Stefan Donecker, Alexandra Karentzos, Birgit ... - transcript Verlag
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Aus:<br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong>, <strong>Alexandra</strong> <strong>Karentzos</strong>, <strong>Birgit</strong> Käufer,<br />
Sabine Kampmann, Alma-Elisa Kittner, Thomas Küpper,<br />
Jörg Petri, Ulrike Stoltz (Hg.)<br />
Küssen<br />
Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst,<br />
Populärkultur, Heft 5<br />
Oktober 2012, 112 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 9,80 €, ISBN 978-3-8376-2177-8<br />
Schneewittchen und der Prinz. Leonid Breschnew und Erich Honecker. Madonna und<br />
Britney Spears. Judas Iskariot und Jesus von Nazareth. Die Liste prominenter Küssender<br />
ließe sich lange fortsetzen. Als Ausdruck von Liebe und Zuneigung wurden Küsse<br />
formalisiert (z.B. Handkuss, sozialistischer Bruderkuss). Aktuell sorgen »Queer Kissing<br />
Flashmob«-Aktionen (Papstbesuch in Barcelona) für Schlagzeilen. Aber auch die<br />
Diskussionen um das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen<br />
in Berlin haben verdeutlicht, wie groß die symbolische Bedeutung des Küssens<br />
ist.<br />
»Querformat« analysiert den Kuss in Popkultur, Kunst, Politik und Kulturgeschichte.<br />
Die Herausgeber/-innen forschen und lehren in den Bereichen Geschichte, Kunst,<br />
Kunstgeschichte, Ästhetik, Typographie und Buchgestaltung.<br />
Weitere Informationen und Bestellung unter:<br />
www.<strong>transcript</strong>-verlag.de/ts2177/ts2177.php<br />
© 2012 <strong>transcript</strong> <strong>Verlag</strong>, Bielefeld
16<br />
45<br />
54<br />
74<br />
88<br />
112<br />
2<br />
Editorial<br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong>, <strong>Alexandra</strong> <strong>Karentzos</strong>,<br />
<strong>Birgit</strong> Käufer<br />
Küssen als Fehlschluss<br />
Anmerkungen zum Mysterium des Froschkönigs<br />
Annette Tietenberg<br />
Die Politik des Küssens<br />
Im Tumult der Repräsentation<br />
Fanti Baum, Felix Trautmann<br />
28<br />
Bruderkuss und Handschlag<br />
Die Inszenierung der Semantik<br />
sozialistischer Begrüßungsrituale<br />
Nicola Hille<br />
»Kiss me, Hardy«<br />
Küssen und Sterben in den Schützengräben<br />
des Ersten Weltkrieges<br />
Santanu Das<br />
Dorothee von Windheim – Basia mille<br />
Mona Mollweide-Siegert<br />
Andy & Luis<br />
Melanie Manchot, Joana Pocock<br />
The L. A.Pictures<br />
Melanie Manchot<br />
64<br />
Press your lips against :<br />
Von Kussabdrücken auf Papier, Foto, Film<br />
und in der Radiographie<br />
<strong>Birgit</strong> Käufer<br />
Du gehörst zu mir<br />
Gedanken zum Kuss in der Kunst des<br />
19. Jahrhunderts<br />
Thor J. Mednick<br />
»Neger« – und »Germanenküsse«<br />
Daniela Roth<br />
80<br />
8<br />
50<br />
34<br />
58<br />
»Just want your extra time and your kiss«<br />
Iris Dankemeyer<br />
For a moment between strangers<br />
Melanie Manchot<br />
Kiss<br />
Melanie Manchot<br />
Gelehrte Kusstheorie im 17. Jahrhundert<br />
Die Osculologie des Johann Friedrich Heckel<br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong><br />
»Kiss the girl … !«<br />
Karin Fenböck<br />
106<br />
78<br />
84<br />
96<br />
82<br />
Zwischen Versenkung und Transgression<br />
Über den Kuss im Musikvideo<br />
Henry Keazor<br />
Kisspop<br />
Dingpatenschaft<br />
110<br />
108<br />
Abschiedskuss<br />
Jörg Petri, Ulrike Stoltz<br />
Biografi en<br />
Abbildungsnachweis, Impressum
<strong>Alexandra</strong> <strong>Karentzos</strong><br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Donecker</strong><br />
<strong>Birgit</strong> Käufer<br />
»Jeder Kuss ruft<br />
einen weiteren hervor.«<br />
KÜSSEN<br />
(Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)<br />
Schneewittchen und der Prinz. Leonid Breschnew und Erich Honecker.<br />
Madonna und Britney Spears. Judas Iskariot und Jesus von Nazareth. Die<br />
Liste prominenter Persönlichkeiten, deren Küsse Öffentlichkeit und Nachwelt<br />
fasziniert haben, ließe sich lange fortsetzen. In den Medien der Gegenwart<br />
sind Küsse allgegenwärtig – kaum ein Film, in dem nicht geküsst wird,<br />
kaum eine Jugendzeitschrift, die sich dem Thema Küssen nicht ausgiebig<br />
widmet, und im Internet florieren Kussratgeber aller Art. Küsse gelten als<br />
spontane, impulsive, leidenschaftliche Liebesbekun dugen, aber sie können<br />
auch formalisiert werden – der galante Handkuss ebenso wie der sozialistische<br />
Bruderkuss –, oder ins Gegenteil verkehrt, bis hin zum heuchlerischen<br />
Judas kuss oder dem fatalen Todeskuss der Mafia in Francis Ford Coppolas<br />
Godfather. Die Semantik des Küssens ist kom plexer und vielfältiger als<br />
die Hollywoodromantik glauben lässt.<br />
Abb. 1: Francesco Furini: »Malerei und Poesie«, 1626, Öl auf Leinwand,<br />
180 x143 cm, Palazzo Pitti, Florenz.<br />
Das fünfte Heft von Querformat widmet sich dem Küssen in Popkultur, Kunst,<br />
Politik und Kulturgeschichte, um den vielfältigen Bedeutungen nachzu-<br />
spüren, die dem bevorzugten Lippenbekenntnis unserer Zeit innewohnen.<br />
Wir erlauben uns einige historische Rückblicke, aber der inhaltliche<br />
Schwerpunkt liegt – wie Sie als Leserinnen und Leser von unserer Zeitschrift<br />
erwarten dürfen – auf zeitgenössischer Kunst in den unterschiedlichsten<br />
Genres und Ausprägungen: Literatur und Film, bildende Kunst, Popmusik,<br />
Videoclips und vieles mehr. Ganz im Sinne unseres Programms begnügen<br />
wir uns nicht mit romantischen Konventionen und harmonischen Küssen,<br />
sondern nehmen eine quere Perspektive ein, die die subversiven, kontroversen<br />
und kritischen Aspekte, die Provokationen und Tabubrüche ins<br />
Blickfeld rückt. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge fragen<br />
