : Einer 3-Minuten Kuss-Szene, die so in einer Endlosschlaufe<br />

montiert ist, daß sie endlos wirkt [...]. Statt auf monumentale<br />

Wirkung, setzt die Arbeit auf die Einsamkeitserfahrung«, 18 so das<br />

Künstlerduo. Der kalte Beton lässt diese emotionale Geste nicht vermuten<br />

und überrascht ihre Voyeur/innen. In der Presse wurde die Arbeit<br />

umfassend besprochen und unter anderem von der Zeitschrift Emma<br />

scharf kritisiert – mit dem Vorwurf, dass lesbische Frauen hier unsichtbar<br />

blieben. 19 In einer Stellungnahme mit dem Titel »Ein Porträt ist keine<br />

Repräsentation« erläutern Elmgreen und Dragset : »Es war uns wichtig,<br />

diese intime Situation zu kreieren, weil der Schmerz […] eines jeden<br />

Opfers eine persönliche, traumatische Erfahrung ist, die jenseits der<br />

Frage der Repräsentation […] liegt.« 20 Der bildgewordene Kuss initiiert<br />

Interaktion, Diskussionen, er wird wiederum zur Politik.<br />

21 Vgl. dazu die Beiträge von Fanti<br />

Baum/Felix Trautmann und Nicola<br />

Hille in diesem Heft.<br />

22 Siehe u.a. Jörg Bremer:<br />

»Werbekampagne: Benetton zieht<br />

Bild des küssenden Papstes zurück«,<br />

in: FAZ vom 17.11.2011; »Umstrittene<br />

Benetton-Kampagne-Küssen<br />

verboten«, in: Süddeutsche Zeitung<br />

vom 17.11.2011.<br />

23 »Benetton-Kampagne: Küsse<br />

der Provokation«, in: fr-online vom<br />

18.11.2011, http://www.fr-online.de/<br />

panorama/benetton-werbekampagne<br />

-kuesse- der- provokation,1472782,<br />

11163136.html<br />

24 Michael Götting: »Benetton-<br />

Werbung. Wen schockt das schon?«,<br />

in: DIE ZEIT vom 18.11.2011: http://<br />

www.zeit.de/lebensart/mode/2011-11/<br />

benetton-unhate-kampagne<br />

(Stand: 30.5.2012).<br />

25 http://campaign.hm.com/<br />

faa2012/?lang=de<br />

18 Alexeij Sagerer: »ProT:<br />

Küssende Fernseher”, in:<br />

http://www.medienkunstnetz.<br />

de/werke/kuessendefernseher/<br />

(Stand: 30.5.2012).<br />

Gezeigt wurde die Arbeit u.a.<br />

1987 auf der documenta 8.<br />

19 »Homo-Mahnmal. Mal<br />

wieder die Frauen vergessen!«,<br />

in: EMMA, September/Oktober<br />

2006, http://www.emma.<br />

de/hefte/ausgaben-2006/<br />

septemberoktober-2006/<br />

homo-mahnmal/(Stand:<br />

14.05.2012). Auch der Lesbenund<br />

Schwulenverband in<br />

Deutschland kritisierte<br />

diesen Umstand: http://<br />

lsvd.de/690.0.html, (Stand:<br />

14.05.2012).<br />

20 »Stellungnahmen der<br />

Künstler«, siehe Fußnote 2.<br />

Auch die Werbung hat das politische Potential des Kusses entdeckt und<br />

nutzt es kommerziell. So sind politische und religiöse Schlüsselfiguren,<br />

teilweise auch Kontrahenten, inniglich im Kuss vereint : Barack Obama<br />

und sein chinesischer Kollege Hu Jintao, Israels Ministerpräsident<br />

Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas,<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas<br />

Sarkozy oder Papst Benedikt XVI. und der ägyptische Imam Ahmed el<br />

Tajjeb, wie einst Breschnew und Honecker bei ihrem sozialistischen<br />

Bruderkuss. 21 Benetton knüpft mit der Werbekampagne UNHATE Ende<br />

2011 an die eigene Tradition früherer Werbeaktionen von Oliviero<br />

Toscani an, die etwa eine Nonne und einen katholischen Priester zeigen,<br />

die sich küssen. Der Vatikan hat gegen die manipulierten Fotografien<br />

von UNHATE und deren kommerziellen Einsatz protestiert, so das das<br />

Papstbild zurückgezogen wurde – aber nicht ohne breites Medienecho. 22<br />

Der Kuss wird hier als »universales Symbol der Liebe« zur »konstruktive[n]<br />

Provokation« 23 eingesetzt, wie Alessandro Benetton, der Vorsitzende<br />

der Benetton-Gruppe erklärt; dieser hebt zugleich darauf ab, dass<br />

»Liebe […] ein Märchen, eine Utopie« sei. 24 Hier wird der Kuss in<br />

seinem Zeichencharakter komprimiert und verschmilzt mit der politischen<br />

Inszenierung. Dabei werden ›wahre‹ Gefühle, wie Liebe und Hass,<br />

aufgerufen, um zur Ware zu werden.<br />

Abb. 4: Elmgreen & Dragset: »Denkmal<br />

für die im Nationalsozialismus verfolgten<br />

Homosexuellen«, 2008, Tiergarten<br />

Berlin.<br />

Querformat 2012<br />

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