Überleben nach der Flut Überleben nach der Flut - rotkreuzmagazin
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TexT: Frank Burger // FOTOs: DaviD klammer<br />
Die Welt wandelt sich rasant, und auch im<br />
zur Beharrlichkeit neigenden Deutschland sind<br />
mittlerweile Dinge möglich, an die vor ein paar<br />
Jahren noch niemand geglaubt hätte: Unser<br />
Kanzler ist eine Kanzlerin. Unsere Nationalmannschaft<br />
spielt plötzlich Fußball, statt ihn<br />
zu bezwingen. Und draußen gibt’s Cappuccino<br />
und nicht mehr nur das Kännchen Kaffee. Ist<br />
denn gar nichts mehr gewiss? Aber sicher: Gegessen<br />
wird pünktlich – wer hierzulande um<br />
kurz vor zwölf ein Altenheim betritt, kommt<br />
gerade recht zum Mittagessen.<br />
Das gilt auch für das DRK-Seniorenzentrum<br />
„Haus am Sandberg“ in Duisburg-Homberg.<br />
Schon ein paar Schritte hinter <strong>der</strong> Eingangstür<br />
des Hauses steht <strong>der</strong> staunende Besucher mitten<br />
im Geschehen. An vielen Tischen, unregelmä-<br />
ä<br />
ßig um einen offenen Lichthof verteilt, <strong>der</strong> sich<br />
über alle vier Stockwerke des Gebäudes erstreckt,<br />
sitzen die Bewohner in Grüppchen, zu<br />
zweit o<strong>der</strong> allein und essen. Manche plau<strong>der</strong>n<br />
auch nur o<strong>der</strong> schauen neugierig, was die an<strong>der</strong>en<br />
so treiben. Eine Frau hat sich für ein<br />
Nickerchen auf dem Sofa gleich in drei Decken<br />
eingemummelt, ein Mann geht am Arm einer<br />
Pflegerin zwischen den Speisenden spazieren,<br />
begleitet vom skeptischen Lächeln einer uralten<br />
Dame mit Kopftuch. Kaffeehausatmosphäre<br />
statt Kantinenmief.<br />
Offenes Haus<br />
Im Haus am Sandberg wurde schon vor 13 Jahren<br />
mithilfe von viel Glas, Holz und einer Menge<br />
zukunftsweisen<strong>der</strong> Ideen ein Leitbild umge-<br />
Nicht<br />
mehr<br />
fremd<br />
Immer mehr Menschen mit<br />
ausländischen Wurzeln werden in<br />
die Wohlfahrtspflege integriert.<br />
Ein Prozess, zu dem Ausdauer und<br />
Mut zu Konflikten gehören – <strong>der</strong> aber<br />
auch viel Wertvolles entstehen<br />
lässt, wie ein multi kulturelles DRK-<br />
Altenheim in Duisburg zeigt.<br />
Vertrauen: Im Seniorenzentrum<br />
Haus am Sandberg<br />
ist die Herkunft nicht entscheidend<br />
– es kommt auf<br />
den einzelnen Menschen an<br />
setzt, das beim Deutschen Roten Kreuz im<br />
Moment ziemlich weit oben auf <strong>der</strong> Prioritätenliste<br />
steht: die interkulturelle Öffnung. Und<br />
zwar buchstäblich. Bewohner und Mitarbeiter<br />
aus Deutschland und dem Ausland, Menschen<br />
mit und ohne Zuwan<strong>der</strong>ungsgeschichte, die<br />
gemeinsam in einem Haus leben und arbeiten,<br />
das so offen ist wie seine Architektur.<br />
Das Duisburger Modellprojekt trägt dem<br />
demografischen Wandel Rechnung, aus dem<br />
das DRK eine seiner Hauptaufgaben für die<br />
Gegenwart und Zukunft ableitet: „Interkulturelle<br />
Öffnung ist die Voraussetzung dafür, dass<br />
ein Verband wie das Rote Kreuz nicht an Bedeutung<br />
und Relevanz verliert“, sagt Vizepräsident<br />
Volkmar Schön. Heißt konkret: Immer mehr<br />
Menschen in Deutschland haben einen Migra-<br />
tionshintergrund – also sollen sie zum einen als<br />
Kunden in den Fokus rücken, die die Leistungen<br />
des DRK in Anspruch nehmen. Zum an<strong>der</strong>en<br />
sollen sie viel stärker als bisher als hauptund<br />
ehrenamtliche Mitarbeiter gewonnen<br />
werden. Im gesamten Bundesgebiet gibt es Projekte,<br />
Veranstaltungen und Kurse, die sich diesen<br />
Zielen verschrieben haben, sowie größere<br />
und kleinere Aktivitäten, Initiativen Einzelner<br />
und übergeordnete Kooperationen. Was sie<br />
eint, ist die Erkenntnis, dass interkulturelle<br />
Öffnung nicht auf Knopfdruck funktioniert,<br />
son<strong>der</strong>n ein langer Prozess ist. „Multikulti ist<br />
ein schönes Aushängeschild, aber das kann man<br />
nicht mal eben verordnen o<strong>der</strong> einem allein die<br />
Verantwortung dafür aufbürden. Alle müssen<br />
mitziehen und das Prinzip <strong>der</strong> Interkulturalität<br />
langfristig verinnerlichen“, sagt Ralf Krause,<br />
<strong>der</strong> das Haus am Sandberg seit 1998 leitet.<br />
Drei Jahre dauerte allein die Planungsphase<br />
für das Seniorenzentrum, von 1994 bis 1997.<br />