angesichts ganz unterschiedlicher Kuss-Darstellungen unter anderem nach<br />
den Geschlechterkonstruktionen, den Beziehungen zwischen den<br />
Geschlechtern und nicht zuletzt nach den Beziehungen zwischen Betrachter/<br />
innen und Bild. Die Reaktionen auf die Kuss-Szenarien können zwischen<br />
Faszination und Verstörung changieren. Die Darstellung oder auch die Beschreibung<br />
eins Kusses kann Projektionen zurückgeben und traditionelle<br />
Vorstellungen von Beziehung und Geschlecht verändern. Die intime Geste<br />
ist immer in mehrere, entgegengesetzte Richtungen zu lesen.<br />
Die Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen des Kusses ziehen sich als<br />
roter Faden durch die Kulturgeschichte. 1 Bereits in den ältesten<br />
erhaltenen Schriftzeugnissen der Weltliteratur spielt der Kuss die<br />
volle Bandbreite seiner unterschiedlichen Bedeutungsinhalte aus:<br />
In den sumerischen und babylonischen Gilgamesch-Epen ist von den zärtlichen Küssen<br />
eines Vaters an seine Kinder die Rede, vom Kuss zwischen Liebenden und Freunden und<br />
vom devoten Ritus des Fußküssens, durch den die Untertanen ihrem Herrscher die Reverenz<br />
erweisen. Aber schon Gilgamesch demonstriert, wie selbst die schönste Geste missbraucht<br />
werden kann: Um seinen Widersacher, den monströsen Huwawa, abzulenken tut<br />
der Held so, als wolle er seinem Gegner einen Kuss geben – und nutzt diesen Moment,<br />
um dem verwirrten Riesen den entscheidenden Schlag zu versetzen. 2<br />
Doppeldeutigkeiten dieser Art begleiten den Kuss durch die Jahrhunderte:<br />
In seinen ersten Versen bringt das alttestamentarische<br />
Hohelied die Sehnsucht der Liebenden zum Ausdruck : »Mit Küssen<br />
seines Mundes bedecke er mich./Süßer als Wein ist deine<br />
Liebe«. 3 Catull erbittet von seiner Lesbia basia mille, tausend Küsse,<br />
4 »ein kus […] von ir rôten munde« verheißt Walther von<br />
der Vogelweide Glück, Freude und die Linderung allen Leides, 5<br />
und Paul Fleming spielt in den 1630er Jahren mit der entscheidenden<br />
Frage – »Wie er wolle geküsset seyn?«. 6 Auch abseits der<br />
erotischen Zweisamkeit entfaltet der Kuss seine Wirkung: Seit<br />
dem frühen Christentum steht der Friedenskuss für Vergebung<br />
und Versöhnung, im Mittelalter besiedeln der Lehnsherr und<br />
sein Untergebener ihr Vertrauensverhältnis mit einem formellen<br />
Kuss. 7 Aber die Schattenseiten bleiben ebenso präsent : Judas<br />
verrät Jesus mit dem wohl berühmtesten und berüchtigtsten<br />
Kuss der Menschheitsgeschichte, in der Frühen Neuzeit huldigen<br />
Hexen und Häretiker ihrem Meister, dem Teufel, angeblich mit<br />
dem osculum infame, dem schändlichen Kuss auf den Anus. 8 Der<br />
römische Kaiser Tiberius geht im ersten nachchristlichen Jahrhundert<br />
sogar soweit, das Küssen durch ein Edikt gänzlich verbieten zu<br />
lassen9 1 Zu historischen Betrachtungen des<br />
Kusses vgl. Alain Montandon: »Der<br />
Kuss. Eine kleine Kulturgeschichte.«<br />
Berlin 2006; Karen Harvey (Hg.): »The<br />
Kiss in History.« Manchester/New York<br />
2005; Julie Enfield: »Kiss and Tell. An<br />
Intimate History of Kissing.« Toronto<br />
2004; Otto F. Best: »Die Sprache der<br />
Küsse. Eine Spurensuche.« München/<br />
Berlin 2001; Ders.: »Der Kuss. Eine<br />
Biographie.« Frankfurt am Main 1998;<br />
Kristoffer Nyrop: »The Kiss and its<br />
History.« London 1901.<br />
2 Sylva Harst: »Der Kuss in den<br />
Religionen der Alten Welt«, ca. 3000<br />
v. Chr.- 381 n. Chr. Münster 2004, v. a.<br />
S. 209, 366, 433, 472.<br />
3 Hld 1, 2.<br />
4 Catull, Carmina V.<br />
5 Christoph Cormeau (Hg.): »Walther<br />
von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche.«<br />
Berlin/New York 1996, S. 236.<br />
6 Julius Tittmann (Hg.): Gedichte von<br />
Paul Fleming. Leipzig 1870, S. 158f.<br />
– ohne sich damit aber durchsetzen zu können. Der Kuss<br />
lässt sich, in seiner ganzen Vielschichtigkeit, nicht unterkriegen.<br />
Für die Kunst ist der Kuss seit der Antike von besonderer Bedeutung, so<br />
initiiert der Musenkuss erst den künstlerischen Akt. Bereits Homer, etwa in<br />
der Odysee, und später Hesiod in der Theogonie berufen sich zu Beginn<br />
ihrer Dichtungen auf die Musen. Der Glaube an die Inspiration durch<br />
eine göttliche Instanz war lange Zeit maßgeblich. In Francesco Furinis<br />
Gemälde Malerei und Poesie aus dem Jahr 1629 wird der Musenkuss<br />
wörtlich als gleichgeschlechtlicher Kuss der weiblichen Allegorien von<br />
Malerei und Dichtkunst inszeniert (Abb. 1), was sehr ungewöhnlich ist,<br />
verglichen mit den gängigen Darstellungen eines heterosexuellen Kusses<br />
zwischen Muse und Künstler. 10 Die beiden allegorischen Körper umarmen<br />
sich innig und verschmelzen emblematisch zu einer Figur : Die<br />
Frauen sind wie Zwillingsschwestern, so dass die beiden Künste untrennbar<br />
erscheinen, wie Eva Struhal es beschreibt. 11 Wenn die Dichtkunst ihren<br />
Arm zudem noch um die Malerei legt und sie sich mit dem Stift gleichsam<br />
in den Arm der Malerei einschreibt, bildet das einen Höhepunkt in der<br />
Verschränkung beider Künste. Dieses Bild, das Furini für die Accademia<br />
del disegno malte, zeugt von der Lust des 17. Jahrhunderts an rätselhaften<br />
Emblemen, die es von den Mitgliedern der Akademie aufzuschlüsseln<br />
galt. Dabei wird der Musenkuss sinnlich erotisch ins Bild gesetzt. Der Kuss<br />
der Musen unterstreicht auf diese Weise die gegenseitige Inspiration<br />
der Künste untereinander, die durchaus auch mit Lust im doppelten<br />
Sinne verbunden ist.<br />
Der Kuss ist quasi metaphysisch, spirituell aufgeladen. In der<br />
orthdox-christlichen Tradition wird dem Kuss als haptischem<br />
Element eine große religiöse Bedeutung zugeschrieben, wenn<br />
