Stefan Donecker, Alexandra Karentzos, Birgit ... - transcript Verlag
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Annette Tietenberg<br />
»Küss mich, ich bin ein verzauberter Prinz.« Mit<br />
diesen Worten hat der Froschkönig das Herz der<br />
Prinzessin gewonnen. Davon sind zumindest<br />
all jene fest überzeugt, die sich ohne Scheu ein<br />
T-Shirt mit gleich lautendem Aufdruck überstreifen<br />
oder den Disney-Film Küss den Frosch<br />
aus dem Jahr 2009 (Abb. 1) für eine an der<br />
Grimm'schen Vorlage orientierte Märchenadaption<br />
halten. Auch wer sich einen Kristallfrosch<br />
von Swarovski ans Revers heftet, einen auf einer<br />
Kugel thro-nenden Bronzefrosch in den Garten<br />
stellt oder Hilfe bei Ratgebern vom Typus Männer<br />
sind Frösche sucht, dürfte kaum Zweifel daran<br />
hegen, dass der Metamorphose des glitschigen<br />
grünen Lurchs, von dem im Froschkönig die Rede<br />
ist, ein Zeichen von Zuneigung vorausgegangen<br />
ist: ein Kuss. Im englischsprachigen Raum sieht<br />
es nicht anders aus. Der Satz »Kiss me, I’m a<br />
Prince« fördert bei Google immerhin 43 Millionen<br />
Sucher-gebnisse zutage.<br />
Dabei ist im Froschkönig – der Erzählung, die in<br />
der von den Brüdern Grimm zusammengetragene<br />
Sammlung von Kinder- und Hausmärchen die erste<br />
Stelle einnimmt – kein einziges Mal von einem Kuss<br />
die Rede. Weder in der ersten Fassung aus dem<br />
Jahr 1812 noch in der Kleinen Ausgabe aus dem<br />
Jahr 1853. 1 Und auch nicht in der ersten Übersetzung<br />
ins Englische aus dem Jahr 1823, die von<br />
Edgar Taylor stammt. Im Deutschen Märchenbuch,<br />
das Ludwig Bechstein von 1845 an in Konkurrenz<br />
1 Das Grimm’sche Märchen hat<br />
verschiedene Quellen, darunter »Die<br />
wunderlichen Hausmärlein« von<br />
Georg Rollenhagen, den Kommentar<br />
von John Leyden zur Neuausgabe<br />
(1801) der »Complayant of Scotlande«<br />
(1548), worin von einem »frog<br />
lover« die Rede ist, und den »Froschprinzen«,<br />
der von Jacob und<br />
Wilhelm Grimm aus dem Konvolut<br />
ausgeschieden wurde. Vgl. Heinz<br />
Rölleke (Hg. ): Kinder- und Hausmärchen.<br />
Gesammelt durch die Brüder<br />
Grimm. Frankfurt am Main 2007,<br />
S. 1194. Vgl. auch Hans-Jörg Uther:<br />
Handbuch zu den »Kinder- und<br />
Hausmärchen« der Brüder Grimm.<br />
Entstehung – Wirkung –<br />
Interpretation. Berlin/New York 2008,<br />
S. 1f. Laut Lutz Röhrich geht die<br />
erste handschriftliche Fassung der<br />
Grimms auf eine Erzählung der Familie<br />
des Apothekers Wild in Kassel, möglicherweise<br />
von Dortchen Wild,<br />
der späteren Frau Wilhelm Grimms,<br />
zurück. Vgl. Lutz Röhrich: Wage<br />
es, den Frosch zu küssen. Das<br />
Grimmsche Märchen Nummer Eins<br />
in seinen Wandlungen. Köln 1987, S. 17.<br />
zu den Bänden der Brüder Grimm herausgab,<br />
kommt der Froschkönig gar nicht erst vor. Die<br />
Literaturlage ist also klar: Keine Prinzessin, nirgends,<br />
die sich danach sehnte, die klebrigen<br />
Küsse eines Froschmauls zu schmecken. Im Gegenteil,<br />
bei den Brüdern Grimm geht es ziemlich<br />
rabiat zu. Die jüngste Tochter eines Königs, die<br />
mit Schönheit und Reichtum gesegnet ist, kämpft<br />