Das Vorgängerheim war Anfang <strong>der</strong> 1990er-<br />
Jahre baufällig geworden, und <strong>der</strong> Landesverband<br />
stand vor <strong>der</strong> Entscheidung, die Einrichtung<br />
zu schließen o<strong>der</strong> etwas ganz Neues zu<br />
wagen: ein Pilotprojekt zur Integration von<br />
Migranten in <strong>der</strong> Altenpflege, in einer Stadt, in<br />
<strong>der</strong> je<strong>der</strong> Fünfte eine Zuwan<strong>der</strong>ungsgeschichte<br />
hat, unter wissenschaftlicher Begleitung <strong>der</strong><br />
Universität Duisburg.<br />
„Bei <strong>der</strong> Planung haben wir alle einbezogen:<br />
die Bewohner des alten Hauses, Seniorengruppen<br />
aus an<strong>der</strong>en Nationen, Architekten, Mitarbeiter,<br />
Moscheevereine, DRK-Experten“, sagt<br />
<strong>der</strong> 47-jährige Krause, <strong>der</strong> auch schon im Vorgänger<br />
des heutigen Heimes tätig war. „Lauter<br />
Fragen gab es zu beantworten: Wie soll das Haus<br />
aussehen, die Infrastruktur, die Gruppenaufteilung,<br />
was gibt es für wen zu essen, welche Gebetsräume<br />
brauchen wir? Wir haben in Seminaren<br />
eine Menge über verschiedene Kulturen,<br />
Religionen und Län<strong>der</strong> gelernt, Statistiken zur<br />
Demografie studiert.“ Von 96 Bewohnern sind<br />
21 türkischstämmig; hinzu kommen ein Kosovo-Albaner,<br />
eine Spanierin, ein Kroate, eine<br />
Nie<strong>der</strong>län<strong>der</strong>in, ein Tunesier und 70 Deutsche.<br />
Sie leben in einer Einrichtung, in die viele Ideen<br />
aus <strong>der</strong> Planung eingeflossen sind. Im Un-<br />
tergeschoss gibt es einen muslimischen Gebetsraum<br />
– die Mescid –, daneben einen Raum <strong>der</strong><br />
Stille für christliche Gläubige. Der muslimische<br />
Hodscha kommt so regelmäßig wie Kollege<br />
Pfarrer, niemand muss Schweinefleisch essen,<br />
son<strong>der</strong>n bekommt auch <strong>nach</strong> Halal-Vorschriften<br />
geschlachtetes Lamm, das Opferfest wird<br />
ebenso gefeiert wie Weih<strong>nach</strong>ten. Das offene<br />
Atrium ist inspiriert von mediterranen Marktplätzen,<br />
auf denen man sich trifft, sieht und<br />
gesehen wird, reden kann, aber nicht muss.<br />
Keine Zwangsveranstaltung<br />
Das passt – denn auch Integration ist im Haus<br />
am Sandberg keine Zwangsveranstaltung.<br />
Rund zehn Menschen, Deutsche und Türken,<br />
leben jeweils in einer Wohneinheit, aber „ob<br />
die beiden Gruppen untereinan<strong>der</strong> Kontakt<br />
pflegen, hängt immer vom Einzelnen ab“, sagt<br />
Zeki Günes, 31, examinierter Altenpfleger, <strong>der</strong><br />
die Wohngruppen im Erdgeschoss leitet.<br />
„Manche sind offener, an<strong>der</strong>e bleiben lieber<br />
für sich, Deutsche wie Migranten.“<br />
Wie Bewohner und Bewohnerinnen miteinan<strong>der</strong><br />
umgehen, das Rollenverständnis von<br />
Mann und Frau, birgt in den Augen von Heimgeschäftsführer<br />
Ralf Krause jedoch durchaus<br />
Konfliktpotenzial – das sich produktiv nutzen<br />
lässt. „Wenn sich ein türkischer Mann lautstark<br />
mit seiner Gattin unterhält, mit <strong>der</strong> er seit 60<br />
Jahren verheiratet ist, kann das für die deutschen<br />
Bewohner und Mitarbeiter klingen, als<br />
hätten die beiden heftigen Streit. Finde ich<br />
wun<strong>der</strong>bar, das regt doch zum Nachdenken<br />
über Rollenbegriffe an, und schon haben wir<br />
Material für eine fruchtbare Diskussion in <strong>der</strong><br />
Teambesprechung.“<br />
Die gemeinsame Debatte über den Umgang<br />
mit den Alten – und das Verhältnis <strong>der</strong> Mitarbeiter<br />
untereinan<strong>der</strong> – schärfe die Sensibilität<br />
für <strong>der</strong>en Bedürfnisse, davon ist Krause überzeugt.<br />
Und dabei dürfe es ruhig mal krachen.<br />
„Das ist hier keine heile Welt. Ohne Konflikte<br />
lernt man nicht, sich dem Fremden zu öffnen.“<br />
Vorangetrieben wird das interkulturelle Verständnis<br />
unter an<strong>der</strong>em durch Seminare zur<br />
Landeskunde, Supervision und Sprachkurse<br />
– Türkisch für Deutsche zum Beispiel.<br />
gesellschaft drk<br />
Mo<strong>der</strong>ator: Gibt es Konflikte, löst sie Heimleiter<br />
Ralf Krause produktiv – indem alle daraus lernen<br />
Fürsorge: Im Haus am Sandberg kümmern<br />
sich 50 Ehrenamtliche um die Senioren<br />
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