man beim Küssen der Ikonostase mit dem Göttlichen in Berührung<br />
kommt. Das Er regende, Aktivierende erlangt eine<br />
›höhere‹ Bedeutung, so etwa auch in dem Wachküssen<br />
Dornröschens. Joseph von Eichendorff erhebt den Kuss in seinem<br />
volksliedhaften Gedicht gar zum Himmelskuss :<br />
11 Vgl. zu einer Kontextualisierung<br />
von Furinis Bild mit Cesare Ripas<br />
Iconologia: Eva Struhal: »A Visual<br />
Riddle, in: Cornelia Logemann/<br />
Michael Thimann (Hg.): »Cesare<br />
Ripa und die Begriffsbilder der<br />
Frühen Neuzeit.« Berlin 2011,<br />
S. 335 – 360, S. 344ff.<br />
7 L. Edward Phillips: The Ritual Kiss in<br />
Early Christian Worship. Cambridge<br />
1996; Kiril Petkov: The Kiss of Peace.<br />
Ritual, Self, and Society in the High<br />
and Late Medieval West. Leiden 2003.<br />
8 Jonathan Durrant: »The osculum<br />
infame: heresy, secular culture and<br />
the image of the witches‹ sabbath«.<br />
In: Karen Harvey (Hg.): The Kiss in<br />
History. Manchester/New York 2005,<br />
S. 36 – 59.<br />
9 Sueton, De vita caesarum III, 34.<br />
10 Vgl. in Bezug auf Auguste Rodins<br />
Skulpturen dazu: Anne-Marie Bonnet:<br />
»Der Künstler und der Kuss der Muse<br />
oder Inspiration als Versuchung«.<br />
In: Le Maraviglie dell’Arte,<br />
Kunsthistorische Miszellen für Anne<br />
Liese Gielen-Leyendecker zum 90.<br />
Geburtstag, hrsg. von A.-M. Bonnet,<br />
R. Kanz, H.- J. Raupp, G. Satzinger, B.<br />
Schellewald, Köln/Weimar/Wien 2004,<br />
S. 109 – 122.<br />
Abb. 2: Ulrike Rosenbach/Klaus<br />
vom Bruch: Relativ Romantisch<br />
(Tausend Küsse), 1983/84<br />
Video, Farbe (22 Minuten),<br />
Privatsammlung München.<br />
Querformat 2012<br />
3
12 Joseph von Eichendorff:<br />
»Mondnacht«. In: Werke, Bd. 1:<br />
Gedichte, Versepen, Dramen,<br />
Autobiographisches. 3. Aufl .,<br />
Düsseldorf/Zürich 1996, S. 285.<br />
13 Eva Illouz: »Tyrannei der Wahl. Die<br />
Fragmentarisierung der romantischen<br />
Liebe in der postmodernen<br />
Konsumkultur«, in: Belinda Grace<br />
Gardner/Michael Buhrs/Dirk Luckow/<br />
Gerald Matt (Hg.): »True Romance.<br />
Allegorien der Liebe von der<br />
Renaissance bis heute«, Ausst.-Kat.<br />
Kunsthalle zu Kiel in Kooperation mit<br />
der Kunsthalle Wien und Museum Villa<br />
Stuck, München. Köln: DuMont 2007,<br />
S. 178 – 186, S. 185. Vgl. zur Semantik<br />
der romantischen Liebe auch Niklas<br />
Luhmann: »Liebe als Passion«<br />
14 E. Illouz: »Tyrannei der Wahl«.<br />
»Es war, als hätt der Himmel<br />
Die Erde still geküßt,<br />
Daß sie im Blütenschimmer<br />
Von ihm nun träumen müßt.« 12<br />
Die Transzendenzerfahrung spielt in Eichendorffs Gedicht eine große<br />
Rolle. Auch der irdischen Liebe kommt so im Kuss eine himmlische<br />
Bedeutung zu. Das schwingt auch noch in heutigen populären Inszenierungen<br />
der Kusshand von Diven und Stars mit, wenn so der Hauch<br />
des Göttlichen das Publikum anweht.<br />
Die semantische Aufladung der romantischen Liebe in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft der Moderne seit dem 18. Jahrhundert zeigt, dass »die<br />
Liebe von einer Terminologie der Absolutheit, der Erlösung und Erhö -<br />
h ung eingehüllt ist«. 13 Eva Illouz hebt hervor, dass im Kontrast dazu die<br />
postmoderne Liebe »den Schwellenzustand der Liminalität« anstrebt, das<br />
heißt sie zielt darauf ab, von den alltäglichen Handlungs weisen abzuweichen<br />
und eine »ganzheitliche Verschmelzung von Facetten des<br />
Selbst« zu finden. 14 Der Moment des Kusses in visuellen Medien stellt<br />
eine derartige Schwellensituation dar. Im Hollywood-Film ist der Liebeskuss<br />
der Beweis der ›ewigen‹ Liebe. Im Happy End-Bild des küssenden<br />
Paares schwingt dieses Versprechen mit: Die Zeit wird stillgestellt, damit<br />
das glückliche Ende auch ein vollendetes Glück ist.<br />
In dem Video Tausend Küsse/ Relativ Romantisch (1983) dekonstruieren<br />
Klaus vom Bruch und Ulrike Rosenbach diesen filmischen Topos, indem<br />
sie in einer ironischen »found-footage«-Kompilation historischer Spielfilme<br />
das Motiv des Kusses in einer enzyklopädisch anmutenden Zählung<br />
bis tausend aneinander montieren (Abb. 2). 15 Ein elektronischer<br />
Zähler informiert durchgehend über die aktuelle Zahl der Küsse. Eine<br />
im schnellen Rhythmus wechselnde mise-en-scène wird durch dramatische<br />
Musik begleitet. Im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren erscheint zwischen<br />
den Küssen immer wieder das Gesicht des Künstlers, der so zum<br />
Voyeur der Szenerie wird. Durch die extreme Häufung des immer ähnlichen<br />
Motivs wird die romantische Liebe ad absurdum geführt und als<br />
stereotype Handlungskonvention sichtbar.<br />
Abb. 3: ProT: »Küssende Fernseher« (3:30<br />
Minuten), 10. Juli 1987, documenta 8, Kassel<br />
(Erstaufführung 1983).<br />
15 Vgl. Rudolf Frieling: »Klaus<br />
vom Bruch und Ulrike Rosenbach:<br />
›Tausend Küsse/Relativ Romantisch‹«,<br />
in: http://www.medienkunstnetz.<br />
de/werke/tausend-kusse/video/1/<br />
(Stand: 30.5.2012)<br />
16 Alexeij Sagerer: »ProT:<br />
Küssende Fernseher”. In: http://<br />
www.medienkunstnetz.de/werke/<br />
kuessende-fernseher/(Stand:<br />
30.5.2012). Gezeigt wurde die Arbeit<br />
u.a. 1987 auf der documenta 8.<br />
17 Angelika Hild: »›Queer Kissing<br />
Flashmob‹ bei Papstbesuch.<br />
›Warum ist ein Kuss heute noch<br />
revolutionär?‹«, in: Süddeutsche<br />
Zeitung vom 6.11.2010, http://www.<br />
sueddeutsche.de/politik/queerkissing-flashmob-bei-papstbesuchwarum-ist-ein-kuss-heute-nochrevolutionaer-1.1019648<br />
(Stand: 10.6.2012).<br />
Einen Bildersturm des Kusses inszeniert die Gruppe pro T in ihrer installativen<br />
Arbeit Küssende Fernseher aus dem Jahr 1983 (Abb. 3). 16<br />