gegen gähnende Langeweile. Um sich die Zeit zu<br />
vertreiben, spielt sie mit einer goldenen Kugel.<br />
Als diese in einen Brunnen fällt, sieht sie erst<br />
tatenlos zu und fängt dann an zu weinen. Den<br />
herbeieilenden Frosch begrüßt sie mit einem<br />
schnippischen »Ach, du bist's, alter Wasserpatscher«<br />
2 . Einen freundlicheren Ton schlägt sie<br />
erst an, als er ihr anbietet, ihr zu helfen. Da kommt<br />
ihr sogar ein »lieber Frosch« über die Lippen.<br />
Sie bietet ihm Kleider, Perlen, ja selbst ihre Krone,<br />
sollte er in den Brunnen hinabtauchen und ihr<br />
kostbares Spielzeug wieder heraufbefördern. Auf<br />
einen solchen Handel aber lässt der Frosch sich<br />
nicht ein. Statt nach materiellen Gütern strebt er<br />
nach trauter Zweisamkeit. Lieb haben soll sie ihn,<br />
die Prinzessin; ihr Geselle und Spielkamerad will<br />
er sein. Ohne mit der Wimper zu zucken sagt die<br />
Prinzessin all das zu, hat sie doch ohnehin nicht<br />
vor, irgendetwas davon in die Tat umzusetzen.<br />
»Ach ja«, sagt sie leichthin, »ich verspreche Dir<br />
alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel<br />
wiederbringst.« 3 Kaum hat der Frosch ihr diesen<br />
Gefallen getan, dreht sie sich auf dem Absatz um<br />
und verschwindet ohne ein Wort des Dankes.<br />
Abb. 1 : Küss den Frosch, Filmplakat, Walt Disney Animation<br />
Studios, 2009.<br />
2 Kinder - und Hausmärchen<br />
gesammelt durch die Brüder Grimm.<br />
Marburg 1979, S. 36.<br />
3 Ebd.<br />
4 Ebd., S. 38.<br />
5 Ebd.<br />
6 Ebd.<br />
7 Ebd.<br />
8 Ebd.<br />
Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass ein<br />
glibbriger Frosch recht hartnäckig sein kann. Am<br />
nächsten Abend, als sie bei Tisch sitzt, klopft er an<br />
die Tür und erinnert sie für alle Anwesenden im<br />
Saal deutlich vernehmbar daran, dass sie ihm versprochen<br />
habe, er dürfe von ihrem goldenen Tellerlein<br />
essen, aus ihrem Becherlein trinken und in<br />
ihrem seidenen Bettlein schlafen. Der König spricht<br />
ein Machtwort: »Was du versprochen hast, das sollst<br />
du auch halten.« 4 Als seine Ermahnungen nicht<br />
fruchten, erteilt er seiner Tochter eine weitere Lektion:<br />
»Wer dir geholfen hat, als du in Not warst,<br />
den sollst du hernach nicht verachten.« 5 (Abb. 2)<br />
So kommt es, dass der Frosch wie vereinbart im<br />
Kämmerlein der Prinzessin landet. Als er aber darauf<br />
besteht, wie sie im Bett zu schlafen (»sonst sag<br />
ich’s deinem Vater« 6 ), da »ward sie erst bitterböse,<br />
holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften<br />
wider die Wand: ›nun wirst du Ruhe haben, du<br />
garstiger Frosch‹ «. 7<br />
Zur Enttäuschung aller, die sich den magischen<br />
Moment romantischer vorgestellt haben, vollzieht<br />
sich just in diesem Augenblick die Verwandlung:<br />
»Als er aber herabfiel, war er kein Frosch,<br />
sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen<br />
Augen.« 8 So und nicht anders steht es in<br />
der Grimm’schen Textsammlung. Die Prinzessin<br />
wird handgreiflich, schleudert das lästige Tier<br />
entnervt an die Wand, nimmt seinen Tod zumindest<br />
billigend in Kauf – und siehe da: Plötzlich und<br />
Querformat 2012<br />
9