In einer riesigen dunklen Halle sind 50 Bildröhren-Fernsehapparate<br />
aufgebaut. Einige hängen von der Decke herab, einige stehen oder<br />
liegen. Auf den Bildschirmen flackern die Bilder, sie leuchten im Dunkeln<br />
besonders hell, und Musik ist zu hören. Die Fernseher pendeln hin<br />
und her : In einem Höhepunkt prallen die Bildschirme mit lautem Knall<br />
gegeneinander. Der Kuss der beiden Fernseher entfaltet eine zerstörer<br />
ische Kraft und lässt die Bilder regelrecht implodieren.<br />
In den letzten Jahren hat das Küssen nach wie vor Schlagzeilen gemacht –<br />
etwa in Form von Flashmob-Aktionen, wenn Aufrufe zu gemeinschaftlichem<br />
›Queer Kissing‹ angesichts des Papstbesuches in Barcelona für<br />
Aufruhr sorgen. »Warum ist ein Kuss heute noch revolutionär ?« titelt<br />
die Süddeutsche Zeitung. 17 Das friedliche Massenküssen gleichgeschlechtlicher<br />
Menschen, die sich vorher via Internet verabreden und scheinbar<br />
spontan zusammenkommen, kann offenbar im Kontext des Katholizismus<br />
auch im Jahr 2010 noch zu einem politischen Akt werden.<br />
Aber auch die Diskussionen um das Denkmal von Michael Elmgreen und<br />
Ingar Dragset für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen<br />
in Berlin haben verdeutlicht, wie groß die symbolische Bedeutung<br />
ist, die der intimen Geste des Küssens im öffentlichen Raum zugeschrieben<br />
wird. Das Denkmal am Berliner Tiergarten wurde am 27. Mai<br />
2008 eingeweiht (Abb. 4). In einen schiefen Betonquader (3,60 hoch<br />
und 1,90 breit) ist ein Fenster eingelassen. Eine Seite des Fensters ist so<br />
abgeflacht, dass der Blick auf einen Kuss zwischen zwei Männern gelenkt<br />
wird: »Es kann immer nur ein Besucher […] durch die kleine Öffnung<br />
des Quaders schauen, um die Videoprojektion zu sehen. Sie<br />
oder Er wird dann dem Bild zweier Personen in einem ›Ewigen Kuss‹<br />
gegenübergestellt : Einer 3-Minuten Kuss-Szene, die so in einer Endlosschlaufe<br />
montiert ist, daß sie endlos wirkt [...]. Statt auf monumentale<br />
Wirkung, setzt die Arbeit auf die Einsamkeitserfahrung«, 18 so das<br />
Künstlerduo. Der kalte Beton lässt diese emotionale Geste nicht vermuten<br />
und überrascht ihre Voyeur/innen. In der Presse wurde die Arbeit<br />
umfassend besprochen und unter anderem von der Zeitschrift Emma<br />
scharf kritisiert – mit dem Vorwurf, dass lesbische Frauen hier unsichtbar<br />
blieben. 19 In einer Stellungnahme mit dem Titel »Ein Porträt ist keine<br />
Repräsentation« erläutern Elmgreen und Dragset : »Es war uns wichtig,<br />
diese intime Situation zu kreieren, weil der Schmerz […] eines jeden<br />
Opfers eine persönliche, traumatische Erfahrung ist, die jenseits der<br />
Frage der Repräsentation […] liegt.« 20 Der bildgewordene Kuss initiiert<br />
Interaktion, Diskussionen, er wird wiederum zur Politik.<br />
21 Vgl. dazu die Beiträge von Fanti<br />
Baum/Felix Trautmann und Nicola<br />
Hille in diesem Heft.<br />
22 Siehe u.a. Jörg Bremer:<br />
»Werbekampagne: Benetton zieht<br />
Bild des küssenden Papstes zurück«,<br />
in: FAZ vom 17.11.2011; »Umstrittene<br />
Benetton-Kampagne-Küssen<br />
verboten«, in: Süddeutsche Zeitung<br />
vom 17.11.2011.<br />
23 »Benetton-Kampagne: Küsse<br />
der Provokation«, in: fr-online vom<br />
18.11.2011, http://www.fr-online.de/<br />
panorama/benetton-werbekampagne<br />
-kuesse- der- provokation,1472782,<br />
11163136.html<br />
24 Michael Götting: »Benetton-<br />
Werbung. Wen schockt das schon?«,<br />
in: DIE ZEIT vom 18.11.2011: http://<br />
www.zeit.de/lebensart/mode/2011-11/<br />
benetton-unhate-kampagne<br />
(Stand: 30.5.2012).<br />
25 http://campaign.hm.com/<br />
faa2012/?lang=de<br />
18 Alexeij Sagerer: »ProT:<br />
Küssende Fernseher”, in:<br />
http://www.medienkunstnetz.<br />
de/werke/kuessendefernseher/<br />
(Stand: 30.5.2012).<br />
Gezeigt wurde die Arbeit u.a.<br />
1987 auf der documenta 8.<br />
19 »Homo-Mahnmal. Mal<br />
wieder die Frauen vergessen!«,<br />
in: EMMA, September/Oktober<br />
2006, http://www.emma.<br />
de/hefte/ausgaben-2006/<br />
septemberoktober-2006/<br />
homo-mahnmal/(Stand:<br />
14.05.2012). Auch der Lesbenund<br />
Schwulenverband in<br />
Deutschland kritisierte<br />
diesen Umstand: http://<br />
lsvd.de/690.0.html, (Stand:<br />
14.05.2012).<br />
20 »Stellungnahmen der<br />
Künstler«, siehe Fußnote 2.<br />
Auch die Werbung hat das politische Potential des Kusses entdeckt und<br />
nutzt es kommerziell. So sind politische und religiöse Schlüsselfiguren,<br />
teilweise auch Kontrahenten, inniglich im Kuss vereint : Barack Obama<br />
und sein chinesischer Kollege Hu Jintao, Israels Ministerpräsident<br />
Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas,<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas<br />
Sarkozy oder Papst Benedikt XVI. und der ägyptische Imam Ahmed el<br />
Tajjeb, wie einst Breschnew und Honecker bei ihrem sozialistischen<br />
Bruderkuss. 21 Benetton knüpft mit der Werbekampagne UNHATE Ende<br />
2011 an die eigene Tradition früherer Werbeaktionen von Oliviero<br />
Toscani an, die etwa eine Nonne und einen katholischen Priester zeigen,<br />
die sich küssen. Der Vatikan hat gegen die manipulierten Fotografien<br />
von UNHATE und deren kommerziellen Einsatz protestiert, so das das<br />
Papstbild zurückgezogen wurde – aber nicht ohne breites Medienecho. 22<br />
Der Kuss wird hier als »universales Symbol der Liebe« zur »konstruktive[n]<br />
Provokation« 23 eingesetzt, wie Alessandro Benetton, der Vorsitzende<br />
der Benetton-Gruppe erklärt; dieser hebt zugleich darauf ab, dass<br />
»Liebe […] ein Märchen, eine Utopie« sei. 24 Hier wird der Kuss in<br />
seinem Zeichencharakter komprimiert und verschmilzt mit der politischen<br />
Inszenierung. Dabei werden ›wahre‹ Gefühle, wie Liebe und Hass,<br />
aufgerufen, um zur Ware zu werden.<br />
Abb. 4: Elmgreen & Dragset: »Denkmal<br />
für die im Nationalsozialismus verfolgten<br />
Homosexuellen«, 2008, Tiergarten<br />
Berlin.<br />
Querformat 2012<br />
5
Abb. 5: H&M Homepage: »Fashion Against AIDS 2012 (Stand: 18. 7. 2012).<br />
26 Pamela C. Scorzin: »Nan<br />
Goldin«, in: »Künstler.<br />
Kritisches Lexikon der<br />
Gegenwartskunst«, München:<br />
Zeitverlag 2007, S. 1 – 6, S. 3.<br />
Auch die H&M-Kampagne »Fashion Against AIDS« 25 nutzt das Potential des<br />
Kusses als romantisches Zeichen im kommerziellen Sinne (Abb. 5). Im<br />
Kontext mit AIDS erhält dieser allerdings noch weitere Bedeutungsdimensi -<br />
onen: So ist er ein Symbol für den Slogan »Auf Leben und Tod – wir halten<br />
zueinander« auf so genannten Kiss-Ins bei AIDS-Demonstrationen. In der<br />
Anti-AIDS-Kampagne von H&M wird der Kuss zum Spaßevent, bei dem alle<br />
mitmachen können. So werden die Kund/innen aufgefordert persönliche<br />
Kussfotos zuzusenden und mit dieser ›Mitmach-Werbung‹ selbst in die<br />
Produktion der Werbung eingebunden. Ziel ist es, dass sich die Kund/innen<br />
intensiv mit der Marke auseinandersetzen und dann selbst noch die Werbung<br />
an Freund/innen weiterverbreiten. Dieser ›virale Effekt‹ im Internet gilt als<br />
besonders wirksame Methode der Werbung, die die freundschaftlichen<br />
Vernetzungen nutzt, um die meist jugendliche Zielgruppe bestmöglich zu<br />
erreichen. Diese inszeniert sich bereitwillig beim Küssen, wobei sie in der<br />
überwiegenden Zahl auf der Homepage heterosexuell geprägt erscheint.<br />
Die Küsse sind in endlos, beinahe enzyklopädisch aneinandergereiht<br />
und gerinnen immer mehr zum Stereotyp des ›authentischen‹, wirklich<br />
Auf dieses facettenreiche Panorama des Küssens in Kunst und Werbung,<br />
Politik und Kultur, in Geschichte und Gegenwart, kann Querformat nur<br />
ausgesuchte Schlaglichter werfen – aber genau das tun wir mit großer<br />
Begeisterung. Der erste Kuss des Heftes startet mit einem Kussmissverständnis<br />
bzw. mit der Klärung eines kulturhistorischen Fehlschlusses<br />
zum Märchen vom Froschkönig. Der Froschkönig ist in Querformat ein<br />
Wiedergänger : In Gestalt einer Plastikgießkanne war er auch Titelheld<br />
von Nippes, der ersten Ausgabe. 26 erlebten Liebesmoments.<br />
Er ist nicht nur Sinnbild für Nippes,<br />
sondern zugleich Symbol für die immerwährenden Metamorphosen von<br />
Querformat selbst. In Querformat küssen Frösche, Polizisten, Künst<br />
lerinnen, es küssen sich sogar Texte selbst. Lassen Sie sich also von<br />
Querformat küssen, von unseren Küssen inspirieren und provozieren,<br />
verunsichern und verführen, und verteilen sie weitere Küsse, ganz im<br />
Sinne von Proust.<br />
Die ersten fünf Jahre Querformat waren allein durch die finanzielle Unterstützung<br />
der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig möglich: Wir<br />
bedanken uns für das Vertrauen, dass die Hochschule in dieses Projekt gesetzt<br />
hat und freuen uns nach dem gelungen Start auf die zukünftigen Ausgaben.<br />
Unser besonderer Dank gilt Ellen Fischer, Daniela Priesnitz und Sabine Heider.<br />
Ulrike Stoltz wird mit diesem Heft als visuelle Herausgeberin ausscheiden:<br />
Ganz herzlichen Dank für Dein Engagement, Deine Kreativität und die unkomplizierte<br />
Zusammenarbeit! Für KÜSSEN bedanken wir uns außerdem bei<br />
allen beteiligten Studentinnen der Hochschule Rhein-Waal in Kamp-Lintfort,<br />
die unter der Leitung von Jörg Petri und Ulrike Stoltz (HBK Braunschweig)<br />
das Heft gestaltet haben. Die Hochschule Rhein-Waal hat zudem die Materialkosten<br />
für die Gestaltung übernommen, auch dafür ein großes<br />
Dankeschön. Den Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Bilder (und diesmal<br />
auch ihre Texte) für dieses Heft zur Verfügung gestellt haben sowie<br />
den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ihre Texte für Querformat<br />
geschrieben haben gilt unser Dank. Nicht zuletzt danken wir <strong>Stefan</strong><br />
<strong>Donecker</strong>, dem Gast-herausgeber dieses Heftes, für die Idee zum Thema und<br />
für die produktive Zusammenarbeit. Mit dem Dauerlutscher Kisspop setzen<br />
wir unsere Kooperation mit der Sammlung Werkbundarchiv – Museum der<br />
Dinge (Berlin) fort und hoffen auch für die Zukunft auf viele weitere quere<br />
Dingpatenschaften.<br />
DANK
Annette Tietenberg<br />
»Küss mich, ich bin ein verzauberter Prinz.« Mit<br />
diesen Worten hat der Froschkönig das Herz der<br />
Prinzessin gewonnen. Davon sind zumindest<br />
all jene fest überzeugt, die sich ohne Scheu ein<br />
T-Shirt mit gleich lautendem Aufdruck überstreifen<br />
oder den Disney-Film Küss den Frosch<br />
aus dem Jahr 2009 (Abb. 1) für eine an der<br />
Grimm'schen Vorlage orientierte Märchenadaption<br />
halten. Auch wer sich einen Kristallfrosch<br />
von Swarovski ans Revers heftet, einen auf einer<br />
Kugel thro-nenden Bronzefrosch in den Garten<br />
stellt oder Hilfe bei Ratgebern vom Typus Männer<br />
sind Frösche sucht, dürfte kaum Zweifel daran<br />
hegen, dass der Metamorphose des glitschigen<br />
grünen Lurchs, von dem im Froschkönig die Rede<br />
ist, ein Zeichen von Zuneigung vorausgegangen<br />
ist: ein Kuss. Im englischsprachigen Raum sieht<br />
es nicht anders aus. Der Satz »Kiss me, I’m a<br />
Prince« fördert bei Google immerhin 43 Millionen<br />
Sucher-gebnisse zutage.<br />
Dabei ist im Froschkönig – der Erzählung, die in<br />
der von den Brüdern Grimm zusammengetragene<br />
Sammlung von Kinder- und Hausmärchen die erste<br />
Stelle einnimmt – kein einziges Mal von einem Kuss<br />
die Rede. Weder in der ersten Fassung aus dem<br />
Jahr 1812 noch in der Kleinen Ausgabe aus dem<br />
Jahr 1853. 1 Und auch nicht in der ersten Übersetzung<br />
ins Englische aus dem Jahr 1823, die von<br />
Edgar Taylor stammt. Im Deutschen Märchenbuch,<br />
das Ludwig Bechstein von 1845 an in Konkurrenz<br />
1 Das Grimm’sche Märchen hat<br />
verschiedene Quellen, darunter »Die<br />
wunderlichen Hausmärlein« von<br />
Georg Rollenhagen, den Kommentar<br />
von John Leyden zur Neuausgabe<br />
(1801) der »Complayant of Scotlande«<br />
(1548), worin von einem »frog<br />
lover« die Rede ist, und den »Froschprinzen«,<br />
der von Jacob und<br />
Wilhelm Grimm aus dem Konvolut<br />
ausgeschieden wurde. Vgl. Heinz<br />
Rölleke (Hg. ): Kinder- und Hausmärchen.<br />
Gesammelt durch die Brüder<br />
Grimm. Frankfurt am Main 2007,<br />
S. 1194. Vgl. auch Hans-Jörg Uther:<br />
Handbuch zu den »Kinder- und<br />
Hausmärchen« der Brüder Grimm.<br />
Entstehung – Wirkung –<br />
Interpretation. Berlin/New York 2008,<br />
S. 1f. Laut Lutz Röhrich geht die<br />
erste handschriftliche Fassung der<br />
Grimms auf eine Erzählung der Familie<br />
des Apothekers Wild in Kassel, möglicherweise<br />
von Dortchen Wild,<br />
der späteren Frau Wilhelm Grimms,<br />
zurück. Vgl. Lutz Röhrich: Wage<br />
es, den Frosch zu küssen. Das<br />
Grimmsche Märchen Nummer Eins<br />
in seinen Wandlungen. Köln 1987, S. 17.<br />
zu den Bänden der Brüder Grimm herausgab,<br />
kommt der Froschkönig gar nicht erst vor. Die<br />
Literaturlage ist also klar: Keine Prinzessin, nirgends,<br />
die sich danach sehnte, die klebrigen<br />
Küsse eines Froschmauls zu schmecken. Im Gegenteil,<br />
bei den Brüdern Grimm geht es ziemlich<br />
rabiat zu. Die jüngste Tochter eines Königs, die<br />
mit Schönheit und Reichtum gesegnet ist, kämpft<br />
gegen gähnende Langeweile. Um sich die Zeit zu<br />
vertreiben, spielt sie mit einer goldenen Kugel.<br />
Als diese in einen Brunnen fällt, sieht sie erst<br />
tatenlos zu und fängt dann an zu weinen. Den<br />
herbeieilenden Frosch begrüßt sie mit einem<br />
schnippischen »Ach, du bist's, alter Wasserpatscher«<br />
2 . Einen freundlicheren Ton schlägt sie<br />
erst an, als er ihr anbietet, ihr zu helfen. Da kommt<br />
ihr sogar ein »lieber Frosch« über die Lippen.<br />
Sie bietet ihm Kleider, Perlen, ja selbst ihre Krone,<br />
sollte er in den Brunnen hinabtauchen und ihr<br />
kostbares Spielzeug wieder heraufbefördern. Auf<br />
einen solchen Handel aber lässt der Frosch sich<br />
nicht ein. Statt nach materiellen Gütern strebt er<br />
nach trauter Zweisamkeit. Lieb haben soll sie ihn,<br />
die Prinzessin; ihr Geselle und Spielkamerad will<br />
er sein. Ohne mit der Wimper zu zucken sagt die<br />
Prinzessin all das zu, hat sie doch ohnehin nicht<br />
vor, irgendetwas davon in die Tat umzusetzen.<br />
»Ach ja«, sagt sie leichthin, »ich verspreche Dir<br />
alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel<br />
wiederbringst.« 3 Kaum hat der Frosch ihr diesen<br />
Gefallen getan, dreht sie sich auf dem Absatz um<br />
und verschwindet ohne ein Wort des Dankes.<br />
Abb. 1 : Küss den Frosch, Filmplakat, Walt Disney Animation<br />
Studios, 2009.<br />
2 Kinder - und Hausmärchen<br />
gesammelt durch die Brüder Grimm.<br />
Marburg 1979, S. 36.<br />
3 Ebd.<br />
4 Ebd., S. 38.<br />
5 Ebd.<br />
6 Ebd.<br />
7 Ebd.<br />
8 Ebd.<br />
Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass ein<br />
glibbriger Frosch recht hartnäckig sein kann. Am<br />
nächsten Abend, als sie bei Tisch sitzt, klopft er an<br />
die Tür und erinnert sie für alle Anwesenden im<br />
Saal deutlich vernehmbar daran, dass sie ihm versprochen<br />
habe, er dürfe von ihrem goldenen Tellerlein<br />
essen, aus ihrem Becherlein trinken und in<br />
ihrem seidenen Bettlein schlafen. Der König spricht<br />
ein Machtwort: »Was du versprochen hast, das sollst<br />
du auch halten.« 4 Als seine Ermahnungen nicht<br />
fruchten, erteilt er seiner Tochter eine weitere Lektion:<br />
»Wer dir geholfen hat, als du in Not warst,<br />
den sollst du hernach nicht verachten.« 5 (Abb. 2)<br />
So kommt es, dass der Frosch wie vereinbart im<br />
Kämmerlein der Prinzessin landet. Als er aber darauf<br />
besteht, wie sie im Bett zu schlafen (»sonst sag<br />
ich’s deinem Vater« 6 ), da »ward sie erst bitterböse,<br />
holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften<br />
wider die Wand: ›nun wirst du Ruhe haben, du<br />
garstiger Frosch‹ «. 7<br />
Zur Enttäuschung aller, die sich den magischen<br />
Moment romantischer vorgestellt haben, vollzieht<br />
sich just in diesem Augenblick die Verwandlung:<br />
»Als er aber herabfiel, war er kein Frosch,<br />
sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen<br />
Augen.« 8 So und nicht anders steht es in<br />
der Grimm’schen Textsammlung. Die Prinzessin<br />
wird handgreiflich, schleudert das lästige Tier<br />
entnervt an die Wand, nimmt seinen Tod zumindest<br />
billigend in Kauf – und siehe da: Plötzlich und<br />
Querformat 2012<br />
9
unerwartet steht ein Königssohn vor ihr. Der<br />
Frosch ist tot, es lebe der Prinz. Eine böse Hexe<br />
habe ihn verzaubert, weiß er zu berichten. Allein<br />
die Prinzessin habe die Macht besessen, den<br />
Zauberbann zu brechen. Jetzt kann der Königssohn,<br />
dem Willen ihres Vaters entsprechend, ganz<br />
standesgemäß ihr Gemahl werden, und beide<br />
reisen mit einer Kutsche, bespannt mit weißen<br />
Pferden, einer rosigen Zukunft entgegen.<br />
Wissenschaftlich gesehen ist das Motiv des Froschkönigs<br />
gut erforscht. Aufgrund der Stadien, die<br />
das Amphibium von der Kaulquappe bis zum Lurch<br />
durchläuft, und der damit einhergehenden Metamorphose<br />
vom Wasser- zum Landtier, ist der Frosch<br />
seit jeher ein – mal gefeiertes, mal gefürchtetes –<br />
Symbol der Verwandlung und der Fruchtbarkeit.<br />
So kam schon Petronius, in Anspielung auf die<br />
Neureichen und sozialen Aufsteiger seiner Zeit, auf<br />
die Idee, aus einem Frosch einen König zu machen.<br />
»Qui fuit rana nunc est rex«, heißt es vor<br />
nahezu zweitausend Jahren im Gastmahl des<br />
Trimalchio. 9 In China und Java weiß man seit dem<br />
10. Jahrhundert Ähnliches zu berichten. 10 Seine<br />
anthropomorphe Gestalt »sicherte dem Frosch einen<br />
Platz im Imaginären vieler Kulturen weltweit«,<br />
11 konstatiert Bernd Hüppauf, der eine Kulturgeschichte<br />
des Frosches geschrieben hat.<br />
Hüppauf liest – übereinstimmend mit vielen Philologen<br />
und Psychologen – den Froschkönig als<br />
eine Geschichte der sexuellen Reife und der Auflehnung.<br />
Die Prinzessin begehrt »gegen die<br />
Abb. 2 : Franz Stassen, Der Froschkönig, 1921.<br />
9 Zu deutsch: »Der ein Frosch war, ist<br />
jetzt ein König.« Zitiert nach:<br />
Walter Hirschberg: Frosch und Kröte<br />
in Mythos und Brauch. Wien/<br />
Köln/Graz 1988, S. 24.<br />
10 Ebd.<br />
11 Bernd Hüppauf: »Der Frosch im<br />
wissenschaftlichen Bild.«, in: ders./<br />
Peter Weingart (Hg): Frosch und<br />
Frankenstein. Bilder als Medium der<br />
Popularisierung von Wissenschaft.<br />
Bielefeld 2009, S. 137 – 164, hier<br />
S. 137.<br />
12 Ebd., S. 161.<br />
13 Daniela Weiland: »Nie einen Frosch<br />
küssen!« (Auszug aus: EMMA 1/1996)<br />
in: Alice Schwarzer (Hg.): EMMA.<br />
Die ersten 30 Jahre. München 2007,<br />
S. 207 – 209, hier S. 209.<br />
14 Thomas Ahbe: »Der Kleinbürger<br />
als Froschkönig.«, in: Silke<br />
Satjukow/Rainer Gries (Hg.): »Unsere<br />
Feinde. Konstruktionen des<br />
Anderen im Sozialismus.« Leipzig<br />
2004, S. 179 – 196, hier S. 189.<br />
15 D. Weiland: »Nie einen Frosch<br />
küssen ! «, S. 207.<br />
Autorität auf, handelt nach ihrem Willen und<br />
scheut vor einem Gewaltakt nicht zurück. Sie bricht<br />
die Konvention des Patriarchats, dass die Tochter<br />
vom Vater verheiratet wird, und schafft sich ihren eigenen<br />
Raum, ihren eigenen Liebhaber, den sie<br />
heiraten will.« 12<br />
Auch Daniela Weiland stellt mit Erleichterung fest,<br />
dass sich die Königstocher »nicht ganz prinzessinnenhaft<br />
verhält« und gerade dadurch – so die<br />
EMMA-Lesart – zur »autonomen Frau« wird. 13<br />
(Abb. 3) Für Sozialwissenschaftler wie Thomas<br />
Ahbe hingegen eignet sich der Froschkönig dazu,<br />
Muster gesellschaftlicher Anpassungsleistungen<br />
in der DDR anschaulich zu machen: »Im Offizialdiskurs<br />
ist der Kleinbürger eine Art Froschkönig:<br />
Er wurde nicht geliebt, nicht geküsst – doch als er<br />
an die Wand der sozialistischen Produktionsverhältnisse<br />
geworfen wurde, verwandelte er sich in<br />
einen brauchbaren sozialistischen Prinzen.« 14<br />
Allen genannten Autorinnen und Autoren ist, auch<br />
wenn sie verschiedene Disziplinen und Ansichten<br />
vertreten, eines gemein: Sie sind textsicher. Einem<br />
Gewaltakt, nicht einem Kuss, sprechen sie die verändernde<br />
Wirkung zu.<br />
Wieso aber kursieren dann im Film, auf Buchcovern,<br />
im Comic, auf Plakaten, in der Werbung und<br />
auf Websites Darstellungen von Prinzessinnen, die<br />
Frösche in der Hand halten und – ihre Abscheu nur<br />
unzureichend verbergend – zum Kuss ansetzen?<br />
(Abb. 4) Wie kommt es, dass sich Frauen in Blogs<br />
und auf Toilettentüren darüber beschweren, »ganze<br />
Froschtümpel« 15 küssen zu müssen, bis sie endlich<br />
auf den ersehnten Prinzen stoßen? Weshalb<br />
werden Bücher, in denen über das Küssen missratener<br />
Märchenprinzen gespottet wird, zum Best-<br />
16 Svende Merian: Tod des Märchenprinzen.<br />
Hamburg 1980; Bonnie<br />
Kreps: Abschied vom Märchenprinz.<br />
Frankfurt a. M. 1991.<br />
17 Die Prinzen: »Küssen verboten«,<br />
2:32 min. Text und Musik:<br />
Annette Humpe, Sebastian Krumbiegel,<br />
Tobias Künzel, Hansa Records,<br />
Berlin 1992.<br />
18 H.-J. Uther: Handbuch zu den »Kinder<br />
- und Hausmärchen« der Brüder<br />
Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation,<br />
S. 1.<br />
19 Eben dies vermutet der Literaturwissenschaftler<br />
Hans-Jörg Uther, wenn<br />
er schreibt: »Der Handlungsabschnitt,<br />
der die Begegnung zwischen<br />
Tierbräutigam und<br />
Königstochter schildert, scheint<br />
mit Rücksicht auf den Kinder-Benutzerkreis<br />
enterotisiert worden zu<br />
sein.« Ebd., S. 3.<br />
20 »Obgleich die Grimmschen Märchen<br />
als wissenschaftliche Sammlung<br />
geschrieben worden waren,<br />
wurden sie im ›Volksmund‹ schon<br />
sehr früh zur Kinderliteratur gerechnet<br />
und die Märchenillustrationen<br />
konsequenterweise als Gebrauchskunst<br />
für Kinder wahrgenommen.«<br />
Regina Freyberger: »Märchenbilder –<br />
Bildermärchen.« Oberhausen 2009,<br />
S. 15.<br />
seller? 16 Und warum singen »Die Prinzen« so melodisch:<br />
»Küssen verboten« ? 17<br />
Es ließe sich die These aufstellen, diese frappanten<br />
Fehlinterpretationen seien ein Indiz dafür, dass<br />
die uralte Kulturtechnik des Lesens nicht mehr praktiziert<br />
wird und der Froschkönig – für die Brüder<br />
Grimm immerhin »eins der allerältesten und<br />
schönsten Märchen« 18 – in Vergessenheit zu geraten<br />
droht. Man kann die Zeichen aber auch anders<br />
deuten. Dann tritt in der populären Variante<br />
des Froschkönigs, in der die Prinzessin die Verwandlung<br />
durch einen Kuss herbeiführt, eben das zutage,<br />
was die Brüder Grimm diskret verschwiegen<br />
haben, um das Märchen kindgerechter zu machen:<br />
die erotische Dimension. 19 Bei der Rückverwandlung<br />
in eine erotische Erzählung dürfte das<br />
Bild – als ein Arsenal der Imaginationen – eine<br />
weitaus größere Rolle gespielt haben als der<br />
Text. 20 Bis 1900 wurde der Froschkönig nur sehr<br />
selten illustriert. 21 Denn im 19. Jahrhundert hatte<br />
sich – rekurrierend auf erste Darstellungen von<br />
Ludwig Emil Grimm – für Dornröschen, Brüderchen<br />
und Schwesterchen, Hänsel und Gretel und<br />
Rotkäppchen ein Modus des märchenhaften Bild-<br />
Abb. 3 : Franziska Becker, Froschkönig. Illustration zu: Daniela Weiland: Nie einen Frosch küssen!<br />
Manchmal muss man ganz schön viele Frösche küssen, bis ein Prinz darunter ist.<br />
Abb. 4 : Küss den Frosch, Szenenbild, Walt Disney Animation<br />
Studios, 2009.<br />
konzepts etabliert: Volkstümlich, unschuldig und<br />
von kindlich-unverdorbenem Charakter sollten<br />
Märchenfiguren sein. 22 Da passte eine hochmütige<br />
Prinzessin, die mitleidlos einen Frosch an die<br />
Wand wirft, ebenso schlecht ins Bild wie eine der<br />
Sodomie verdächtige Bettszene. Als 1893 die Urheberschutzfrist<br />
der Grimm’schen Märchen auslief,<br />
änderte sich die Lage. Nun waren die Texte frei<br />
verfügbar, und auch die Illustrationen machten sich<br />
selbständig. Dem Froschkönig begegnet man seither<br />
hin und wieder im Bild, etwa am Brunnenrand<br />
sitzend, wo er der Prinzessin die Kugel überreicht.<br />
(Abb. 5) Die höfische Dame trägt zu diesem Anlass<br />
schon mal ein eng geschnürtes Rokoko-Kostüm<br />
als Ausweis ihrer Dekadenz und »ihres stolzen und<br />
oberflächlichen Charakters«. 23 (Abb. 6) In den<br />
frühen 1930er Jahren präsentiert sich die Prinzessin<br />
mitunter gar als Modepuppe im hauchdünnen,<br />
durchsichtigen Nachthemd. (Abb. 7)<br />
Geküsst aber wird anderswo. So zählt der Moment,<br />
in dem sich der Prinz dem in einen hundertjährigen<br />
Schlaf versunkenen Dornröschen nähert, seit<br />
jeher zu den beliebtesten und bekanntesten Märchenmotiven.<br />
Hier ist es tatsächlich ein Kuss, der<br />
die Wendung und die Erlösung einleitet. 24 Gibt<br />
es da eine Verbindung zum Froschkönig? Nun, zumindest<br />
kreisen beide Märchen um die Gegensätze<br />
von Verwünschung und Erlösung, und sie warnen<br />
vor den moralischen Folgen eines Worbruchs.<br />
Ausschlaggebend aber ist: Auch im Dornröschen<br />
taucht ein Frosch auf. Gleich zu Beginn des Märchens<br />
kriecht er vom Wasser ans Land und verspricht<br />
der Königin, die im Freien badet, dass sie<br />
bald eine Tochter zur Welt bringen werde. 25<br />
21 Die Kleine Ausgabe der<br />
Grimm’schen Kinder -<br />
und Hausmärchen (1853) wurde<br />
von Ludwig Pietsch, eine<br />
Ausgabe aus dem Jahr 1874 von<br />
Paul Meyerheim illustriert. Von<br />
1856 bis 1890 lieferte Ludwig<br />
Richter Illustrationen. Sie alle verzichteten<br />
darauf, den Froschkönig ins<br />
Bild zu setzen.<br />
22 Vgl. R. Freyberger: Märchenbilder<br />
– Bildermärchen, S. 18ff.<br />
23 Ebd., S. 402.<br />
24 Vgl. Otto F. Best: Der Kuss.<br />
Frankfurt a. M. 1998, S. 326.<br />
25 Kinder und Hausmärchen, Bd. 1,<br />
S. 286.<br />
Querformat 2012<br />
11
Die Königin, die sich seit langem nichts sehnlicher<br />
wünscht als ein Kind, ist außer sich vor Glück<br />
und beschließt, ihre Tochter Dornröschen zu nennen.<br />
Die Begegnung von Königin und Frosch haben<br />
Illustratoren, darunter Ludwig Richter, nach<br />
Manier der Bathseba im Bade, aufreizend in<br />
Szene gesetzt. (Abb. 8)<br />
Frosch, adelige Frau, Brunnen, Kuss und Verwandlung<br />
– könnte es sein, dass sich die Bilder zweier<br />
Grimm'scher Märchen – Dorn-öschen und Froschkönig<br />
– im kollektiven Gedächt-nis überlagert und<br />
miteinander verschränkt ha-ben? Dafür spricht, dass<br />
das Bild vom Kuss als sichtbares Zeichen einer erlösenden<br />
Liebe um vieles einprägsamer ist als die<br />
Erwähnung einer unkontrollierten Gewalttat einer<br />
frustrierten Prinzessin, die Böses will und Gutes<br />
schafft. Dass der Trugschluss, es sei das Küssen, das<br />
den Frosch in einen Prinzen rückverwandle, eher<br />
komische als tragische Züge trägt, ist schon Wilhelm<br />
Busch aufgefallen. In seiner Bilderzählung Die<br />
beiden Schwestern mengt er fröhlich Aschenputtel,<br />
Dornröschen und den Froschkönig in eins, solange<br />
ihm nur ein verbindender Knittelvers dazu einfällt:<br />
»Der erste Kuß schmeckt recht abscheulich.<br />
Der gräsiggrüne Frosch wird bläulich.« 26 Wilhelm<br />
Buschs Humor und Zeichenkunst verdanken wir<br />
ein erstes Bild der allmählichen Verwandlung eines<br />
Frosches in einen Prinzen, ausgelöst vom beherzten<br />
Kuss des braven Kätchens. (Abb. 9) Seither ist<br />
der Froschkönig fest in der Hand der Satiriker,<br />
wissen sie doch darum, dass nicht nur im Märchen<br />
Abb. 6 : Willy Jüttner, Der Froschkönig, 1921.<br />
einiges durcheinander gerät. Dem Comic-Zeichner<br />
Ivica Astalos war es vergönnt, einen entscheidenden<br />
Hinweis zu geben: In der Satirezeitschrift<br />
MAD legte er Zeugnis davon ab, dass<br />
die Metamorphosen des Dornröschens und des<br />
Froschkönigs im Bild auf wundersame Weise in<br />
eins fallen. (Abb. 10) Der leidenschaftliche Kuss<br />
des Prinzen verfehlt seine Wirkung nicht: Das<br />
Dornröschen erwacht zu neuem Leben, wenn<br />
auch in Gestalt eines Frosches. Da sehne sich<br />
noch einer nach den alten Zeiten, wo das Küssen<br />
nochgeholfen hat.<br />
Abb. 5 : Theodor Herrmann, Der Froschkönig, 1903.<br />
26 Wilhelm Busch: »Die beiden<br />
Schwestern.« Aus: »Sechs<br />
Geschichten für Neffen und<br />
Nichten (Stippstörchen)« 1881, in:<br />
ders: Und die Moral von der<br />
Geschicht. (Hg.) : Rolf Hochhuth,<br />
München 1982, S. 770 – 778, S. 772.<br />
Abb. 7 : Luise Staudt-Zoerb Velbert,<br />
Der Froschkönig, 1931.<br />
Abb. 8 : Ludwig Richter, Das Dornröschen,<br />
1931.<br />
Abb. 9 a, 9 b, 9 c : Wilhelm Busch,<br />
Die beiden Schwestern, 1881.<br />
Querformat 2012<br />
13